Eine Liebe zu sich selbst, die glücklich macht - Margarete Mitscherlich - E-Book

Eine Liebe zu sich selbst, die glücklich macht E-Book

Margarete Mitscherlich

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Beschreibung

Das Vermächtnis der Grande Dame der Psychoanalyse. Margarete Mitscherlich, die große Dame der deutschen Psychoanalyse, wendet sich in diesem Buch, an dem sie bis unmittelbar vor ihrem Tod intensiv arbeitete, noch einmal grundlegenden Fragen ihres Lebens zu: Was macht die "Liebe zu sich selber" aus? Welche Motive und Absichten bewegten berühmte Frauengestalten in einer männlich dominierten Welt? Wie erleben wir Trauer und Verlust? Und wie hängt das individuelle Erleben von Verlusten mit der gesellschaftlichen Unfähigkeit zu trauern in der Nachkriegszeit zusammen? Margarete Mitscherlich stützt ihre Überlegungen immer wieder auch autobiographisch und demonstriert so eindrucksvoll ihre konsequente Reflexion auf sich selbst. »Eine sanfte Radikale. Ihre Radikalität liegt in der unbeirrbaren Beharrlichkeit, mit der sie immer wieder zu ihren großen Themen zurückkehrt: Emanzipation und Trauer.« Andrea Roedig, Neue Zürcher Zeitung »Bewundernswert, diese schwebende und doch bodenständige Ausdrucksfähigkeit eines Menschen, dessen Zeit abgelaufen ist und die uns ein Beispiel gibt, wie man am Lebensende noch vergnügt denken und mitreden kann. – Wir werden sie nicht vergessen.« Ruth Klüger, Die Welt

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Margarete Mitscherlich

Eine Liebe zu sich selbst, die glücklich macht

FISCHER E-Books

I.Frauen

Die Liebende Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre, ein Paar

Die »Liebe« – so Simone de Beauvoir – hat für die beiden Geschlechter durchaus nicht den gleichen Sinn und ist als Ursache schwerer Missverständnisse anzusehen, die die Geschlechter voneinander trennen. Nach Lord Byron ist die Liebe im Leben des Mannes nur eine Beschäftigung, während sie für die Frau das eigentliche Leben ausmacht. Ähnlich äußert sich Friedrich Nietzsche in Die fröhliche Wissenschaft: »Mann und Weib verstehen unter Liebe jeder etwas anderes … Was das Weib unter Liebe versteht, ist klar genug: vollkommene Hingabe (nicht nur Hingebung) mit Seele und Leib, ohne jede Rücksicht, jeden Vorbehalt … In dieser Abwesenheit von Bedingungen ist eben seine Liebe ein Glaube: das Weib hat keinen anderen. – Der Mann, wenn er ein Weib liebt, will von ihm eben diese Liebe, ist folglich für seine Person selbst am entferntesten von der Voraussetzung der weiblichen Liebe. Gesetzt aber, daß es auch Männer geben sollte, denen ihrerseits das Verlangen nach vollkommener Hingabe nicht fremd ist, nun, so sind das eben – keine Männer.«[1] Der zur Abhängigkeit verurteilten Frau bleibt keine andere Wahl, als sich mit ihrer Situation eines unwesentlichen Objekts – das ohne einen Herrn nicht existiert – auseinanderzusetzen, als sie zu verinnerlichen und als die einzig wahre Erfüllung ihres Frauseins zu akzeptieren.

Damit erfüllt die Frau die Vorstellung von »Liebe«, die ihr das Patriarchat seit Jahrtausenden als weiblich vorgeschrieben hat. Die Liebe wird für sie zur Religion. Nur wenigen Frauen gelang es, sich von dieser ihnen aufgezwungenen »Weiblichkeit« zu lösen. Wenn sich der Frau keine Möglichkeit für die menschliche Liebe bietet – so Beauvoir –, sucht sie ihre weibliche Erfüllung in der Hingabe an Gott. Männer mit ähnlichen Bedürfnissen sind selten und meist weniger von Gefühlen als von intellektueller oder künstlerischer Darstellung ihrer religiösen Hingabe beherrscht. Frauen, die sich den »Wonnen einer überirdischen Vermählung« hingeben, sind Legion. Als Nonnen gehen sie lebenslang die Ehe mit Christus ein, der sie niemals enttäuschen kann, was in der irdischen Liebe zu einem Mann unweigerlich geschieht. Durch vollständige Identifikation mit der ihnen vorgeschriebenen Rolle als »Liebende« gelingt es Frauen, ihre Versklavung als Freiheit zu erleben.»Anstatt die Frauenfrage zu lösen, hat die männliche Gesellschaft ihr eigenes Prinzip so ausgedehnt, daß die Opfer die Frage gar nicht mehr zu fragen vermögen.«[2] Warum lassen Frauen es zu, ohne Mann als nicht existent zu gelten? Bliebe es dabei, dann würden wir der Männergesellschaft recht darin geben, dass Frauen das »andere« Geschlecht sind, unfähig, das Prinzip der Freiheit – der Freiheit des eigenen Denkens, Urteilens, Entscheidens, Handelns – für sich in Anspruch zu nehmen.

Gegen die von Männern festgelegte und von Frauen verinnerlichte Bestimmung dessen, was weibliche Erfüllung ist, gegen die die Frau sich nicht zu wehren vermag, tritt Simone de Beauvoir in ihrem Buch Das andere Geschlecht (1949) als Existentialistin an und beeindruckt mit überzeugenden Argumenten und glänzenden Kenntnissen der Literatur über die Jahrhunderte hinweg sowie einem verblüffenden Reichtum an Wissen. Die Kernthese des Buches lautet: »Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es.«[3] Nicht die Biologie macht uns zu dem, was wir sind, sondern Gesellschaft und Geschichte. Beauvoirs These ist vor allem in Frankreich heute nicht mehr unumstritten. Sigmund Freuds Feststellung »Die Anatomie ist das Schicksal«[4] scheint wieder aktuell zu werden und auch die Esoterik des Differenzfeminismus.

Wie aber sah die Liebe für Beauvoir in ihrem persönlichen Leben aus? Ist man »männlich«, wenn man die Position Beauvoirs vertritt, und »weiblich«, wenn man sich seiner weiblichen Biologie und Physiologie als Schicksal hingibt? Unterschätzt Beauvoir Weiblichkeit als Wert, als Möglichkeit, mit eigenen Gefühlen aufrichtiger umzugehen, die Realität oft genauer und nüchterner wahrnehmen zu können? Traditionelle Vorstellungen von weiblichen und männlichen »Werten«, die die geschlechtsspezifische Erziehung maßgeblich beeinflussen, können Verhaltensweisen und Fähigkeiten erschaffen, die als unverrückbar »weibliche« verinnerlicht sind und weitergegeben werden, ohne dass sie mit »primärer Weiblichkeit« viel zu tun haben, auch wenn Freud zufolge am Anfang des Lebens das Ich zuerst und vor allem ein körperliches ist.

Hat Beauvoir sich selber als Frau missachtet? Könnte es sein, dass sie sich ein Leben lang gegen jenen »weiblichen« Anteil in ihr selber wehrte, den sie in Das andere Geschlecht – nicht nur im Kapitel »Die Liebende«[5] – an zahlreichen Beispielen so ausführlich schildert? Ohne Zweifel ist ihr die sich völlig hingebende, den Mann und die Liebe zu ihm über alles stellende Frau, die sich selbst als autonom handelnde und denkende Person aufgibt, zuwider. Drastisch und als trostlos stellt sie in ihrer Erzählung Eine gebrochene Frau[6] deren Schicksal dar. In allen Variationen, sich oft wiederholend, schildert sie Verhaltensweisen von Frauen, die sich in ihrer Hingabe selbst aufgeben, in ihrer pathetischen Lebens- und Liebeslüge versinken, als so abstoßend, dass man vermuten muss, Beauvoir kämpft mit aller Kraft gegen ähnliche Gefahren in der eigenen Seele.

Durch die postume Veröffentlichung der Briefe Simones an Sartre hat sich zwangsläufig das Urteil darüber geändert, was man von deren beider Beziehung bzw. deren Art des Umgangs miteinander bis dahin verstanden zu haben meinte. Nicht nur von ihren Anhängern wurde Beauvoir seither vorgeworfen, weit weniger aufrichtig gewesen zu sein, als man es von ihr als Feministin erwartet hatte. Die Enttäuschung war groß, als Frauen erfuhren, dass ausgerechnet Beauvoir – ihr Vorbild an Mut im Kampf gegen bürgerliche Verlogenheit – lebenslang ihre Beziehungen zu Frauen verschwiegen hatte bzw. andere vermuten ließ, dass es für sie nur sexuelle Kontakte mit Männern gab.

Auch in einem ihrer Briefe an Nelson Algren, den amerikanischen Schriftsteller, den sie 1947 in den USA kennenlernte, scheinen Beziehungen zu Frauen keine große Rolle zu spielen. In einer »Grundsatzäußerung« über ihr Liebesleben Algren gegenüber, der ihre große Liebe wurde, erwähnt sie ausschließlich sexuelle Beziehungen zu Männern. Im Brief vom 8. August 1948 erklärt sie: »Es gibt in meinem Leben jedenfalls nicht viel, womit ich prahlen könnte.«[7] Zusammengefasst ist dem Brief zu entnehmen, dass Beauvoir sich mit 17 Jahren in einen gleichaltrigen schönen und verführerischen Cousin verliebte, der sie zwar respektierte, sich aber, als es darum ging zu heiraten, eine andere reiche dumme Jungfrau nahm, danach sein Leben im Suff wegwarf und die ihm Nahestehenden unglücklich machte. »Es war eine sehr sentimentale, idealistische Jungmädchenliebe … Bald lag uns [Sartre und Beauvoir] viel aneinander. Ich war zweiundzwanzig und er fünfundzwanzig, und ich gab ihm voller Begeisterung mein Leben und mich selbst. Er war mein erster Liebhaber, vorher hatte niemand mich auch nur geküßt. Wir haben eine lange Zeit zusammen verbracht, und ich erzählte Ihnen schon, wie sehr mir an ihm liegt, aber es war eher tiefe Freundschaft als Liebe; in der Liebe war unsere Beziehung nicht sehr erfolgreich. Hauptsächlich, weil er sich aus der Sexualität nicht viel macht.«[8]

Als Nächstes taucht in dem Brief an Algren der schöne, junge Jacques-Laurent Bost auf, vormals Schüler von Sartre und später Ehemann der gemeinsamen Freundin Olga. Von ihm wird noch in der Beschreibung von dem die Rede sein, was für Simone Liebe ist und wie Liebe in ihren Beziehungen zu Frauen aussieht. »Wir blieben … eng befreundet und schliefen weiter miteinander. Es war eine schöne Beziehung, ohne Leidenschaft, aber auch ohne Eifersucht, ohne Lügen, mit viel Freundschaft und Zärtlichkeit. Wissen Sie, ich war mit meinem Leben zufrieden … Dann passierte es, Sie wissen Bescheid. Außer mit Sartre und Bost habe ich dreimal in meinem Leben mit Männern eine Nacht verbracht. … Als ich zu Ihnen nach Chicago zurückkam, glaubte ich, es würde etwas Derartiges werden: ich mochte Sie; wir konnten ein paar Tage lang zusammen glücklich sein. … Ich erwartete keine Liebe, ich glaubte nicht, mich verlieben zu können, und Sie haben es geschafft, daß ich mich in Sie verliebte! Und veranlaßten mich, nach Chicago zurückzukehren und Sie immer mehr zu lieben.«[9]

Bei Algren habe sie wahre und totale Liebe erfahren, in der Herz, Seele und Körper eins sind. Sich für die Gegenwart, für ihre Liebe zu Algren zu entscheiden, fällt Simone jedoch schwer. Sie versucht, ihm verständlich zu machen, warum sie sich von ihrer »kleinen Familie« so leicht nicht trennen könne. Sartre, Bost, Olga, Wanda und andere Mitglieder dieser »petite famille« seien seit vielen Jahren in guten und bösen Zeiten miteinander eng verbunden. Sich von ihnen zu trennen wäre sehr schmerzlich.

In diesem Überblick über ihr Liebesleben erwähnt Beauvoir also nur ihre sexuellen Beziehungen zu Männern. Von denen zu Frauen schweigt sie – warum aber Nelson Algren gegenüber und nicht auch gegenüber Sartre? Sind diese Beziehungen vielleicht nur in ihrer Verbindung mit Sartre von Bedeutung? Wie sonst kommt sie dazu, ihre Affären mit Frauen vor allen, außer einigen Mitgliedern der »Familie«, zu verschweigen? Wie wir wissen, nahmen doch gerade ihre intimen Kontakte mit jungen Studentinnen in der Zeit der Isolation Sartres, der als Soldat eingezogen war und später in Gefangenschaft geriet, viele Seiten ihrer Korrespondenz mit ihm ein und waren für sie wie für Sartre offenbar gleich bedeutsam. Sie war es, die ihn in zahlreichen täglichen Briefen mit mindestens fünf, oft nebeneinander bestehenden Liebesbeziehungen – meist frühere Schülerinnen – auf dem Laufenden hielt. Natürlich waren Sartre und Algren in dem, was gemeinhin als »männlich« bezeichnet wird, denkbar verschieden. Gerade das mag den eher als Macho zu bezeichnenden Algren für sie anziehend gemacht haben. Sartres männlicher Egoismus war anderer Art, so dass die Möglichkeit, einander zu verstehen, für die beiden Männer gering war und das, was sie unterschied, Simone anderes an Algren schreiben ließ als an Sartre. Mittlerweile ist bekannt, dass sie auch Algren über ihre Affären mit Exschülerinnen informierte.

Im Brief vom 2. Januar 1948 schreibt Simone an Algren: »Wenn ich ein Mann wäre, wäre ich vermutlich ein sehr verdorbener, denn mit Sicherheit würde es mir gefallen, mit jungen Mädchen zu schlafen und von ihnen geliebt zu werden, dann würde ich sie allerdings fallenlassen, weil sie oft sehr dumm und zu kindisch sind und schnell langweilig werden. Als ich Lehrerin war, verliebten sie sich häufig in mich, und manchmal genoss ich es ein wenig, und drei- oder viermal lag mir sogar wirklich etwas daran, und es kam vor, dass ich mich sehr schlimm verhielt; es ergaben sich lange Geschichten, die für mich zwar angenehm, aber nicht wichtig waren, während sie für die Mädchen zumindest zeitweise wichtig waren; ich mußte also sehr bedachtsam mit ihnen umgehen … Nun, jetzt würden mich solche Angelegenheiten nicht mehr interessieren. Ich fühle, daß junge Mädchen sowohl etwas sehr Anziehendes als auch etwas sehr Abstoßendes an sich haben.«[10]

Sartre lernte die jungen, attraktiven Frauen in den dreißiger Jahren durch Beauvoir kennen. Nicht selten begann auch er eine recht intensive, länger anhaltende oder auch nur vorübergehende Affäre mit den ursprünglich Simone anbetenden Studentinnen, gelegentlich wurde daraus Liebe zu dritt, z.B. in Gestalt des »Trios« – mit Olga, die jedem Kenner von Beauvoirs erstem veröffentlichten Roman Sie kam und blieb (1943)[11] ein Begriff ist. Olga, Simones Exschülerin, wurde von ihr als Sartres Krankenschwester eingesetzt, als dieser nach einer Mescalin-Injektion monatelang dem Wahnsinn verfallen war. Es heißt, Olga habe Sartres Drängen nie nachgegeben, was jedoch für Simone die größere Gefahr war, weil durch Olgas Standhaftigkeit Sartres »Wahnsinn« kein Ende nahm.

Simone schien im Großen und Ganzen die Art und Intensität ihrer Liebesbeziehungen mit den in sie verliebten und um vieles jüngeren, von ihr mehr oder weniger abhängigen Frauen unter ihrer Kontrolle zu haben – zumindest glaubte sie es. Sartre war diesen Beziehungen und seinen Gefühlen weit heftiger ausgeliefert, gelegentlich bis zu Anfällen von »nacktem, verzweifeltem Begehren«, das Simone mit Erschrecken auf seinem verzerrten Gesicht erkennt. Diskretion über die intimen Erlebnisse mit den jungen Frauen übte keiner von beiden. Transparenz war eben Teil des »Paktes«, den sie geschlossen hatten. Zusammen bildeten sie eine wahrhaft inzestuöse Familie, in der nur die »Eltern« sich gegenseitig rückhaltlos informierten. Den verführerischen und verführten »Kindern« gegenüber bestand selten Offenheit.

Wer war mit wem identifiziert? Verführte Sartre die Geliebten seiner Frau, oder war Simone »männlich« identifiziert, wenn sie ihre Affären mit den jungen Frauen in ihren Briefen an Sartre in allen Einzelheiten, aber eher etwas abwertend, zu schildern pflegte, ihm diese quasi zuführte und für ihn log, wenn es galt, Unstimmigkeiten oder Eifersucht zu vermeiden? Oder waren diese Lieben und deren intime Preisgabe notwendig, um Langeweile zwischen ihr und Sartre gar nicht erst aufkommen zu lassen? Beide waren sexuell, wenn überhaupt, nur noch mäßig aneinander interessiert, von Sartres Frigidität nicht nur ihr gegenüber wird gesprochen.

Sein Werk stellt Sartre über alles. Es wird deutlich, in welchem Ausmaß »kontingente« Liebesbeziehungen, deren »Funde« sie einander nicht vorenthielten, von ihrer beider »Berufung« als Schriftsteller geprägt waren. Wegen einer der Liebesbeziehungen mit einer in sie verliebten früheren Schülerin, Nathalie Sorokine, deren Mutter Anzeige erstattete, musste Beauvoir 1943 aus dem Schuldienst ausscheiden. Sorokine allerdings ließ sich von Sartre trotz aller seiner Bemühungen – wahrscheinlich als Einzige – nicht verführen. Es gibt auch andere Versionen, nach denen Sartre der Aufforderung Sorokines nachgab, um danach von ihr als »hässlicher Zwerg« verspottet zu werden, was besonders Simone schmerzte, die es nicht ertrug, wenn Sartre öffentlich gekränkt wurde.

Die Angaben darüber, wie lange die sexuelle Beziehung zu Sartre dauerte, variieren; nach dem, was Simone schon in jenem Brief an Algren erwähnt, nur etwa ein Jahrzehnt: »Er ist in allem ein warmherziger, lebhafter Mann – nur nicht im Bett … Wir gaben es nach acht oder zehn Jahren, die in dieser Hinsicht eher erfolglos waren, auf.«[12]

Über die Beziehung zu dem jungen schönen Bost hat sie nie ähnlich im Detail und auch nie annähernd so entwertend an Sartre geschrieben wie über ihre Erlebnisse mit jungen Frauen, obwohl auch Bost zur »Familie« gehörte, Sartre von ihr wusste und sie ihm mitteilte, dass die Initiative von ihr ausgegangen sei. Mit Dolores als Sartres Freundin und Simones Liebe zu Algren hörte das »Einander-nichts-Verschweigen«, die allzu große Offenheit, ja Geschmacklosigkeit in der gegenseitigen Wiedergabe intimer Erlebnisse mehr oder weniger auf, zumindest so lange die Beziehungen bestanden. Dolores und Algren haben sich diese Indiskretion strikt verbeten.

Die »Zwillingsbeziehung«, in der Beauvoir und Sartre wie »verschworen« sich einander fast zwanghaft alles offen berichteten, bestand in dieser Totalität nur so lange, wie sie sich auf labile, verführerische, auf Verführung eingestellte junge Frauen (nie auf Männer!) bezog, die mehr oder weniger zur »Familie« gehörten. Erlebnisse und Erfahrungen wurden später wie selbstverständlich zu »Romanen« verarbeitet. Dass Algren über die mehr oder weniger verschlüsselte Darstellung beispielsweise ihrer beider Liebesgeschichte in dem ihm gewidmeten Roman Die Mandarins von Paris (1954)[13] nicht erfreut war, ist bekannt. Wegen seiner ausfallenden Kritiken über Der Lauf der Dinge (1963)[14] kam es zum endgültigen Bruch zwischen Algren und Simone.

Wenn Beauvoir in ihrem Verhalten den viel jüngeren Frauen, Schülerinnen oder Exschülerinnen gegenüber auch die Bestimmende zu sein schien, so fragt man sich doch zunehmend, wer hier eigentlich wen verführte; sie wurde von ihren jugendlichen Liebhaberinnen entschieden mehr bedrängt als umgekehrt. Vielleicht fiel es ihr schwer, nein zu sagen. Sie war aber auch außerordentlich empfindlich gegen alle und alles, was nicht authentisch war. Wer in Klischees dachte oder wessen Liebesverhalten unecht, ohne Zärtlichkeit war, wurde ihr schnell zuwider. Dazu gehörte auch die Beziehung zu Vedrine, ebenfalls in einem »Trio« mit Sartre, das ihr seither oft zum Vorwurf gemacht worden ist. Sie selber bedauerte ihr Verhalten in einem Brief an Sartre. »Ich bin erschüttert wegen Louise Vedrine.[15] … Sie ist die einzige Person, der wir wirklich etwas angetan haben … Sie ist … höchst hellsichtig, ohne mit dieser Hellsichtigkeit etwas anfangen zu können … Sie wären sehr erschüttert und voller Sympathie für sie gewesen … diese Neigung zum Ernst, die plötzlich das Gesicht des Wahnsinns annahm, diese vollkommene und schmerzliche Authentizität unter dem Schein des Unauthentischen.«[16]

Dolores, mit der Sartres Ablösung von der Zwillingsbeziehung begann, weil Dolores sich zur Wehr setzte, wurde mit Recht von Simone als Gefahr erlebt. Auch Simone versuchte, mit der Liebe zu Algren zu einer Ablösung von ihrer »Familie« fähig zu werden. Es gelang ihr nicht, und daran zerbrach ihr erster und wahrscheinlich einziger Versuch einer »großen Liebe, in der Herz, Seele und Körper eins sind«. Auch nachdem ihre sexuellen Beziehungen längst keine Bedeutung mehr hatten, blieb Sartre die Hauptperson ihres Lebens. Eine Lösung fand nie statt – zumindest nicht von Simones Seite. Anschaulich macht das der folgende Brief an Sartre im Juli 1950: »Sie, mein geliebtes Leben. … Gestern abend habe ich Algren gefragt, was los sei, und er hat es mir erklärt. Es ist das, was ich durch seine Briefe und den Rhythmus unserer Geschichte hindurch spürte: er ist sehr froh, mich zu sehen, aber mit dem resignierten Gedanken, daß ich komme, um wegzufahren, daß wir niemals mehr haben werden als dieses Kommen und Gehen … Machen Sie sich auf keinen Fall Sorgen um mich, denn ich weiß ja, … daß … Sie mein Leben sind – und ich bedaure nicht, daß diese Geschichte tot ist, denn ihr Tod war in dem Leben enthalten, das ich gewählt habe und das Sie mir geben. Auf Wiedersehen, mein lieber Kleiner … Ziehen Sie sich möglichst gut aus ihren eigenen Problemen.«[17]

Ob Simone jemals eine Trennung wirklich wollte, bleibt sehr fraglich, sie war überzeugt, dass Sartre ohne sie schutzlos sei.

Was also ist für Simone Liebe? Völlige Hingabe an ihr Alter Ego Sartre – also doch »Religion«? Wie wir sehen, auch ohne Sex ist Sartre (»mein süßer Kleiner«, »mein ganz kleines Geschöpf«) das absolute Zentrum ihres Lebens. Sie erträgt es nicht, wenn er unglücklich ist, ihre Gefühle gleichen denen einer Mutter zu ihrem Kind, einem hilflosen, auf das abhängige Objekt projizierten Teil des eigenen Ich – »ich liebe dich mehr als mich selber«, wiederholt sie oft in Briefen an Sartre. Er bleibt – so scheint es – der wichtigste Teil ihres Lebens, von dem sie sich – so lange er lebte – nicht lösen kann, ohne selbst verloren zu gehen. Denn Sartre hatte ihr wie kein anderer dazu verholfen, selbständig im Denken und Fühlen zu werden, sich von den Fesseln bürgerlicher Enge und den entsprechenden Vorurteilen zu lösen. Ohne den Einfallsreichtum Sartres, ohne seine unersättliche Neugierde bezogen auf neue Möglichkeiten des Denkens, Erlebens, Fühlens, der Verführung als höchster Lust – und nicht deren sexueller Erfüllung –, hätte sie die Freiheit zur »Existenz« kaum gefunden.

»Das Zwillingszeichen auf unserer Stirn«, von dem in den Briefen und Schriften Simones so viel die Rede ist, spricht nicht nur für die Betonung eines in ihrer beider Beziehung gleichen Gewichts intellektueller und kreativer Fähigkeiten, sondern auch für eine symbiotische und brüderliche Beziehung. »Die Brüderlichkeit, die unser Leben zusammenschmolz, macht jede andere Bindung, die wir hätten eingehen können, überflüssig und lächerlich.« Diese Äußerung Simones, die Sartre bis an sein Lebensende schützen wollte und deren Schutz er bedurfte, mag er gelegentlich als etwas hochtrabend oder auch als etwas komisch empfunden haben. Denn die immer neuen Verführungen, die er in seinem Leben bis an dessen Ende inszenierte und offenbar genoss, sind zahlreich. Sartre war in dieser wie in anderer Hinsicht ein Süchtiger und insofern auch Gefährdeter, aber sicherlich kein Mann der Tragik.

Er kannte und analysierte seine Gefühle, aber eben dadurch wehrte er sie ab, wenn sie allzu schmerzlich zu werden drohten, er wusste es. Vielleicht überfällt einen deswegen das Empfinden der Leere, des Mechanischen, des fast Roboterhaften seiner physischen sexuellen Aktivitäten, die sich offenbar grundsätzlich von seinen verbalen Eroberungskünsten unterschieden, denen sich nur wenige Frauen trotz seiner äußeren Hässlichkeit zu entziehen vermochten. Aber ein im Denken, Sprechen und Verhalten so lebendiger Sartre scheint in der körperlichen Liebe ohne erotische Begabung und von geringer sexueller Wärme gewesen zu sein. Als Autor war Sartre für Beauvoir der »Größere«, dem sie, was sie wiederholt äußert, viel zu verdanken hatte; Rivalität als Schreibende empfand sie ihm gegenüber, soweit ich das zu beurteilen vermag, nie.

Simones Liebe zu Algren war von ganz anderer Art als die zu Sartre: um Algren und dessen Schutzbedürftigkeit brauchte sie sich keine Sorgen zu machen. Er war ein robuster, sexuell erregender und befriedigender Partner, bei dem sie vor allem fürchten musste, ihn zu verlieren, was ihr in den Zeiten intensiver Verliebtheit die heftigsten Schmerzen bereitete. Dass das Leben mit Algren – zum Alltag geworden – kein Erfolg gewesen wäre, darüber hat sich Simone kaum Illusionen gemacht. Im Juli 1956 schrieb sie ihm: »Es kam mir immer seltsam vor, wie nahe wir uns waren – niemand war meinem Herzen je so nahe – und wie fern in vieler Hinsicht … Wenn ich mit klarem Kopf an die Vergangenheit denke, wird mir wieder bewußt, daß ich niemals in den USA hätte leben können, und ich glaube nicht, daß Sie auf Dauer in Paris hätten leben können.«[18]

Von der Sexualität, in die Sartre sie einführte, die anfänglich für Simone sehr wichtig, aber bald für beide ohne größere Bedeutung war, blieb die »Brüderlichkeit«; zwei »Männer« also, die es beide mit Frauen zu tun hatten – war dem so? Oder waren sie Geschwister, von denen das eine etwas mehr Mann als Frau, das andere etwas mehr Frau als Mann war, zumindest was Eigenschaften und Neigungen betraf? Sicherlich waren für beide zumindest zeitweise diese oft dramatisch agierenden, auch begabten, immer ihrer Liebe und Hilfe bedürftigen jungen Frauen einfach notwendig für ihre »Werke«. Ich erinnere aber daran, dass Sartre derjenige ist, der in seinen Briefen an Simone seine sexuellen Beziehungen zu den jungen Frauen, die ursprünglich oder auch gleichzeitig in Simone verliebt waren, in allen Einzelheiten schildert. Simone ist diejenige, die seine Offenheit erwidert, indem sie ebenfalls rückhaltlos über ihre erotischen Erlebnisse mit ihren Schülerinnen berichtet. Was Männer betrifft, ist sie darin weit diskreter. Sie hat sich nie als lesbisch bezeichnet, die Heterosexualität sei bei ihr immer vorherrschend gewesen.

Sartre empfand offenbar so gut wie keine ihm bewussten homoerotischen Neigungen, zumindest ist im gesamten Briefwechsel zwischen Simone und Sartre von sexuellen Beziehungen Sartres zu Männern nicht die Rede. Aber »Verrat« sei, so Sartre, seine Philosophie. Er soll seine Unfähigkeit zur Homosexualität als eine Erfahrung bedauert haben, die für ihn als Autor nicht zur Verfügung stand.

Die Beziehung zu Olga bleibt nach der Veröffentlichung des Romans Sie kam und blieb (1943), der von dem Trio Olga, Sartre und Beauvoir handelt, trotz mancher darin vorkommender abfälliger Bemerkungen bis zu Sartres Tod bestehen.

Wanda – so Beauvoir an Algren – stach mit einem Messer auf Die Mandarins ein, wobei sie sich die Pulsadern aufschnitt und fast gestorben wäre. Dennoch blieb Wandas Verbindung mit Sartre, der sich für sie verantwortlich fühlte, lebenslang erhalten wie auch die Freundschaft mit Beauvoir, mit der es nie eine erotische Beziehung gab. Für die »petite famille« wurde stets gesorgt, wenn sie in Not war. Für diese wiederum war ein Leben ohne beide »Eltern« – sei es Sartre, sei es Beauvoir – nicht vorstellbar.

Sartre selber war zwar später durch Männer politisch und menschlich durchaus verführbar und zum Kummer Beauvoirs oft schwach in seinem Verhalten gegenüber jungen Freunden, Mitarbeitern, Sekretären. Er konnte nicht »nein« sagen, aber sexuell waren es nur Frauen, die ihn anzogen. Die jungen Frauen der »petite famille« (Wanda, Olga, Vedrine etc.) wurden von beiden, was Indiskretion betraf, oft gleichermaßen »verraten« und nicht immer fair behandelt. Wie wir wissen, war Sartre in seine Affären mit einigen von ihnen jedoch weit leidenschaftlicher involviert als Beauvoir. Erst in ihrer Liebe zu Algren konnte Simone ihre sexuelle Abwehr aufgeben; unter dem für sie unlösbaren Konflikt, der es ihr nicht ermöglichte, sich für Algren zu entscheiden, hat sie heftig gelitten.

Was die Liebeswahl im Alter anging, war Simone wiederum eher mit Sartre identifiziert als er mit ihr. Beide aber banden sich in den letzten Lebensphasen an junge Frauen, mit denen sie »Liebe«, welcher Art auch immer, verbunden hat. Die Verbindung mit Sartre blieb für Simone bis an sein Ende bestehen. Sie unternahmen regelmäßig gemeinsame Reisen entweder zu viert mit dem jeweiligen Partner oder auch zu zweit, Beauvoir und Sartre verbrachten jeden Sommer einige Wochen in Rom. Eifersucht gab es im sexuellen Sinne zwischen beiden wohl seit langem nicht mehr, wenn Sartre sie denn je verspürt hatte.

Zeit ihres Lebens betonte Simone de Beauvoir, dass Sartre und sie füreinander die wichtigsten Personen waren. Es gab nur selten eine Gelegenheit, in der sie dies in Frage stellte. »Hinzu kam, daß wir auch intellektuell viel zu selbstbewußt waren, um zu befürchten, daß eine andere Person wichtiger werden könnte«, so Beauvoir in einem Interview mit Alice Schwarzer.

So sicher war sich Simone de Beauvoir ihrer selbst nicht immer. Anfänglich, als die Sexualität in ihrer Beziehung zu Sartre für sie noch eine wichtige Rolle spielte, konnte sie sehr eifersüchtig sein. Da gab es zum Beispiel Camille, ein sehr kapriziöses, hochbegabtes Wesen, mit der Sartre zeitweilig verlobt gewesen war. »Sie war nur vier, fünf Jahre älter als ich und schien mir in vielen Dingen weit überlegen zu sein. Dieser Gedanke mißfiel mir entschieden … Ich sagte mir, daß sie mehr mit Sartre gemeinsam hatte als ich, weil auch sie ihr künftiges Werk über alles stellte. Vielleicht schätzte er sie – trotz unserer engen Verbundenheit – mehr als mich; vielleicht war sie wirklich schätzenswerter als ich. Ich hätte mich ihretwegen nicht so sehr erregt, wenn nicht Eifersucht mich geplagt hätte … Ich war die Beute eines der unangenehmsten Gefühle, die je von mir Besitz ergriffen hatten und dem, glaube ich, der Name ›Neid‹ gebührt … Ihre Existenz erdrückte mich, und während ich die Treppe der Butte hinauf- und hinunterstieg, hatte sie für mich mehr Realität als ich selbst; ich lehnte mich auf gegen diese Überlegenheit, die ich selbst ihr zugestand. Dieser Widerspruch macht den Neid zur Folter. Stundenlang litt ich Qualen.«[19]

Dieses höchst unangenehme Gefühl des Neides und der Angst, dass ein anderer Mensch für Sartre mehr als sie bedeuten könnte, löste, so scheint es, auch Dolores in ihr aus, obwohl sie diese sicherlich nicht als schätzenswerter denn sich selber erlebte, geschweige denn als ihr intellektuell überlegen. In den vielen Jahren, die zwischen den Affären Sartres mit Camille und Dolores lagen, waren die Rivalinnen fast immer nur junge abhängige Frauen gewesen, die zuerst in Simone, ihre bewunderte Lehrerin, verliebt waren und erst durch sie an Sartre gerieten. Dadurch allerdings entstanden Komplikationen, die sie nicht vorausgesehen hatten, oder doch? Und es ergab sich eine »Familie«, an die auch Sartre gebunden blieb. Ohne das Zutun von Beauvoir, für die die Bindung an Sartre lebenswichtig war, hätten Sartres zaghafte Lösungsversuche vielleicht Erfolg gehabt. Ob er die Lösung aber wirklich wünschte, darf bezweifelt werden.

War Beauvoir eine »Liebende« in dem von ihr für die Frau beschriebenen und abgelehnten Sinne, oder hat sie eine neue Art zu lieben entdeckt, die kritischen Generationen zur Nachahmung empfohlen werden kann? Eine komplexe, so leicht nicht zu beantwortende Frage. Achtung und Bewunderung verdient Beauvoirs ungewöhnlich couragierter Alleingang allemal. Sie selber respektierte nur wenige ihrer Mitmenschen. In ihrem Brief an Algren vom 24. Dezember 1947 schreibt sie: »Neben meiner kalifornischen Freundin[20] ist sie [Madame Morel] die einzige Frau, an der mir etwas liegt, sie ist die einzige, die ich respektiere (ich respektiere nicht viele Leute) … Die einzige Frau, die ich kenne, die sich niemals an einen Mann anklammerte … Ich schätze eine Frau, die es versteht, nicht für sich selbst, aber durch sich selbst zu leben.«[21]

Ohne Zweifel hat sie das »Anklammernde« in sich ein Leben lang und nicht ohne Erfolg bekämpft. Es fiel ihr schwer, sich zu lösen, aber ihre Neugier, ihr ungewöhnlicher Intellekt, ihre Abscheu vor der Enge und den Lebenslügen des bürgerlichen Umfelds ihrer Familie trieben sie dazu an. Sartre vor allem war der Befreier. Durch seine Persönlichkeit und sein radikales Denken, das ihr half, ihr Leben, ihre Ansichten, ihre Konflikte und deren Lösungsversuche in neuem Licht zu sehen, entkam sie dieser Enge. Beauvoir hat seither nicht aufgehört, über Probleme in der Literatur, der Politik, im Verhalten ihrer Mitmenschen mit der offenbar nie nachlassenden Schärfe ihres Verstandes kritisch zu reflektieren. Ob sie fähig oder dazu bereit war, sich ähnlich schonungslos ihrem Innenleben, ihren Gefühlen zu stellen, ist zu bezweifeln. Die Wahrheitssuche, was die Außenwelt betraf, lag ihr wesentlich näher als die Auseinandersetzung mit dem, was in ihrem Inneren vor sich ging. Darüber war sie sich durchaus im Klaren. In ihren Memoiren erwähnt sie ihre gelegentlichen Selbsttäuschungen wie auch ihre Unlust, sich mit ihren Gefühlen allzu intensiv auseinanderzusetzen. Dennoch zeigen ihre Romane, die weitgehend Verarbeitungen eigener Erlebnisse sind, eine beeindruckende Begabung zu hochdifferenzierter Reflexion über eigenes Verhalten und das ihrer Zeitgenossen. Gegen Ende ihres Lebens nahm ihr Interesse an der Psychoanalyse zu. Sie bedauerte, nicht mehr genügend Zeit zu haben, sich ihr intensiver zu widmen.

Wenn Simone Madame Morel respektierte, so hatte sie auch guten Grund, sich selbst zu respektieren, ein Respekt, dem sich, so glaube ich, alle Frauen, die sich mit Beauvoir beschäftigt haben, ohne Ausnahme anzuschließen vermögen. Bei aller Verbundenheit mit dem ›Geschwister‹ Sartre hat sie sich von »Anklammerung« an ihn lösen können und die Fähigkeit erworben, ihr Leben freier, eigenständiger ›durch sich selbst‹ zu gestalten, als es den meisten Frauen (und Männern) sonst gegeben ist.

Als Vorbild für andere, als Paradigma einer neuen Paarbeziehung für junge Menschen, die einen Ausweg aus der Sackgasse bedrückender Geschlechterbeziehungen suchen, eignen sich Beauvoir und Sartre sicherlich nur insofern, als sie wie kein anderes Paar dazu anregten, eigene Probleme nie als gegeben hinzunehmen, sondern stets neu über sie nachzudenken. Ihre Originalität im Denken und Verhalten war ebenso wie ihr Kampf um Freiheit von geschlechtsspezifischen Rollenvorstellungen und Zwängen jeglicher Art bewundernswert, aber was sie vorlebten, eignet sich kaum, nachgeahmt zu werden.

Voller gegenseitiger Toleranz, was ihre sexuellen Beziehungen betraf, blieben sie einander lebenslang verbunden. Sie waren Geschwister, einander ebenbürtig – beide mit sowohl männlichen wie weiblichen Zügen. Die Art ihres Umgangs mit sich und anderen, ihre »Durchsichtigkeit« scheint mir auch Ausdruck einer Distanz zu sein, die es ihnen ermöglichte, nicht in unlösbare Beziehungskonflikte miteinander zu geraten. Sartre lehnte die Existenz des Unbewussten ab. Ihm und Simone blieben die unbewussten Motive ihres Handelns und Verhaltens oft verborgen und entgingen ihrer sonst so allgegenwärtigen Neugier. »Ein einziger Vorsatz belebte uns: Alles erfassen, von allem Zeugnis ablegen« – nur nicht im Hinblick auf ihr Gefühlsleben, das ihnen sicherlich mehr Angst machte, als sie sich selber eingestehen wollten oder konnten.

Nach Hegel stellen Bruder und Schwester eine Beziehung der Geschlechter auf gleicher Ebene dar, weil sie ohne sexuelles Begehren und deshalb auch ohne Gewalt, Trennung, Angst, Entwertung, Verachtung sei. In ihrer Beziehung zueinander seien nur Bruder und Schwester freie Individuen. Sind Beauvoir und Sartre dafür ein Beispiel? Muss Sexualität unabänderlich mit Unfreiheit, Hierarchie und Gewalt verbunden, also letztlich ödipal konfiguriert sein, wofür die »petite famille« stand, an die beide mehr oder weniger lebenslang gebunden blieben? Die Probleme einer Sexualität zwischen den Geschlechtern auf der Ebene von Gleichen zu lösen – also ohne Entwertung, Abhängigkeit und Hierarchie –, gelang auch Beauvoir und Sartre nicht. Den Ausweg aus der Sackgasse bedrückender Geschlechterbeziehungen haben sie – um die oben gestellte Frage zu beantworten – nur gefunden, indem sie einander als ebenbürtige Geschwister verbunden blieben, unter der Voraussetzung also und um den Preis, dass die Sexualität in ihrer Beziehung sehr bald ihre Bedeutung verlor.

Anmerkungen zu Gisela Stellys RomanSpiel mit mir[22]

Am Anfang eine Hochzeit, am Ende ein glücklich verheiratetes Paar. Am Anfang gespannte Stimmung, am Ende Harmonie. Im ersten Kapitel heiratet ein älterer Mann eine junge Frau. Die Feier mit zahlreichen Gästen, Hochzeitstorte, Großvater, Familie der Braut ist denkbar konventionell. Die Tochter des Vaters aus erster Ehe will eine Rede halten, die wie gewöhnlich den Vater erfreuen soll. Es gelingt ihr nicht, sie kränkt den Vater und die neue Stiefmutter, indem sie auf die vielen früheren angetrauten wie nicht-angetrauten Lebensgefährtinnen des Vaters anspielt. Die sich um Anpassung bemühende, um die Liebe des Vaters werbende Tochter bedauert das und fährt nach Berlin zurück, wo sie studiert, zur Zeit ist sie mit einem »Feldversuch« beschäftigt. In Berlin teilt sie die von ihrem Vater ihr überlassene elegante Wohnung mit zwei Schwestern, die nicht zur Hochzeit eingeladen waren, weil sie sich bei früheren offiziellen Feierlichkeiten als unfähig erwiesen, sich den Wünschen des Vaters entsprechend zu verhalten.

Das Buch ist rasant geschrieben, kurze, bilderreiche Sätze. Das äußere Szenarium spiegelt das innere wider. Der Roman ist durchgehend spannend, liest sich wie ein Krimi, sodass man mit dem Lesen nicht aufhört, bis man ans Ende gekommen ist, um erst kurz vor Schluss zu entdecken, dass man von der Autorin an der Nase herumgeführt wurde. Die drei Schwestern gibt es gar nicht, es dreht sich alles um Christina, deren ›Feldversuch‹ sie selber ist, manchmal ist sie die Schwester Trixi, die Punkerin, dann die Schwester Klara, die Schauspielerin, die sich jedem Menschen und Gefühl anpassen kann, durchaus fähig, im Spiel der »großen Liebe« verführerisch mitzumachen. Die Gegenspieler der drei Schwestern sind Stella und Ben, die bald heiraten werden und das vollkommene Liebespaar darstellen. Aber die Vollkommenheit gibt es nicht, durch die drei Schwestern wird sie in Frage gestellt.

Liest man den Roman nicht in Richtung Auflösung des spannenden Plots, sondern wendet seinen Blick dem psychologischen Hintergrund zu, kann man schon vorher entdecken, was zum Schluss enthüllt wird: Die drei Schwestern sind eine Person und stellen die Möglichkeiten dar, die diese eine Person, Christina, hat, um mit den schmerzlichen Traumata ihrer Kindheit und Jugend umzugehen. Sie sucht einen Weg, anderen ihre Verlorenheit, ihren Zorn, ihre Trauer mitzuteilen, auch indem sie diesen antut, was ihr angetan wurde. So wird das glückliche Liebespaar Stella und Ben Versuchungen ausgesetzt. Die ältere, vernünftige Schwester – im innerseelischen Dreier-Team Christina – ist mit der Sorge um die gefährlichen Anteile in ihren zwei Schwestern beschäftigt, die noch nicht erwachsen sind und von denen die eine, Trixi, mit dem Leben anderer und ihrem eigenen spielt, immer einem Suizid oder auch einem Mord nahe ist, mit Messern wirft, haarscharf daneben zielt, kriminelle Handlungen begeht, ihr Gegenüber zum Kochen bringt, während die andere, die mittlere Schwester Klara, mittels ihrer Schauspielerei, ihrer Gefühle, ihres Charmes mit der eigenen Identität und der Gefahr spielt, ihr Ich zu verlieren.

Christinas »Feldforschung« ist also, psychologisch gesehen, eine mitreißende szenische Darstellung der Spaltung ihrer Person in drei Teile. Das gefährliche Agieren dieser drei Christinas scheint dem bewussten Teil ihrer Person zu entgleiten.

Der Vater, für den das Spiel inszeniert wird und der weiß, dass hinter den drei Schwestern Christina steht, spielt offenbar mit. Er kennt die Gefahr, in die seine Tochter sich selber bringt, ihre psychische Spaltung, mit der sie sich und andere gefährdet. Aber seine Gefühlsqualitäten scheinen nur wenig sensibel zu sein bzw. er ist zu faul, sich aktiv um die seelischen Nöte seiner Tochter zu kümmern. Am Ende des Romans steht Christina als eine von ihrem Trauma Befreite da. Das wird durch die Perücke kenntlich gemacht, die sie nicht mehr zu tragen braucht, was anzeigt, dass sie sich an das Trauma der bei einem Unfall ums Leben gekommenen Mutter – ein Unfall, den der Vater verursacht hat – nicht mehr täglich erinnern muss. Am Flughafen erwartet sie das ideale Paar, dessen Entzweiung ihr fast gelungen wäre. Sie steht dort nicht allein, sondern Arm in Arm mit Ulrich, dem Bruder des jung verheirateten Ehemanns, erlöst und, wie mir scheint, ziemlich farblos.

Der Schluss ist ein bisschen zu gut, um wahr zu sein, der ganze Roman hat viele märchenhafte oder auch allegorische und surreale Züge. Das macht ihn so sympathisch, man hat selten Angst um die Personen, obwohl die drei Schwestern – d.h. die gespaltene Christina – unentwegt zum »Ritt über den Bodensee« antreten.

Hat der Roman psychologische Hintergründe, hat er autobiographische Anteile? Ich würde annehmen: ja. Aber so gut wie nie wird direkt psychologisch argumentiert, Psychologie kommt nur in Spiegelung und Spaltung vor, d.h. in der äußeren Darstellung innerseelischer Vorgänge. Der Leser wird in ein wunderbar und sehr real beschriebenes Berliner Milieu versetzt, ganz im Gegensatz zum »irreal« anmutenden Geschwisterpaar Trixi und Klara. Die Originalität des Romans besteht in der Drei-Teilung der Person, die uns eher als Spaltung in zwei Teile bekannt ist, nämlich als präödipale Störung. Durch die Drei-Teilung bekommt der Roman einen ödipalen Anstrich, d.h., er schreitet fort zu einer lebendigen Gemeinschaft, in der das Tor zur Welt, zum Dritten aufgeschlossen wird. Nur so kann das Paar Stella und Ben aus einer allzu vollkommenen, quasi geklonten Welt ausbrechen, um lebendiger, unvollkommener, offener für das »andere«, das »Nicht-Identische« zu sein.

Also, die Hauptperson Christina macht aus eins drei, eine schöpferische Leistung. Aber hilft Christina sich damit selbst, oder hilft nur ihr Feldversuch dem glücklichen Paar, das lernt, sich in Frage zu stellen, Irrtümer zu korrigieren, sich aus seiner Fassadenexistenz zu befreien? Obwohl das Paar – dessen wechselseitige Beziehung und die zu seinem Freundeskreis – blasser bleibt als das rasante Geschwisterpaar, gerät es doch in Bewegung. Die Kränkung, die es erfährt, und deren seelische Folgen werden aber nie zum Gesprächsthema.