Eine Liebe an der roten Küste - Colleen McCullough - E-Book

Eine Liebe an der roten Küste E-Book

Colleen McCullough

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Beschreibung

Zwei einsame Seelen finden sich an der Küste des roten Kontinents … Nahe Sydney, 1970er: Mary Horton hat sich mit ihrer Einsamkeit abgefunden – sie ist eine Waise, alleinstehend und nicht einmal mit Freundschaften hatte sie je Glück. Doch dann trifft sie auf den jungen Handwerker Tim Melville, dessen strahlendes Lächeln sie umgehend fasziniert. Tim ist ebenfalls allein: Eine geistige Beeinträchtigung macht ihn zu einem Ausgestoßenen. So heuert Mary ihn als Gärtner an und ein Band der Freundschaft bildet sich zwischen ihnen. Während Tim in Mary eine neue Lebensfreude erweckt, macht er mit ihrer Hilfe Fortschritte im Lesen und Schreiben, was ihm zuvor nie jemand zutraute. Aber bald wird Mary klar, dass ihre zarte Verbindung allen Konventionen widerspricht – und wie gefährlich dies in ihrer Gesellschaft ist … Das Debüt einer der größten Bestsellerautorinnen Australiens – ein gefühlvoller Schicksalsroman, der Fans von Di Morrissey und Elizabeth Haran begeistern wird!

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Seitenzahl: 398

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Über dieses Buch:

 

Nahe Sydney, 1970er: Mary Horton hat sich mit ihrer Einsamkeit abgefunden – sie ist eine Waise, alleinstehend und nicht einmal mit Freundschaften hatte sie je Glück. Doch dann trifft sie auf den jungen Handwerker Tim Melville, dessen strahlendes Lächeln sie umgehend fasziniert. Tim ist ebenfalls allein: Eine geistige Beeinträchtigung macht ihn zu einem Ausgestoßenen. So heuert Mary ihn als Gärtner an und ein Band der Freundschaft bildet sich zwischen ihnen. Während Tim in Mary eine neue Lebensfreude erweckt, macht er mit ihrer Hilfe Fortschritte im Lesen und Schreiben, was ihm zuvor nie jemand zutraute. Aber bald wird Mary klar, dass ihre zarte Verbindung allen Konventionen widerspricht – und wie gefährlich dies in ihrer Gesellschaft ist …

eBook-Neuausgabe Juni 2025

Die australische Originalausgabe erschien erstmals 1974 unter dem Originaltitel »Tim« bei Harper & Row, Publishers, New. Die deutsche Erstausgabe erschien 1978 unter dem Titel »Tim« bei Goldmann

Copyright © der australische Originalausgabe 1974 by Colleen McCullough

Copyright © der deutschen Erstausgabe 1978 by Der Goldmann Verlag ist ein Unternehmen der Verlagsgruppe Bertelsmann, C. Bertelsmann Verlag GmbH, München, 1981

Copyright © der Neuausgabe 2025 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von Shutterstock/Ordinary Wonder, Creative Travel Projects und AdobeStock/myphotobank.com.au , Dmitry

eBook-Herstellung: dotbooks GmbH unter Verwendung von IGP (lj)

 

ISBN 978-3-98952-965-6

 

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dotbooks ist ein Verlagslabel der dotbooks GmbH, einem Unternehmen der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt: www.egmont.com/support-children-and-young-people . Danke, dass Sie mit dem Kauf dieses eBooks dazu beitragen!

 

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Bei diesem Roman handelt es sich um ein rein fiktives Werk, das vor dem Hintergrund einer bestimmten Zeit spielt oder geschrieben wurde – und als solches Dokument seiner Zeit von uns ohne nachträgliche Eingriffe neu veröffentlicht wird. In diesem eBook begegnen Sie daher möglicherweise Begrifflichkeiten, Weltanschauungen und Verhaltensweisen, die wir heute als unzeitgemäß oder diskriminierend verstehen. Diese Fiktion spiegelt nicht automatisch die Überzeugungen des Verlags wider oder die heutige Überzeugung der Autorinnen und Autoren, da sich diese seit der Erstveröffentlichung verändert haben können. Es ist außerdem möglich, dass dieses eBook Themenschilderungen enthält, die als belastend oder triggernd empfunden werden können. Bei genaueren Fragen zum Inhalt wenden Sie sich bitte an [email protected] .

 

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Colleen McCullough

Eine Liebe an der roten Küste

Australien-Roman

Aus dem Englischen von Gisela Stege

dotbooks.

Für Dr. Gilbert H. Glaser, Vorstand der neurologischen Abteilung der medizinischen Fakultät an der Yale-University, in Liebe und Dankbarkeit.

 

 

 

Die Personen dieses Romans und deren Handlungen sind frei erfunden. Von Zufälligkeiten abgesehen, haben ihre Namen und Erlebnisse keinerlei Bezug auf Personen des wirklichen Lebens in Gegenwart und Vergangenheit

Kapitel 1

 

Pünktlich um sieben traf Harry Markham mit seinem Trupp am Freitagmorgen auf der Baustelle ein, Harry selbst mit seinem Polier im Führerhaus des kleinen Lastwagens, Harrys drei Arbeiter auf der offenen Ladefläche, wo immer sie einen freien Platz für ihr Hinterteil hatten finden können. Das Haus, das sie renovierten, lag an der North Shore von Sydney in einem Vorort namens Artarmon, unmittelbar hinter der endlosen Öde der Tongruben. Es war kein großer Auftrag, nicht mal für einen kleinen Bauunternehmer wie Harry; der rote Backsteinbungalow sollte lediglich verputzt werden und einen kleinen Anbau an der rückwärtigen Veranda erhalten – ein Auftrag, wie er Harry von Zeit zu Zeit willkommen war, weil er die Lücken zwischen zwei größeren Arbeiten füllte.

Nach dem Freitagmorgen zu schließen, würde das gesamte Wochenende Hitze und ununterbrochenen Sonnenschein bringen; knurrend sprangen die Männer von der Ladefläche, trotteten in den dämmrigen, baumüberschatteten Durchgangsweg neben dem Haus und warfen ohne jede Andeutung von Scham oder Schüchternheit die Kleider ab.

In ihren Arbeits-Shorts bogen sie gerade um die hintere Hausecke, als die Alte in ihrem verschossenen rosa Chenille-Bademantel, Jahrgang etwa 1950, in den Garten geschlurft kam, in beiden Händen vorsichtig einen grell geblümten Porzellannachttopf, auf dem Kopf eine blinkende Masse von Metall-Lockenklemmen, ebenfalls Jahrgang 1950. Keine modernen Lockenwickler für Mrs. Emily Parker, nein, danke! Der Garten senkte sich allmählich zum Rand einer mit Kies durchsetzten Tongrube ab, die einst Lieferant für eine beträchtliche Anzahl von Sydneys Backsteinen gewesen war; jetzt war sie nur noch eine bequeme Gelegenheit für die Alte, jeden Morgen ihren Nachttopf in ihr zu entleeren, denn sie hielt unverdrossen an den Gewohnheiten ihrer bäuerlichen Herkunft fest und bestand auf ihrem Töpfchen bei Nacht.

Während der Topfinhalt sich in einem steten goldgelben Bogen in die Tiefe der Tongrube ergoß, wandte sie den Kopf und musterte die nahezu nackten Männer mit säuerlicher Miene.

»Guten Tag, Miss Parker!« rief Harry ihr zu. »Ich glaub’, wir werden heute fertig.«

»Wird auch bald Zeit, ihr Faulpelze!« fauchte die Alte, die, kein bißchen verlegen, wieder durch den Garten heraufkam. »Was ich mir euretwegen alles gefallen lassen muß! Miss Horton hat sich gestern abend bei mir darüber beschwert, daß ihre kostbaren hellroten Geranien mit Betonstaub bedeckt sind, und ihr Frauenhaarfarn ist ganz plattgedrückt, weil einer von euch Nichtsnutzen gestern einen Backstein über ihren Zaun geworfen hat.«

»Wenn Miss Horton die alte Jungfer mit dem Schrumpelgesicht ist, die nebenan wohnt«, flüsterte Mick Devine seinem Kumpel Bill Naismith zu, »dann geh’ ich jede Wette ein, daß ihr verdammtes Frauenhaar nicht erst gestern von einem Stein zerquetscht worden, sondern schon längst aus Mangel an Dünger eingegangen ist!«

Immer noch laut vor sich hinschimpfend, verschwand die Alte mit ihrem leeren Nachttopf im Haus; wenige Sekunden später hörten die Männer dann, wie Mrs. Emily Parker ihren Nachttopf in der Toilette der Hinterveranda geräuschvoll reinigte sowie das Klappern von Porzellan, als der Topf bis zur Nacht an seinen Haken über dem orthodoxeren Behälter zur Aufnahme menschlichen Unrats gehängt wurde.

»Mein lieber Mann, ich wette, das verdammte Gras da unten in der Tongrube ist saftig grün«, sagte Harry zu seiner grinsenden Mannschaft.

»Ein Wunder, daß die Grube nicht schon längst überflutet ist«, setzte Bill kichernd hinzu.

»Also, wenn ihr mich fragt, die hat nicht alle Cents für ’n Dollar«, stellte Mick fest. »Heutzutage, und wo sie zwei richtige Klos im Haus hat, pißt die immer noch in den Komtunter.«

»Komtunter?« echote Tim Melville.

»Ja, Freundchen, in den Komtunter. Ein Komtunter ist das Ding, das jeden Abend unters Bett kommt und in das man jedes Mal reintritt, wenn man’s besonders eilig hat«, erklärte ihm Harry. Dann warf er einen Blick auf die Uhr. »Der Zementmischer muß jeden Moment hier sein. Tim, du gehst nach vorn und wartest, bis er kommt. Nimm die große Schubkarre vom Lastwagen und karr das Zeug zu uns rüber, sobald er da ist, verstanden?«

Tim Melville lächelte, nickte und trabte davon.

Mick Devine, der ihn, immer noch über die Kapricen der Alten nachsinnend, beobachtete, lachte laut auf. »O Mann! Ich hab ’ne Idee! Hört mal, ihr Holzköpfe, bei der Frühstückspause nachher macht ihr einfach mit, wenn ich was anfange. Dann können wir Tim vielleicht ’n bißchen was über Komtunters und so beibringen.«

Kapitel 2

 

Mary Horton drehte ihr langes und sehr dickes Haar zu dem gewohnten Knoten im Nacken, schob zwei weitere Nadeln hinein und betrachtete ihr Spiegelbild ohne Freude oder Kummer, ja sogar ohne Interesse. Der Spiegel war gut und warf ihr Bild zurück, ohne ihm zu schmeicheln oder es zu verzerren; und hätte sie es einer gründlicheren Betrachtung unterzogen, so hätte sie eine kleine, eher stämmige Frau mittleren Alters gesehen, deren weiße Haare, farblos wie Kristall, streng aus dem eckigen, aber regelmäßigen Gesicht gekämmt waren. Ein Make-up trug sie nicht, hielt es für eine nutzlose, nur der Eitelkeit dienende Verschwendung von Zeit und Geld. Die Augen selbst waren dunkelbraun und hellwach, energische Augen, welche die ein wenig harten Züge unterstrichen. Ihre Kleidung bestand aus dem, was ihre Arbeitskollegen seit langem nur noch als Äquivalent einer Militäruniform oder eines Nonnenhabits empfanden: aus einer frischen weißen, bis zum Hals zugeknöpften Hemdbluse unter der Jacke eines streng geschnittenen grauen Leinenkostüms. Der Rocksaum reichte züchtig bis unters Knie, der Rock selbst war so weit und bequem, daß er nicht hochrutschte, wenn sie sich setzte, die Beine steckten in praktischen dicken Stützstrümpfen, und an den Füßen trug sie schwarze Schnürschuhe mit kräftigen Blockabsätzen.

Die Schuhe waren gewienert, daß sie spiegelten, kein Fleck verschandelte das Weiß ihrer Hemdbluse, kein Fältchen die perfekte Bügelglätte ihres Leinenkostüms. Immer und zu jeder Zeit makellos zu sein war eine richtige Besessenheit bei Mary Horton; die junge Büroassistentin in ihrer Firma schwor heilige Eide, sie habe gesehen, daß Miss Horton, ehe sie die Toilette benutzte, sorgfältig ihre Kleider ablegte und sie auf einen Bügel hängte, damit sie nicht kraus wurden.

In der beruhigenden Gewißheit, daß sie damit ihren unbeugsamen Maßstäben entsprach, stülpte Mary einen schwarzen Strohhut auf die Oberkante ihres Knotens, schob eine Hutnadel hindurch, streifte die schwarzen Nappalederhandschuhe über und zog ihre geräumige Handtasche an den Rand des Toilettentischs. Nachdem sie die Tasche geöffnet hatte, prüfte sie sorgfältig, ob sie auch alles eingesteckt hatte: Schlüssel, Geld, Taschentuch, Ersatz-Monatsbinde, Bleistift und Notizbuch, Terminkalender, Ausweis- und Kreditkarten, Führerschein, Parkplatzausweis, Sicherheitsnadeln, Stecknadeln, Etui mit Nähnadel und Faden, Schere, Nagelfeile, zwei Ersatz-Blusenknöpfe, Schraubenzieher, Zange, Drahtschere, Taschenlampe, Metallmaßband in Zentimetern und Zoll, die Schachtel mit den ,38er Patronen und den Polizeirevolver.

Sie war ein erstklassiger Schütze. Es gehörte zu ihren Aufgaben, die Bankangelegenheiten der Firma Constable Steel & Mining zu verwalten, und seit dem Tag, da sie einem Dieb, der mit den Lohngeldern der Constable Steel & Mining unter dem Arm auf und davon wollte, einen sauberen Schuß verpaßt hatte, gab es in ganz Sydney keinen Verbrecher mehr, der die Verwegenheit besessen hätte, Miss Horton auf dem Rückweg von der Bank zu überfallen. Sie hatte damals ihren Aktenkoffer so gleichmütig, mit so großer Selbstbeherrschung und ohne jeglichen Protest hergegeben, daß der Strolch sich hundertprozentig in Sicherheit glaubte; kaum hatte er sich jedoch abgewandt, um davonzulaufen, öffnete sie die Handtasche, nahm ihre Pistole heraus, zielte und schoß. Sergeant Hopkins vom Pistolenschießstand der Polizei behauptete, sie könne schneller ziehen als Sammy Davis junior.

Mit vierzehn Jahren schon auf sich selbst angewiesen, hatte sie im CVJM mit fünf anderen jungen Mädchen zusammen ein Zimmer bewohnt und als Verkäuferin gearbeitet, bis sie den Abendkurs für Sekretärinnen geschafft hatte. Mit fünfzehn hatte sie im großen Schreibsaal der Constable Steel & Mining angefangen zu arbeiten – so bedürftig, daß sie Tag für Tag dieselbe gewissenhaft gewaschene und gebügelte Hemdbluse und denselben Rock getragen hatte und ihre Baumwollstrümpfe stopfte, bis sie mehr Stopfstellen aufwiesen als ursprüngliches Gewebe.

Innerhalb von fünf Jahren stieg sie aufgrund ihrer Tüchtigkeit, ihrer unauffälligen Ruhe und ihrer bemerkenswerten Intelligenz vom Schreibbüro zum Posten einer Privatsekretärin Archibald Johnsons, des Generaldirektors, auf, blieb aber dennoch während ihrer ersten zehn Jahre als Angestellte dieser Firma weiterhin im CVJM wohnen, stopfte weiterhin ihre Strümpfe immer wieder und sparte sehr viel mehr, als sie ausgab.

Als sie fünfundzwanzig Jahre alt war, bat sie Archie Johnson um Rat bezüglich der Investierung ihrer Ersparnisse, und als sie dreißig war, hatte sie ein Vielfaches der ursprünglichen Anlage verdient. Infolgedessen besaß sie im Alter von dreiundvierzig Jahren ein Haus in Artarmon, einem ruhigen Vorort der Mittelklasse, fuhr einen sehr konservativen, aber sehr teuren britischen Bentley mit Lederpolstern und Armaturenbrett aus Walnuß, besaß auf einem zwanzig Morgen großen Grundstück nördlich von Sydney ein Strandhaus und ließ sich ihre Kostüme von einem Schneider anfertigen, der für die Frau des Generalgouverneurs von Australien arbeitete.

Sie war überaus zufrieden mit sich selbst und mit ihrem Leben; sie genoß jene kleinen Annehmlichkeiten, die man nur mit Geld kaufen konnte, blieb sowohl im Beruf als auch zu Hause fast ganz für sich und besaß keine Freunde außer den fünftausend Büchern, mit denen die Wände ihres Studierzimmers vollgestellt waren, und den mehreren Hundert LPs, die fast ausschließlich Werke von Bach, Brahms, Beethoven und Händel enthielten. Sie liebte die Garten- und Hausarbeit, sah niemals fern, ging nie ins Kino und hatte nie einen Liebhaber gewollt und gehabt.

Als Mary Horton aus der Haustür trat, blieb sie einen Moment lang auf der Schwelle stehen, kniff die Augen vor der grellen Sonne zusammen und überprüfte den Zustand ihres Vorgartens. Der Rasen mußte dringend gemäht werden; wo blieb bloß dieser verflixte Kerl, den sie dafür bezahlte, daß er ihn an jedem zweiten Donnerstag schnitt? Jetzt war er schon seit einem Monat nicht gekommen, und der dichte, grünsamtene Teppich wurde allmählich verfilzt. Überaus ärgerlich, dachte sie, wirklich überaus ärgerlich!

Es lag ein seltsames Dröhnen in der Luft, halb Geräusch, halb Gespür, eine Art schwaches bumm, bumm, bumm, das in die Knochen drang und erfahrenen Einwohnern von Sydney verriet, daß es ein sehr heißer Tag werden würde. Die beiden blühenden Eukalyptusbäume rechts und links neben ihrem Eingangstor ließen seufzend, im Protest gegen die hämmernde Hitze, ihre blauen, sichelförmigen Blätter hängen, und in der dichten Masse der gelben Blüten an den Kassiabüschen raschelten und klapperten eifrige Japankäfer herum. Eine Reihe herrlich roter Doppeloleander flankierte den plattenbelegten Weg von der Haustür zur Garage; Mary Horton preßte die Lippen zusammen und schickte sich an, ihn entlangzugehen.

In diesem Augenblick begann das Duell, der Kampf, der sich im Sommer an jedem Morgen und Abend wiederholte. Sobald sie den ersten wunderschön blühenden Busch erreicht hatte, begann es in ihm zu kreischen und zu zetern, mit einer unglaublichen, betäubenden Lautstärke, die ihr in den Ohren schrillte, bis sich ihr der Kopf zu drehen begann.

Die Handtasche wurde abgesetzt, die Handschuhe ausgezogen; energisch marschierte Mary Horton zu einem sauber aufgerollten grünen Gartenschlauch hinüber, drehte den Hahn weit auf und richtete den vollen Strahl auf die Oleander. Nach und nach, als die Büsche nasser wurden, wurde das Geräusch schwächer, bis aus dem Busch unmittelbar neben dem Haus nur noch ein einziges »Kriiiek« im basso profundo kam. Wütend schüttelte Mary die Faust.

»Ich krieg’ dich noch, du altes Ekel!« zischte sie mit zusammengebissenen Zähnen.

»Kriiiiek«, antwortete der Chorleiter der Zikaden höhnisch.

Die Handschuhe wurden angezogen, die Handtasche aufgehoben; ruhig und gelassen setzte Mary den Weg zur Garage fort.

Von ihrer Einfahrt aus konnte sie das Stück Kulturschande sehen, das einstmals Mrs. Emily Parkers hübscher roter Backsteinbungalow gewesen war. Während Mary das Garagentor hochstemmte, musterte sie mißbilligend das Chaos dort drüben und warf einen flüchtigen Blick zum Gehsteig hinüber.

Die Gehsteige der Walton Street waren bezaubernd; sie bestanden aus einem schmalen Betonweg und einem vorbildlich gepflegten, sehr breiten Stück Rasen vom Weg bis zum Bordstein. In Abständen von etwa zehn Metern standen auf beiden Straßenseiten riesige Oleanderbäume, einer weiß, einer rosa, einer rot, einer rosa, jeweils in dieser Viererfolge: der Stolz der Anwohner der Walton Street und einer der Hauptgründe dafür, daß die Walton Street bei dem alljährlich vom »Herald« ausgeschriebenen Gartenwettbewerb fast regelmäßig den ersten Preis gewann.

Neben einem von Emily Parkers Gehsteig-Oleandern war ein schwerer Zementmixer abgestellt, dessen langsam rotierende Trommel immer wieder die Äste streifte, während eine Art Rutsche zähe graue Betonmasse auf den Rasen spie. Sie troff von den armen, erstarrten Zweigen des Baumes, rann dahin, sammelte sich träge in den Unebenheiten des Rasens und schob sich bis auf den gepflasterten Pfad hinaus. Marys Mund war zu einem schmalen weißen Strich geworden.

Was in aller Welt hatte Emily Parker nur dazu getrieben, die roten Backsteinwände ihres Hauses mit diesem widerlichen Zeug beschmieren zu lassen? Nun, über Geschmack läßt sich nicht streiten, dachte sie; oder vielmehr, über den Mangel daran.

Ein junger Mann stand barhäuptig in der Sonne und beobachtete gleichgültig diese Schändung der Walton Street; von der Garage aus, ungefähr sieben Meter von ihm entfernt, starrte Mary Horton ihn sprachlos an.

Hätte er zweieinhalb Jahrtausende zuvor gelebt – Phidias und Praxiteles hätten ihn als Modell für den schönsten Apoll aller Zeiten benutzen können; statt mit einem so hinreißenden Mangel an Befangenheit in einer stillen Straße von Sydney zu stehen und dem Vergessen der Sterblichkeit anheimfallen zu müssen, hätte er auf ewig in den kühlen, glatten Linien bleichen Marmors weiterleben können, und seine steinernen Augen würden gleichmütig über die bewundernd emporgewandten Gesichter zahlloser Menschengenerationen hinwegblicken.

Aber da stand er, mitten im Dreck der Betonmasse auf der Walton Street, eindeutig ein Mann aus Harry Markhams Bautrupp, denn er trug die Uniform der Bauarbeiter: Khaki-Shorts, deren Beine so weit hochgerollt waren, daß man bereits den Kurvenansatz der Hinterbacken sehen konnte, der Hosenbund dagegen so tief, daß er nur auf den Hüftknochen hing. Von diesen Shorts und einem Paar dicker Wollsocken, die über schwere, plumpe Arbeitsstiefel heruntergeschlagen waren, abgesehen, trug er nicht einen Faden am Leib; weder Hemd noch Jacke, noch Hut.

Er stand, sein Profil ihr zugewandt; sein Körper glänzte in der Sonne wie lebendiges geschmolzenes Gold, seine Beine waren so herrlich geformt, daß man ihn für einen Langstreckenläufer halten konnte; ja, genauso wirkte seine Figur, lang, schlank und geschmeidig, die breite Brust nun, da er sich ihr voll zuwandte, von den kräftigen Schultern allmählich sich bis zu den herrlich schmalen Hüften verjüngend.

Und das Gesicht – oh, dieses Gesicht! Es war perfekt. Die Nase kurz und gerade, die Wangenknochen hoch und deutlich hervortretend, der Mund sanft geschwungen. Dort, wo die Wange sich zum Mundwinkel hinabsenkte, zeigte sie links eine winzige Falte, und diese Falte ließ ihn traurig erscheinen, verlieh ihm einen Hauch verlorener Kinderunschuld. Sein Haar, seine Brauen und Wimpern besaßen die Farbe reifen Weizens, voll Glanz im Schein der Sonne, und seine großen Augen waren vom leuchtenden, lebendigen Blau der Kornblumen.

Als er merkte, daß sie ihn betrachtete, lächelte er ihr fröhlich zu, und sein Lächeln riß Mary Horton den Atem in einem unbeherrschten Aufkeuchen aus der Brust. In ihrem ganzen Leben hatte sie noch niemals so aufgekeucht; es jagte ihr einen Schrecken ein, daß seine außerordentliche Schönheit sie so in ihren Bann geschlagen hatte, und hastig eilte sie dem rettenden Hafen ihres Wagens zu.

Der Gedanke an ihn ließ sie während der ganzen, langsamen Fahrt ins Geschäftszentrum von North Sydney, wo das Bürogebäude der Constable Steel & Mining mit seinen vierzig Stockwerken lag, nicht los. Sosehr sie sich auch auf den Verkehr und die vor ihr liegenden Tagespflichten zu konzentrieren versuchte, Mary konnte ihn nicht aus ihrem Gedächtnis verbannen. Wäre er feminin gewesen, wäre sein Gesicht einfach hübsch gewesen oder hätte er eine auch noch so schwache Aura von Primitivität an sich gehabt, sie hätte ihn mühelos vergessen können, denn ihre langgeübte Selbstbeherrschung hatte sie gelehrt, alles Unwillkommene oder Aufregende umgehend zu vergessen. Aber, o Gott, wie schön war er, wie vollkommen, wie erschreckend schön! Dann fiel ihr ein, daß Emily Parker gesagt hatte, die Arbeiter würden morgen fertig werden; und während sie eisern weiterfuhr, schien um sie her trotz der flimmernden, schimmernden Hitze alles ein wenig glanzloser zu werden.

Kapitel 3

 

Als Mary Horton verschwunden und der Gartenschlauch wieder untätig war, stieß der Chorleiter der Zikaden in seinem Oleanderbusch ein tiefes, volltönendes »Kriiiiek« aus und erhielt sofort Antwort von der Star-Sopranistin zwei Büsche weiter. Dann fielen sie einer nach dem anderen ein, Tenöre, Alte, Baritone und Soprane, bis die gleißende Sonne ihre kleinen, schillernd grünen Körper mit einer so grellen Tonstärke aufgeladen hatte, daß in der Nähe der Büsche kein Gespräch möglich war. Der ohrenbetäubende Chor verbreitete sich, über die raschelnden Bewohner der Kassias hinweg bis zu den blühenden Eukalyptus- bäumen, über den Zaun bis zu den Oleanderbäumen auf den Gehsteigen der Walton Street und weiter in die Reihe der Kampferbäume zwischen Mary Hortons und Emily Parkers Gärten.

Die fleißigen Bauarbeiter nahmen kaum Notiz von den Zikaden, bis sie sich nur noch schreiend verständigen konnten; sie holten sich mit ihren Kellen Beton von dem großen Haufen, den Tim Melville immer wieder auffüllte, und warfen ihn – klatsch! – an die roten Backsteinmauern des Bungalows. Der Anbau war fertig bis auf eine letzte Lage Verputz; die nackten Rücken im steten Rhythmus schwerer Arbeit beugend und streckend, rückten die Männer immer weiter vor, badeten die Knochen in der herrlichen Sommerwärme, während ihr Schweiß schon trocknete, ehe er sich auf der glatten braunen Haut zu Tropfen sammeln konnte. Bill Naismith klatschte nassen Zement auf die Steine, Mick Devine glättete ihn zu einer gleichmäßigen Lage aus grobem grünlichem Verputz, und Jim Irvine hinter ihm zog, auf einem wackeligen Gerüst stehend, seine Kelle in sanftem Schwung hin und her, so daß die Oberfläche eine Verzierung in Gestalt zahlreicher halbrunder Bögen erhielt. Harry Markham, der die Augen überall hatte, sah auf die Uhr und rief nach Tim.

»Hör zu, Junge, du gehst jetzt rein und fragst die Alte, ob du den Kessel aufsetzen kannst, ja?« schrie Harry ihm zu, als er Tims Aufmerksamkeit endlich auf sich gelenkt hatte.

Tim stellte die Schubkarre auf dem Seitenweg ab, holte die fünf Liter fassende Kanne, klemmte sich die Vorratsdose unter den Arm und bat mit einem Tritt an die Küchentür um Einlaß.

Gleich darauf erschien Mrs. Parker, eine schattenhafte Gestalt hinter der dunklen Fliegendrahttür.

»Ach, du bist es, Herzchen!« sagte sie, als sie die Tür öffnete. »Komm nur herein! Wahrscheinlich willst du, daß ich für diese gräßlichen Kerls da draußen Teewasser aufsetze, wie?« fuhr sie fort, steckte sich eine Zigarette an und grinste ihm, der von der Sonne geblendet ins Dämmerlicht starrte, wohlwollend zu.

»Ja, bitte, Mrs. Parker«, antwortete Tim höflich lächelnd.

»Na schön, mir bleibt wohl nichts anderes übrig, nicht wahr, wenn ich mein Haus noch vor dem Wochenende fertig haben will. Setz dich, Herzchen, bis das Wasser kocht.«

Schloddrig hantierte sie in der Küche herum, das graumelierte Haar in eine unmögliche Wellenfrisur gelegt, den von keinem Korsett beengten Körper in ein Hauskleid aus rot und gelb geblümtem Baumwollstoff gehüllt.

»Willst du ’n Keks, Herzchen?« fragte sie ihn und hielt ihm die Keksdose hin. »Da sind ’n paar ganz dick mit Schokolade überzogene drin.«

»Ja, bitte, Mrs. Parker.« Lächelnd suchte Tim in der Dose herum, bis seine Hand auf ein besonders schönes Schokoladenkeks stieß.

Schweigend saß er auf dem Stuhl, während die Alte ihm die Teedose aus der Hand nahm und ein knappes Viertelpfund losen Tee in die Kanne schüttete. Als der Wasserkessel kochte, füllte sie die Kanne zur Hälfte und setzte den Kessel dann wieder auf, während Tim mit eifriger Hingabe abgestoßene Emailbecher, eine Flasche Milch und eine Dose Zucker auf den Küchentisch stellte.

»Hier, Herzchen, sei brav und wisch dir die Hände am Küchentuch ab, ja?« sagte die Alte zu Tim, der einen braunen Schokoladenfleck an der Tischkante hinterlassen hatte.

Sie ging zur Küchentür, steckte den Kopf hinaus und rief aus vollem Hals: »Frühstückspause!«

Tim schenkte sich einen Becher kohlschwarzen Tee ohne Milch ein und fügte dann so viel Zucker hinzu, daß der Tee überschwappte und die Alte wieder tadelnd den Kopf schüttelte.

»Himmel, bist du ein Tölpel!« Aber sie grinste ihn nachsichtig an. »Von den anderen würde ich mir das nicht gefallen lassen, aber du kannst ja nichts dafür, nicht wahr, Herzchen?«

Tim lächelte ihr freundlich zu, nahm seinen Becher und trug ihn hinaus, während die anderen Männer von draußen hereinkamen.

Sie aßen hinter dem Haus, neben dem neu errichteten Anbau. Hier war es schattig und weit genug von den Mülleimern entfernt, um nicht von allzu vielen Fliegen heimgesucht zu werden. Jeder von ihnen hatte sich einen flachen Stapel von Backsteinen errichtet, auf dem er beim Essen sitzen konnte. Die Kampferbäume zwischen Miss Hortons und Mrs. Parkers Garten neigten sich dicht verzweigt über sie und gaben so tiefen Schatten, daß es sich nach der Arbeit in der glühenden Sonne hier äußerst angenehm ruhen ließ. Sie setzten sich mit dem Teebecher in der einen und der braunen Tüte mit dem Frühstück in der anderen Hand, streckten aufatmend die Beine von sich und verscheuchten die wenigen Fliegen.

Da sie um sieben Uhr morgens anfingen zu arbeiten und um drei Uhr bereits aufhörten, hielten sie diese Frühstückspause um neun, während der Lunch um halb zwölf Uhr folgte. Traditionsgemäß hieß diese Neunuhrpause »Smoke-oh« und dauerte etwa eine halbe Stunde. Aufgrund ihrer schweren körperlichen Arbeit aßen sie mit ungeheurem Appetit, obwohl man ihren schlanken, muskulösen Körpern kaum etwas davon anmerkte. Um halb sechs Uhr morgens begann jeder von ihnen den Tag mit heißem Porridge, gebratenen Koteletts oder Würstchen mit zwei oder drei Spiegeleiern, mehreren Tassen Tee und ein paar Scheiben Toast; bei der Frühstückspause verdrückten sie hausgemachte Sandwiches und dicke Kuchenstücke und beim Lunch noch einmal das gleiche, allerdings in der doppelten Menge. Eine Nachmittagspause gab es nicht; um drei gingen sie alle davon, die Arbeits-Shorts in ihre merkwürdigen, fast an Arzttaschen erinnernden braunen Taschen gestopft, und nahmen, jetzt wieder in Hemden mit offenem Kragen und dünnen Baumwollhosen, Kurs auf das gewohnte Pub. Dort endete jeder Arbeitstag, das war und blieb sein Höhepunkt: in diesem geräuschvollen, latrinengleichen Pub konnten sie sich, den Fuß auf die Barstange gestützt, in der Faust einen überschäumenden Humpen Bier, entspannen, mit Kollegen oder Pub-Bekanntschaften schwatzen oder mit den derbgesichtigen Barmädchen einen sterilen Flirt anfangen.

Als sich die Männer an diesem Morgen zur Frühstückspause niederließen, herrschte unter ihnen eine gespannte, erwartungsvolle Atmosphäre. Mick Devine und sein Kumpel Bill Naismith saßen nebeneinander am hohen Lattenzaun, die Teebecher zu ihren Füßen, das Frühstück auf dem Schoß ausgebreitet; ihnen gegenüber saßen Harry Markham und Jim Irvine, während Tim Melville der Küchentür der Alten am nächsten hockte, damit er jederzeit aufspringen und auf Befehl der anderen etwas holen könnte. Als jüngstes Mitglied dieser Gruppe fiel ihm der Posten des allgemeinen Laufjungen zu; in Harrys Büchern lautete sein offizieller Titel »Bauhilfsarbeiter«, und er arbeitete seit zehn von seinen fünfundzwanzig Jahren bei Harry, ohne jemals befördert worden zu sein.

»He, Tim, was hast du denn heute auf deinem Sandwich?« fragte Mick, der den anderen heftig zuzwinkerte.

»Also, dasselbe wie immer, Mick. Marmelade«, antwortete Tim und zeigte ihm zwei unordentlich geschnittene Weißbrotscheiben, zwischen denen dicke gelbe Marmelade hervorquoll.

»Was für Marmelade?« wollte Mick wissen, der sein eigenes Sandwich ohne große Begeisterung musterte.

»Aprikosen, glaube ich.«

»Woll’n wir tauschen? Ich hab’ Wurst drauf.«

Tims Miene erhellte sich. »Wurst! O ja, Wurst mag ich gern! Komm, wir tauschen!«

Der Tausch wurde getätigt; Mick biß ungeschickt in das Marmeladensandwich, während Tim, ohne die grinsende Neugier der anderen zu bemerken, Micks Wurstsandwich mit wenigen Bissen verschlang. Gerade wollte er sich den letzten Rest in den Mund schieben, als Mick, den es vor unterdrücktem Lachen schüttelte, die Hand ausstreckte und ihn zurückhielt.

Die blauen Augen blickten hilflos, kindlich fragend zu Mick auf; in ihren Tiefen lauerte Furcht; der traurige Mund blieb offenstehen.

»Was ist denn, Mick?« fragte er.

»Du hast das verdammte Wurstsandwich ja nicht mal richtig gekaut, Mann! Wie hat’s geschmeckt? Oder hast du’s nicht mal lange genug im Mund gehabt, um das zu merken?«

Die winzige Falte an Tims linkem Mundwinkel trat wieder in Erscheinung, als er den Mund schloß und Mick verständnislos anstarrte.

»Ach, ganz gut, Mick«, antwortete er langsam. »Es hat zwar ’n bißchen seltsam geschmeckt, aber ganz gut.«

Mick brach in brüllendes Gelächter aus, und im nächsten Moment bogen sich auch die anderen vor Lachen, daß ihnen die Tränen übers Gesicht rannen und sie sich die schmerzenden Seiten halten und keuchend nach Luft ringen mußten.

»O Himmel, Tim, du bist doch wahrhaftig das Allerletzte! Harry meint, du wärst mindestens sechzig Cents für ’n Dollar wert, aber ich hab’ gesagt, daß du höchstens zehn wert bist, und nach dem Ding, das du jetzt wieder abgezogen hast, lieg’ ich damit bestimmt nicht schief. Du kannst überhaupt nicht mehr als zehn Cents für ’n Dollar wert sein, Mann!«

»Was ist los?« fragte Tim völlig ratlos. »Was hab’ ich gemacht? Ich weiß, daß ich nicht alle Cents für ’n Dollar hab’, Mick, ehrlich, das weiß ich!«

»Wenn dein Sandwich nicht nach Wurst geschmeckt hat, Tim – wonach hat es dann geschmeckt?« fragte Mick grinsend.

»Na ja, weiß ich nicht ...« Tims goldene Brauen zogen sich vor angestrengter Konzentration zusammen. »Ich weiß nicht! Einfach ’n bißchen komisch.«

»Warum klappst du den Rest da nicht einfach auf und siehst ihn dir mal gut an, Tim?«

Tims große, herrlich geformte Hände fingerten an dem Brotrest herum und klappten ihn auf. Das letzte Stück Wurst war plattgedrückt, der Rand sah glitschig und klebrig aus.

»Riech mal dran!« befahl ihm Mick, sah die atemlosen Kollegen an und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus den Augen.

Tim hielt sich das Brot unter die Nase; seine Nasenflügel zuckten und blähten sich, dann ließ er das Brot wieder sinken und starrte die anderen verständnislos an. »Ich weiß nicht, was es ist«, erklärte er hilflos.

»Das ist ’n Kaktus, du Hornochse!« antwortete Mick ihm jetzt voll Abscheu. »Mann, bist du dämlich!

Du hast dran gerochen und weißt immer noch nicht, was es ist?«

»’n Kaktus?« echote Tim begriffsstutzig. »Was ist ein Kaktus, Mick?«

Abermals brüllten sie alle vor Lachen, während Tim mit dem kleinen Rest Sandwich in der Hand dasaß, sie ansah und geduldig darauf wartete, daß sich jemand genug beruhigte, um ihm die Frage zu beantworten.

»Ein Kaktus, Tim, mein Junge, das ist ’n dicker, fetter Haufen Scheiße!« grölte Mick.

Tim zuckte zusammen, schluckte, schleuderte das Brot voll Entsetzen von sich und saß, immer mehr in sich hineinkriechend, mit gerungenen Händen da. Die anderen zogen sich hastig zurück, weil sie dachten, er werde sich übergeben, aber das tat er nicht; er saß einfach da und starrte sie zutiefst bekümmert an.

Es war also schon wieder passiert. Er hatte sie alle zum Lachen gebracht, indem er etwas Dummes getan hatte, aber er wußte einfach nicht, was und warum es so komisch sein sollte. Sein Vater hätte sicher gesagt, er sollte keine Schlafmütze sein, aber er war mal wieder eine Schlafmütze gewesen, er hatte vergnügt ein Wurstsandwich gegessen, das gar kein Wurstsandwich gewesen war. Ein Stück Scheiße wär’s gewesen, behaupteten sie, aber woher sollte er wissen, wie ein Stück Scheiße schmeckte, wo er doch noch nie welche gegessen hatte? Was war so komisch daran? Er wünschte, er wüßte es; er hätte es so gern gewußt, hätte so gern mit eingestimmt in ihr Lachen und alles verstanden. Das war immer sein größter Kummer, daß er offenbar nie etwas verstand.

Seine großen blauen Augen füllten sich mit Tränen, sein Gesicht verzerrte sich vor Qual, und er begann zu weinen wie ein kleines Kind, lauthals zu heulen, die Hände zu ringen und vor ihnen zurückzuweichen.

»Herr im Himmel, was seid ihr doch für widerliche, gemeine Dreckskerle!« schimpfte die Alte, die in ihrem wehenden Blümchenkleid wie eine Harpyie zur Küchentür herausgestürzt kam. Sie lief auf Tim zu, ergriff seine Hände, zog ihn auf die Füße und funkelte die wieder ernst werdenden Männer wütend an. »Komm, Herzchen, du gehst jetzt mit mir hinein, damit ich dir was Schönes geben kann, das diesen ekelhaften Geschmack wegnimmt«, tröstete sie ihn, während sie ihm die Hände tätschelte und ihm über die Haare strich. »Und ihr«, zischte sie, das Gesicht so dicht unter Micks Nase schiebend, daß dieser erschrocken vor ihr zurückwich, »euch wünsche ich, daß ihr allesamt mit dem Arsch zuerst in ein Einmannloch fallt, das unten richtig schöne, scharfe Eisenspitzen hat! Auspeitschen müßte man euch dafür, ihr großen, kurzsichtigen Nichtsnutze! Sieh nur zu, daß du mit dieser Arbeit heute hier fertig wirst, Harry Markham, sonst wirst du sie nämlich überhaupt nicht mehr fertigkriegen! Ich will euch alle nie wieder hier sehen!«

Liebevoll besorgt wie eine Glucke führte sie Tim ins Haus. Die anderen blieben zurück und starrten einander verblüfft an.

Mick zuckte die Achseln. »Dämliche Weiber!« sagte er. »Ich hab’ noch nie eine kennengelernt, die auch nur ’n Funken Humor im Leib hat. Kommt, Männer, sehen wir zu, daß wir fertig werden. Ich hab’ die Nase jetzt auch voll.«

Mrs. Parker führte Tim in die Küche und drückte ihn auf einen Stuhl.

»Armes, kleines, dummes Scheißerchen«, sagte sie und ging zum Kühlschrank. »Ich weiß auch nicht, warum Männer es für so komisch halten, Einfältige und Hunde zu verspotten. Hör sie dir an, wie sie grölen und lachen! Wirklich komisch! Am liebsten würd’ ich ihnen so ’nen richtig schön dreckigen Schokoladenkuchen backen und ihn mit Scheiße füllen, wo sie das doch für so komisch halten! Du, mein armes Herzchen, hast dich ja nicht mal übergeben, aber die würden ’ne Stunde lang würgen, diese großen, starken Helden!« Sie wandte sich zu ihm um und wurde sofort wieder sanft, denn er weinte immer noch, schluckte und schniefte ganz erbärmlich, während ihm die Tränen über die Wangen liefen. »Ach was, komm – jetzt hörst du auf!« Sie zog ein Papiertuch aus einer Schachtel und hob sein Kinn. »Putz dir die Nase, Junge!«

Er gehorchte und ließ es dann geduldig zu, daß sie ihm mit unsanften Bewegungen das Gesicht abwischte.

»Gott, welch eine Verschwendung!« murmelte sie vor sich hin, als sie sein Gesicht betrachtete; dann warf sie das Papiertuch achselzuckend in den Mülleimer. »Aber so ist es wohl immer. Man kann nicht alles haben, auch nicht die Größten und Besten von uns, was, Herzchen?« Mit ihrer alten, geäderten Hand tätschelte sie ihm die Wange. »Was möchtest du denn nun am liebsten, Herzchen – Eis mit ganz viel Schokoladenguß oder ein großes Stück Marmeladenpudding mit kalter Bananensoße drüber?«

Er hörte vorübergehend auf zu schniefen und strahlte übers ganze Gesicht. »O bitte Marmeladenpudding, Mrs. Parker! Marmeladenpudding mit kalter Bananensoße drüber esse ich furchtbar gern! Das ist mein Leibgericht!«

Während er sich gehäufte Löffel voll Pudding in den Mund schaufelte, saß sie ihm gegenüber am Küchentisch und schalt ihn freundlich, er esse zu schnell und solle auf seine Manieren achten.

»Mach den Mund zu beim Essen, Herzchen. Es sieht scheußlich aus, wenn man sieht, wie jemand das Essen in seinem offenen Mund rumkaut. Und sei schön brav und nimm die Ellbogen vom Tisch.«

Kapitel 4

 

Abends um halb sieben fuhr Mary Horton ihren Wagen in die Garage, so müde, daß ihr die Knie zitterten, als sie die paar Schritte bis zu ihrer Haustür zurücklegte. Sie hatte sich selbst den ganzen Tag über unbarmherzig zur Arbeit getrieben, und es war ihr gelungen, alle Gefühle abzutöten – bis auf die Müdigkeit. Mrs. Parkers Haus war anscheinend fertig; die roten Backsteinmauern waren endgültig verschwunden, von feuchtem grüngrauem Verputz bedeckt. Als sie die Haustür schloß, schrillte das Telefon, und sie eilte hinein, um den Anruf zu beantworten.

»Miss Horton, sind Sie das?« kam die rauhe Stimme ihrer Nachbarin. »Hier ist Emily Parker. Hören Sie, könnten Sie mir einen Gefallen tun?«

»Aber gern.«

»Ich muß jetzt weg, mein Sohn hat grade vom Bahnhof angerufen, und ich muß hinfahren und ihn abholen. Die Arbeiter sind fertig bei mir, aber sie haben im Garten noch eine ganze Menge Zeug rumliegen lassen, und Harry sagte, er würde noch mal kommen und alles aufräumen. Könnten sie da wohl ein bißchen aufpassen?«

»Gewiß, Mrs. Parker.«

»Wiedersehn, Herzchen! Bis morgen dann.«

Mary seufzte ergeben. Im Moment sehnte sie sich nur danach, sich in den Lehnsessel am Panoramafenster sinken zu lassen, die Füße hochlegen, ihren üblichen Sherry vor dem Essen trinken und den »Sydney Morning Herald« lesen zu können, wie es ihre allabendliche Gewohnheit war. Müde ging sie ins Wohnzimmer und öffnete den Barschrank. Ihre Gläser waren alle aus exquisit geformtem Waterford-Kristall, und eines der langstieligen Sherrygläser nahm sie von seinem Platz auf dem blankpolierten Regal. Sie bevorzugte einen mittelsüßen Sherry, den sie sich jedoch selber mixte, indem sie einem halben Glas trockenen Amontillado ein halbes Glas sehr süßen Sherry hinzufügte. Nachdem das Ritual vollzogen war, ging sie mit dem Glas durch die Küche auf die rückwärtige Terrasse hinaus.

Ihr Haus war schöner angelegt als das von Mrs. Parker; anstelle einer hinteren Veranda hatte sie eine erhöhte, weite, mit Sandstein gepflasterte Terrasse, von der sich auf drei Seiten ein Steingarten bis zu dem fünf Meter tiefer liegenden Rasen hinabsenkte. Die Terrasse war sehr hübsch und außerdem im Sommer kühl, denn die eine Hälfte war von einem Gitterwerk überdacht, das dicht mit Weinreben und Glyzinien bewachsen war. Im Sommer konnte sie, wohlgeschützt vor der Sonne, unter diesem dichten grünen Dach sitzen; im Winter ließ sie sich durch die kahlen, knorrigen Äste hindurch von der Sonne wärmen; im Frühling verliehen die lila Blüten der Glyzinien dem Platz einen besonderen Reiz, und im Spätsommer und Herbst bog sich das Gitter unter der Last der dicken Trauben in Rot, Weiß und Purpur.

Lautlos überquerte sie in ihren sauberen schwarzen Schuhen die Steinplatten. Sie besaß eine Art Katzengang und liebte es, sich den Menschen leise zu nähern, damit sie sie sah, ehe sie selbst von ihnen gesehen wurde. Es konnte zuweilen recht nützlich sein, die Menschen unvorbereitet zu überraschen.

Die hintere Kante der Terrasse war mit einem Geländer aus weiß gestrichenem Schmiedeeisen im Weintraubenmuster geschützt, nur ungefähr jeweils ein Meter davon zu beiden Seiten einer Treppe, die auf den weiten Rasen hinunterführte. Geräuschlos wie immer stand sie, das Glas auf dem Geländer balancierend, und blickte zu Mrs. Parkers Garten hinüber.

Die Sonne versank am Horizont des westlichen Himmels, dem sie zugewandt stand, und wäre sie ein Mensch gewesen, den landschaftliche Schönheit zutiefst bewegte, hätte der Anblick, der sich bot, ihr wohl den Atem genommen. Zwischen ihrer Terrasse und den Blue Mountains in zwanzig Meilen Entfernung gab es nicht die geringste Erhebung; selbst die Hügel von Ryde behinderten den Blick keineswegs, sondern betonten ihn nur noch, gaben ihm perspektivische Tiefe. Es hatte am Nachmittag weit über vierzig Grad Celsius gehabt und war auch jetzt noch nicht viel kühler, so daß es keine Wolken am Himmel gab, die das Tagesende verkündeten. Aber das Licht an sich war wunderschön, von einem tiefen Gelb, das zu Bronzetönen neigte, das Grün noch grüner und alles andere bernsteingelb färbte. Mary beschattete die Augen mit der Hand und beobachtete Mrs. Parkers Garten.

Der junge Mann vom frühen Morgen fegte eine staubig-trockene Zementwolke vor sich her in Richtung auf einen Haufen aus Müll und Abfällen, den goldblonden Kopf konzentriert auf diese einfache Aufgabe gesenkt, als schenke er gern allem, sogar diesem, seine volle Aufmerksamkeit. Er war immer noch halb nackt, immer noch so schön, vielleicht sogar schöner noch jetzt, im letzten matten Tageslicht, als in der ersten frischen klaren Frühe. Den Sherry in ihrer Hand nicht beachtend, stand Mary da und beobachtete ihn, vollkommen selbstvergessen, sich nicht im geringsten bewußt, daß ein Gefühl von ihr Besitz ergriffen hatte, das ihrer ganzen Persönlichkeit fremd war, frei von Schuld oder Verwirrung. Sie beobachtete ihn einfach.

Als er mit dem Fegen fertig war, den Kopf hob und sie sah, winkte er ihr fröhlich zu und verschwand. Mary zuckte erschrocken zusammen, das Herz klopfte ihr bis zum Hals, und ehe sie sich’s versah, ging sie zu der Reihe von Kampferbäumen zwischen den beiden Gärten hinüber und schlüpfte durch eine Lücke im Lattenzaun.

Er hatte offensichtlich erledigt, was er noch zu tun gehabt hatte, denn er hielt seine Tasche in der Hand und holte seine Straßenkleidung heraus.

»Hallo!« grüßte er sie lächelnd, ohne die geringste Spur von eitlem Gehabe, so als hätte er keine Ahnung von seiner Schönheit und von der Wirkung, die sie unvermeidlich auf andere ausübte.

»Hallo!« antwortete Mary, ohne zu lächeln; etwas Nasses tropfte auf ihre Hand, und als sie hinabblickte, sah sie den Sherry über den Rand des vergessenen Glases rinnen.

»Sie verschütten Ihren Drink«, stellte er fest.

»Ja, ist das nicht dumm von mir?« Sie war bemüht, ihre Gesichtszüge in eine freundliche Miene zu zwingen.

Darauf hatte er keine Antwort bereit; er stand nur da, in seiner freundlichen, interessierten Art, und lächelte.

»Würden Sie sich gern ein bißchen dazuverdienen?« erkundigte sich Mary schließlich, während sie ihn forschend ansah.

Er schien nicht zu begreifen. »Äh?«

Sie errötete; ihre dunklen Augen musterten ihn ein wenig ironisch. »Mein Rasen müßte dringend geschnitten werden, und mein Gärtner ist seit einem Monat nicht mehr da gewesen, vielleicht kommt er überhaupt nicht mehr. Ich bin sehr stolz auf meinen Garten, und es gefällt mir gar nicht, daß er so ungepflegt ist, aber es ist überaus schwierig, jemanden zu bekommen, der mir den Rasen schneidet. Darum dachte ich, als ich sah, daß sie hier an einem Freitag Überstunden machen, daß Sie vielleicht ein bißchen Geld gebrauchen könnten. Wäre es Ihnen möglich, morgen herzukommen und den Rasen zu schneiden? Ich habe einen Traktormäher, es ist also eher eine Frage der Zeit als der Mühe.«

»Äh?« wiederholte er, immer noch lächelnd, aber diesmal nicht mehr ganz so strahlend.

Ungeduldig zuckte sie die Achseln. »Mein Gott noch mal, wenn Sie die Arbeit nicht wollen, sagen Sie’s doch! Ich will ja nur wissen, ob Sie morgen kommen und meinen Rasen schneiden können. Ich werde Ihnen mehr bezahlen als Mr. Markham.«

Er trat an die Lücke im Lattenzaun, spähte neugierig in ihren Garten hinüber und nickte dann. »Ja, der muß wirklich geschnitten werden. Das kann ich tun.«

Sie schlüpfte auf ihre Seite des Zauns zurück und drehte sich zu ihm um. »Vielen Dank. Das ist sehr freundlich von Ihnen, und ich werde es Ihnen gut bezahlen. Kommen Sie einfach morgen früh zur Hintertür, dann werde ich Ihnen alles erklären«.

»Ja, gut, Missus«, antwortete er ernst.

»Wollen Sie nicht wissen, wie ich heiße?« fragte sie ihn.

»Ich glaube schon.« Er lächelte.

Seine ständig Belustigung ausdrückende Miene ärgerte sie, und sie wurde abermals rot. »Ich heiße Miss Horton44, fuhr sie ihn an. »Und wie heißen Sie, junger Mann?«

»Tim Melville.«

»Dann sehen wir uns morgen früh, Mr. Melville. Auf Wiedersehen und vielen Dank.«

»Bye, bye«, antwortete er lächelnd.

Als sie sich oben auf ihrer Terrasse umdrehte und zu Mrs. Parkers Garten hinüberblickte, war er fort. Und ihr Sherry war ebenfalls fort, der letzte Tropfen ausgelaufen, als sie in ihrer Hast, dem Blick dieser unschuldigen blauen Augen zu entkommen, das Glas umgedreht hatte.

Kapitel 5

 

Das »Seaside Hotel« war ein beliebtes Trinklokal der Bewohner von Randwick. Sie kamen dorthin aus allen Teilen dieses großen, weitläufigen Vorortes, aus Randwick selbst, aus Coogee, Clovelly und sogar Maroubra. Das Bier war ausgezeichnet, gut gekühlt, man hatte als Gast genügend Bewegungsfreiheit, und was immer der Grund für seine Beliebtheit sein mochte, es gab während der Öffnungszeiten nie einen Augenblick, in dem das Lokal nicht voll war und vom fröhlichen Lärm der zufriedenen Biertrinker widerhallte. Es war mehrere Stockwerke hoch, seine Mauern waren schneeweiß verputzt und vermittelten mitsamt einer Alhambra-ähnlichen Reihe von Säulenbogen den Eindruck einer großen Hacienda. Da es siebzig Meter hoch über dem Ozean und nicht mal eine halbe Meile davon entfernt lag, bot es einen herrlichen Blick auf den Coogee Beach, einen der kleineren Surfing-Strände der östlichen Vororte. Die meisten Gäste standen draußen vor der Bar auf der Veranda, die von drei Uhr nachmittags an im Schatten lag. Am Abend eines heißen Tages war dies ein besonders schöner Platz zum Trinken, denn die Sonne sank hinter den Hügel auf der Rückseite des Pub, und die Meeresbrise konnte ungehindert vom leuchtendblauen Pazifik hereinblasen.

Ron Melville stand mit seinen beiden besten Trinkfreunden auf der Veranda; sein Blick wanderte zwischen seiner Armbanduhr und dem Strand tief unten hin und her. Tim kam spät; es war schon fast acht, und er hätte spätestens um halb sieben hier sein müssen. Ron war allerdings eher ärgerlich als besorgt, denn jahrelange Erfahrung hatte ihn gelehrt, daß er höchstens einen frühen Herzinfarkt herausforderte, wenn er sich ständig um Tim sorgte.

Die kurze Abenddämmerung von Sydney hatte ihren Höhepunkt erreicht, und die Norfolk-Island-Pinien an der Sandstein-Strandpromenade waren nicht mehr dunkelgrün, sondern schwarz. Die Flut kam herein, die Brandung begann zu donnern und lief in schäumenden Flächen bis hoch auf den Sand hinauf, die Schatten reckten sich immer weiter hinaus aufs Meer. Die Busse kamen immer am Strandpark entlang den Berg herab, die Haltestelle lag tief unten an einer Ecke. Ron beobachtete, wie wieder ein Bus dort hielt, und suchte unter den aussteigenden Fahrgästen nach Tims unverkennbarem blonden Schopf. Sobald er ihn entdeckt hatte, wandte er sich wieder ab.

»Da unten kommt Tim. Ich gehe schnell rein und hole ihm ein Bier. Sonst noch jemand?« fragte er gelassen.

Als er wieder auf der Veranda auftauchte, brannten die Straßenlaternen, und Tim stand lächelnd bei Rons Freunden.

»Hallo, Pop«, begrüßte er Ron lächelnd.

»Guten Abend, Junge. Wo hast du gesteckt?« erkundigte sich Ron verärgert.

»Ich mußte noch was erledigen. Harry wollte am Montag nicht noch mal hin.«

»Na schön. Das Geld für die Überstunden können wir gut gebrauchen.«

»Ich hab’ noch einen anderen Job«, berichtete Tim voll Stolz, während er seinem Vater das Glas Bier abnahm und es mit einem einzigen langen Schluck leerte. »Ah, das war gut! Krieg’ ich noch eins?«

»Gleich. Was ist das für ein Job?«

»Ach so! Die Lady nebenan möchte, daß ich morgen ihren Rasen schneide.«

»Nebenan? Wo?«

»Nebenan von dem Haus, wo wir heute waren.«

Curly Campbell kicherte. »Hast du sie gefragt, wo du ihren Rasen schneiden sollst, Tim? Drinnen oder draußen?«

»Halt den Mund, Curly, du alter Quatschkopf!« fauchte Ron wütend. »Du weißt genau, daß Tim dieses Gerede nicht versteht!«

»Ihr Rasen ist zu hoch und muß geschnitten werden«, erklärte Tim.

»Hast du gesagt, daß du’s tust, Tim?« fragte Ron.

»Ja, morgen früh. Sie hat gesagt, daß sie’s mir bezahlen will, deshalb dachte ich mir, daß du nichts dagegen hast.«

Ron musterte das ebenmäßige Gesicht seines Sohnes ironisch. Falls die erwähnte Dame irgendwelche Absichten hatte, würden fünf Minuten mit Tim ihr die schon austreiben. Nichts war der Leidenschaft abträglicher als die Entdeckung, daß Tim nicht alle Cents für den Dollar hatte, oder, falls das noch nicht genügte, die Feststellung, daß es sinnlos war, Tim verführen zu wollen, da er nicht die geringste Ahnung hatte, wozu Frauen da waren. Ron hatte seinen Sohn darauf gedrillt, sofort davonzulaufen, wenn eine Frau zu aufgeregt wurde oder ein kleines Sexspielchen versuchte; Tim war sehr anfällig für Angst, und man konnte ihn lehren, so ziemlich vor allem Angst zu haben.

»Krieg’ ich noch ein Bier, Pop?« fragte Tim abermals.

»Klar, mein Sohn. Geh rein und laß dir von Florrie ’n Humpen geben. Ich glaube, den hast du dir wirklich verdient.«

Curly Campbell und Dave O’Brien sahen der hohen, schlanken Gestalt nach, die unter den Arkaden verschwand.

»Ich kenne euch nun schon seit zwanzig Jahren, Ron«, sagte Curly, »aber woher Tim sein Aussehen hat, das ist mir immer noch ein Rätsel.«

Ron grinste. »Mir auch, Curly. Tim muß einem Vorfahren von uns ähnlich sehen, von dem wir noch nie was gehört haben.« Gegen neun verließen Melville Vater und Sohn das »Seaside« und marschierten flotten Schrittes am »Coogee Oval« vorbei und dann die Reihe der grell beleuchteten Milchbars, Spielsalons und Spirituosengeschäfte am anderen Ende des Strandparks entlang, an denen Ron seinen Sohn hastig vorbeisteuerte. Während sie von der Arden Street zur Surf Street hinübergingen, vergewisserte er sich, daß sich die hungrigen Blicke, die Tim bei den herumlungernden Huren und Flittchen auslöste, gar nicht erst zu Annäherungsversuchen entwickelten.

Das Haus der Melvilles lag in der Surf Street, aber nicht im eleganten Teil auf dem Berg, wo der Jockey Nobby Clark wohnte. Sie bewältigten den steilen Anstieg so mühelos, daß keiner von ihnen auch nur schwerer atmete, denn beide arbeiteten auf dem Bau und waren in hervorragender Kondition. Auf halbem Weg die andere Seite hinunter, in der Senke zwischen dem vornehmen Hügelkamm und dem fernen Buckel der Clovelly Road, bogen sie in das seitliche Tor eines höchst durchschnittlichen Backstein-Doppelhauses ein.

Die weiblichen Melvilles hatten schon längst gegessen, doch als Ron und Tim zur Hintertür hereinkamen, eilte Esme Melville aus dem Wohnzimmer herbei und begrüßte sie in der Küche.