Ende der Artenvielfalt? - Josef H. Reichholf - E-Book

Ende der Artenvielfalt? E-Book

Josef H. Reichholf

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Beschreibung

Immer stärker greift der Mensch in die Natur ein und hinterlässt seinen "ökologischen Fußabdruck". Megastädte entstehen, Böden werden durch Umweltgifte belastet, die Welt wird zunehmend technisiert. Bedeuten diese Entwicklungen das Ende der Artenvielfalt?? Der bekannte Evolutionsbiologe Reichholf zeigt, dass die Lage nicht ganz so hoffnungslos ist: Die Bedingungen, die Zukunft besser zu gestalten und die Möglichkeiten, die Fehler der jüngsten Vergangenheit zu vermeiden, waren noch nie so gut wie heute.

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Josef H. Reichholf

Ende der Artenvielfalt?

Gefährdung und Vernichtung von Biodiversität

Sachbuch

Fischer e-books

Herausgegeben von Klaus Wiegandt

Vorwort des Herausgebers

Handeln – aus Einsicht und Verantwortung

»Wir waren im Begriff, Götter zu werden, mächtige Wesen, die eine zweite Welt erschaffen konnten, wobei uns die Natur nur die Bausteine für unsere neue Schöpfung zu liefern brauchte.«

Dieser mahnende Satz des Psychoanalytikers und Sozialphilosophen Erich Fromm findet sich in Haben oder Sein – die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft (1976). Das Zitat drückt treffend aus, in welches Dilemma wir durch unsere wissenschaftlich-technische Orientierung geraten sind.

Aus dem ursprünglichen Vorhaben, sich der Natur zu unterwerfen, um sie nutzen zu können (»Wissen ist Macht«), erwuchs die Möglichkeit, die Natur zu unterwerfen, um sie auszubeuten. Wir sind vom frühen Weg des Erfolges mit vielen Fortschritten abgekommen und befinden uns auf einem Irrweg der Gefährdung mit unübersehbaren Risiken. Die größte Gefahr geht dabei von dem unerschütterlichen Glauben der überwiegenden Mehrheit der Politiker und Wirtschaftsführer an ein unbegrenztes Wirtschaftswachstum aus, das im Zusammenspiel mit grenzenlosen technologischen Innovationen Antworten auf alle Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft geben werde.

Schon seit Jahrzehnten werden die Menschen aus Kreisen der Wissenschaft vor diesem Kollisionskurs mit der Natur gewarnt. Bereits 1983 gründeten die Vereinten Nationen eine Weltkommission für Umwelt und Entwicklung, die sich 1987 mit dem so genannten Brundtland-Bericht zu Wort meldete. Unter dem Titel »Our Common Future« wurde ein Konzept vorgestellt, das die Menschen vor Katastrophen bewahren will und zu einem verantwortbaren Leben zurückfinden lassen soll. Gemeint ist das Konzept einer »langfristig umweltverträglichen Ressourcennutzung« – in der deutschen Sprache als Nachhaltigkeit bezeichnet. Nachhaltigkeit meint – im Sinne des Brundtland-Berichts – »eine Entwicklung, die den Bedürfnissen der heutigen Generation entspricht, ohne die Möglichkeiten künftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen und ihren Lebensstandard zu wählen«.

Leider ist dieses Leitbild für ökologisch, ökonomisch und sozial nachhaltiges Handeln trotz zahlreicher Bemühungen noch nicht zu der Realität geworden, zu der es werden kann, ja werden muss. Dies liegt meines Erachtens darin begründet, dass die Zivilgesellschaften bisher nicht ausreichend informiert und mobilisiert wurden.

Forum für Verantwortung

Vor diesem Hintergrund und mit Blick auf zunehmend warnende Stimmen und wissenschaftliche Ergebnisse habe ich mich entschlossen, mit meiner Stiftung gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen. Ich möchte zur Verbreitung und Vertiefung des öffentlichen Diskurses über die unabdingbar notwendige nachhaltige Entwicklung beitragen. Mein Anliegen ist es, mit dieser Initiative einer großen Zahl von Menschen Sach- und Orientierungswissen zum Thema Nachhaltigkeit zu vermitteln sowie alternative Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen.

Denn das Leitbild »nachhaltige Entwicklung« allein reicht nicht aus, um die derzeitigen Lebens- und Wirtschaftsweisen zu verändern. Es bietet zwar eine Orientierungshilfe, muss jedoch in der Gesellschaft konkret ausgehandelt und dann in Handlungsmuster umgesetzt werden. Eine demokratische Gesellschaft, die sich ernsthaft in Richtung Zukunftsfähigkeit umorientieren will, ist auf kritische, kreative, diskussionsund handlungsfähige Individuen als gesellschaftliche Akteure angewiesen. Daher ist lebenslanges Lernen, vom Kindesalter bis ins hohe Alter, an unterschiedlichen Lernorten und unter Einbezug verschiedener Lernformen (formelles und informelles Lernen), eine unerlässliche Voraussetzung für die Realisierung einer nachhaltigen gesellschaftlichen Entwicklung. Die praktische Umsetzung ökologischer, ökonomischer und sozialer Ziele einer wirtschaftspolitischen Nachhaltigkeitsstrategie verlangt nach reflexions- und innovationsfähigen Menschen, die in der Lage sind, im Strukturwandel Potenziale zu erkennen und diese für die Gesellschaft nutzen zu lernen.

Es reicht für den Einzelnen nicht aus, lediglich »betroffen« zu sein. Vielmehr ist es notwendig, die wissenschaftlichen Hintergründe und Zusammenhänge zu verstehen, um sie für sich verfügbar zu machen und mit anderen in einer zielführenden Diskussion vertiefen zu können. Nur so entsteht Urteilsfähigkeit, und Urteilsfähigkeit ist die Voraussetzung für verantwortungsvolles Handeln.

Die unablässige Bedingung hierfür ist eine zugleich sachgerechte und verständliche Aufbereitung sowohl der Fakten als auch der Denkmodelle, in deren Rahmen sich mögliche Handlungsalternativen aufzeigen lassen und an denen sich jeder orientieren und sein persönliches Verhalten ausrichten kann.

Um diesem Ziel näher zu kommen, habe ich ausgewiesene Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gebeten, in der Reihe »Forum für Verantwortung« zu zwölf wichtigen Themen aus dem Bereich der nachhaltigen Entwicklung den Stand der Forschung und die möglichen Optionen allgemeinverständlich darzustellen.

 

Innerhalb eines Jahres ist nun unserer Reihe mit Erscheinen der letzten vier Bände im Januar 2008 komplettiert:

Was verträgt unsere Erde noch? Wege in die Nachhaltigkeit (Jill Jäger)

Kann unsere Erde die Menschen noch ernähren? Bevölkerungsexplosion, Umwelt, Gentechnik (Klaus Hahlbrock)

Nutzen wir die Erde richtig? Die Leistungen der Natur und die Arbeit des Menschen (Friedrich Schmidt-Bleek)

Bringen wir das Klima aus dem Takt? Hintergründe und Prognosen (Mojib Latif)

Wie schnell wächst die Zahl der Menschen? Weltbevölkerung und weltweite Migration (Rainer Münz/Albert F. Reiterer)

Wie lange reicht die Ressource Wasser? Der Umgang mit dem blauen Gold (Wolfram Mauser)

Was sind die Energien des 21. Jahrhunderts? Der Wettlauf um die Lagerstätten (Hermann-Josef Wagner)

Wie bedroht sind die Ozeane? Biologische und physikalische Aspekte (Stefan Rahmstorf/Katherine Richardson)

Wächst die Seuchengefahr? Globale Epidemien und Armut: Strategien zur Seucheneindämmung in einer vernetzten Welt (Stefan E. Kaufmann)

Wie muss die Wirtschaft umgebaut werden? Perspektiven einer nachhaltigeren Entwicklung (Bernd Meyer)

Wie kann eine neue Weltordnung aussehen? Wege in eine nachhaltige Politik (Harald Müller)

Ende der Artenvielfalt? Gefährdung und Vernichtung von Biodiversität (Josef H. Reichholf)

 

 

Zwölf Bände – es wird niemanden überraschen, wenn im Hinblick auf die Bedeutung von wissenschaftlichen Methoden oder die Interpretationsbreite aktueller Messdaten unterschiedliche Auffassungen vertreten werden. Unabhängig davon sind sich aber alle an diesem Projekt Beteiligten darüber einig, dass es keine Alternative zu einem Weg aller Gesellschaften in die Nachhaltigkeit gibt.

Öffentlicher Diskurs

Was verleiht mir den Mut zu diesem Projekt und was die Zuversicht, mit ihm die deutschsprachigen Zivilgesellschaften zu erreichen und vielleicht einen Anstoß zu bewirken?

Zum einen sehe ich, dass die Menschen durch die Häufung und das Ausmaß der Naturkatastrophen der letzten Jahre sensibler für Fragen unseres Umgangs mit der Erde geworden sind. Zum anderen gibt es im deutschsprachigen Raum bisher nur wenige allgemeinverständliche Veröffentlichungen wie Die neuen Grenzen des Wachstums (Donella und Dennis Meadows), Erdpolitik (Ernst-Ulrich von Weizsäcker), Zukunftsfähiges Deutschland (Wuppertal Institut), Balance oder Zerstörung (Franz Josef Radermacher), Fair Future (Wuppertal Institut) und Kollaps (Jared Diamond). Insbesondere liegen keine Schriften vor, die zusammenhängend das breite Spektrum einer umfassend nachhaltigen Entwicklung abdecken.

Das vierte Kolloquium meiner Stiftung, das im März 2005 in der Europäischen Akademie Otzenhausen (Saarland) zu dem Thema »Die Zukunft der Erde – was verträgt unser Planet noch?« stattfand, zeigte deutlich, wie nachdenklich eine sachgerechte und allgemeinverständliche Darstellung der Thematik die große Mehrheit der Teilnehmer machte.

Darüber hinaus stimmt mich persönlich zuversichtlich, dass die mir eng verbundene ASKO EUROPA-STIFTUNG alle zwölf Bände vom Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie didaktisieren lässt, um qualifizierten Lehrstoff für langfristige Bildungsprogramme zum Thema Nachhaltigkeit sowohl im Rahmen der Stiftungsarbeit als auch im Rahmen der Bildungsangebote der Europäischen Akademie Otzenhausen zu erhalten. Inzwischen haben wir daraus die Initiative »Mut zur Nachhaltigkeit« entwickelt, deren beide Säulen »Zwölf Bücher zur Zukunft der Erde« und »Vom Wissen zum Handeln« die Grundlage für unsere umfassenden geplanten Bildungsaktivitäten der nächsten Jahre darstellen. »Mut zur Nachhaltigkeit« wurde Anfang 2007 als offizielles Projekt der UN-Dekade »Bildung für Nachhaltigkeit« 2007/2008 ausgezeichnet. Auch die Resonanz in den deutschen Medien ist überaus positiv.

 

Als ich vor gut zwei Jahren begann, meine Vorstellungen und die Voraussetzungen zu einem öffentlichen Diskurs über Nachhaltigkeit zu strukturieren, konnte ich nicht voraussehen, dass bis zum Erscheinen der ersten Bücher dieser Reihe zumindest der Klimawandel und die Energieproblematik von einer breiten Öffentlichkeit mit großer Sorge wahrgenommen würde. Dies ist meines Erachtens insbesondere auf folgende Ereignisse zurückzuführen:

Zunächst erlebte die USA die fast vollständige Zerstörung von New Orleans im August 2005 durch den Hurrikan Katrina, und dieser Katastrophe folgte tagelange Anarchie.

Im Jahre 2006 startete Al Gore seine Aufklärungskampagne zum Klimawandel und zum Thema Energieverschwendung. Sie gipfelte in seinem Film »Eine unbequeme Wahrheit«, der weltweit große Teile in allen Altersgruppen der Bevölkerung erreicht und beeindruckt.

Der 2007 publizierte 700-seitige Stern-Report, den der Ökonom und frühere Chefvolkswirt der Weltbank, NICHOLAS STERN, im Auftrag der britischen Regierung mit anderen Wirtschaftswissenschaftlern erstellt hat, schreckte Politiker wie auch Wirtschaftsführer gleichermaßen auf. Dieser Bericht macht deutlich, wie hoch weltweit der wirtschaftliche Schaden sein wird, wenn wir »business as usual« betreiben und nicht energisch Maßnahmen dem Klimawandel entgegensetzen. Gleichzeitig wird in diesem Bericht dargelegt, dass wir mit nur einem Zehntel des wahrscheinlichen Schadens Gegenmaßnahmen finanzieren und die durchschnittliche Erderwärmung auf 2°C beschränken könnten – wenn wir denn handeln würden.

Besonders große Aufmerksamkeit in den Medien und damit in der öffentlichen Wahrnehmung fand der jüngste ICPP-Bericht, der Anfang 2007 deutlich wie nie zuvor den Ernst der Lage offenlegte und drastische Maßnahmen gegen den Klimawandel einforderte.

Zu guter Letzt sei erwähnt, dass auch das außergewöhnliche Engagement einiger Milliardäre wie Bill Gates, Warren Buffet, George Soros und Richard Branson sowie das Engagement von Bill Clinton zur »Rettung unserer Welt« die Menschen auf der ganzen Erde beeindruckt.

 

 

Eine wesentliche Aufgabe unserer auf zwölf Bände angelegten Reihe bestand für die Autorinnen und Autoren darin, in dem jeweils beschriebenen Bereich die geeigneten Schritte zu benennen, die in eine nachhaltige Entwicklung führen können. Dabei müssen wir uns immer vergegenwärtigen, dass der erfolgreiche Übergang zu einer derartigen ökonomischen, ökologischen und sozialen Entwicklung auf unserem Planeten nicht sofort gelingen kann, sondern viele Jahrzehnte dauern wird. Es gibt heute noch keine Patentrezepte für den langfristig erfolgreichsten Weg. Sehr viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und noch mehr innovationsfreudige Unternehmerinnen und Unternehmer sowie Managerinnen und Manager werden weltweit ihre Kreativität und Dynamik zur Lösung der großen Herausforderungen aufbieten müssen. Dennoch sind bereits heute erste klare Ziele erkennbar, die wir erreichen müssen, um eine sich abzeichnende Katastrophe abzuwenden. Dabei können weltweit Milliarden Konsumenten mit ihren täglichen Entscheidungen beim Einkauf helfen, der Wirtschaft den Übergang in eine nachhaltige Entwicklung zu erleichtern und ganz erheblich zu beschleunigen – wenn die politischen Rahmenbedingungen dafür geschaffen sind. Global gesehen haben zudem Milliarden von Bürgern die Möglichkeit, in demokratischer Art und Weise über ihre Parlamente die politischen »Leitplanken« zu setzen.

Die wichtigste Erkenntnis, die von Wissenschaft, Politik und Wirtschaft gegenwärtig geteilt wird, lautet, dass unser ressourcenschweres westliches Wohlstandsmodell (heute gültig für eine Milliarde Menschen) nicht auf weitere fünf oder bis zum Jahr 2050 sogar auf acht Milliarden Menschen übertragbar ist. Das würde alle biophysikalischen Grenzen unseres Systems Erde sprengen. Diese Erkenntnis ist unbestritten. Strittig sind jedoch die Konsequenzen, die daraus zu ziehen sind.

Wenn wir ernsthafte Konflikte zwischen den Völkern vermeiden wollen, müssen die Industrieländer ihren Ressourcenverbrauch stärker reduzieren, als die Entwicklungs- und Schwellenländer ihren Verbrauch erhöhen. In Zukunft müssen sich alle Länder auf gleichem Ressourcenverbrauchsniveau treffen. Nur so lässt sich der notwendige ökologische Spielraum schaffen, um den Entwicklungs- und Schwellenländern einen angemessenen Wohlstand zu sichern.

Um in diesem langfristigen Anpassungsprozess einen dramatischen Wohlstandsverlust des Westens zu vermeiden, muss der Übergang von einer ressourcenschweren zu einer ressourcenleichten und ökologischen Marktwirtschaft zügig in Angriff genommen werden.

Die Europäische Union als stärkste Wirtschaftskraft der Welt bringt alle Voraussetzungen mit, in diesem Innovationsprozess die Führungsrolle zu übernehmen. Sie kann einen entscheidenden Beitrag leisten, Entwicklungsspielräume für die Schwellen- und Entwicklungsländer im Sinn der Nachhaltigkeit zu schaffen. Gleichzeitig bieten sich der europäischen Wirtschaft auf Jahrzehnte Felder für qualitatives Wachstum mit zusätzlichen Arbeitsplätzen. Wichtig wäre in diesem Zusammenhang auch die Rückgewinnung von Tausenden von begabten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die Europa nicht nur aus materiellen Gründen, sondern oft auch wegen fehlender Arbeitsmöglichkeiten oder unsicheren -bedingungen verlassen haben.

Auf der anderen Seite müssen die Schwellen- und Entwicklungsländer sich verpflichten, ihre Bevölkerungsentwicklung in überschaubarer Zeit in den Griff zu bekommen. Mit stärkerer Unterstützung der Industrienationen muss das von der Weltbevölkerungskonferenz der UNO1994 in Kairo verabschiedete 20-Jahres-Aktionsprogramm umgesetzt werden.

Wenn es der Menschheit nicht gelingt, die Ressourcen- und Energieeffizienz drastisch zu steigern und die Bevölkerungsentwicklung nachhaltig einzudämmen – man denke nur an die Prognose der UNO, nach der die Bevölkerungsentwicklung erst bei elf bis zwölf Milliarden Menschen am Ende dieses Jahrhunderts zum Stillstand kommt –, dann laufen wir ganz konkret Gefahr, Ökodiktaturen auszubilden. In den Worten von Ernst Ulrich von Weizsäcker: »Die Versuchung für den Staat wird groß sein, die begrenzten Ressourcen zu rationieren, das Wirtschaftsgeschehen im Detail zu lenken und von oben festzulegen, was Bürger um der Umwelt willen tun und lassen müssen. Experten für ›Lebensqualität‹ könnten von oben definieren, was für Bedürfnisse befriedigt werden dürften.« (Erdpolitik, 1989)

Es ist an der Zeit

Es ist an der Zeit, dass wir zu einer grundsätzlichen, kritischen Bestandsaufnahme in unseren Köpfen bereit sind. Wir – die Zivilgesellschaften – müssen entscheiden, welche Zukunft wir wollen. Fortschritt und Lebensqualität sind nicht allein abhängig vom jährlichen Zuwachs des Prokopfeinkommens. Zur Befriedigung unserer Bedürfnisse brauchen wir auch keineswegs unaufhaltsam wachsende Gütermengen. Die kurzfristigen Zielsetzungen in unserer Wirtschaft wie Gewinnmaximierung und Kapitalakkumulierung sind eines der Haupthindernisse für eine nachhaltige Entwicklung. Wir sollten unsere Wirtschaft wieder stärker dezentralisieren und den Welthandel im Hinblick auf die mit ihm verbundene Energieverschwendung gezielt zurückfahren. Wenn Ressourcen und Energie die »wahren« Preise widerspiegeln, wird der weltweite Prozess der Rationalisierung und Freisetzung von Arbeitskräften sich umkehren, weil der Kostendruck sich auf die Bereiche Material und Energie verlagert.

Der Weg in die Nachhaltigkeit erfordert gewaltige technologische Innovationen. Aber nicht alles, was technologisch machbar ist, muss auch verwirklicht werden. Die totale Ökonomisierung unserer gesamten Lebensbereiche ist nicht erstrebenswert. Die Verwirklichung von Gerechtigkeit und Fairness für alle Menschen auf unserer Erde ist nicht nur aus moralisch-ethischen Prinzipien erforderlich, sondern auch der wichtigste Beitrag zur langfristigen Friedenssicherung. Daher ist es auch unvermeidlich, das politische Verhältnis zwischen Staaten und Völkern der Erde auf eine neue Basis zu stellen, in der sich alle, nicht nur die Mächtigsten, wiederfinden können. Ohne einvernehmliche Grundsätze »globalen Regierens« lässt sich Nachhaltigkeit in keinem einzigen der in dieser Reihe diskutierten Themenbereiche verwirklichen.

Und letztendlich müssen wir die Frage stellen, ob wir Menschen das Recht haben, uns so stark zu vermehren, dass wir zum Ende dieses Jahrhunderts womöglich eine Bevölkerung von elf bis zwölf Milliarden Menschen erreichen, jeden Quadratzentimeter unserer Erde in Beschlag nehmen und den Lebensraum und die Lebensmöglichkeiten aller übrigen Arten immer mehr einengen und zerstören.

Unsere Zukunft ist nicht determiniert. Wir selbst gestalten sie durch unser Handeln und Tun: Wir können so weitermachen wie bisher, doch dann begeben wir uns schon Mitte dieses Jahrhunderts in die biophysikalische Zwangsjacke der Natur mit möglicherweise katastrophalen politischen Verwicklungen. Wir haben aber auch die Chance, eine gerechtere und lebenswerte Zukunft für uns und die zukünftigen Generationen zu gestalten. Dies erfordert das Engagement aller Menschen auf unserem Planeten.

Danksagung

Mein ganz besonderer Dank gilt den Autorinnen und Autoren dieser zwölfbändigen Reihe, die sich neben ihrer hauptberuflichen Tätigkeit der Mühe unterzogen haben, nicht für wissenschaftliche Kreise, sondern für eine interessierte Zivilgesellschaft das Thema Nachhaltigkeit allgemeinverständlich aufzubereiten. Für meine Hartnäckigkeit, an dieser Vorgabe weitestgehend festzuhalten, bitte ich an dieser Stelle nochmals um Nachsicht. Dankbar bin ich für die vielfältigen und anregenden Diskussionen über Wege in die Nachhaltigkeit. Mich hat sehr beeindruckt, mit welcher Disziplin die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler den Zeitplan exakt eingehalten haben, innerhalb von zwölf Monaten alle zwölf Bücher fertigzustellen.

Bei der umfangreichen Koordinationsarbeit hat mich von Anfang an ganz maßgeblich Ernst Peter Fischer unterstützt – dafür meinen ganz herzlichen Dank, ebenso Wolfram Huncke, der mich in Sachen Öffentlichkeitsarbeit beraten hat. Für die umfangreichen organisatorischen Arbeiten möchte ich mich ganz herzlich bei Annette Maas bedanken, ebenso bei Ulrike Holler und Eva Köster vom S. Fischer Verlag für die nicht einfache Lektoratsarbeit.

Auch den finanziellen Förderern dieses Großprojektes gebührt mein Dank: allen voran der ASKO EUROPA-STIFTUNG (Saarbrücken) und meiner Familie sowie der Stiftung Europrofession (Saarbrücken), Erwin V. Conradi, Wolfgang Hirsch, Wolf-Dietrich und Sabine Loose.

Seeheim-Jugenheim

Stiftung Forum für Verantwortung

Sommer 2007

Klaus Wiegandt

1Einleitung

Ein Wasserplanet ist die Erde, betrachtet man sie aus dem Weltraum. Umgeben vom Weltmeer, das rund 70 Prozent der Oberfläche einnimmt, liegen die sechs großen Kontinente Eurasien, Afrika, Nordamerika, Südamerika, Australien und die Antarktis sowie Tausende und Abertausende von Inseln unterschiedlichster Größe. Doch nicht allein das gespiegelte Blau des Himmels gibt dem Wasser der Ozeane, Seen und Flüsse Farbe, sondern Grün tönt den Globus in feinen Abstufungen im Meer und in großen Farbunterschieden auf dem Land. Auch wenn an Land nackter Fels oder Sand riesige Flächen einnehmen und Eis den Südpolkontinent, die Antarktis, und große Teile des Nordpolbereichs bedeckt, verleiht weithin das Grün dem Planeten Erde die bezeichnende Farbe. Es ist die Farbe des Lebens, das zum allergrößten Teil auf diesem Grün aufbaut, davon zehrt und es vermehrt oder zuzeiten auch wieder schrumpfen lässt. Es hat der Lufthülle den beträchtlichen Gehalt an Sauerstoff gegeben und davor viele Jahrmillionen lang die freie Oberfläche der Erde »verbrannt«, bis das Grün selbst aus dem Meer heraus aufs Land kam und vor gut einer halben Milliarde Jahre eine Entwicklung in Gang setzte, die wir nur mit größtem Staunen die Eroberung des Landes nennen können. Eines der vielen Ergebnisse dieser Evolution sind wir selbst; wir, der Mensch als biologische Art.

Wir hätten nicht entstehen können, gäbe es »die Natur« nicht mit ihrer Fülle an Lebensformen und mit der Leistungsfähigkeit des Naturhaushaltes. Wir Menschen stehen nicht im Kontrast zur Natur. Vielmehr sind wir eine Art unter vielen Lebensformen auf der Erde; zweifellos eine ungemein potente und so wirkungsvoll, wie es wohl noch nie eine vergleichbare Lebensform gegeben hat. Aber wir sind auch nicht die einzige Art, die in der Natur nahezu alles verändern kann. Änderungen größten Ausmaßes gab es lange vor unserer Entstehung – und das ist für uns gut gewesen, denn sonst hätten wir nicht zu dem werden können, was wir geworden sind. Unsere Existenz bedurfte der Entstehung der Pflanzen an Land, der Wälder und Grasländer. Wir brauchen das Süßwasser und die Tierwelt, von der unsere Vorfahren bis noch vor wenigen Jahrtausenden lebten. Wir benötigen die Vielfalt an Pflanzen und Pflanzenstoffen, um die richtige Bandbreite an Nahrung und an Wirkstoffen aus der Nahrung (Vitamine, Mineralstoffe) zu bekommen, die unser Körper nicht selbst herstellen kann. Als biologische Art blieb der Mensch über eine Zeitspanne von rund 150 000 Jahren völlig eingebunden in die natürliche Vielfalt und abhängig von ihr. Unsere Gattung reicht jedoch viel weiter zurück als die Art Mensch, die fachlich Homo sapiens bezeichnet wird.

Den Anfang nahm die Menschwerdung vor fünf bis sechs Millionen Jahren in den Tropen Ostafrikas, wo sich zeitgleich mit unseren fernsten Vorfahren eine großartige Tierwelt entwickelte. Ein Ausschnitt davon existiert noch immer in dieser Ursprungsregion der Menschheit – aber heute fast nur noch in Schutzgebieten. Notwendig wurden diese, weil sich die Menschen und die Großtiere, die einst nicht nur dort, sondern überall die Existenzgrundlage für die Menschen gebildet hatten, nicht mehr miteinander vertragen. Darin steckt der Kern des Problems im Konflikt zwischen Mensch und Natur:

Der Mensch hat sich im biblischen Sinn »die Erde untertan gemacht« und sich von einer seltenen, vielfach selbst vom Aussterben bedrohten Art zur absolut beherrschenden Lebensform aufgeschwungen, die inzwischen praktisch die gesamte Natur beeinflusst und massiv verändert hat. Die Folge ist eine weitreichende Gefährdung der Natur. Ihre Vielfalt an Lebensformen und Lebensräumen schwindet. Arten werden ausgerottet, oder sie sterben unbemerkt aus, weil man ihre Existenz noch gar nicht zur Kenntnis genommen hat. Das Zusammenwirken der Lebewesen untereinander verändert sich oder wird mit Gewalt und hohem Einsatz von Energie von den Menschen auf ganz andere, noch nie da gewesene Formen umgestellt. Gebilde, Strukturen und Landschaften, die Menschen gemacht und gestaltet haben, breiten sich aus. Immer größere Anteile des Globus nehmen sie ein. Die Menschenwelt greift von den Städten, von den Siedlungszentren unserer Zeit, die als künstliche Gebilde unverkennbar sind, über feste Straßen- und Verkehrssysteme hinaus aufs Land. Mit nicht ortsgebundenen Routen auf Kanälen, Flüssen und Meeren sowie in der Luft vernetzt sich die Menschenwelt global. Schier unendlich gewordene Fluren der Agrarlandschaften überziehen das Land. Urlaubsorte dringen in die Wildnis vor. Hinzu kommen zu allem die unsichtbaren, verborgenen Einflüsse, die überall auf der Erde vorhanden sind.

Längst ist nichts mehr so auf der Erde, wie es noch vor wenigen Jahrtausenden gewesen war. Nirgendwo wird sich auf dem gesamten Globus eine Stelle finden lassen, die ganz ohne nachweisbaren Einfluss der Menschheit geblieben ist. Es gibt daher keine Alternative zur ursprünglichen Erde mehr; keine andere Welt der Natur existiert, in der sie so sein darf, wie sie ist. Wir haben nur die »Eine Welt«. Auf und von dieser müssen wir Menschen und alle anderen Lebewesen leben. Mit uns! Und wir mit ihnen! Reibereien sind unvermeidlich, das ist klar. Verluste werden sich auch nicht mehr verhindern lassen. Es gab deren schon viele. Die Frage stellt sich nicht mehr grundsätzlich »ob«, sondern ganz konkret, »wie« das nichtmenschliche Leben auf der Erde mit der Menschheit zusammen überleben kann und wie viel von der Lebensvielfalt das schaffen wird. Überall drängen die Menschen hin. Ihre Ausbreitung bedeutet zwangsläufig Zurückdrängung von Natur. Ein romantisches »Zurück zur Natur« wird es nicht geben. Ein sentimentales Archivieren »schöner Arten« in Zoos und botanischen Gärten bietet auch keine echte Alternative. Denn die Menschheit wird nicht allein von Korn und Brot leben können, wenn das immer stärkere Eingriffe in die Natur bedeutet und mit immer größeren Verlusten verbunden ist. Und wer nicht ums bloße Überleben kämpft, sondern auch nur wenige Minuten übrig hat, das Leben zu betrachten, das ihn umgibt, wird nicht umhinkommen, diesem Leben einen Sinn zuzusprechen. Sämtliche Völker und Kulturen, von denen die Menschheit Kenntnis hat, betrachteten und bewerteten die Natur, die sie umgab. Tiere und Pflanzen, vor allem große Säugetiere und Vögel sowie Bäume und Wälder, wurden geschätzt, mitunter vergöttert. Immer ist Natur auch genutzt oder ausgebeutet worden. Doch erst in unserer Zeit geriet all das, was ganz normale Lebensäußerung aller Lebewesen ist, nämlich die Umwelt zu nutzen, so gut es geht, und sich zu vermehren, soweit das möglich ist, aus dem Rahmen des Erträglichen. Übernutzung der Natur ist zum größten Problem für die Menschheit geworden. Nutzung geriet zur Ausbeutung. Die Natur wird mit Abfällen und Giften überfrachtet und in ihrer Zusammensetzung verändert. Das Vorgehen lässt sich in einem Wort zusammenfassen: Raubbau. Natürliche Ressourcen werden bis zur Erschöpfung ihrer Vorkommen, bis zur Vernichtung übernutzt.

Die Lebensvielfalt der Erde gehört zu den natürlichen Ressourcen, die wie das Wasser und der Boden, wie die Wälder und die Meere unsere Lebensgrundlagen bilden. Doch anders als bei Naturstoffen, wie Wasser und Mineralien, Kohle und Erdöl, Sauerstoff und Kohlendioxid und dergleichen, die sich zählen, messen, wiegen und mengenmäßig abschätzen lassen, verändert sich das Leben aus sich selbst heraus. Es erneuert sich, nutzt die Ressourcen, die es braucht, verändert diese oder erzeugt sie »neu« durch Umsetzungsvorgänge, die wir mit dem Begriff »Recycling« kennzeichnen. Die wichtigste Eigenschaft der Lebewesen ist ihre Fähigkeit zur Selbstvermehrung. Nur Lebewesen können wachsen und sich fortpflanzen, sich erneuern und in mehr oder minder langen Zeiträumen auch verändern. Letzteres nennen wir Evolution. Bei der Betrachtung des Lebens auf der Erde rücken somit andere Probleme als bei der Bilanzierung von Wasserressourcen, Energieumsetzungen oder wirtschaftlichen Kenngrößen in den Vordergrund. Diese Gegebenheit erleichtert es nicht gerade, die Lebensvielfalt zu bewerten. Ganz im Gegenteil. Sie wird noch immer nicht wirklich als Wert an sich eingestuft, sondern als etwas, das in vielen Teilen verzichtbar erscheint. Weil man den kleinen Käfer, der vielleicht sogar ein Schädling werden könnte, nicht »braucht« und solche Lebewesen wie die Fliegen gleich grundsätzlich für unnütz oder gefährlich hält. Weil Forste, in denen nur eine Baumart wächst oder einige wenige, schneller Holz erzeugen als artenreiche Dschungel. Weil das Vieh von bitteren Gräsern und giftigen Kräutern nicht leben kann, auch wenn so ein Weideland recht bunt und vielfältig aussieht. Die meisten Menschen wollen Getreide, Knollenfrüchte oder Genussmittel und keinen Naturzoo von Heuhüpfern, Grillen, bunten Blumen und singenden Vögeln, der nichts Essbares produziert. Mögen sich auch manche Menschen daran erfreuen, lebensnotwendig erscheint der großen Mehrheit der Bevölkerung die lebendige Vielfalt zumeist ganz und gar nicht. Erst dort, wo sie der Mensch mit seiner Kulturleistung verändert hat, produziert die Natur das, was wir brauchen und von ihr haben wollen. Für die Reste an Natur bleibt allenfalls der museale Rand, wo ohnehin niemand mehr etwas machen will.

Sind also Natur und Naturschutz bloß der Luxus wohlhabender Gesellschaften, deren Bevölkerungen nicht mehr wachsen, sondern schrumpfen und die es sich daher leisten können, sich die »freie Natur« auszustaffieren wie ein Wohnzimmer mit überflüssigen Sachen, die Wohlstand anzeigen? Angesichts der weiter (stark) anwachsenden Weltbevölkerung, der Konflikte zwischen Arm und Reich und vor dem Hintergrund politischer und religiöser Spannungen und Spaltungen mag es müßig erscheinen, sich um die Erhaltung bunter Schmetterlinge zu kümmern oder Vögel mit schillerndem Gefieder für »wichtig« zu halten. Warum reicht es nicht, die Gewässer einigermaßen sauber zu bekommen, die Luftbelastungen zu vermindern und sparsam mit den notwendigen Ressourcen umzugehen? Guter Umweltschutz wird schon auch ein wenig Lebensvielfalt erhalten. Meint der Naturschutz westlicher Prägung nicht allzu sehr auch Bevormundung armer und noch unzureichend entwickelter Staaten? Ist er eine Fortsetzung des politischen und geistigen Kolonialismus von früher mit den anderen Mitteln unserer Zeit? Warum eigentlich sollten sich alle Staaten beim Umweltgipfel von Rio de Janeiro im Jahre 1992 dazu verpflichten, die Lebensvielfalt der Erde, die Biodiversität, zu erhalten und mit einer nachhaltigen Entwicklung in Einklang zu bringen? Dass bisher so gut wie nichts daraus geworden ist, drückt vielleicht aus, dass die Forderung nicht überzeugte? Worum also müsste es gehen, wenn es überhaupt um die Erhaltung der Lebensvielfalt auf der Erde gehen soll?

Eine wohlfeile Allgemeinbegründung gibt es nicht. Vielleicht ist das gut so, denn allzu oft missbrauchen Eiferer »unumstößliche« Begründungen zu ihren Zwecken. Vorurteile werden zum eigenen Vorteil missbraucht. Die Schritte zum Glaubensbekenntnis und weiter zum Dogma sind dann nur noch klein. Für die globale Zielsetzung würde Dogmatismus sicherlich mehr schaden als Nutzen bringen und die Gefahr der Spaltung in unterschiedliche, schließlich einander bekämpfende Lager heraufbeschwören. Noch hat die Artenvielfalt den Vorteil, nicht solcherart dogmatisch belastet zu sein. Sehen wir uns die lebendige Vielfalt, die Biodiversität, daher zunächst einmal etwas genauer an, um zu verstehen, was »Vielfalt« in der Natur bedeutet, wie sie zustande kommt und was ihr Schwinden ausdrückt. Der Vorteil dieser Betrachtungsweise liegt darin, dass die biologische Vielfalt keineswegs überall annähernd gleich ist, sondern global wie regional höchst unterschiedlich ausgebildet. Manches Gebiet und bestimmte Länder tragen eine besondere, sie kennzeichnende Biodiversität. Besonderheiten geben die Möglichkeit zur Unterscheidung. Wenn sich Neuseeländer mit Kiwi-Vögeln, Australier mit Kängurus und die USA mit Weißkopfseeadlern schmücken, kommt augenfällig zum Ausdruck, dass es sich hier um Besonderheiten handelt, die man nicht beliebig und überall haben kann. Das Leben auf der Erde ist nicht nur äußerst vielfältig, sondern auch sehr ungleich verteilt. Zudem hat es Geschichte, die sich mit der Verteilung der verschiedenen Lebewesen auf unterschiedliche Regionen verbindet. Einmaliges gibt es auf winzigen Inseln, und Großartiges muss keineswegs nur auf Großkontinente beschränkt sein. Ganz selbstverständlich gehen wir davon aus, nicht überall auf der Welt die gleichen Tiere und Pflanzen anzutreffen. Wie fade wäre so ein Einheitsbrei.

2Planet voller Leben

2.1Erfassung der Lebensvielfalt

Wie viele verschiedene Tierarten gibt es eigentlich in Deutschland? Erstaunlicherweise lässt sich diese einfache Frage nur ungefähr beantworten. Denn es gibt noch immer kein umfassendes und aktuelles Arteninventar, sondern lediglich mehr oder weniger weitreichende Kenntnisse zu bestimmten Gruppen von Tieren. Am besten erfasst sind die Vögel. Ungleich weniger als über die Vogelwelt weiß man über Verbreitung und Häufigkeit der übrigen Tierarten Deutschlands. Die für ganz Mitteleuropa bisher umfangreichsten Erhebungen veröffentlichte 2003 das Bayerische Landesamt für Umweltschutz in der »Roten Liste gefährdeter Tiere Bayerns«. Behandelt sind darin rund 16 000 verschiedene Tierarten. Das sieht nach einer immensen Zahl aus. Dennoch umfasst sie keineswegs alle Arten, die in Bayern vorkommen, sondern nur etwa die Hälfte. Kein Einzelner kennt sie alle. Für manche Tiergruppen, wie für die Käfer, gibt es Spezialisten, die sich nur mit Teilgruppen daraus befassen und diese dann in allen Arten genau bestimmen können. Die Pflanzenwelt Bayerns hingegen konnte ziemlich vollständig erfasst werden. Allerdings gibt es auch viel weniger Pflanzenals Tierarten. Die entsprechende »Rote Liste gefährdeter Gefäßpflanzen Bayerns« von 2003 enthält 2863 Arten, 656 Unterarten und 88 Varietäten. Auf ganz Mitteleuropa mit einer Fläche von etwa einer Million Quadratkilometer bezogen, würde die Artenzahl, je nach Abgrenzung des Gebietes, auf 3500 bis 4000 Pflanzen ansteigen. Nicht berücksichtigt wären in dieser Menge jedoch die Algen und die mikroskopisch kleinen Lebensformen sowie die Bakterien und Viren. Das eigenständige Reich der Pilze mit Tausenden von Arten ist in der bayerischen Zustandserfassung der lebendigen Natur an der Wende zum 3. Jahrtausend ebenfalls nicht enthalten. Somit ergeben diese so umfangreichen Untersuchungen noch immer keine wirklich umfassende Liste aller Arten von Lebewesen, die in Bayerns Natur vorkommen. Mit gut 70 000 Quadratkilometern ist Bayern kein großes Land. Für europäische Verhältnisse ist es aber ganz gut erforscht. Für einige Tiergruppen gibt es ziemlich genaue Angaben. So brüten gegenwärtig in Bayern 187 Vogelarten regelmäßig und ein gutes Dutzend weiterer Arten gelegentlich. Tagfalter kommen in einer ähnlichen Zahl, nämlich in 172 verschiedenen Arten vor. Aber schon die sogenannten Nachtfalter umfassen mit über 1000 Arten weit mehr. Gut 2000 Arten von Kleinschmetterlingen kommen hinzu und steigern somit das Spektrum aller in Bayern vorkommenden Schmetterlinge auf rund 3200 Arten. Schmetterlingskenner müssten also allein eine ähnliche Artenfülle bewältigen wie Pflanzenkenner in Mitteleuropa. Im Vergleich dazu nehmen sich die 10 Arten von Kriechtieren (Reptilien) und 20 Arten von Lurchen (Amphibien) sowie die 80 Arten von Säugetieren sehr bescheiden aus. Dafür kennt man sie umso besser, auch was ihre Vorkommen und Häufigkeiten anbelangt. Besser zwar, aber nicht gut genug. Das zeigen die vielen Probleme, die sich im Artenschutz auch bei diesen Gruppen auftun. Warum nehmen zum Beispiel die so wärmebedürftigen Eidechsen und Schlangen nicht zu, sondern sind weithin gefährdet, wo doch das Klima wärmer wird?

Bekannt ist, was durch Größe, Form und Lebensweise auffällt oder was Schäden verursacht und gesundheitliche Probleme macht. Die meisten Menschen kennen etwa ähnlich viele Namen von Schädlingen und Krankheitserregern wie solche von gewöhnlichen Tieren und Pflanzen. Beide zusammen machen dennoch nur winzige Anteile der tatsächlichen Artenvielfalt aus, die uns umgibt. Sogar Großstädte sind mit ihren Gärten und Parks, mit Gewässern und unbebauten Flächen so reich an Arten, dass niemand alle kennt und mit Sicherheit bestimmen könnte. Leben umgibt uns immer und überall. Lebewesen existieren, wo man sie gar nicht mehr vermutet, wie im Eis der Polarregionen oder in der Gesteinskruste der Erde. Wo immer nach Leben auf der Erde gesucht wurde, ist man auch fündig geworden. Es gedeiht an den höllenschlundartigen Tiefseevulkanen in lichtloser Tiefe, treibt in Luftströmungen über höchsten Berggipfeln, sprießt auf sauber gehaltener Haut des Menschen und in den übelsten Abwassergruben. Wir achten meistens gar nicht darauf, dass überall Leben um uns herum existiert. Wir nehmen das Grün der Bäume wie eine angenehme Kulisse als gegeben hin. Sollte es fehlen, muss eben nachgepflanzt werden. Wir lauschen dem Gesang der Vögel oder überhören ihn, wenn wir ihn gewöhnt sind. Verstummen die Vögel, fällt das auf. Doch die Natur um uns herum verändert sich. Wo früher Spatzen allgegenwärtig waren, treffen wir heute auf Amseln. Die bunten Blumenwiesen von früher sind rar geworden. Schmetterlingen begegnen wir meistens eher in den Gärten als draußen in der freien Natur. Naturschützer klagen über den Rückgang vieler Arten. Aus der oben angeführten Untersuchung zum Zustand der bayerischen Natur ging hervor, dass schon fast die Hälfte (49 Prozent) der 16 000 Tierarten und ein ähnlich hoher Anteil der Pflanzenwelt als »gefährdet« eingestuft werden mussten. Wie mag es da andernorts aussehen, wo die Natur noch weit weniger erforscht wird als in Mitteleuropa?