Eine Nacht, Markowitz - Ayelet Gundar-Goshen - E-Book

Eine Nacht, Markowitz E-Book

Ayelet Gundar-Goshen

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Beschreibung

Zwischen blühenden Zitrushainen und umherfliegenden Kriegsgeschossen tummeln sich in diesem Roman ganz eigenartige Figuren: der unauffällige Jakob Markowitz, der sich unsterblich in die schöne Bella verliebt und sie stur festhält. Bella, Markowitz mit Gleichgültigkeit strafend und sich in die Arme des Dichters wünschend, dessen blumige Zeilen sie so berührt haben. Markowitz' Freund Seev Feinberg, sein Schnauzer kräuselt sich beim Anblick der Frauen, sein Herz jedoch schlägt nur für Sonia, deren Haut betörend nach Orangen duftet. Und schließlich der Irgun-Vizechef, der seine heimlichen Gefühle für Sonia nur mit gehorteten Orangen zu begegnen weiß, worunter jedoch sein Kampf für die Zukunft des jüdischen Volkes leidet. Sie alle lieben und hassen, gebären und töten, ihre Sehnsüchte und Leidenschaften sind zugleich Antrieb und Bremse. Sie sind das Herzstück dieses lebhaften Buches, das mit Humor und erfrischender Originalität von der Geburt des israelischen Staates erzählt.

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Seitenzahl: 530

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INHALT

» Über die Autorin

» Über das Buch

» Buch lesen

» Glossar

» Impressum

» Weitere eBooks von Kein & Aber

» www.keinundaber.ch

ÜBER DIE AUTORIN

Ayelet Gundar-Goshen, geboren 1982, studierte Psychologie in Tel Aviv, später Film und Drehbuch in Jerusalem. Für ihre Kurzgeschichten, Drehbücher und Kurzfilme wurde sie bereits vielfach ausgezeichnet. Eine Nacht, Markowitz ist ihr Romanerstling, dem 2012 der renommierte Sapir-Preis für das beste Debüt Israels zugesprochen wurde und der zurzeit verfilmt wird.

ÜBER DAS BUCH

Ausgerechnet der unscheinbare Jakob Markowitz soll die schöne Bella heiraten, um ihr die Flucht aus dem nationalsozialistischen Europa zu ermöglichen. Doch zurück in Palästina sieht Markowitz nicht ein, sein unverhofftes Glück wieder aufzugeben, und verweigert Bella die vorher vereinbarte Scheidung.

»Ein bemerkenswerter Roman, pointiert und voller Liebe, in seiner Reife und Weisheit höchst beeindruckend. Lesen Sie einfach den Anfang, Sie werden nicht mehr aufhören können.« Jedi’ot Acharonot

»Ein Glück, wenn nicht ein Wunder, dieses Debüt!« Marie-Luise Scherer

Für Yoav

»Auch eine Faust war einmal eine offene Hand.«

Jehuda Amichai

Vorher

1

Jakob Markowitz war nicht hässlich. Was nicht heißen soll, dass er schön gewesen wäre. Kleine Mädchen plärrten bei seinem Anblick nicht los, lächelten ihn aber auch nicht an. Er war, kann man sagen, von brillanter Mittelmäßigkeit. Ja, mehr als das: Jakob Markowitz’ Gesichtszüge waren ausgesprochen nichtssagend. So nichtssagend, dass das Auge kaum darauf verharren konnte, sondern zu anderen Dingen weiterglitt. Zu einem Baum am Straßenrand. Einer Katze in einer Ecke. Um Jakob Markowitz’ langweilige Züge eingehender zu erforschen, waren ungeheure Anstrengungen erforderlich. Der Mensch reißt sich nicht um ungeheure Anstrengungen, und so kam es, dass ihm nur selten jemand lange ins Gesicht sah. Das hatte auch Vorteile. Der Gruppenführer erkannte sie. Er sah Jakob Markowitz genauso lange ins Gesicht, wie er brauchte, und wandte dann den Blick ab. Der Gruppenführer sagte: Du wirst Waffen schmuggeln. Bei so einem Gesicht wird das keinem auffallen. Und er hatte recht. Jakob Markowitz schmuggelte Waffen, vielleicht mehr als jedes andere Mitglied der Irgun, und nie geriet er in die geringste Gefahr, geschnappt zu werden. Der Blick der britischen Soldaten glitt an seinem Gesicht ab wie Öl an der Pistole. Ob die Kameraden der Irgun ihn wegen seines Wagemuts schätzten, wusste er nicht. Nur wenige sprachen ihn an.

Wenn er nicht gerade Waffen schmuggelte, bestellte er das Feld. Abends saß er hinter seinem Haus und fütterte die Tauben mit Brotresten. Sehr bald versammelte sich dort ein fester Schwarm, der ihm aus den Händen fraß und auf seinen Schultern landete. Hätten die Kinder der Moschawa das Schauspiel gesehen, wären sie in Gelächter ausgebrochen, aber kein Mensch kletterte über die steinerne Einfriedung. Nachts las er Jabotinskys Schriften. Einmal im Monat fuhr er nach Haifa und schlief mit einer Frau gegen Geld. Mal war es dieselbe, mal eine andere. Er vertiefte sich nicht in ihre Gesichtszüge und sie nicht in seine.

Einen Freund hatte Jakob Markowitz. Seev Feinberg war vor allem Schnauzer. Noch vor den blauen Augen, den dicken Brauen, den scharfen Zähnen. Seev Feinbergs Schnauzer war in der Gegend berühmt, manche meinten, sogar im ganzen Land. Als ein Irgun-Mann von einem Einsatz im Süden zurückkehrte, erzählte er von »einem rotbäckigen Mädel, das fragte, ob der schnauzbärtige Sultan noch bei uns ist«. Alle lachten, aber Seev Feinberg lachte am lautesten. Und wenn er lachte, wippte der Schnauzer über der Oberlippe, schlug Wellen über Wellen, so freudig vibrierend wie sein Besitzer seinerzeit zwischen den Schenkeln des Mädels. Es war klar, dass Seev Feinberg nicht dazu geschaffen war, Waffen zu schmuggeln, weil sein Schnauzbart ihm vorauseilte wie eine Kolonne schwarzer Ausrufezeichen. Man hätte blind und dumm sein müssen, um ihn nicht zu bemerken. Die Briten waren zwar dumm, aber es wäre doch zu optimistisch gewesen, sie dazu noch für blind zu halten. Aber wenn Seev Feinberg auch keine Waffen schmuggeln konnte, so konnte er umso besser Araber in die Flucht schlagen, und das tat er nächtelang rund um den Ort.

Nur wenige Nächte verbrachte Seev Feinberg allein. Wenn sich herumsprach, dass er den Abend Wachdienst hatte, liefen gleich ein paar Kameraden zusammen. Die einen wollten von den Abenteuern seines Schnauzers zwischen Frauenschenkeln hören, die anderen wollten über die politische Lage und über die verfluchten Deutschen reden, und wieder andere wollten sich nur über die Rinderzucht und das Jäten der Felder und das Ziehen von Weisheitszähnen beraten – einige der Gebiete, auf denen Seev Feinberg sich als Fachmann betrachtete. Auch Mädchen kamen. Seev Feinberg war zwar ein treuer Wächter, den Finger immer am Abzug, aber man muss ja bedenken, dass Gott dem Menschen zehn Finger geschenkt hat, und das nicht umsonst. Der Geruch der Felder nach dem Regen, ein Quäntchen Gefahr (das Rascheln dort – Araber oder Wildschwein?). Das Ächzen und Stöhnen drang manchmal bis an die Häuserwände. Zuweilen gesellte sich Jakob Markowitz zu Seev Feinberg und seinen Kameraden, unterm Arm den zerlesenen Band von Jabotinsky, dem schon Schweißgeruch anhaftete. Seev Feinberg begrüßte ihn freundlich wie jeden anderen. Er war so sehr an menschliche Gesellschaft gewöhnt, dass er gar nicht ungesellig sein konnte, selbst wenn er es gewollt hätte. Nicht mal die Briten verabscheute er wirklich, und tötete er einen Menschen, so tat er es ungern, wenn auch höchst effizient. Das erste Mal hatten sie miteinander geredet, als Jakob Markowitz mitten in der Nacht von seinem Besuch in Haifa heimkehrte. »Halt«, herrschte Seev Feinbergs Stimme ihn im Dunkeln an. »Wer bist du, und woher kommst du?« Jakob Markowitz zitterten die Beine, aber er antwortete mit fester Stimme: »Ich bin Jakob Markowitz. Ich war bei einer Frau.« Seev Feinbergs Lachen weckte die Hühner in den Ställen. Dann fragte er weiter, und Jakob Markowitz antwortete von Herzen gern. Er erzählte von den Nippeln der Frau, die allerliebst gewesen waren, und fand sich sogar bereit, ihren Po und ihre Beine ausführlich zu beschreiben, ohne Seev Feinberg auch nur ein einziges Pfund für das Wissen abzuverlangen, das ihn die Hälfte seines Wocheneinkommens gekostet hatte. Schließlich beugte sich Seev Feinberg zu Jakob Markowitz vor und fragte: »Sag mal, wie feucht war es dort?« Seev Feinbergs Schnauzer kitzelte Jakob Markowitz’ Wange, aber er wagte nicht, sich zu rühren. Noch nie hatte ihn jemand so lange angeschaut. Schließlich begriff er, dass er nicht länger zaudern konnte, und erwiderte: »Was meinst du damit?«

»Was ich damit meine?« Seev Feinbergs Schnauzer peitschte Jakob Markowitz und ließ ihn zurückzucken. Seine blauen Augen weiteten sich in solcher Verblüffung, dass sie Jakob Markowitz um ein Haar mitsamt Jabotinskys Schriften verschlungen hätten. »Ich meine die Vagina, Kamerad. Wie feucht war die Vagina?« Bei Vernehmen des göttlichen Worts schwindelte es Jakob Markowitz, und er sank auf einen Felsblock. Seev Feinberg setzte sich neben ihn. »Dir ist doch hoffentlich klar, dass es unterschiedliche Feuchtigkeitsgrade gibt? Es gibt die Feuchten, und es gibt Tropfnasse, und es gibt welche – ei, ei, ei –, in denen du ertrinken kannst wie im Schwarzen Meer. Das hängt natürlich von der Ernährung des Mädels und vom Wetter ab, vor allem aber von der Leidenschaft, die zwischen dem Mann und der Frau entflammt.« Danach fragte Seev Feinberg erneut, wie feucht es dort gewesen sei, und Jakob Markowitz musste eingestehen, kein bisschen Feuchtigkeit festgestellt zu haben. »Gar nichts?« »Gar nichts. So trocken wie die Felder Ende August.« Nun schwieg Seev Feinberg eine lange Weile und sagte schließlich: »In diesem Fall, Kamerad, rate ich dir zu prüfen, ob sie keine anderen Männer hat. Du kennst sicher den Massenerhaltungssatz. Im menschlichen Körper gibt es eine begrenzte Menge an Flüssigkeiten, und ich fürchte, mein Freund, deine Frau dort in Haifa gibt sie im Beisein eines anderen Mannes ab.« Jakob Markowitz atmete erleichtert auf und erklärte, dass nun alles klar sei: Die Frau in Haifa habe erwähnt, er sei der Vierte an dem Abend gewesen, und in Kenntnis des Massenerhaltungssatzes erscheine es tatsächlich logisch, dort kein Wasser vorgefunden zu haben. Seev Feinberg brach in schallendes Gelächter aus, und Jakob Markowitz musste einstimmen. Er wusste nicht, warum er lachte, wollte es auch nicht wissen. Es war so angenehm, neben diesem Mann zu lachen, dessen Schnauzer die Jesreelebene bezauberte und dessen Lachen durchs ganze Land hallte. Wenn in Seev Feinbergs Lachen Spott mitschwang, so verklang er gleich, das Lachen jedenfalls hielt lange an. Er lachte und lachte, bis sich in seinem Schritt ein kleiner Fleck abzeichnete, und als er das merkte, lachte er noch mehr. Von jenem Abend an waren Jakob Markowitz und Seev Feinberg Freunde.

Zwei Mal rettete Jakob Markowitz Seev Feinberg das Leben, und beide Male an ein und demselben Abend. Als er an dem Tag aus Haifa zurückkehrte, eilte er zum Wachstand, weil er zum ersten Mal im Leben ein Paar ungleich großer Brüste gesehen hatte. Während er noch überlegte, was Seev Feinberg wohl dazu sagen würde, entdeckte er einen geduckten Araber im Gebüsch, den Gewehrlauf auf einen wogenden Klumpen gerichtet, bei dem es sich vermutlich um Seev Feinberg auf einer Frau handelte. Es wäre verlockend zu sagen, dass Jakob Markowitz keinen Augenblick zögerte. Schließlich hatte er bis zu jenem Abend nur Waffen geschmuggelt und, abgesehen von den Ratten, denen er wegen der Flurschäden, die sie anrichteten, den Kopf zerschmetterte, noch nie ein Lebewesen getötet. Er überwand das Zittern in den Beinen, hob lautlos einen glatten, weißen Stein auf und schlug dem jungen Mann mit einem harten Schlag den Schädel ein. Ein Schuss zerriss das Dunkel der Nacht und das Trommelfell von Jakob Markowitz. Er tastete seinen Körper nach Verletzungen ab und stellte fest, dass Seev Feinbergs Pistole diesmal danebengezielt hatte. »Ich bins«, schrie er. »Nicht schießen!«

Seev Feinbergs gemurmelte Dankesworte gingen im Strahl des Kotzens unter. Jakob Markowitz hatte den am Boden Liegenden kaum angesehen, als sich ihm auch schon der Magen umstülpte. Das Blut des jungen Mannes funkelte im Mondlicht, und seine ausgetretene Hirnmasse machte Jakob Markowitz schaudern. Die Grillen jedenfalls zirpten weiter. In seiner Verzweiflung schloss Jakob Markowitz die Augen, verrammelte die Tore seines Geistes gegen die Bilder des jungen Mannes und seines vergossenen Hirns und klammerte sich mit aller Macht an die Brüste der Frau aus Haifa. Als er die Augen wieder aufschlug, sah er sich anderen, gänzlich symmetrischen Brüsten gegenüber. Rachel Mandelbaum stand zitternd und halb nackt neben Seev Feinberg. Vor lauter Schreck hatte sie vergessen, sich zu bedecken, und nun stand sie in ihrer ganzen Pracht vor ihm, schluchzend angesichts der Leiche des Arabers. Beim Anblick von Rachel Mandelbaums Brüsten versteifte sich Jakob Markowitz’ Glied. Je mehr sich sein Glied versteifte, desto flauer wurde ihm im Kopf, bis er völlig von der Gestalt des erschlagenen Arabers abkam. Langsam, aber sicher dämmerte ihm, dass er Rachel Mandelbaums Brüste anstarrte, obwohl er keineswegs Abraham Mandelbaum war. In dieser Erkenntnis hörte Jakob Markowitz auf, Rachel Mandelbaums Brüste anzustarren, wandte sich an Seev Feinberg und sagte: »Abraham wird dich umbringen.«

Eingeweihte und Unwissende waren sich uneins in der Frage, wie viele Menschen Abraham Mandelbaum getötet hatte. Manche sagten zehn, andere fünfzehn. Wieder andere taten das als Übertreibung ab und behaupteten entschieden, es seien nicht mehr als vier gewesen. Schließlich einigte man sich auf eine symbolische Zahl, sieben. Obwohl alle einhellig annahmen, dass von Arabern die Rede war, höchstens noch einem Briten, konnte kein Mensch die Hand dafür ins Feuer legen. Fliegen überlegten es sich zwei Mal, ehe sie Abraham Mandelbaum in die Nähe kamen. Katzen rieben sich nicht an seinen Beinen. Hätte es im Ort eine Guillotine gegeben, wäre Abraham Mandelbaum ausersehen worden, sie zu bedienen. Da es keine gab, musste er sich mit der Aufgabe des Schächters begnügen. Nur wenige wussten, dass er nachts im Schlaf bitterlich auf Polnisch weinte, rätselhafte Sätze über ein weißes Lamm, einen Zuckerapfel oder die Bosheit der Kinder lallte. Rachel Mandelbaum hörte und verstand es und kletterte still aus dem Bett. Auch von dem Schiff war sie still an Land gegangen, fünf Jahre zuvor. Hatte stumm im Haifaer Hafen gestanden und gewartet, dass etwas geschah. Ihren ganzen Wagemut hatte sie für die Reise nach Palästina aufgebracht, und nun, dort angekommen, besaß sie gerade noch die Energie, stehen zu bleiben und zu warten. Sie wartete nicht lange. Nach einer halben Stunde trat Abraham Mandelbaum zu ihr und stellte sich vor. Er lud sie zu einer Brause am Kiosk ein und nahm sie mit nach Hause. Rachel Mandelbaum folgte ihm wie ein Entenküken, das auf der Hafenmole aus dem Ei geschlüpft war und dem ersten Lebewesen, das es erblickte, nachlief.

Später fragte sie sich, wozu er am Ankunftstag des Schiffes in den Hafen gekommen war. Er hatte an jenem Tag, den er mit ihr im Hafen verbrachte, nichts geschleppt und nichts gekauft. Verwandte hatte er keine, und deshalb nahm Rachel Mandelbaum an, dass er niemanden hatte abholen wollen. Hier irrte sie sich. Abraham Mandelbaum kam alle paar Wochen in den Hafen, um die Schiffe zu begrüßen. Wenn der Hunger groß genug ist, reicht schon die Erwartung allein, um die Leere im Magen wenigstens etwas zu füllen. Abraham Mandelbaum besah sich die von Bord Gehenden – grünliche Gesichter, blasse Glieder – und versuchte, einen bekannten Gesichtszug zu erkennen. Nach einer Weile verliefen sich die Leute, und Abraham kehrte heim. An dem Tag, an dem er Rachel erblickte, wusste er sofort Bescheid, wartete aber noch dreißig quälende Minuten, um sicher zu sein. Kein Mensch kam. Sie tat keinen Schritt. In ihrem grünen Kleid wirkte sie auf ihn wie eine ins Meer geworfene und nun an Land gespülte Flasche, und er, der alleinstehende Überlebende, würde sie aufheben und den Inhalt der Flaschenpost lesen. Er nahm sie mit nach Hause und heiratete sie, aber niemals gelang es ihm, die Worte in der Flasche zu entziffern.

Rachel Mandelbaum, geborene Kanzelpult, legte das grüne Kleid ab und nähte Gardinen daraus. Aus dem roten Ballkleid machte sie zwei Tischdecken und einen Kissenbezug. Fünf Monate nach ihrer Ankunft erinnerte fast nichts mehr an das ehemalige Stadtmädchen. Das ganze Haus war voll mit textilen Andenken an ihr früheres Leben, die zusehends verblichen und verschlissen, bis man meinen konnte, diese Stoffe seien seit eh und je hier, in Palästina, gewesen. Die anderen Frauen betrachteten sie mit Anerkennung und Erstaunen. Einerseits ist es wahrhaft erfreulich, wie gut sie sich einlebt, nicht wie diese verwöhnten Damen, die hier ankommen und meinen, sie befänden sich in einem Feriendorf bei Zürich. Andererseits, mit welchem Gleichmut sie die modernsten Kleider in Gardinen verwandelt, Gott bewahre, die Creme de la Creme der Wiener Mode wird bei ihr zum Handtuch in der Fleischerei ihres Mannes. Auch die deutsche Sprache hatte Rachel Kanzelpult abgelegt. Sobald sie im Haifaer Hafen einen Fuß an Land gesetzt hatte, hatte sie sich geschworen, nur noch Hebräisch zu sprechen. Da sie kein einziges Wort konnte, hüllte sie sich lieber in Schweigen, selbst wenn ihr Gesprächspartner ebenfalls Deutsch sprach. Als Beamte von der zionistischen Führung den Ort besuchten, wurde einem von ihnen zugeflüstert, dass die schöne Frau an der Tür der Fleischerei auch in Österreich geboren sei. Sogleich überhäufte er sie mit einem aufgeregten Redeschwall, der mit einem stummen Blick erwidert wurde. Rachel verbarrikadierte sich hinter ihrem Schweigen, und die verlegene Delegation machte sich eilig aus dem Staub. Die Frauen, die die ernste, junge Nachbarin allmählich lieb gewannen, lobten sogleich ihre Treue zur hebräischen Sprache. Die Geschichte von der frechen Neueinwanderin, die dem Beamten eine Lektion in Sachen »Hebräer, sprich Hebräisch« erteilt hatte, machte die Runde, und viele grüßten Rachel auf der Straße. Sie grüßte mit leichtem Akzent zurück. Ihre wahren Beweggründe blieben verborgen, vielleicht sogar ihr selbst. Tief drinnen spürte sie instinktiv: Wenn sie auch nur einen schmalen Spalt offen ließe, würde die Trauer über ihr früheres Leben aufbranden und das ganze Land überschwemmen. Die Kleider, die Bälle, das Licht, das sich auf den Pflastersteinen brach, die Schneeflocken – all das wurde hinter Schloss und Riegel verbannt. Ein Blick zurück und sie würde, wie Eurydike, haltlos abgleiten in das süße, ach so süße europäische Inferno.

Tagsüber half Rachel Mandelbaum ihrem Mann in der Fleischerei, von Blutgeruch umweht wie von einem Parfüm. Nachts saß sie im Bett und strickte ganz eifrig, damit ja kein einziger Gedanke aus der Vergangenheit in diese Gegenwart drang. Aber ein Mal im Monat legte sie das Strickzeug weg und stieg leise aus dem Bett. Abraham Mandelbaum stöhnte in veraltetem Polnisch, und Rachel streichelte ihm mit geübter Hand den Kopf und ging hinaus. Draußen: Palästina schläft. Die Erde atmet schwer, ihr Atem riecht nach Erde und Zitrushainen und Stroh. Und zwischen all dem wartet Seev Feinberg auf sie. Sie schließt die Augen, und er küsst ihren Hals. Sein Schnauzer kratzt ihre zarte, durchscheinende Haut. Aber Rachel dreht den Hals nicht weg. Im Gegenteil: Wieder und wieder reibt sie sich an dem drahtigen Haar. Über Zitrushaine, Strohballen, den Hafen und das große Meer kommt die Erinnerung an den Schnauzer eines österreichischen Soldaten, Johann hatte er geheißen, an den Weingeruch seiner Lippen, wenn er sie küsste, und an das pulsierende Blut in ihren Adern, wenn er sie im Walzertakt herumwirbelte. In diesen Momenten werden Rachel Mandelbaums Augen feucht und desgleichen ihre Vagina.

2

An dem Abend, an dem Jakob Markowitz dem jungen Araber den Kopf zerschmetterte, waren Rachel Mandelbaums Augen gar nicht erst feucht geworden. Nur Minuten vorher hatte Seev Feinberg ihr die Bluse ausgezogen und sein Gesicht gleich zwischen ihren Brüsten vergraben. Der österreichische Soldat Johann hatte es nie geschafft, ihren Brüsten einen Besuch abzustatten, und deshalb weckte die Berührung mit Seev Feinbergs Schnauzer dort keinerlei Empfindung, außer, vielleicht, einem leichten Stechen. Rachel Mandelbaum überlegte, ob sie Seev Feinbergs Kopf von der Brust auf den Hals umlenken sollte, aber ehe sie zu einer Entscheidung gelangte, hörte man das widerliche Krachen eines berstenden Schädels. Rachel kannte dieses Geräusch bestens. Es ist ja relativ selten, aber wem es einmal zu Ohren gekommen ist, dem bleibt es unverkennbar in Erinnerung. Eines schönen Abends in Wien, unterwegs von ihrem Haus zum Café am Platzl, sah Rachel Kanzelpult drei Burschen einen alten Juden herumstoßen. Sie gaben ihn wie einen Spielball einer dem anderen ab, und Rachel war entsetzt, auf ihren Gesichtern die Unschuld und Lust zu erkennen, die so typisch für spielende Kinder sind. Dann versetzte einer dem Alten einen ungeschickten Stoß, sodass er stolperte und zu Boden stürzte. Sein Kopf schlug auf dem Bordstein auf. Nun war er kein Teil eines Spiels mehr, sondern ein zerbrochenes Spielzeug, ein Ball ohne Luft. Die Burschen sahen ihn erschrocken an. Kurz darauf schluckte einer von ihnen seinen Speichel hinunter und sagte: »Kommt. Wir suchen uns einen anderen.« Sie gingen ihres Weges und Rachel den ihren. Eine Woche später war sie an Bord des Schiffes. Nachts, wenn ihr vor Übelkeit und Sehnsucht der Bauch zu platzen drohte, erinnerte sie sich an das Krachen des berstenden Schädels.

Als Jakob Markowitz zu Seev Feinberg sagte, »Abraham wird dich umbringen«, erfasste Rachel Mandelbaum, dass sie barbusig vor Jakob Markowitz’ Augen stand. Nicht den leichtesten Schatten eines Schnauzers hatte Jakob Markowitz, dies bestätigte ein flüchtiger Blick eindeutig, und so fand Rachel Mandelbaum die Szene völlig ungerechtfertigt. Sie bedeckte sich hastig, beunruhigt bei dem Gedanken, dass nun drei Männer im Ort den Leberfleck auf ihrer rechten Brust kannten. Hätte sie Jakob Markowitz’ Gedanken erraten, wäre sie wohl kaum beunruhigt gewesen. Verglichen mit den asymmetrischen Brüsten der Frau aus Haifa waren Rachel Mandelbaums Brüste ein himmlisches Werk, und Jakob Markowitz fand sie dieses Leichenschmauses für einen erschlagenen Araber durchaus würdig. Andererseits, dachte er, war ein erschlagener Araber mehr als genug, man musste ihm nicht noch Seev Feinberg zugesellen, der endlich aufgehört hatte, Jakob Markowitz zu danken, und nun fluchte wie ein russischer Seebär. »Du Idiot, du Dummbeutel, verdammt sei die Hündin, die dich geworfen hat.« Zuerst dachte Jakob Markowitz, Seev Feinberg meine den Araber, aber als er anfing, sich mit seiner Bärenpranke den Schnauzer zu raufen, begriff er, dass er sich selbst verfluchte. »Innerhalb von drei Minuten werden hier dreißig Männer auftauchen, und selbst das reicht nicht, um mir Abraham Mandelbaum vom Hals zu halten. Ach, ach, ach, du preisgekröntes Schwein, heute wirst du zur Schlachtbank geführt.« Seev Feinberg raufte sich erneut den Bart, und Jakob Markowitz hatte das Empfinden, vor seinen Augen ein Weltwunder zerfallen zu sehen, als wohne er der Verbrennung der Bibliothek von Alexandria bei. »Lass den Schnauzer in Ruhe«, brüllte er, über den Klang seiner eigenen Stimme erschrocken, »wir werden ihm zu zweit entgegentreten.«

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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