Eine kurze Naturgeschichte des letzten Jahrtausends - Josef H. Reichholf - E-Book

Eine kurze Naturgeschichte des letzten Jahrtausends E-Book

Josef H. Reichholf

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Beschreibung

Tausend Jahre - eine Spanne, die das Leben zweier Eichen, ein Zehntel der Nacheiszeit umfasst. Ein Wimpernschlag der Erdgeschichte. Veränderungen in der Natur vollziehen sich in ganz anderen Zeiträumen als die Geschichte des Menschen. Josef H. Reichholf blickt aus ökologischer Sicht zurück auf das letzte Jahrtausend und untersucht die Wechselwirkung von Naturgeschichte und Geschichte, insbesondere den Klimaverlauf mit seinen ökologischen, wirtschaftlichen, politischen, sozialen und kulturellen Konsequenzen.

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Josef H. Reichholf

Eine kurze Naturgeschichte des letzten Jahrtausends

Sachbuch

Fischer e-books

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Vorwort

Ende der 1940er, Anfang der 1950er Jahre waren in meiner niederbayerischen Heimat die Sommer sehr warm. Als kleiner Junge lief ich damals von Mai bis in den September oder Oktober hinein meistens barfuß. In den Wintern gab es Schnee und Eis. Einen richtig kalten Winter erlebte ich gegen Ende meiner Schulzeit 1962/63. Damals waren nicht nur die Stauseen monatelang zugefroren, sondern auch große Flüsse, wie der freiströmende Inn und, wie ich später erfuhr, praktisch alle Gewässer in Bayern sowie im größten Teil von Mitteleuropa. Über das Eis des Bodensees fuhren Traktoren. Dieser Winter, einer der drei kältesten des ganzen 20. Jahrhunderts, dauerte von Ende November bis Mitte März. Auf den Seen und Stauseen war das Eis bis über 40 Zentimeter dick geworden. Die Eisdecken barsten krachend, als der Wasserdruck mit dem in den Bergen zuerst einsetzenden Tauwetter zunahm. Der Winter 2005/06 zog sich zwar bis weit ins Frühjahr hinein, verlief aber bei weitem nicht so kalt. Dem Alpenvorland und sogar München brachte er Anfang März eine Schneekatastrophe. Am Sonntag, dem 5.März 2006, lag der Schnee bis zu 60 Zentimeter hoch, und München wurde für einen halben Tag eine Geisterstadt. Denn es fuhren weder Straßen- noch S-Bahnen, praktisch keine Autos, und sogar der Fernverkehr der Bahn musste eingestellt werden. Drei Jahre zuvor herrschten Anfang März schon fast frühsommerliche Temperaturen, und der ihnen folgende Sommer von 2003 gilt mit seinen fünf Monaten Dauer, seiner anhaltenden Hitze und Trockenheit als »Jahrtausendsommer«. Im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts waren global die wärmsten Jahre festgestellt worden. An einem Klimawandel zweifelt kaum noch jemand, höchstens am Anteil, den der Mensch mit seinen Einflüssen auf die Erdatmosphäre daran hat. Wie groß diese sein müssen, erlebte ich in Brasilien, als ich über das brennende Zentrum des südamerikanischen Kontinents flog und im Pantanal von Mato Grosso aus gänzlich wolkenlosem Himmel unablässig Asche niederschwebte. Sie legte sich wie ein alt gewordener, grauer Schneebelag übers in der Hitze wabernde Land. Ich sah die riesigen Rodungen auf Borneo, als ich in Begleitung des damaligen deutschen Umweltministers Klaus Töpfer bei der Vorbereitung auf die große Umweltkonferenz von Rio unterwegs war, und vieles andere mehr in Süd- und Nordamerika, in Afrika, Indien und Australien. Es bedurfte keiner Erleuchtung auf einsamem Gipfel in einer entlegenen Ecke der Welt, um das Ausmaß des zerstörerischen Wirkens von Menschen zu sehen. Dennoch überraschte mich immer wieder die Blindheit dem Offensichtlichen gegenüber. Wie können Ökologen behaupten, die größte Massierung von Großtieren an Land gäbe es in der Serengeti im ostafrikanischen Tansania? In manchen norddeutschen Landkreisen leben weit mehr, aber fast alle sind »unsichtbar« in Ställen untergebracht. Dennoch existieren sie, und sie übertreffen die Serengeti an Zahl oder Lebendgewicht der Huftiere pro Quadratkilometer bei weitem. Oder: In welchem Verhältnis stehen die Waldrodungen der letzten Jahrhunderte in den USA zu den gegenwärtigen in Amazonien? Was in der Spanne eines vollen Menschenalters vergangen ist oder gar schon vor mehr als 100 Jahren geschah, ist vergessen und so gut wie nicht mehr existent. Oder es wird als »gute alte Zeit« verklärt und zum Bezugsmaß für die heutigen Verhältnisse und Entwicklungen genommen. Gewiss, wir leben in einer Zeit rascher Veränderungen. Doch verliefen diese im 19. Jahrhundert langsamer, und waren sie in ihren Auswirkungen geringer? Derzeit gilt in Europa die »Globalisierung« als eine der größten Gefahren für die nahe Zukunft. Aber eroberten und »globalisierten« die Europäer nicht die Welt schon vor einem halben Jahrtausend? Die meisten Pflanzen, die gegenwärtig als besonders gefährlich und »invasiv« angesehen werden, wachsen seit mehr als 100 Jahren bei uns. Im 19. Jahrhundert hatte man sie ins Land geholt, weil man ihre Qualitäten schätzte. In Bayern starben vor einem Jahrhundert noch Menschen an Malaria, obwohl sie das Land nie verlassen hatten. Malaria kam hier von Natur aus vor. Jetzt breitet sich angeblich die Malariamücke, die Anopheles, wegen der Klimaerwärmung gefährlich aus. Doch es gab und gibt sie nicht nur hierzulande, sondern nordwärts bis Südfinnland. Naturschützer wiesen in den letzten Jahren ganz erschrocken darauf hin, dass sich fast tropische Vögel und Schmetterlinge nördlich der Alpen ansiedeln. Die schönen bunten Bienenfresser (Merops apiaster) etwa und Totenkopfschwärmer (Acherontia atropos) – welch ein Name! – wurden, wie auch viele der kleinen Taubenschwänzchen (Macroglossum stellatarum), die wie Kolibris aussehen, aber Schmetterlinge der Schwärmer-Familie sind, im Hitzesommer 2003 sogar in den Alpentälern gesichtet. So war es im Editorial einer Naturschutzzeitschrift zu lesen. Dass diese und zahlreiche andere Wanderfalter seit Jahrhunderten schon, wahrscheinlich aber seit Jahrtausenden über die Alpen nordwärts fliegen, wurde im allgemeinen Klagelied über den schönen Sommer (absichtlich?) vergessen. In meiner Kindheit und Jugend brachte ich viele Puppen vom Totenkopfschwärmer zum Schlüpfen und entließ die riesigen Schmetterlinge in die niederbayerischen Herbstnächte mit der Hoffnung, sie würden den Rückflug durch die Alpenpässe noch schaffen, ehe der Winter beginnt. Die bunten Bienenfresser aber fand ich in den alten Büchern wieder, die über die Natur des 18. und frühen 19. Jahrhunderts recht sachlich berichten. Dass manche Tiere darin arg vermenschlicht werden, im positiven wie im negativen Sinne, tut den Angaben keinen Abbruch, zeigen sie doch, dass man sie kannte und wusste, wo sie lebten. Die Bienenfresser galten in früheren Jahrhunderten als Bienenfeinde und wurden deshalb, auch im Englischen, so genannt. Der andere deutsche Name »Spinte« setzte sich nicht durch, denn die Geschichte und ihre Geschichten wirken oftmals viel zäher nach, als man glauben möchte. Das wurde mir auch klar, als ich in Amazonien die durch den Straßenbau angeschnittenen Böden sah. Seit Alexander von Humboldt hielt – und hält sich zum Teil immer noch – die Mär von der tropischen Fülle. Dabei herrscht dort fast überall Mangel. Der luxuriöse Wuchs der Regenwälder in Amazonien täuscht. Der Wald steht auf unfruchtbarem Boden und kann sich nur erhalten, wenn er genügend Mineralstoffe im Sandstaub durch den Passat aus der afrikanischen Sahara zugeliefert bekommt. Globale Zusammenhänge rücken heute ganz zu Recht immer mehr ins Zentrum der Betrachtungen, die meistens dennoch viel zu lokal angestellt werden. Was besagen aber meine eigenen Erfahrungen über ein halbes Jahrhundert bewussten Lebens? Es überdeckt genau die Zeitspanne des »nachweisbaren Klimawandels«. Spätestens seit Mitte der 1970er Jahre folgt nun die Klimakurve der Erde nicht mehr den vom Menschen völlig unbeeinflussten Schwankungen in der Aktivität der Sonne. Bleiben angesichts der weltweiten Veränderungen meine Eindrücke also nur belanglose Anekdoten? Dann sind die vielen und vielfach zitierten »Befunde« aus anderen Gebieten und aus zumeist sogar viel kürzeren Zeitspannen auch nicht mehr als Anekdoten. Ohne Bedeutung treiben sie im viel größeren Strom der Zeit als kleine Wirbel, die in der Menschenwelt Wirbel machen. Als junger Ökologe versuchte ich im Rahmen eines Forschungsauftrages in einem »nur« fünf Kilometer langen und bis zu einem Kilometer breiten Stausee am unteren Inn, 40 Kilometer vor dessen Zusammenfluss mit der Donau in Passau, die Fließgeschwindigkeiten und die davon beeinflusste Verteilung und Häufigkeit der Larven von Zuckmücken im Bodenschlamm zu bestimmen. Die Variation der »Messwerte« fiel so groß aus, dass sich eigentlich keine vernünftigen Mittelwerte bilden ließen. Die Tierchen, wenige Millimeter lange »Würmchen«, lebten nur in den obersten Millimetern des Bodenschlammes, also fast auf einer Ebene. Und dennoch ließen sich die Verhältnisse kaum messen. Die mittlere Strömungsgeschwindigkeit von rund einem halben Meter pro Sekunde besagte so gut wie gar nichts für Leben und Erfolg dieser für Fische und andere Wassertiere so wichtigen Insektenlarven. Was werden, so fragte ich mich, Zehntelgrade als langfristige Veränderungen in den Temperaturen besagen? Seit der Industriellen Revolution, also seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, ist die Temperatur um rund zwei Drittel eines Celsiusgrades (0,63°C) angestiegen (Flannery 2006). Welches Lebewesen kann diesen winzigen Wert als bedrohlich empfinden? Die Temperaturspanne eines Tropenjahres erstreckt sich zwischen knapp 20 und höchstens um die 40°C. Sie schwankt also um das mindestens 30-fache der durchschnittlichen Temperaturerhöhung. In mittleren geographischen Breiten, wie in Deutschland, fallen auf der Bodenoberfläche die Minima oft unter –30°C, und die Höchstwerte steigen stellenweise über 50 °C an. Bäume und andere Pflanzen sind, wie auch die Tiere, so gut wie nie den offiziellen Messwerten der Wetterstationen ausgesetzt. Wo sie wachsen, herrschen andere Bedingungen als in einem Messhäuschen. Sie müssen mit dem zurechtkommen, was für sie an Ort und Stelle gilt. Wir kennen 500- bis 1000-jährige Bäume in unserem Land. Vielleicht sind sie auch ein paar Jahrhunderte jünger, als gemeinhin angenommen wird. Die meisten unserer Bäume könnten aber durchaus ein halbes Jahrtausend alt werden, wenn sie der Mensch nicht fällt. Was haben diese Alten in ihrem Leben für Temperaturschwankungen durchgemacht? Solche Fragen drängten immer stärker in den Vordergrund, je mehr ich mich mit den eigenen »globalen« Erfahrungen und den örtlichen Befunden aus meinen jahrzehntelangen Untersuchungen auseinandersetzte. Ein tieferes Verständnis kann es wohl nur geben, wenn man die Zeit und die Geschichte in die Betrachtungen und Bewertungen der laufenden Vorgänge mit einbezieht. Die Gegenwart lässt sich nicht aus der Gegenwart »erklären«. Denn alle Gegenwart hat Geschichte. Das ist das Kernproblem der Ökologie. Die alten Naturforscher vor ein bis zwei Jahrhunderten wussten es offenbar besser als die heutigen und nannten die Beschäftigung mit dem Leben »Naturgeschichte«. Mit den naiven Versuchen, aus der Naturkunde »exakte Wissenschaft« zu machen, wurde aus der Biologie im deutschsprachigen Raum die »Geschichte« getilgt. Eine geschichtslose Gegenwart kann es aber genauso wenig geben, wie sich brauchbare Ausblicke in die Zukunft ohne Bezug zum Werden und Gewordensein gewinnen lassen. Die Zukunft ist jedoch viel zu wichtig, um sich ihr von einer falschen Erwartungsbasis aus zu nähern. Deshalb wird hier mit einem groben Entwurf ein Rückblick über jene Zeitspanne versucht, zu der wir hier in Europa direkte Daten in Form von historischen Aufzeichnungen haben. Die historischen Fakten tauchen insbesondere nach den Wirren der Völkerwanderung auf. Sie verdichten sich im Hochmittelalter und ergeben so mit dem Jahr 1000 der europäischen Zeitrechnung eine Plattform, von der wir in das darauf folgende Jahrtausend bis in unsere Tage hineinblicken können. Wir begeben uns also gleichsam auf eine Reise durch das letzte Jahrtausend, um in der Gegenwart anzukommen. Wir »fahren« auf der Achse der Zeit empor und drehen uns um Europa herum. Ausblicke auf den übrigen Globus, auf die große weite Welt, sollen diese eurozentrische Betrachtung ergänzen. Es liegt an der eigenartigen Natur unseres Denkens und Gedächtnisses, dass wir aus der Gegenwart heraus zwar nach den Ursachen fragen und forschen können, dem Zeitlauf aber nur »vorwärts« zu folgen vermögen. Der Anfang muss daher mit einem Jahrtausendsprung zurück gemacht werden. Ein Durchgang durch zehn Jahrhunderte gebietet natürlich das auswählende Herausgreifen jener Gegebenheiten und Ereignisse, von denen wir aus der Rückschau wissen, dass sie von Bedeutung für den Gang der Geschichte waren. Wer nur in der Gegenwart über die »Bedeutung« dieser Gegenwart urteilt, kann sich ziemlich irren. Längst nicht alles, was einem bedeutsam erscheint, hat Bestand und erlangt später die hier und jetzt angenommene Bedeutung. Auf der Zeitachse der vergangenen 1000 Jahre könnten die letzten 30 Jahre »signifikanter Klimaveränderung« für die weitere Zukunft eine ähnlich bedeutungslose Abweichung sein wie die Serie extrem kalter Winter im 16. Jahrhundert. Die überdurchschnittlich warmen Jahre unserer Gegenwart können jedoch auch der Anfang einer echten Warmzeit sein, wie es sie ein paar Mal seit dem Ende der letzten Eiszeit, die vor rund 10 000 Jahren zu Ende ging, gegeben hat. Oder sie könnten etwas ganz Neues bedeuten, weil das Wirken des Menschen über die natürlichen Schwankungen hinausreicht und die weitere Entwicklung der Natur auf unserem Globus definitiv verändert.

Die Rückschau soll daher auch zeigen, was es für das Leben der Menschen in Europa bedeutete, als sich im letzten Jahrtausend die klimatischen Verhältnisse kräftig veränderten. Der Rückblick wirft Schlaglichter auf die Frage, ob die warmen Perioden die schlechten und die kalten die guten Zeiten waren oder ob sich eine solche Bewertung gar nicht sinnvoll vornehmen lässt, weil die Menschen auf die Veränderungen reagieren und sich darauf einstellen. Bei meinen Betrachtungen gehe ich von einer Grundannahme aus, die vielen Historikern und Geisteswissenschaftlern vielleicht nicht behagt, nämlich dass die natürlichen Lebensbedingungen und ihre Veränderungen auch maßgeblich Einfluss auf den Gang der Geschichte genommen haben. Um es hier jedoch gleich klarzustellen (was wohl nicht so recht gelingen wird, weil mir leicht ein platter Biologismus unterschoben werden kann!): Es geht mir nicht darum, die menschliche Geschichte allein aus der Natur heraus zu »erklären«. Mein Ziel ist es hingegen, die Natur und ihre Veränderungen als Rahmenbedingungen historischer Prozesse verstärkt in die Betrachtung mit einzubeziehen. Die Rechtfertigung für eine solche Betrachtungsweise ergibt sich einerseits aus der allgemeinen Erfahrung, dass die Menschen in verschiedenen Klimaten der Erde unterschiedlich leben und sich dort offensichtlich in verschiedener Weise kulturell, wirtschaftlich und politisch entwickelt haben. Andererseits zeigt sich auch, dass gleiches Klima keineswegs gleiche Geschichte bedeutet. Das große Vorbild für eine solcherart natürliche Betrachtungsweise der Geschichte liefert die Entwicklungsgeschichte des Lebens auf der Erde, die Evolution. Wären nur die Lebensbedingungen allein bestimmend gewesen, gäbe es viel weniger Arten und lebendige Vielfalt. Wir könnten leicht vorhersagen, welche Arten von Lebewesen auf welchen Stellen der Erde oder wo im Meer zu finden sein müssten. Wären allein die äußeren Veränderungen der Natur maßgeblich gewesen, hätte es seit einer halben Milliarde Jahre nichts Neues in der Evolution mehr gegeben. Evolution ist, wie es das berühmte Zitat der amerikanischen Biologin G. Evelyn Hutchinson so trefflich ausdrückt, das fortdauernde Spiel des Lebens auf sich immer wieder wandelnden Bühnen der Zeit. Ohne Änderung nichts Neues, besagt im Kern der Befund zur allgemeinen Evolution. Hätte die Erde jemals einen dauerhaft stabilen Naturzustand erreicht gehabt, gäbe es uns Menschen ganz gewiss nicht. Alles fließt, panta rhei, lehrten ganz richtig die alten Griechen. Wir aber möchten in unserer überheblichen Annahme, das einzig Richtige zu kennen, dem Augenblick der Welt, den wir zufällig erleben, frei nach Goethe »Dauer verleihen«. Unsere Zeit und die Zeit unmittelbar davor ist aber keineswegs die beste aller Zeiten (gewesen). Wir kennen nur nichts anderes und wollen deshalb trotzig darauf beharren, dass sich nichts ändern darf.

 

München, im Oktober 2006

Überblick

Ein Jahrtausend ist ein kurzer Zeitraum, wenn wir die großen Vorgänge in der Natur betrachten. Um die grundlegenden natürlichen Gegebenheiten unserer Zeit zu verstehen, müssen wir ein gutes Stück weiter zurückblicken. Denn all das, was uns das letzte Jahrtausend bescherte und was die Zukunft bringen wird, ist angelegt worden vor Zehntausenden von Jahren, als auf der Erde »Eiszeit« herrschte. Der heutige Zustand der Erde ist im Wesentlichen geformt worden von den Wirkungen und Nachwirkungen der letzten Eiszeit (Würm- oder Weichsel-Glazial) sowie von den an ihrem Ende rasch einsetzenden Veränderungen, die von Menschen verursacht wurden. Unsere Vergangenheit als biologische Art reicht jedoch viel weiter, nämlich wenigstens 120 bis 150 Jahrtausende zurück in jene Zeiten, als in Europa noch die bulligen Neandertaler (Homo neanderthalensis) umherschweiften und unsere fernen Vorfahren, die deutlich schwächer als diese andere, sehr robuste Menschenart waren, entweder noch in Afrika lebten oder sich allmählich aus einem zentralasiatischen Zweig des »aufrechten Menschen« (Homo erectus) entwickelten. Doch wie es auch gewesen sein mag, und darüber streiten sich die Erforscher der Geschichte der Gattung Mensch gegenwärtig wieder, wir können ganz sicher davon ausgehen, dass unsere Vorfahren von Natur aus weit umherschweifende Jäger und Sammler waren. Nach der letzten großen Warmzeit vor 120 000 Jahren, auch Zwischeneiszeit genannt, in der noch Nilpferde im Rhein und in der Themse lebten und die Großtierwelt bei uns überhaupt sehr afrikanisch aussah, rückte das Eis von Norden her erneut massiv vor und bescherte mit der bislang letzten Eiszeit fast ganz Europa geradezu arktische Verhältnisse. Die Eiskappe, die von Skandinavien ihren Ausgang nahm, schob sich fast bis an den Rand der deutschen Mittelgebirge vor. Sie bedeckte weitestgehend die Nordsee und die ganze Ostsee. Das Eis hatte so viel Wasser gebunden, dass der Meeresspiegel um mehr als 100 Meter absank. Die Themse war damit ein Nebenfluss des Rheins, und auch die Elbe mündete in diesen, bevor er als zentraler Strom das Nordmeer erreichte und schließlich vom Eis in den Atlantik umgelenkt wurde. Im Süden drangen die Alpengletscher zum vierten Mal in den letzten zwei Millionen Jahren weit ins Flachland hinaus vor. Zum Stillstand kamen sie kurz vor der Gegend von München. Sie schmolzen vor rund 12 000 Jahren ziemlich rasch wieder ab. Die große Gletscherschmelze verlief so schnell, dass Wasserfluten kaum vorstellbarer Größe durch die Alpenflüsse wie Isar und Inn oder die Rhone schossen. Sie schufen die vorläufige Endform der heutigen Flusstäler. Aus der letzten Eiszeit stammen auch die Seen im Alpenvorland und in der nordöstlichen Tiefebene rund um die Ostsee. Selbst die größten von ihnen sind also nur gut 10 000 Jahre »jung«, was im Vergleich zu den Flüssen wirklich jung ist. Die Donau zum Beispiel oder auch den Rhein gab es schon lange vor Beginn des Eiszeitalters. Sie sind als Flüsse tausendmal älter als die allermeisten Seen, nämlich Millionen Jahre alt. Die Erwärmung des Klimas setzte am Ende der letzten Eiszeit so extrem schnell ein, dass sich zum Beispiel in den Eisbohrkernen aus Grönland für diese Übergangszeit einfach nur ein Steilanstieg von 15 bis 20 Grad abzeichnet, der sich nicht einmal mehr in Zeitspannen von Jahrhunderten auflösen lässt. Zur Ursache für diesen so extrem raschen Klimawandel gibt es mehrere Theorien und Vermutungen. Eine Möglichkeit scheidet aber mit Sicherheit aus, nämlich dass der Mensch diesen Temperatursprung in eine Warmzeit verursacht haben könnte. Es gab damals noch so wenige Menschen, dass sie die großen Abläufe in der Natur der Erde sicherlich nicht beeinflussten. Allerdings rotteten sie damals vielleicht schon die ersten Tierarten aus. Ebenso ist nicht bekannt, warum und auf welche Weise kurz nach dem starken Anstieg der Temperaturen im Übergangsbereich zwischen Südwestasien und Arabien/Afrika, im sogenannten Fruchtbaren Halbmond, der Ackerbau erfunden wurde. Denn mit dem darauf folgenden Sesshaftwerden der Menschen änderten sich in der Tat die Verhältnisse nachhaltig. Fast gleichzeitig ließen sich größere Gruppen von Menschen im unterägyptischen Niltal, am Indus und an den großen Strömen des heutigen China nieder. Der Ackerbau wurde zu einer invasiven Technik, die in wenigen Jahrhunderten weite Teile Europas, Asiens und Nordafrikas eroberte und die Lebensweise der Menschen grundlegend veränderte. Wie angenommen wird, entdeckten Indios in Mittel- und Südamerika ganz unabhängig von den Entwicklungen in Eurasien neue Feldfrüchte für den Ackerbau, nämlich den Mais und die Kartoffel, während die Indianer Nordamerikas bis zur Ankunft der Weißen, wie auch die Indios im gesamten Großraum Südamerikas östlich der Anden, keine nennenswerten oder gar keine Ackerbaukulturen kannten. Die Aborigines von Australien blieben ebenfalls ohne Ackerbau, was deshalb höchst merkwürdig ist, weil die ihnen recht nahe verwandten Papuas von Neuguinea, das bis zum Anstieg des Meeresspiegels am Ende der Eiszeit noch mit Australien verbunden war, in gebirgiger Abgeschiedenheit ihrer Insel sehr ertragreiche Gartenbaukulturen mit Feldfrüchten entwickelt hatten.

Auf das rasche Ende der letzten Eiszeit folgte sogleich die längste Warmzeit unserer erdgeschichtlichen Gegenwart, die Holozän genannt wird. Sie hielt fast zwei Jahrtausende an. Im Vergleich zur nächstfolgenden kalten Periode war die Temperatur um etwa 7 °C erhöht. In Europa und in den vom Eis besonders betroffenen Regionen von Nordamerika, dessen Eisschild rund doppelt so groß wie der europäisch-nordwestasiatische gewesen war, breiteten sich die großen nordischen Wälder aus. Sie folgten dem zurückweichenden Eis mit Zeitverzögerung erst, nachdem auch der tief durchgefrorene Dauerfrostboden hinreichend aufgetaut war. Vielleicht entwichen diesen riesigen Frostböden, die zusammen eine größere Fläche als ganz Australien hatten, damals so viel Methan und Kohlendioxid, dass eine natürliche Treibhausgaswirkung zustande kam und der ganzen Erde das nacheiszeitliche Wärme-Optimum beschert wurde. Auf jeden Fall verursachte die Ausbreitung der Wälder auch den Niedergang vieler Großtiere, die auf der eiszeitlichen, sehr ergiebigen Tundra gelebt und dort staunenswerte Größen erreicht hatten. Wie etwa der Riesenhirsch. Sein am Ende schaufelartig vergrößertes Geweih spannte bis über drei Meter weit und erreichte Gewichte von mehr als 50 Kilogramm. Er war auch massiger als die größten gegenwärtig noch lebenden Hirsche, die nordischen Elche Eurasiens und Nordamerikas. Seine Größe und sein Geweih, das wie alle Hirschgeweihe in wenigen Monaten heranwächst und später, meist am Ende des Winters, wieder abgeworfen wird, drücken aus, dass die eiszeitliche Tundra viel produktiver gewesen sein muss als die Wiesen, Moore und Wälder, von denen sie nacheiszeitlich abgelöst worden war. Wie sonst hätten Hirsche in wenigen Monaten die Mineralstoffe für solch riesige Geweihe in ihrem Stoffwechsel bereitstellen können? Die eiszeitlichen Böden und die Pflanzen, die darauf wuchsen, sind sehr reich an Nährstoffen gewesen. Ihr »Erbe« steckt noch in den heutigen Löß- und Lößlehmböden, die den Gegenden, wo sie vorkommen, beste Wachstumsbedingungen für Getreide bieten, sofern die Witterung dazu passt. Der eiszeitliche Wind, der vor allem zwischen den beiden großen Eisschilden Nordeuropas und den Gebirgsmassiven der Alpen und Zentralasiens ostwärts wehte, lagerte den Löß ab. Seit Jahrtausenden ermöglicht dieser fruchtbare Eiszeitboden in Nordchina ertragreichen Ackerbau. Immer noch sind dort stellenweise die Lößschichten Dutzende von Metern dick, obgleich der Erosion schon sehr viel Boden anheimgefallen ist. Der »Gelbe Fluss«, der Hwangho, erhielt von der Fracht an Löß, den er einen Großteil des Jahres mit sich führt, seine treffliche Bezeichnung. Der Eiszeitwind wehte Jahrtausende lang. Daher kann mit Fug und Recht behauptet werden, dass die Eiszeit und das westliche Europa den Fernen Osten, von der Mongolei bis ans Gelbe Meer, so fruchtbar gemacht haben. Wie umgekehrt die Passatwinde mit ihrer Staubfracht aus den Wüsten von Nordafrika den Regenwäldern Amazoniens Fruchtbarkeit bescheren. Der Schirokko weht aus der Sahara Wüstenstaub als Naturdünger in das Mittelmeer hinein, das ohne diese Düngung eine fast tropisch-schwache Produktivität an Fischen und anderen Meerestieren aufweisen würde. Nur die Flussmündungen bringen Nährstoffe, doch da die Flüsse während der eigentlichen Eiszeiten, der Glaziale, sehr viel weniger Wasser führten als in den wärmeren Zeiten, ging auch ihr düngender Effekt zurück. Denn die Niederschläge hatten global stark abgenommen, weil so viel Wasser an beiden Polen im Eis gebunden war. In der Eiszeit entwickelten sich wahrscheinlich die Wanderungen der Lachse und anderer Fische, weil die Jahreszeiten in den Flüssen viel stärker wechselten als in den Perioden mit ausgeglicheneren Niederschlägen und beständig fließendem Grundwasser. Dieses war durch den Dauerfrostboden weitgehend blockiert, und über weite Regionen floss es während der monatelangen Frostperioden der eiszeitlichen Winter gar nicht mehr. Dieses Klima dürfte jedoch mit trockener Kälte durchaus angenehmer für die Menschen und für die auch im Winter aktiven Tiere gewesen sein, weil Feuchtigkeit dem Körper sehr viel schneller Wärme entzieht und nasse Felle nicht mehr isolieren. Brennholz brauchten die Eiszeitmenschen kaum, zumal das Fleisch der Großtiere viel Fett enthielt und reiche Ernten von Beeren im Herbst die Ansammlung von Fettvorräten im Körper ermöglichten. Die großen Bären, die es damals in noch größeren Formen als in der Gegenwart gab, schöpften aus dieser Beerennahrung ihre Vorräte an Fett für die lange Winterruhe. Die meisten Tiere zwang jedoch der Wechsel von Sommer und Winter zu ausgedehnten Wanderungen. Die Menschen mussten ihnen folgen, um überleben zu können. Sesshaftigkeit passte gar nicht zur natürlichen Entwicklung der Art Mensch; sie brachte in der Tat die größten Schwierigkeiten mit sich. Das gilt bis heute. Immer wieder bricht sich der tiefverwurzelte Nomadismus der Menschen Bahn. Auch das ist zu berücksichtigen, wenn wir die Veränderungen im letzten Jahrtausend betrachten. Sie sind ein winziger Ausschnitt aus der Naturgeschichte des Menschen.

Die natürlichen »Vorgaben« wirken auf uns in doppelter Weise. Erstens durch die unmittelbaren Verhältnisse und ihre aktuellen Veränderungen. Zweitens über die angeborenen Neigungen und Bedürfnisse. Diese bilden als äußerer Rahmen und innere Zwänge (constraints) die Gegenspieler zu den wirtschaftlichen, sozialen und politischen Entwicklungen, die sich als Druck äußern können. Die Natur schränkt die Möglichkeiten ein, auch wenn wir uns über sie hinwegsetzen wollen.

Solange die Menschen noch in Familienverbänden oder Clans nomadisch umherzogen und sich als Jäger und Sammler selbst versorgten, blieben die Freiheitsgrade groß und offen. Das »freie Leben« der »edlen Wilden« wurde daher insbesondere seit der Zeit der Romantik verklärt und verherrlicht. Vielfach dient auch heute größere Freiheit als Vorwand, wenn »ausgestiegen« werden soll oder »die Natur als Vorbild« gesucht wird. In Wirklichkeit war gerade die Freiheit der Nomaden ganz besonders stark von den Zwängen der Natur eingeengt. Der schönste Platz nützte nichts, wenn er nicht ausreichend Nahrung und Wasser bieten konnte. Wer mit der gebotenen kritischen Distanz die verbliebenen Wildnisse unserer Zeit betrachtet, wird nicht umhinkommen festzustellen, dass man als Mensch darin ohne Hilfe von außen längerfristig nicht überleben kann. Es waren daher ganz bestimmte Gebiete und klar erkennbare Umstände, die durch Überwindung der »Wildnis« die Kultur mit dauerhaften Ansiedlungen von Menschen ermöglicht hatten. Die Menschheit breitete sich nacheiszeitlich keineswegs »gleichmäßig« über den Globus aus. Riesige Räume blieben dünn besiedelt oder wurden nur vorübergehend genutzt, wie etwa die Regenwälder Amazoniens oder die nordische Taiga, der größte Landlebensraum überhaupt. In der Sahara mit ihren Oasen gab es in frühgeschichtlicher Zeit großflächig schon mehr Menschen als in Amazonien oder Sibirien. Von den Naturgegebenheiten her betrachtet ist es auch nicht verwunderlich, dass die Menschen bergwärts strebten. Frühzeitig entwickelten sich Kulturen und Hochkulturen in eisigen Höhen, die durch ihre Naturbedingungen landwirtschaftlichen Ertrag und ein gesundes Klima garantierten. Das gilt für die Andenhochländer in Südamerika wie für Tibet, den Altai, den Kaukasus und andere asiatische Hochgebirge sowie auch für die Alpen, deren Name ursprünglich etwa »hochgelegene Weiden« bedeutet hatte. Die Entwicklung der Menschheit in den ersten 10 000 Jahren nach der letzten Eiszeit folgte ganz klar dem von der Natur vorgegebenen Grundmuster aus Bodenfruchtbarkeit und Klima. Auch die Ausbreitung der Menschen lässt sich in direkten Zusammenhang mit diesen Naturgegebenheiten und ihren Veränderungen bringen. Sesshaftigkeit und das von ihr ausgehende starke Wachstum der Bevölkerungen fingen etwa in der Mitte der letzten 10 000 Jahre und in der klimatischen Mitte zwischen dem kalten Norden und den Tropen an. Der Raum des Mittelmeeres hieß eigentlich recht bezeichnend »Mittelland«, Mediterraneis, vom lateinischen medius terrae abgeleitet. Denn vor 5000 bis 2000 Jahren war es wirklich das günstig gelegene mittlere Land zwischen der Kälte im Norden, von wo »Boreas«, der Nordwind, herwehte und die Kälte mitbrachte, und dem heißen Süden, wo die »Menschen mit den verbrannten Gesichtern«, die Aethiops, lebten. Während des nacheiszeitlichen Wärmeoptimums verhielt es sich jedoch noch deutlich anders. Da hatte es im Zentrum Asiens offenbar die günstigsten Lebensbedingungen gegeben, denn es waren die ural-altaischen Völker, die sich von diesem innerasiatischen Zentrum aus massiv ausbreiteten und den ganzen Norden Eurasiens bis in den Fernen Osten sowie den Südwesten Asiens als Kaukasier mit den Stämmen der Indo-Europäer buchstäblich überschwemmten. Die gemeinsame Erforschung der Sprachen und Sprachfamilien mit der Verbreitung und Ausbreitung von Genen führte die moderne Forschung auf die Spur dieses ural-altaischen Zentrums (Cavalli-Sforza 2001). Der kaukasische Großraum deckt sich mit beiden wesentlichsten Errungenschaften der sesshaft gewordenen Menschen, nämlich den Wildvorkommen der wichtigsten Haustiere und der Kultivierung der Getreidepflanzen. Rind, Schaf und Ziege stammen von dort, und auch Gerste, Weizen und Roggen. Hier wurden schon sehr früh, wahrscheinlich während Wildgräser in Kultur genommen und zu Getreide gezüchtet wurden, Bier und Wein »erfunden«. Auch die wichtigsten Obstbäume stammen aus diesem Raum. Afrika lieferte hingegen keine oder in der Bedeutung nur nachrangige, viel »jüngere« Kulturpflanzen und vom global fast bedeutungslosen Perlhuhn abgesehen auch keine Haustiere, obgleich im Norden des Kontinents, in dem die Wurzeln der Menschheit stecken, zur Zeit der alten Ägypter höchst intensiv mit allen möglichen Tieren experimentiert worden war. Studiert man das aufschlussreiche Buch von Bössneck (1992) über die Tierwelt des alten Ägyptens, so drängt sich geradezu der Vergleich mit der spätzaristischen und sowjetischen Musterfarm Askania Nova auf, wo zu Beginn des 20. Jahrhunderts, also rund 3000 Jahre nach den alten Ägyptern, erneut versucht wurde, afrikanische Wildtiere zu Haustieren zu machen. Es misslang wiederum!

Über den »Fruchtbaren Halbmond«, den Ausgangsbereich der westlichen Ackerbaukultur, ist deshalb ein viel größeres »asiatisches Kulturdreieck« zu setzen, dessen Spitze im Ural-Altai liegt. Der östliche Schenkel reicht von dort nach China und Japan, der westliche über den Kaukasus nach Europa, zur heutigen Türkei und in den östlichen Mittelmeerraum. Über Persien und Indien verbindet die Grundlinie die beiden Schenkel dieses großen asiatischen Dreiecks, von dem alle wesentlichen Impulse, Neuerungen und Entdeckungen der Menschheit ausgegangen sind – die Schrift mit eingeschlossen. Und allen Ereignissen der Zeiten zum Trotz hat dieses asiatische Dreieck seine zentrale Bedeutung beibehalten, auch wenn sich die Gewichte in den verschiedenen Zeiten immer wieder verlagerten. Entlang seiner Grundlinie konzentriert sich der weitaus größte Teil der Menschheit: Europa, Vorderasien, Indien, China mit zusammen rund drei Milliarden Menschen. In seinem Spitzenbereich und an der westlichen Grundlinie befinden sich die mit weitem Abstand bedeutendsten Energiereserven. Aus diesem Dreieck gingen auch die drei einflussreichsten Denkweisen und Weltbilder hervor, das sino-japanisch östliche Denken, das islamisch südwestliche und das christlich-rationale des Westens. In den rund tausend Jahren um die Zeitenwende (unserer Zeitrechnung) formierten sich diese drei Weltbilder in der vergleichsweise großen (naturgegebenen) Stabilität der Lebensbedingungen des Fernen Ostens, im vom raschen Wechsel guter und schlechter Zeiten, die man hinnehmen musste, geplagten Südwesten und im auf die Veränderung der Natur mit Metall, Werkzeugen und Technik ausgerichteten europäischen Westen. Kein Raum von kontinentaler Dimension ist geographisch so reich an Erzen und zugleich so zerklüftet und zerrissen wie Europa, und nirgendwo sonst rückten die Wüsten so rasch vor wie in jenem südwestlich-asiatischen Teil, der von Natur aus Europa von Asien scheidet. Bis in die vorrömische Zeit waren die zentralasiatischen Wüsten noch nutzbar als Weideland und Heimat von Wildkamelen, aus denen die Hauskamele gezüchtet wurden. Die Sahara war noch weithin grün und ein wildreiches Savannen- und Steppenland. Im Hinterland von Karthago gedieh zu den Zeiten der größten Machtentfaltung Roms das Getreide so gut, dass Karthago zerstört werden musste, damit für Rom diese »Kornkammer« sicher war. Vorher waren die Hochkulturen im Zweistromland von Euphrat und Tigris, wie auch die entsprechenden am Indus und am Unterlauf des Nils, durch günstige klimatische Verhältnisse zur Blüte gelangt. Ein zunehmend trockeneres (arides) Klima führte zur Versalzung und zum Rückgang der Erträge. Roms Macht schmolz nicht allein unter dem Ansturm der Barbaren dahin, denn das Reich hatte jahrhundertelang mit Erfolg expansiv gekämpft und bestanden. In den ersten nachchristlichen Jahrhunderten gab es zumindest im europäisch-westasiatischen Raum massive klimatische Veränderungen, die durchaus berechtigtermaßen als eine Kaltzeit zu kennzeichnen sind. Was folgte, ist historisch als »die Wirren der Völkerwanderung« bekannt. Aus dieser stieg das »Mittelalter« der europäischen Geschichte empor. Mit ihm soll die Rückschau beginnen. Denn seither gibt es genügend Aufzeichnungen auch über die Natur.

Mit natürlichen Veränderungen hatten und haben zahlreiche Kulturen zu kämpfen, vor allem solche, die auf ertragreiches Kulturland oder auf künstliche Bewässerung angewiesen sind. Die ungleiche Verteilung von Wärme und Niederschlägen und die sich daraus ergebende Verfügbarkeit von Wasser nahmen stets maßgeblich Einfluss auf das Wohl und Wehe von Kulturen, von Völkern und Macht. Jared Diamond hat das in seinem großartigen Buch Arm und Reich ausführlich dargestellt und überzeugend begründet, warum es besondere, scheinbar vom Schicksal bevorzugte Gegenden auf der Erde gibt, von denen die Innovationen ausgingen und in denen sich die Machtzentren etablierten. Seiner Aufzählung im Originaltitel, den Waffen (guns), Krankheitserregern (germs) und Eisen/Stahl (steel) fehlen Klima und Boden als natürliche Grundlagen. Wie aber gezeigt werden wird, erzielten die Waffen und auch die Krankheiten ihre entscheidenden Wirkungen erst im Zusammenhang mit den klimatischen Veränderungen. Bevölkerungswachstum und Bevölkerungsdruck führten zu Expansion und ermöglichten Eroberungen. Die von der Produktivität der Natur abhängige »Produktivität« der Bevölkerung entschied darüber, ob Weltreiche, die aufgebaut wurden, Bestand hatten oder rasch wieder verschwanden. Oder ob die Bevölkerung mit fast ereignislosem, bedürfnisarmem Leben über Jahrhunderte und Jahrtausende politisch und historisch unbedeutend blieb. So lässt sich wohl nur unter Berücksichtigung der Umweltveränderungen verstehen, warum das größte zusammenhängende Reich, das Weltreich der Mongolen des Dschingis Khan, von so kurzer Dauer war, während China und Japan dagegen trotz so unterschiedlicher Größen und Naturgegebenheiten jahrtausendelang »stabil« blieben und weshalb Europa von Anfang an und immer wieder aufs Meer hinausgriff und darüber hinweg seinen Einfluss geltend machte. Im Europa so nahe gelegenen Afrika schien währenddessen die Zeit ähnlich stillgestanden zu haben wie im fernen Australien, bis vor erst 200 Jahren die Europäer auch in diese beiden Kontinente drängten. Jenseits von Afrika wurde Südamerika schon dreihundert Jahre früher »kolonisiert«, und an den Küsten von Nordamerika waren mindestens schon vor 1000 Jahren die Basken und kurz nach ihnen die »Nordmänner«, die Wikinger, tätig. Ungefähr zur selben Zeit tauschte sich Eurasien von Ost nach West bereits über die Seidenstraße aus, und noch ein Jahrtausend früher fuhren die Phönizier aus dem Mittelmeer in den Atlantik hinaus. All das sind ebenso wenig »Zufälligkeiten« der Geschichte, wie etwa das Erstarken und Vorrücken der Germanen und die Zerstörung des Weströmischen Reichs oder die geradezu explosive anfängliche Ausbreitung des Islams zufällig zustande gekommen sind. Die Geschichtswissenschaft sucht wie die Naturgeschichte nach »Gründen«, also Ursachen. Und sie weiß, dass selbst bei reichlich umfassender Kenntnis der Ursachen nicht alle Vorgänge und alle Zeitpunkte ihres Eintretens hinreichend erklärt werden können. Wir werden uns auch bei den naturgeschichtlichen Betrachtungen damit zufriedengeben müssen, Möglichkeiten oder Wahrscheinlichkeiten aufzuzeigen. Jede Zeit, die wir als Querschnitt durch den Zeitstrom betrachten, hat bereits ihre Vorgeschichte. Dennoch verbleiben der jeweiligen Gegenwart Freiheitsgrade für die tatsächlichen Wege, die der weitere Gang der Geschichte nimmt. Wer diese Freiheit als das alleinige Kriterium für die Geschichte erachtet, bekommt allerdings eine zusammenhanglose Abfolge von Ereignissen, die ähnlich spannend ist wie das Auswendiglernen von Jahreszahlen im Geschichtsunterricht der Schulen.

Für die Frage, wie denn für uns die Zukunft werden könnte oder wie es nicht weiterlaufen sollte, brauchen wir als Standortbestimmung eine Geschichte mit Ursachen und Gründen. Denn nichts entsteht ganz neu. Das trifft sowohl für die Klimaveränderung als auch für die sozialen und politischen Veränderungen in den Gesellschaften und Staaten zu. Wenn die Menschheit als Ganzes wächst, aber unsere Bevölkerungen und der Anteil Europas an der Globalbevölkerung schrumpfen, so ergeben sich zwangsläufig andere Schlussfolgerungen dafür, wie den globalen Veränderungen, dem global change, begegnet werden soll, als für sich rasch entwickelnde Bevölkerungen wie in Indien, China oder Brasilien. Wir brauchen zweifellos Perspektiven für die Zukunft. Die Gegenwart allein reicht dafür nicht aus. Unzutreffende oder gar falsche Schlussfolgerungen aus der Geschichte lassen sich durch bessere Daten und gründlichere Forschungen korrigieren. Wenn vermeintliche Zusammenhänge so nicht gegeben sind, können die Folgerungen daraus abgeändert werden. Ganz gewiss war die Zeit unmittelbar vor unserer Gegenwart nicht der einzig richtige Zustand der Erde. Das lehrt die Geschichte auf jeden Fall. Doch was sich früher unter welchen Bedingungen ereignete, kann zumindest vernünftige Überlegungen zu den gegenwärtigen Erwartungen, Hoffnungen oder Befürchtungen ermöglichen. Allein schon deshalb, weil es stattgefunden hat und Menschen darauf reagierten, ist das Vergangene aufschlussreich. Wir können uns fragen, wie wir in entsprechender Lage reagieren würden oder uns verhalten könnten. In seinem jüngsten Buch Kollaps hält uns Jared Diamond (2006) die Geschichte ausgewählter Kulturen vor. Manche gingen unter, andere überlebten. Was hatten sie falsch oder richtig gemacht? Seine Interpretationen fordern eine kritische Auseinandersetzung heraus, bei der es wirklich nicht darum geht, ob er recht hat oder nicht, sondern was diese Szenarien für unsere Zukunft bedeuten. Denn Fortschritt des Wissens und hinreichend gute Zukunftsaussichten bestehen in der Korrektur von Fehlern und liegen nicht im blinden Glauben an unumstößliche Wahrheiten oder der sturen Nachfolge von einmal als »gut« erkannten Meinungen. Die Gegenwart ist stets Vergangenheit und Zukunft zugleich. Geschichte der Menschen und Naturgeschichte beinhalten Veränderung als unumstößliche Realität. Stabilität trat in den letzten 10 000 Jahren allenfalls kurzzeitig und vielleicht nur scheinbar auf, weil wir das Ausmaß der tatsächlichen Veränderungen noch nicht erkennen können. Das Klima schwankte seit dem Ende der letzten Eiszeit, und zwar ganz erheblich (Abb. 1). Die beiden letzten größeren Schwankungen fallen in das letzte Jahrtausend mit dem »Mittelalterlichen Klima-Optimum« und der »Kleinen Eiszeit«. Vor 1000 Jahren war es mindestens so warm wie gegenwärtig.

Abb. 1:

Verlauf der spät- und nacheiszeitlichen Klimaentwicklung in Mitteleuropa nach den Befunden der Pollenanalysen (nach Kahlke 1994, verändert).

In den letzten 500 Jahren drückten extrem kalte Winter die Durchschnittstemperaturen bis in das 19. Jahrhundert hinein und veränderten die landwirtschaftlichen Produktionsbedingungen in weiten Bereichen Europas ganz gewaltig. Ist aber der hier näher betrachtete Großraum von Europa mit seinen rund 10 Millionen Quadratkilometern Landfläche groß genug für eine globale Betrachtung? Selbst wenn diese Frage verneint werden müsste, ändert das nichts an der Tatsache, dass Europa für uns, die wir in Europa leben, von erstrangiger Bedeutung ist. Keiner Bevölkerung wird man das Vorrecht abstreiten können, Gegenwart und Zukunft auf sich bezogen zu betrachten. Wenn andere Bevölkerungen dies zum Vorwurf machen, urteilen sie damit bereits auf genau die gleiche subjektive Weise. Es bleibt China mit seiner mindestens so langen Geschichte, wie wir sie in Europa vorweisen können, unbenommen, aus eigener Sicht Vergangenheit und Gegenwart zu werten und daraus für die Zukunft Schlüsse zu ziehen. Das gilt für alle Völker und Kulturen. Als viel problematischer erweist sich dagegen unsere üblich gewordene Vorgehensweise, scheinbar nicht zuerst an uns zu denken, sondern gleich für die ganze Welt das Richtige verkünden zu wollen. Würden hingegen die unterschiedlichen Gewinne und Einbußen von Veränderungen jeweils fair dargelegt, könnten die für die Zukunft notwendigen Maßnahmen leichter verhandelt und umgesetzt werden. Auch dafür liefert die Geschichte viele aufschlussreiche Beispiele von Gewinnern und Verlierern. Die Zerschlagung des Weströmischen Reiches kam zunächst den südwestwärts in den wärmeren Raum drängenden Germanen zugute, dann aber eröffnete das nordafrikanische Machtvakuum den Arabern mit dem Islam eine rasche Ausbreitung. Für wen war die Klimaveränderung, die im Hintergrund mitspielte, nun von Vor- oder Nachteil? Und wie lange hielten die Verschiebungen von Macht und Einflusssphären an? Wiederum pflegen wir in unserer Zeit davon auszugehen, dass die Menschheit zur Ruhe gekommen sei, obgleich bekanntlich Afrikaner in Massen nach Europa, Lateinamerikaner nach Nordamerika und Asiaten in alle Welt drängen. Das Migrationsproblem ist ungelöst, solange lediglich »Qualifizierte« willkommen sind, die große Masse aber mit Macht abgewehrt werden muss. Als noch vor gut 100 Jahren Millionen Europäer nach Nord- und Südamerika auswanderten und den amerikanischen Doppelkontinent wie auch auf der anderen Seite des Globus Australien europäisierten, fragten sie nicht, ob das der heimischen indianischen Bevölkerung oder den Aborigines passte. Jetzt tun wir, die Europäer in Europa und in den »neuen Europas« (Crosby 1986) in Amerika und Australien, so, als ob das ganz unerhört sei, weil die anderen in gleicher Weise zu uns kommen wollen! Fast stets steckt im Hintergrund solcher Spannungen Bevölkerungsdruck, der sich aufgebaut hat. Auch dieser ist eine Folge des günstigeren Klimas der letzten 150 Jahre, und nicht bloß die Verlockung, die von »den Reichen« ausgeht, begünstigt die Migrationen. Wir haben also eine ganze Anzahl guter Gründe, beim sorgenvollen Blick in die Zukunft gründlicher als bisher die Vergangenheit zu betrachten. Sie wurde geformt von der sich ändernden Natur und überformt durch die von den Menschen vorgenommene Veränderung der Natur. Unsere Vergangenheit ist Geschichte und Naturgeschichte zugleich. Dies zu verdeutlichen ist das zentrale Anliegen meines Rückblicks auf das letzte Jahrtausend, das für uns einfach deswegen das wichtigste ist, weil es das letzte ist und unsere Gegenwart begründet hat.

Rückblick auf das 2. Jahrtausend

1. Das Mittelalter

Die Krönung Karls des Großen im Jahre 800 unserer Zeitrechnung markiert mit der Prägnanz eines selten »glatten« historischen Datums den Beginn einer Geschichtsepoche, die rund fünf Jahrhunderte andauerte. Das »Mittelalter« bezeichnet sie die Geschichtsschreibung der neueren Zeit. Wie immer bei historischen Vorgängen lassen sich die Grenzen nicht scharf ziehen. Die Zeiten gehen fließend ineinander über. Aber in der groben Abfolge, gleichsam aus der Ferne betrachtet, passt die zeitliche Einordnung ganz gut: Das (West)römische Reich war untergegangen. Rom stellte in Europa politisch keine Großmacht mehr dar. Es war nach langem Abwehrkampf dem Ansturm der Barbaren erlegen. Jahrhunderte der Wirren folgten. Die Völker suchten neue Heimaten. Kreuz und quer zogen sie über Europa hinweg. Die Bewegungen waren nicht chaotisch, auch wenn die Völkerwanderung Chaos auslöste und die alte Ordnung zerstörte. Die allgemeine Richtung war und blieb eindeutig. Wie Schwärme von Zugvögeln wandten sie sich nach Südwesten und Süden, aber ohne feste Kurse, weil sie das Ziel gar nicht kannten. Was sie antrieb, waren Wunsch und Notwendigkeit, wegzukommen von den Regionen, in denen sie vorher gelebt hatten; weg aus dem Norden und Osten. Ihre Richtung wies die Sonne. Sie zogen ihr entgegen nach Süden hin zum Schwarzen Meer, nach Südwesten hinein ins Kernland von Mitteleuropa und vor allem beiderseits um die Alpen zum »richtigen Süden«, nach Iberien, Italien und nach Nordafrika. Germanenstämme wurden in jener Zeit Nordafrikaner. Das große Zuggeschehen der Völkerwanderung kam großenteils zum Erliegen, als sich das Frankenreich Karls des Großen zur neuen Großmacht in Europa etablierte und stabilisierte. Sein baldiger Zerfall in die beiden Hauptteile, die anschließend mehr als ein Jahrtausend lang immer wieder miteinander rivalisierten und um die kontinentale Vorherrschaft stritten, führte im Jahre 962 unter Kaiser Otto dem Großen zur Bildung des ›Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation‹. Es hatte Bestand, bis es 1806 vom selbstgekrönten Kaiser des westlichen Frankenreichs, von Napoleon I., vollends zerschlagen wurde. Die eigentliche Macht, vor allem aber die Vormachtstellung in Europa, so wie sie ein Jahrtausend davor das Imperium Romanum innegehabt hatte, verlor das Heilige Römische Reich deutscher Nation jedoch bereits 300 Jahre früher in der großen Wendezeit um 1500. Die neuen Kraftzentren hatten sich damals von Mitteleuropa westwärts nach Iberien verlagert, und sie schoben sich in der Folgezeit an der Westseite Europas nordwärts über Frankreich nach England vor und griffen schließlich über den Nordatlantik hinüber nach Nordamerika. Südamerika, das von Iberien aus als erste Großregion Amerikas europäisiert worden war, erreichte bis in die Gegenwart nie eine größere Machtstellung oder gar weltpolitische Bedeutung. Doch dieser Hinweis greift zu weit vor.

Blenden wir zurück. In höchst merkwürdiger und historisch einzigartiger Weise fühlte sich das neue Großreich an das alte Rom gebunden – so sehr, dass es sich als ›heilig‹ und ›römisch‹ bezeichnete und sich seine Kaiser, wie andere Nationen auch, von Gottes Gnaden geben ließ, aber vom Stellvertreter, dem Papst, ernennen und krönen ließ. Das Reich war eine Zusammenballung und Mischung unterschiedlichster Völker und keineswegs eine Nation im Sinne des Wortes – und es wurde auch nie eine Nation daraus. In dieser Hinsicht unterschied sich das Gebilde sehr stark von einem in Flächenausdehnung und Bevölkerungsgröße durchaus vergleichbaren Komplex unserer Zeit, den Vereinigten Staaten von Nordamerika. Während in den USA die einigende Kraft in Freiheit (libertas) und Sprache (amerikanisches Englisch) besteht, aber Herkunft und Kultur der Menschen keine Rolle spielen oder spielen sollten, war es im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation eben nicht die Nation, sondern das Heilige der römischen Kirche und des Papsttums. Nicht einmal einer gemeinsamen Sprache, einer lingua franca, bedurfte es, weil Latein als »Staatssprache« der Kirche schon vorhanden war. Vom Klerus, insbesondere vom Mönchstum getragen, blieb Latein der Kirche und der Wissenschaft vorbehalten. Im täglichen Leben spielte es nahezu keine Rolle. Bis heute gelang es auch keiner Sprache Europas, die Vorherrschaft zu gewinnen. Es dominiert keine Nationalkultur. Hinsichtlich der Religion spaltete sich Europa im Verlauf einiger Jahrhunderte in jene drei großen Teile des Christentums, die sich nach dem Zerfall des römischen Weltreichs den historisch-römischen Grenzen gemäß herausgebildet hatten: Ostrom und Westrom, Byzanz und Rom also, mit der Orthodoxie und dem Katholizismus zunächst, dann Germanien und »Romanien« mit der Spaltung in die reformierten evangelischen Kirchen und dem der Kontinuität und römischen Tradition verhafteten Katholizismus.

Die Grundmuster dazu waren angelegt oder existierten bereits, als das Reich geeint worden war und kurz vor der ersten Jahrtausendwende zum Imperium aufstieg. Der selbst schon ein Jahrtausend alt gewordene, politisch längst bedeutungslose Limes, der das Imperium Romanum von der barbarischen Welt der freien Germanen und Slawen trennte, wirkte dennoch wie auf geheimnisvolle Weise fort. Dass er zugleich – und ziemlich genau – der Grenze des Weinbaus entsprochen hatte, mag hier wie ein lächerliches Detail wirken. Aber es wird sich zeigen, dass solche Grenzmarken aus der Natur keineswegs historisch bedeutungslos sind, sondern als Weiser für natürliche Gegebenheiten und Möglichkeiten mehr verraten als mancher Krieg und Sieg.

Das neue Reich hatte nun die Außengrenzen neu gezogen. Nicht fest, wie bei den Grenzen von Völkern und Nationen, sondern locker und flexibel, wie bei Bündnissen zu gegenseitigem Nutzen. Die im Reich zusammengeschlossenen Völker und regionalen Herrschaftssysteme aller Hierarchieordnungen, die bis zu Königen reichten, bildeten eine Art politischer Symbiose. Sie ermöglichte weitgehend freie Beweglichkeit zwischen dem skandinavischen Norden und dem maurischen Süden, zwischen den selbständigen, gleichwohl aber christlichen und damit auch der Oberherrschaft des Papstes verbundenen Staaten des Westens und dem bedrohlich gewordenen Südosten, wo sich der Islam als Großmacht etablierte und Ostkaiser wie Ostkirche bis zum Fall von Konstantinopel bedrohte, um danach auf dem Balkan von der anderen Seite auf europäischen Boden vorzudringen, wie das im Südwesten früher schon die islamischen Mauren mit großem Erfolg getan hatten. Dass auch sie, die Gotteskrieger jener Zeit, an Grenzen haltmachten, die sich bei der Beachtung der natürlichen Gegebenheiten als echte Grenzzonen darstellen und nicht bloße Kartengrenzen von Atlanten gewesen sind oder nach Lage der politischen Machtverhältnisse beliebig waren, blieb weitestgehend unbemerkt. Warum sollte den Mauren im atlantischen Nordwesten Spaniens die Kraft ausgegangen sein, wenn sie sich in Cordoba und Sevilla so erfolgreich und so großartig hatten festsetzen können und rasch eine großartige Kultur (!) aufbauten? Warum musste Sizilien fallen, das vom italienischen Festland aus sehr viel leichter hätte versorgt und verteidigt werden können als von Afrika her, von wo die islamischen Eroberer kamen? Warum war es Jahrhunderte davor, in Rom vor der Zeitenwende, so wichtig, dass der Sizilien gegenüber beim heutigen Tunis gelegene Stadtstaat Karthago erobert wurde, wenn später nicht einmal der italienische Süden so viel zählte, dass ihn das großmächtige Heilige Römische Reich deutscher Nation wieder zurückgewinnen wollte? Es dauerte merkwürdig lange, bis dieser Rom so nahe gelegene Süden Italiens, der Mezzogiorno, wieder zurückerobert wurde. Wollen wir das geographische Bild des Reiches bei der Gründung und in den Jahrzehnten danach verstehen, reichen die üblichen historischen Schulbuchfakten offenbar nicht aus. Zu viel bleibt ungereimt, unlogisch oder geradezu unerklärlich in jener Zeit des aufsteigenden Mittelalters, in dem Staat und Kirche die größte Macht und die besten Möglichkeiten zur Einigung und Vereinheitlichung besessen hatten. Die heute so gefürchtete Globalisierung blieb damals, unter zweifellos günstigen Rahmenbedingungen, unerklärlicherweise aus. Europa differenzierte sich im Innern weiter und unternahm recht plötzlich einen Feldzug gegen »das Böse«, wie er vorher beispiellos in der Geschichte war. Mit dem Schlachtruf »Gott will es« befreiten beim ersten Kreuzzug im Jahr 1099 die christlichen Heere Jerusalem von den Mohammedanern. Das Neuartige war, dass damit keine territorialen Eroberungen nennenswerten Ausmaßes verbunden worden waren. Die Kreuzritter bauten sich zwar Militärstützpunkte an strategisch günstigen Stellen aus, wie auf Malta und auf Rhodos, aber es kam zu keiner Kolonisierung der eroberten Gebiete und zu deren Eingliederung ins Reich. Es ging offenbar auch gar nicht darum, die islamische Bevölkerung zu vertreiben, sondern »lediglich« um die Rückeroberung der heiligen Stätten der Christenheit. Der mittelalterliche Kampf der Kulturen war mit diesem sicher auch aus der ersten Überraschung der vorher so erfolgsgewohnten arabisch-islamischen Welt zu erklärenden Sieg nicht wirklich gewonnen. Das Drama hatte mit dem Fall von Alexandria im Nildelta angefangen und mit der raschen Expansion des Islams über Nordafrika bis nach Spanien die mediterrane Welt vermeintlich neu geordnet. Das Christentum brauchte lange, bis der Gegenschlag kam. Aber die orientalisch-islamische Macht war mit dem Fall Jerusalems alles andere als gebrochen, auch wenn die Gotteskrieger des Propheten erstmals erkennen mussten, dass ihnen ihre Siege bei der Ausbreitung der Lehre Mohammeds mit Feuer und Schwert vielleicht doch aus Gründen, die sie noch nicht einsehen konnten, zu leicht gefallen waren. Noch waren die Araber kraftvoll genug, zurückzuschlagen. Noch längst aber waren sie nicht so stark, wie sie das Jahrhunderte später wurden, als sich im kleinasiatischen Keil, den Asien gegen Europa drückt, mit den asiatischen Türken eine neue islamische Großmacht aufbaute. Im mittelalterlichen Kampf der Kulturen schickten das Heilige Römische Reich und seine in diesem Ziel der Befreiung der Ursprungsgebiete der Christenheit Verbündeten, die vor allem aus Frankreich kamen, Heer um Heer; angeblich sogar mit Kindern im »Kinderkreuzzug«.

Was geschah damals wirklich? Die historischen Angaben liefern Fakten, die eines Umfeldes bedürfen, um sie verstehen zu können. Fragen wir nicht allein nach dem Geschehen als solchem, so wie es geschichtlich dokumentiert ist, sondern auch danach, wie es überhaupt möglich war, dass Kreuzzüge zustande kamen. Was »tat« die islamische Welt der europäischen Christenheit? Hätte man es nicht dabei bewenden lassen können, die »Afrikaner«, die Mauren, aus Spanien und Sizilien zu vertreiben, also aus jenen europäischen Gebieten, die von ihnen besetzt worden waren? Diese Teile des alten Europas wären damit wieder »heimgeholt« und christianisiert gewesen. Klare Grenzen hätten sich ziehen lassen. Byzanz, Ostrom, Bruder der römischen Christenheit, hätte politisch und militärisch gestärkt werden können, um auch dort gegen die arabisch-islamische Welt eine klare Grenze zu bekommen. Der Aufwand wäre gewiss viel geringer gewesen als die Kreuzzüge. Noch schärfer gefragt: Wären Militärstrategen auch so vorgegangen wie die Päpste, die zum Kreuzzug aufriefen? Hätte christliche Gesinnung, die auf der reinen Lehre Christi aufbaut, überhaupt zu den Waffen rufen dürfen? Was konnte ein Papst im Sinn gehabt haben, der sich in einer vergleichbaren Rolle wie heute der Generalsekretär der Vereinten Nationen befand, nämlich moralisch eine Weltmacht zu sein, aber ohne Truppen und Waffen, um seine theoretische Macht in eine wirkliche umzusetzen? Warum lieferten ihm die wirklich Mächtigen die Truppen für die Kreuzzüge? Um welche Mittel und Ressourcen könnte es den weltlichen Herrschern, den Kaiser eingeschlossen, gegangen sein, als sie ihre Heere auf den Weg nach Palästina schickten? Den Spaniern ging es ein halbes Jahrtausend später ganz klar um Gold, als sie nach Südamerika fuhren und dieses plünderten, auch wenn sie Gott vorgaben. Um wirtschaftliche Macht und neue Märkte ging es bei wohl allen späteren »Kreuzzügen«, gegen wen auch immer sie gerichtet waren, wenn keine unmittelbare territoriale Eroberung, die Ausweitung von »Lebensraum«, klar erkennbar im Vordergrund stand. Die Kreuzfahrer raubten bereitwillig die heiligen Stätten aus und brachten alles Mögliche (und Unmögliche) als Reliquien für die heimischen Kirchen und Klöster mit. Noch einmal strategisch nachgefragt: Hätten gute Verträge mit den Mächtigen an den heiligen Stätten der Christenheit nicht viel mehr bewirken können als die Kreuzzüge, die so viele Tote gekostet und so wenig gebracht haben? Wer waren letztlich die Gewinner? Die alten Römer hätten im Senat ihre berühmte Frage Cui bonum? (Wem nützt es?), in aller Schärfe den Feldherren und Strategen entgegengeschleudert, gleichgültig ob diese siegreich oder geschlagen zurückkehrten. Wem nützten die Kreuzzüge?

Die Antwort steckt vielleicht in der Natur und ihrem Wirken auf die Bevölkerung. Wir haben für diesen Verdacht einige starke Hinweise. So kam es im Hochmittelalter zu zwei eng miteinander zusammenhängenden Entwicklungen, die bis heute den Zustand der Länder Europas, vor allem aber jenes Raumes prägen, den wir in Mitteleuropa weitgehend gleich dem Heiligen Römischen Reich deutscher Nation setzen können. Hier fanden zunächst die großen frühmittelalterlichen Rodungen statt, die aus Landstrichen Kulturland machten, die Tacitus zwar sicher übertrieben, aber nicht so ganz zu Unrecht, mit »finsteren Wäldern« (Germaniens) charakterisiert hatte. Bald gab es kaum noch Wälder im großen Reich (Küster 1996). Dann kam es zur einzigartigen Welle von Städtegründungen (Abb. 2). Diese erreichte bezeichnenderweise ihren Höhepunkt zwischen 1150 und 1200 und fiel vor 1300 steil ab. Eingesetzt hatte sie zu Beginn der Kreuzzüge. Städte wie München reichen mit ihrer Gründung im Jahre 1158 (durch Heinrich den Löwen) auf genau diese Zeit der hochmittelalterlichen Kreuzzüge zurück, und viele hatten erfolgreich Bestand. Beides hängt offensichtlich miteinander zusammen, die Rodung der Wälder und die Gründung der Städte. Es hätte jedoch sicherlich keinen Bedarf an neuen Städten gegeben, wenn die Bevölkerung nicht ungewöhnlich stark angewachsen wäre. Und sie wäre nicht gewachsen, wenn es nicht neue Ländereien gegeben hätte, von denen die zunehmende Zahl von Menschen ernährt wurde. Bevölkerungswachstum setzt Ressourcen voraus. Tatsächlich dürfte sich im Hochmittelalter die Bevölkerungszahl im Heiligen Reich verdoppelt haben.

Abb. 2:

Städtegründungen in Mitteleuropa von 1150 bis 1800 (Daten aus Wiese & Zils 1987).

Im Mittelalter gab es keine Alternative zur direkten Ernährung vom Land. Ferntransporte großer Mengen von Grundnahrungsmitteln gab es noch nicht – von Hafenstädten abgesehen, wo schon seit dem Altertum eine externe Versorgung Grundlage für ihr Aufblühen, Anwachsen und ihre wirtschaftliche Prosperität gewesen war. Gegenden wie die Umgebung von München hätten ohne die vorausgegangenen frühmittelalterlichen Kultivierungen bis hin zur Urbarmachung der Moore keinen Bevölkerungszuwachs hervorbringen können, der es Fürsten wie Heinrich dem Löwen erlaubt hätte, einfach neue Städte zu gründen. Auch wenn es im Fall Münchens einen guten Grund gegeben hatte, die Vorherrschaft von Freising über die mittlere Isar zu brechen und dem dortigen Bischof die Brücken- und Flusszölle streitig zu machen. Dennoch setzt das Gelingen der Konkurrenz das Vorhandensein von Bevölkerungsreserven voraus. Sicherlich gilt die gleiche Argumentation in so gut wie jedem anderen Fall erfolgreicher Neugründungen: Die Orte lagen nicht nur strategisch günstig, denn die Gunst der Lage war schon jahrhundertelang gegeben, sondern es war der richtige Zeitpunkt, der den Erfolg brachte. Nichts ist aber in der Historie so spannend und aufschlussreich wie die Frage nach dem Zeitpunkt.