Eine Sprache der Liebe - Xiaolu Guo - E-Book
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Eine Sprache der Liebe E-Book

Xiaolu Guo

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Beschreibung

Eine Liebe im Spannungsfeld von östlicher und westlicher Lebenswelt: charmant, poetisch und voller Humor

Eine junge Chinesin kommt nach London. Sie lässt alles hinter sich, will ein neues Leben beginnen. Doch in der fremden Kultur und der fremden Sprache fühlt sie sich zunächst nur einsam und verloren. Bis sie sich in einen australischen Landschaftsarchitekten mit britisch-deutschen Wurzeln verliebt. Eine vorsichtige Annäherung beginnt. Voller Neugier auf die Fremdheit des Anderen, aber auch voller kultureller Missverständnisse. Beide versuchen, eine tragfähige Sprache als Fundament ihrer Liebe zu finden. Kann diese Liebe für beide zu einer neuen Heimat werden? Authentisch, offen, aber auch mit viel Selbstironie beschreibt Xiaolu Guo die vielfältigen Verwirrungen zwischen West und Ost und erzählt eindrücklich von einer ungewöhnlichen Liebe.

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Eine Liebe im Spannungsfeld von östlicher und westlicher Lebenswelt

Eine junge Chinesin kommt nach London. Sie lässt alles hinter sich, will ein neues Leben beginnen. Doch in der fremden Kultur und der fremden Sprache fühlt sie sich zunächst nur einsam und verloren. Bis sie sich in einen australischen Landschaftsarchitekten mit britisch-deutschen Wurzeln verliebt. Eine vorsichtige Annäherung beginnt. Voller Neugier auf die Fremdheit des Anderen, aber auch voller kultureller Missverständnisse. Beide versuchen, eine tragfähige Sprache als Fundament ihrer Liebe zu finden. Kann diese Liebe für beide zu einer neuen Heimat werden? Authentisch, offen, aber auch mit viel Selbstironie beschreibt Xiaolu Guo die vielfältigen Verwirrungen zwischen West und Ost und erzählt eindrücklich von einer ungewöhnlichen Liebe.

Xiaolu Guo wuchs in einer kleinen Stadt in Südchina auf und ist eine der interessantesten chinesischen Künstlerinnen ihrer Generation. Sowohl in China als auch international machte sie sich als Filmemacherin und Autorin einen Namen. 2013 gelang ihr der Sprung auf die Liste »Best of Young British Novelists« des Magazins Granta. Ihre Romane wurden vielfach nominiert und ausgezeichnet, Eine Sprache der Liebe stand auf der Shortlist für den Goldsmiths Prize. Xiaolu Guo lebt mit ihrer Familie in London und Berlin.

»Xiaolu Guo schreibt nuancenreich und mit großer Zartheit über Migration, Sprache, Entfremdung und Liebe.« Spectator

»Guo ist eine schonungslose Beobachterin. Die Wahrhaftigkeit und Genauigkeit ihrer Sprache verleiht dem Roman eine ganz eigene sprühende Energie.« New York Times

»Eine Liebesgeschichte zwischen Sprachen, Kulturen und Philosophien.« Siri Hustvedt

www.penguin-verlag.de

Xiaolu Guo

EINE SPRACHE DER LIEBE

Roman

Aus dem Englischen von Anne Rademacher

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel A Lover’s Discoursebei Chatto & Windus, London 2020.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Copyright © der Originalausgabe 2020 by Xiaolu Guo First published as A Lover’s Discourse by Chatto & Windus, an imprint of Vintage.Vintage is part of the Penguin Random House group of companies.

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2022

Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Sabine Kwauka

Umschlagmotiv: © Purix Verlag Volker Christen/Bridgeman Images; shutterstock/Oleg7799

Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-641-28248-6V001

www.penguin-verlag.de

Die Sprache ist eine Haut: ich reibe meine Sprache an einer anderen. So als hätte ich Worte anstelle von Fingern oder Finger an den Enden meiner Worte. Meine Sprache zittert vor Begierde.

Roland Barthes, Fragmente einer Sprache der Liebe

INHALT

Prolog

Eins 西 Westen

Zwei 南 Süden

Drei 东 Osten

Vier 北 Norden

Fünf 下 Unten

Sechs 上 Oben

Sieben 左 Links

Acht 右 Rechts

Dank

Textnachweise

PROLOG

Die Liebe auf den ersten Blick ist Hypnose.

Roland Barthes

»Ich glaube nicht an Liebe auf den ersten Blick.«

»Wie bitte? War es nicht schon in dem Moment klar, als du im Park Holunderblüten pflücktest und wir uns ansahen? Oder ist es im Buchclub passiert?«

Wir lebten schon einige Jahre zusammen, als wir uns über Liebe auf den ersten Blick unterhielten. Ich weiß noch, wie du sagtest: »Ich glaube nicht an Liebe auf den ersten Blick.«

Das verblüffte mich. Ich hatte immer gedacht, bei uns sei es ein typischer Fall von Liebe auf den ersten Blick gewesen.

»Wie bitte? War es nicht schon in dem Moment klar, als du im Park Holunderblüten pflücktest und wir uns ansahen? Oder ist es im Buchclub passiert?«

Du lächeltest mich müde an. Meine Verwirrung schien dir Bestätigung zu sein.

Beginnt Liebe denn nicht immer mit dem ersten Blick? Zumindest solange wir jung sind, unter dreißig oder vierzig. Erst wenn auf den ersten Blick der Liebe der zweite Blick der Vernunft folgt, überlegt man es sich vielleicht noch einmal. Warum dies ein Privileg der Jugend sein soll? Dafür habe ich keine Theorie, aber vielleicht liegt es daran, dass junge Menschen einfach impulsiver sind. Ich jedenfalls bin in Liebesdingen romantisch und impulsiv, für alles andere fehlt es mir an Alter und Weisheit.

Damals, in jenem ersten Moment im Park, wusste ich, dass du meinen Blick registriert hattest. Aber ob du ihn auch richtig interpretiert hattest? Da war ich mir nicht so sicher. Schließlich warst du noch ein Fremder für mich. Ein Mann aus einer Kultur, die ich weder besonders gut kannte noch verstand. Außerdem warst du sehr groß, und ich war klein. So ein Höhenunterschied kann den Blick verzerren.

EINS 西 WESTEN

DER HOLUNDER

»Was hast du damit vor?«

»Mit dem Holunder? Ich werde die Blüten abzupfen und sie einkochen.«

Als wir uns zum ersten Mal begegneten, kannte ich deinen Namen nicht. Niemand hatte uns einander vorgestellt. Ich weiß nur noch, dass du am Straßenrand standst und Holunder pflücktest.

Es war in einem Park, dem Clapton Pond im Nordosten Londons. Freunde hatten ein Picknick organisiert, um die Wärme des Frühlings zu feiern, doch an diesem Tag war es weder sonnig noch mild. Die Wattebausch-Gesichter der Wolken über London machten sich lustig über uns. Die Narzissen waren verwelkt, doch die Blauglöckchen hatten gerade erst zu blühen begonnen. Ihre dicht besetzten Blütenstängel wippten im Wind. Alle redeten, ich schaute zu. Die Worte kamen mir noch nicht so leicht über die Lippen, ich hatte Mühe mit dem Englischen. Du warst der Einzige, der in kein Gespräch verwickelt war, aber du entferntest dich von der Gruppe und verschwandst hinter ein paar Büschen am Straßenrand. Wenig später sah ich dich am Rand des Parks milchweiße Blüten pflücken. Als du zurückkamst, hieltst du einen Strauß Holunder im Arm. Du sahst mich an. Ich wusste nicht, wie ich deinen Blick einschätzen sollte. Er wanderte nicht unstet hin und her, sondern war ruhig und fest. Deine blaugrünen Augen. Männer mit wilden Blumen im Arm waren ein ungewohnter Anblick für mich. Warst du vielleicht ein verschrobener Außenseiter? Oder zumindest leicht exzentrisch? Andererseits kamst du mir in deiner blauen Jeansjacke und den lehmverkrusteten Stiefeln ziemlich bodenständig vor.

»Was hast du damit vor?«, fragte ich und deutete auf die Zweige.

»Mit dem Holunder? Ich werde die Blüten abzupfen und sie einkochen.«

Du bist für mich der Holunderblütenpflücker geblieben. Später erfuhr ich, dass Männer (vor allem europäische Männer) manchmal Blumen pflücken. Aber an jenem Tag im Park war ich erst seit ein paar Monaten in England. Ich hatte noch nie einen Mann gesehen, der völlig selbstvergessen in der Öffentlichkeit Blumen pflückte.

Du warst der Holunderblütenpflücker. Und so sehe ich dich nach all den Jahren noch immer.

VOTE LEAVE – WÄHLT VERLASSEN

»Da steht Vote ›Leave‹ – Wählt ›Verlassen‹. Wer soll denn verlassen werden?«

»Ach, die EU. Du weißt schon, die Europäische Union.«

Ich war im Dezember 2015 nach Großbritannien gekommen, sechs Monate vor dem Referendum. Dass es ein Referendum geben würde, wusste ich nicht. Im Chinesischen war mir das Wort kaum je begegnet, aber schließlich hat es in China auch nie so etwas wie ein Referendum gegeben. Gewählt hatte ich auch noch nie, weil wir nie dazu aufgefordert worden waren. Außerdem hatten wir gelernt, dass nur Länder mit sehr wenig Einwohnern wie die Schweiz oder Island ein nationales Referendum durchführen können. Neben der Politik hatte ich noch viele andere Fragen, als ich nach England kam. Nach meinem Master in Soziologie und Film in Peking hatte ich nicht in irgendeinem Büro landen wollen. Und ich wollte weg aus China. Ich hatte eine Biografie über die amerikanische Anthropologin Margaret Mead gelesen und beschlossen, im Westen Visuelle Anthropologie zu studieren. Ich wollte in die Welt hinaus oder, besser noch, eine Frau von Welt sein. Eine Intellektuelle, die fremde Länder bereist und sich dort zurechtfindet. Doch dazu brauchte ich noch eine Position oder Mission, an der ich mich als Außenseiterin orientieren konnte. Deshalb bewarb ich mich um ein Promotionsstipendium und bekam es schließlich am King’s College in London.

So war ich hier gelandet. Angekommen war ich mitten im Winter. Es war kalt und fast immer grau. Für die ersten paar Wochen hatte ich ein kleines Airbnb im Süden Londons gemietet. Ich hatte mir tatsächlich eingebildet, dass ich von dort aus zu Fuß zum King’s College laufen könnte, denn schließlich lag das Airbnb in der Nähe der South Bank. Als ich merkte, wie weit der Weg war, musste ich Tränen lachen. In dieser Stadt war es unmöglich, irgendwo zu Fuß hinzukommen. Es gab fast keine geraden Straßen oder Boulevards, an denen man sich orientieren konnte, außerdem war es nicht besonders angenehm, die öffentlichen Gehwege entlangzulaufen. Einmal wäre ich beinahe über etwas gestolpert, das ich für einen Berg Wäsche hielt. Erst im letzten Moment erkannte ich, dass es der bewohnte Schlafsack eines Obdachlosen war. Mein Weg durch die dicht bevölkerte Stadt glich einem Hochseilakt über wild tosenden Verkehrsmassen. Es war so furchterregend, dass ich beschloss, lieber den Bus zu nehmen und die Welt von einem Fensterplatz aus zu betrachten.

Nach zweieinhalb Monaten bezog ich eine Wohnung im Londoner Osten. Als ich eines Morgens mit dem Bus zu einem Termin bei meinem Doktorvater fuhr, fiel mir ein Poster mit dem Wort Brexit auf. Ich wusste nicht, was es bedeutete. In meiner Zeit in London hatte ich noch keine englischen Zeitungen gelesen. Ich schlug das Wort in meinem Chinesisch-Englisch-Taschenwörterbuch nach. Seltsam, es stand nicht drin. In den Straßen herrschte dichter Verkehr, wir standen zusammen mit anderen Bussen im Stau. Direkt neben uns hielt ein roter Bus, in dem keine Passagiere saßen. Auf der Seite des Busses stand eine Art Werbeslogan:

Jede Woche schicken wir 350 Millionen £ an die EU. Unterstützen wir lieber unseren NHS. Wählt »Verlassen«.

Nachdenklich betrachtete ich den Schriftzug, und weil ich neuerdings anthropologisch an die Dinge heranging, schrieb ich den Satz ab und fotografierte ihn. Was mochte er bedeuten? Vom NHS hatte ich schon gehört – er hatte etwas damit zu tun, dass alle Menschen in Großbritannien kostenlos medizinische Behandlung bekamen.

Noch während ich mir den Kopf kratzte, hörte ich jemanden hinter mir sagen: »Schau mal, da ist schon wieder einer dieser blöden Brexit-Busse!«

»Also wirklich!«, sagte eine andere Stimme. »Ob irgendjemand diesen Scheiß glaubt?«

Das war meine Gelegenheit, ein paar Einheimische zu befragen. Ich nahm all meinen Mut zusammen und versuchte, besonders höflich zu sein.

»Bitte entschuldigen Sie. Was ist ein Brexit-Bus?«

»Wie bitte?«

Der Einheimische starrte mich verständnislos an, sein Freund lachte. Ich versuchte, meine Verlegenheit zu verbergen. Auch wenn ich nicht wusste, warum – meine Frage schien dumm gewesen zu sein. Trotzdem gab ich nicht auf.

»Entschuldigen Sie, ich bin noch nicht lange hier. Ich kenne mich noch nicht so gut aus.«

Der Einheimische hielt es nicht für nötig, mir zu antworten, sondern zuckte nur abweisend mit den Schultern.

Ich blieb ruhig und gelassen, aber hartnäckig. »Dort steht Wählt ›Verlassen‹. Wer soll denn verlassen werden?«

»Ach so, die EU. Du weißt schon, die Europäische Union«, antwortete er schließlich.

Ach, die Europäische Union. Für uns Chinesen ist die Europäische Union etwas Großartiges. Tief in unserem Herzen wollten wir schon immer zu so etwas gehören, aber hier gab es offenbar Menschen, die das nicht so gern wollten. Bevor ich weiterfragen konnte, hörten wir eine Durchsage: »Dieser Bus fährt eine Umleitung. Die nächste Haltestelle ist London Wall.«

London Wall – die Londoner Mauer? Ich hatte von der Berliner Mauer gehört, aber noch nie von einer Londoner Mauer. Gab es zwischen Ost- und Westlondon auch eine kommunistische Mauer? Neugierig stieg ich aus dem Bus und fand mich an einem Ort wieder, der London Wall hieß, obwohl ich unter einer düsteren Brücke stand. Überall Ampeln. Der Brexit-Bus war mittlerweile verschwunden. Jetzt musste ich zu Fuß weiter, nur in welche Richtung?

FAMILIENGESCHICHTE

»Wie sieht Ihre Familiengeschichte aus?«

»Warum wollen Sie das wissen?«

Anfangs fühlte ich mich sehr allein.

Eigentlich nicht weiter verwunderlich, schließlich war ich gerade erst in Europa angekommen. Aber vielleicht hatte ich mich schon immer allein gefühlt. Sogar in China. Sogar in meinem Elternhaus. Ja, genauso war es. Lag es daran, dass ich ein Einzelkind war? Oder an den Anforderungen meines Studiums, die jede andere Form von Leben unmöglich machten? Egal, hier in London war es jedenfalls anders, hier war ich nicht allein, sondern einsam. Die Abende wollten nicht enden. Für Menschen, die nicht ins Pub gehen, sind englische Nächte lang. Und erst recht für Fremde, vor allem für Fremde ohne Freunde oder Familie. Was sollten wir abends in unseren gemieteten Zimmern anfangen, wenn wir weder tranken noch uns für Sport interessierten?

In der Nähe der Londoner De Beauvoir Town gab es eine Stelle am Kanal, zu der ich oft hinspazierte, einen kleinen grünen Fleck neben einem Schleusenwärterhäuschen. Ich wusste nicht, wie viele Schleusenwärterhäuschen es am Regent’s Canal gab, denn es war mir nie gelungen, den ganzen Kanal abzuwandern. Es gab dort Gegenden, die mir unheimlich waren. Die dunklen Ecken machten mir Angst, doch der Abschnitt am Schleusenwärterhäuschen kam mir irgendwie vertraut vor, er erinnerte mich an zu Hause. Und so ließ ich mich eines Abends mit einer Tasche voller Bücher aus der Bibliothek und einer Packung Kekse dort nieder.

Das Schleusenwärterhaus war winzig, es sah aus wie ein Zwergenhaus. Es war weder von einem Schleusenwärter noch von sonst jemandem bewohnt und immer abgesperrt. An einer Hauswand standen ein paar vertrocknete Sonnenblumen. Ich setzte mich auf einen Baumstumpf und blickte ins rostbraune Wasser. Irgendwo in der Nähe musste Kapuzinerkresse wachsen, ich sah sie nicht, doch ich konnte sie riechen. In meiner Heimatstadt essen wir nicht nur die pfeffrigen Blätter der Kapuzinerkresse, sondern auch die säuerlich schmeckenden Blüten. Meine Mutter hat sie immer gesammelt.

Vom höher gelegenen Teil des Kanals rauschte ein kleiner Wasserfall herab. Es war ein lautes, aber friedvolles Geräusch. Nicht weit von mir entfernt leuchtete ein Licht in einem Boot. Ein warmes Glühen im grauen Grün. Dies war ein melancholischer Ort, doch besonders schön fand ich ihn nicht. Meine Vorstellung von schönen Orten war von der klassischen chinesischen Landschaftsmalerei geprägt, von Bambus und Lotusblüten vor einem Tempel oder wilden Gebirgskulissen, und nicht von Industrielandschaften wie dieser hier. Trotzdem wirkten das Schleusenwärterhäuschen und das friedlich dahinströmende Wasser beruhigend auf mich, und ich fühlte mich in dieser Stadt nicht mehr ganz so fremd.

Während ich dasaß und aufs Wasser starrte, begann es in meinem Kopf zu arbeiten. Sollte ich aufgeben und das nächste Flugzeug nach Hause nehmen? Meine Eltern waren vor Kurzem gestorben, sie konnten sich nicht mehr dazu äußern. Meine Tante würde vielleicht überrascht sein, wenn ich plötzlich wieder vor ihrer Tür stand, aber meine Zukunft ging sie nichts an. Du fühlst dich einsam? Na und? Dir ist es zu kalt? Hast du keine anderen Sorgen? Das würden sie in China zu mir sagen. Für Chinesen sind das Luxusprobleme, dort sterben die Menschen entweder an Krebs oder sind von ihren Familiengeschichten traumatisiert. Die Kinder erben diese Bürde und schleppen sie ein Leben lang mit sich herum.

Ich musste an meinen ersten Arzttermin vor einer Woche denken.

»Wie sieht Ihre Familiengeschichte aus?«, wollte die Ärztin wissen, nachdem ich mich an der Rezeption registriert hatte.

Warum wollte sie das wissen? Wenn wir in China über unsere Familiengeschichte sprechen, geht es darum, welchen Status deine Familie hat. Ob du in eine Bauern- oder in eine Stadtfamilie geboren wurdest. Ob die Familienmitglieder in der Kommunistischen Partei waren oder nicht. Solche Dinge. In den Ämtern wird über jeden einzelnen Menschen Buch geführt. Ein Leben lang. Doch dass ich diese Altlasten mit nach England schleppen würde, hätte ich nicht erwartet.

»Warum wollen Sie das wissen?« Ich versuchte nicht, meine Irritation zu verbergen.

Die Ärztin reagierte verblüfft und warf mir einen bösen Blick zu.

»Bei Ihrer Familiengeschichte geht es darum, welche Krankheiten Ihre Mutter oder Ihr Vater hatten: Krebs, Herzkrankheiten, Rheuma …«

In dem Moment verstand ich die Frage und nickte einfach nur.

Jetzt war die Ärztin irritiert. »Also … welche Krankheiten nun?«

»Alle.« Ich nickte noch einmal. »Alle, die Sie gerade genannt haben.«

»Alle?«, fragte sie. Es klang, als hielte sie mich für geistig minderbemittelt.

»Ja, alle!« Ich wiederholte es lauter: »Krebs, krankes Herz und Rheuma!«

EINE ERWÜNSCHTE IMMIGRANTIN

»Du bist jetzt eine sogenannte erwünschte Immigrantin.«

»He? Eine erwünschte Immigrantin? Seit wann bin ich eine Immigrantin?«

Unsere zweite Begegnung fand wenige Tage nach dem seltsamen Ereignis Referendum statt. Irgendetwas ging in diesem Land vor, doch ich verstand nicht ganz, was. Am Tag nach dem Referendum war ich durch mein Viertel spaziert und hatte in lauter eigenartige Gesichter geblickt. Die einen sahen müde und deprimiert aus, andere wirkten grimmig und entschlossen. Das alles steigerte meine Unsicherheit und Verwirrung nur weiter.

Eine Engländerin, die in der Universitätsbibliothek arbeitete, hatte mich eingeladen, sie am Wochenende zu einer Veranstaltung zu begleiten. Das Pub läge ganz in der Nähe meiner Wohnung. Ich versprach zu kommen.

»Wie lautet die genaue Adresse in Hackney Down?«, fragte ich.

»Hackney Downs«, korrigierte sie mich.

Damals wusste ich nicht, dass Downs ein richtiges englisches Wort war, nämlich eine geografische Bezeichnung.

»Wir treffen uns um fünf im Pub People’s Tavern.«

Als ich mich am vereinbarten Tag zum Pub aufmachte, fiel mir am Park ein Schild mit der Aufschrift Hackney Downs auf. Ich dachte über das Wort nach. Downs und nicht Down. Plural. Im Pub sah ich plötzlich dich. So eine Überraschung. Deine strohblonden Locken waren ein wenig kürzer als bei unserer ersten Begegnung, doch deine Augen leuchteten immer noch so blaugrün, wie ich sie in Erinnerung hatte.

Auch du erkanntest mich. Ich bildete mir ein, dass du den Hauch eines Lächelns in meine Richtung schicktest.

Es handelte sich um das Treffen eines Literaturkreises. In meiner Vorstellung waren Literaturkreise etwas für einsame Menschen oder ältere Damen. Einsam war ich schon, aber alt war hier niemand. Du warst der einzige Mann in der Gruppe. Die meisten Frauen waren junge Mütter. Ich fühlte mich fehl am Platz, denn ich hielt nichts vom Kinderkriegen und auch nichts vom Verheiratetsein.

Eine Frau war hochschwanger. »Die nächsten Jahre werde ich wahrscheinlich nicht mehr dazu kommen, ein Buch zu lesen«, bemerkte sie und schlang die Arme um ihren dicken Bauch.

Alle hatten eine Ausgabe von Doris Lessings Das goldene Notizbuch dabei, aber niemand schien besonders viel Lust zu haben, über das Buch zu reden. Stattdessen diskutierten sie über den Brexit. Mittlerweile wusste ich, was das Wort bedeutete, oder hatte zumindest eine Vorstellung von der politischen Bewegung dahinter. Unverständlich war mir aber immer noch, warum das Wort so viele Emotionen hervorrief.

»Meine Tochter wird in einer Brexit-Welt aufwachsen«, rief eine rothaarige Frau, »als europäisches Kind in einer nichteuropäischen Welt. Könnt ihr euch das vorstellen?« Sie wirkte deprimiert.

»Wenigstens hast du einen italienischen Pass und eine Wohnung in Rom«, erwiderte eine andere Frau. »Das können sie dir nicht nehmen. Du bist jetzt eine sogenannte erwünschte Immigrantin!«

»He? Eine erwünschte Immigrantin? Seit wann bin ich denn eine Immigrantin?«

»Wir hier sind doch alle Ausländerinnen. Keine von uns wurde in England geboren!«, meldete sich die Schwangere wieder zu Wort.

Eine erwünschte Immigrantin. Im Stillen wiederholte ich die Worte. Ob ich eines Tages auch zu den erwünschten Immigrantinnen gehören würde, wenn ich in England blieb?

Du sagtest nicht viel. Das Gespräch wurde immer wieder laut und wütend. Es war interessant, diese Gruppe zu beobachten, aber schwer, ihrer Unterhaltung genauer zu folgen. Als Nächstes redeten sie über Wohnungen und den Immobilienmarkt. Das goldene Notizbuch blieb auf dem Boden liegen. Immobilien hatten die Literatur verdrängt. Bis auf uns beide hatten alle viel über den Immobilienmarkt zu sagen. Entwickelte sich eine Verbindung zwischen uns, weil uns beide nichts mit diesen Frauen verband?

ENGLÄNDERIN

»Woher kommst du denn? Ich kann nicht beurteilen, ob du einen Akzent hast.«

»Ich bin in Australien aufgewachsen, aber meine Mutter ist gebürtige Engländerin.«

Und dann habe ich dich angerufen. Weil du mich nicht anriefst. Nicht ein einziges Mal.

»Ich bin dieses Wochenende leider in Hannover«, erklärtest du am Telefon. »Aber nächste Woche können wir uns meinetwegen treffen.«

Hang Over? Ich war verwirrt. Sagten sie das in England nicht, wenn einer zu viel getrunken hatte? Oder war Hang Over ein Ort? Vielleicht ein Hotel oder eine berühmte Bar?

Doch ich wollte mir keine Blöße geben und meine Unwissenheit verraten. Stattdessen fragte ich: »Und wann bist du aus dem Hang Over zurück?«

»Ach, weißt du, so viel trinke ich nicht. Aber am Dienstag bin ich wieder da.«

Obwohl es sich ein bisschen so anhörte, als würdest du lachen, klang deine Stimme insgesamt ruhig und nüchtern. Ich stellte mir vor, wie du an einem anderen Ort in der Stadt ins Telefon sprachst. Nur wie dieser Ort aussah, konnte ich mir nicht vorstellen.

»Dann können wir uns am Mittwoch treffen. In der Old Street gibt es ein chinesisches Restaurant. Sollen wir dort zu Mittag essen?«

»Mittwoch ist ziemlich viel los bei mir, aber ich kann’s versuchen«, sagtest du. »Ich hoffe, sie würzen dort nicht so stark.«

Ich stutzte. Warst du etwa einer dieser überempfindlichen Nordeuropäer, die nichts Scharfes vertrugen? Oder gar ein Veganer, der nur geschmackloses Zeug zu sich nahm? Und natürlich auch kein Salz im Essen, wegen des hohen Blutdrucks. Ich würde es herausfinden.

Wie verabredeten eine Zeit. Du machtest eine ganz exakte Angabe – 12:45 Uhr – und sagtest, dass du um 13:50 Uhr oder spätestens um kurz vor 14 Uhr wieder losmüsstest. Für mich klang das schrecklich. Viel zu genau. Das war wie ein Termin beim Zahnarzt. Ihr Menschen im Westen seid wirklich nicht zu Spontaneität im Alltag fähig, und dabei lebt ihr in sogenannten freien Ländern.

Endlich war Mittwoch. Du kamst in einer abgetragenen Lederjacke ins Restaurant und warst eindeutig unrasiert. Wir setzten uns. Die Speisekarte schien dir nicht zu gefallen: pikant gewürzter Kuhmagen, eingelegte Entenzunge, Ameisen auf Nudelbäumen und Ähnliches mehr.

»Meine Großmutter hat früher immer einen Eintopf aus Schweinedärmen und Leber gemacht.« Mit der Andeutung eines Lächelns betrachtetest du das Bild eines gebratenen Magens. »Als Kind konnte ich nicht genug davon bekommen. Es gab richtig was zu kauen, ich fand es lecker und habe es einfach nur für Fleisch gehalten. Doch eines Tages, ich muss neun oder zehn gewesen sein, erfuhr ich, um was es sich bei diesen langen Schläuchen handelte. Ich habe den Eintopf nie wieder angerührt.«

»Ich weiß, ihr Westler findet uns Chinesen barbarisch. Wir töten alles, nur um es zu essen. Oder wir werfen alles lebend in unsere Woks.«

Du schwiegst. Vielleicht aus Höflichkeit?

»Dann bist du Vegetarier?«

Du nicktest. »Mehr oder weniger.«

Ich begann mir Sorgen zu machen. Möglicherweise gab es in diesem Restaurant für dich nichts zu essen. Nackter Reis mit Sojasauce? Ob du auch ein Glutenfreier warst?

Eine chinesische Kellnerin kam an unseren Tisch. Sie hatte das Gesicht eines Terrakotta-Kriegers. Ich bestellte auf Mandarin Gemüse, sie antwortete auf Kantonesisch, und du steuertest englische Kommentare bei.

»Bist du Engländer?«, fragte ich, als die Kellnerin weg war. Ich wollte mir das unbedingt bestätigen lassen, damit ich wusste, mit wem ich es zu tun hatte.

»Um Himmels willen – ich bin doch kein Pom.« Du lachtest. »So nennen wir bei uns in Australien die Engländer.«

Ich war verwirrt. Meine monokulturelle chinesische Bildung machte sich wieder einmal bemerkbar. »Was heißt das?«

»Also, eigentlich bin ich ein Angelsachse, ein Wasp.«

»Wasp? Wieso eine Wespe?« Jetzt musste ich lachen. »Ein gelb-schwarz gestreiftes Insekt, das herumfliegt und Leute sticht?«

»Ich steche niemanden, aber ich trage gestreifte Hemden.« Beinahe hättest du dich an deinem grünen Tee verschluckt. »Ein Wasp ist ein weißer angelsächsischer Protestant. Von denen hast du vielleicht schon mal gehört.«

»Ah ja, ein weißer angelsächsischer Protestant.« Bis auf weiß hatte ich kein Wort verstanden. »Ach, weißt du, jeden Tag höre ich neue englische Wörter. Ich höre sie, aber sie dringen nicht zu mir durch. Es ist, als wäre ich halb taub.«

Du zogst die Augenbrauen hoch. »Ich weiß, was du meinst. Ich bin auch kein Brite.«

»Woher kommst du denn? Ich kann nicht beurteilen, ob du einen Akzent hast.«

»Ich bin in Australien aufgewachsen, an der Ostküste. Als ich achtzehn war, sind wir nach Deutschland gezogen. Die Kurzfassung: Eines Morgens wachte mein Vater auf und verkündete, er wolle zurück nach Deutschland.« Du sprachst mit einem komischen Akzent weiter. »Ich kann Englisch mit deutschem Akzent sprechen, wenn ich will.« Und dann sagtest du etwas auf Deutsch: »Aber meine Mutter ist gebürtige Engländerin. So viel zu meiner Person. Ende der Kurzfassung.«

Das Wort Mutter konnte ich mit dem englischen mother in Verbindung bringen, den Rest verstand ich nicht. Doch ich begriff, dass alle drei Länder – Australien, Deutschland und England – etwas mit deiner Herkunft zu tun hatten. Das gab dir etwas attraktiv Mysteriöses.

Und dann noch dieser seltsame Ort, von dem du gerade kamst. Hang Over. Erst ein Jahr später erfuhr ich, welche Stadt das war. In China nennen wir sie Hannuowei, es ist die reiche deutsche Stadt, aus der die Scorpions kommen, eine Band, die ich als Studentin immer hörte.

MORGENTAU

Wie schnell er trocknet, der Tau auf dem Knoblauchblatt.

Der Tau, so schnell getrocknet,

Wird morgen wiederkommen,

Doch der Mensch, den wir zu Grabe tragen,

Kehrt nie mehr zurück.

In Nähe des Bahnhofs Haggerston gab es am Kanal zwei größere Wohnkomplexe: die De Beauvoir Town und das Orwell Estate. Die riesigen, durch lange bedachte Übergänge und schmale Grünstreifen miteinander verbundenen Wohnblöcke waren im selben Architekturstil gebaut. Ich saß am Wasser, die De Beauvoir Town im Rücken, in der es ungewohnt still war. Obwohl zig Familien in den Sozialwohnungen lebten, war die Atmosphäre in den frühen Morgenstunden fast schon beschaulich. Auch der Kanal lag ruhig vor mir. Kein Wind. Keine Stimmen. Vielleicht, weil Sonntag war. Am Tag zuvor hatte es geregnet, doch an diesem Tag strahlte London blau. Auf den Sonnenblumen am Schleusenwärterhäuschen glitzerte der Morgentau. Das Kanalwasser war gelbgrün, aber sauber und klar. Ich grübelte über meine Einsamkeit hier in England nach. Und ich dachte an China und meine Eltern. Mir fiel eine seltsame Unterhaltung mit meiner Mutter ein. Sie hatte am Grab meines Vaters stattgefunden. Bei dem Gedanken an die letzten Lebenswochen meines Vaters schnürte es mir die Kehle zu.

Mutter und ich waren zum Friedhof gegangen, obwohl nicht die Zeit des Gräberfegens war. Außerdem hatten wir meinen Vater erst vor wenigen Monaten beerdigt. Ich hatte gerade die Zusage für mein Stipendium in England bekommen, bis zur Abreise blieb mir nur noch wenig Zeit. Meine Zukunft sah ich im Westen, ich wollte für immer weg. Und so standen wir auf dem riesigen Friedhof, der sich unterhalb eines Hügels mit einem Steinbruch befand. Obwohl der Friedhof neu angelegt worden war und sich über eine weite Fläche erstreckte, war er schon recht voll. Das Eisentor öffnete sich weit genug, um vier Autos nebeneinander durchzulassen. Wir lebten in einer besonders bevölkerungsreichen Stadt, unsere Region war dichter besiedelt als andere Teile Chinas. Die Stadtverwaltung musste nicht nur riesige Massen Lebender organisieren, sondern auch Massen von Toten.

Mutter hatte schon einige Monate vor dem Tod meines Vaters einen Platz auf dem Friedhof für ihn gekauft. Erst bei der Beerdigung (es war kein richtiges Begräbnis mit Sarg – diese Tradition hatte die Stadtverwaltung schon vor Jahren abgeschafft –, sondern eine Urnenbestattung) sah ich, wie klein das Grab war. Es maß gerade einmal einen Quadratmeter. »Gräber sind wirklich teuer, und ich musste so schnell wie möglich eine Anzahlung leisten«, hatte Mutter mir im Flur des Krankenhauses erklärt, noch bevor die Ärzte uns sagten, dass es keine Heilung für den Krebs meines Vaters gab. Natürlich wusste mein Vater nichts davon. Keiner von uns wollte ihm sagen, dass draußen vor der Stadt ein teures Grab auf ihn wartete.

Bei diesem zweiten Besuch am Grab meines Vaters entdeckte ich einen neuen Grabstein, der direkt neben Vaters Stein errichtet worden war. Sie standen Seite an Seite, auch die Gravur auf dem neuen Stein war im selben Stil gehalten. Auf dem Grabstein meines Vaters standen sein Name, sein Geburts- und sein Sterbedatum. So war es üblich. Doch auf dem neuen Stein standen der Name meiner Mutter und ihr Geburtsdatum, gefolgt von einer freien Stelle, die noch ausgefüllt werden musste. Verblüfft stand ich da, dann drehte ich mich zu ihr um.

»Warum steht dein Grabstein hier?«, fragte ich.

»Kannst du nicht denken?«, erwiderte sie verächtlich. Ungeduldig wie immer kickte sie einen kleinen, moosüberwucherten Stein unter ihrem Fuß weg. »Du hast keine Ahnung, wie die Preise für Gräber explodiert sind! Vom Geld für den Steinmetz ganz zu schweigen. Für das da hat er mir fünfhundert Yuan abgeknüpft! Ein Halsabschneider! Er weiß, dass es ein einmaliges Geschäft ist.«

Sie zeigte auf die Stelle auf dem Grabstein, wo ihr Sterbedatum fehlte.

»Du wirst dafür sorgen, dass das noch draufkommt, ja?«

Sie räusperte sich und würgte einen Schleimpfropf hoch, den sie zwischen ihre Schuhe ins Gras spuckte. Dann sprach sie mit klarer Stimme weiter: »Lass das nicht von diesen Halsabschneidern machen! Die kriegen keinen Yuan mehr.«

Ich war sprachlos. Mutter war schon immer eine sehr direkte, grobe Bauersfrau gewesen, ich war ihre Art gewohnt. Aber dass ich eines Tages mit eigenen Händen ihr Sterbedatum auf einem Grabstein anbringen sollte, überstieg meine Vorstellungskraft. Wie hatte sie sich das gedacht? Sollte ich das Datum mit einem Meißel oder einem Schraubenzieher eingravieren? Es kam mir völlig irreal vor.

Gegen Ende des Friedhofsbesuchs versiegte unser Gespräch. Mutter schien in Gedanken versunken zu sein. Ob sie ihren Tod vorhersah? In jenen stillen Minuten konnte ich weder ahnen noch mir vorstellen, dass sie nur wenige Monate später sterben würde. Ich wusste, dass sie ein schwaches Herz hatte, aber sie war noch nicht alt. Niemals hätte ich damit gerechnet, dass es so bald passieren würde. Es kam aus heiterem Himmel. Man hatte sie auf unserem Stadtmarkt ohnmächtig auf dem Boden liegend vorgefunden und sofort ins Krankenhaus eingeliefert. Sie starb an Herzversagen, noch bevor ich es ins Krankenhaus schaffte. Innerhalb von Monaten war ich zur Waise geworden – ein erwachsenes Waisenkind. Dies alles hatte sich kurz vor meiner Abreise aus China ereignet. Waren die beiden Todesfälle ein Zeichen dafür, dass mir vorbestimmt war, mein Leben allein zu verbringen? Ob in meiner Heimat oder in der Ferne?

Bevor ich nach England flog, ging ich noch einmal auf den Friedhof. Diesmal stand meine Tante neben mir und blickte auf die beiden Grabsteine. Das Todesdatum meiner Mutter fehlte. Um den Grabstein meines Vaters war frisches Gras gewachsen und ein paar Gänseblümchen. Auf den Halmen lag noch Tau, der im Morgenlicht glitzerte. Bald würde er in der Mittagssonne verdunsten, genau wie es in dem alten Beerdigungslied hieß:

Wie schnell er trocknet, der Tau auf dem Knoblauchblatt.

Der Tau, so schnell getrocknet,

Wird morgen wiederkommen,

Doch der Mensch, den wir zu Grabe tragen,

Kehrt nie mehr zurück.

»EVERYBODY WANTS TO RULE THE WORLD«

»Wie in dem Tears-for-Fears-Song: ›Everybody Wants to Rule the World‹.«

»Wer sind die Tears? Wieso Tränen?«

Auch nach mehreren Monaten in England konnte ich nicht sagen, ob ich die Briten mochte oder nicht. Eigentlich waren sie mir immer noch fremd. Ich verstand einfach nicht, wie sie tickten. Manche Engländer, wie zum Beispiel mein Professor Grant Stanley, verunsicherten mich auch. Grant war so klug, dass ich befürchtete, er würde merken, wie dumm ich in Wirklichkeit war. Wenn wir miteinander redeten, gab er mir immer das Gefühl, in seinem Universum ein Mensch zweiter Klasse zu sein. Aber vielleicht rührte meine Unsicherheit auch daher, dass ich glaubte, mein Leben im Westen hinge von ihm ab – oder zumindest meine Dissertation. Mir war aufgefallen, dass auf seinem Schreibtisch immer Schokolade lag, deshalb hatte ich einmal vor der Sprechstunde eine große Tafel Schokolade für ihn gekauft. Doch als ich sein Büro betrat, war die Schokolade in meiner Tasche schon halb geschmolzen, und ich gab sie ihm nicht. Bei uns in China sagen wir »den Pferdearsch streicheln«, was bedeutet, dass man in jeder geschäftlichen Beziehung eine kleine Bestechung anbieten sollte. Als habe Grant von der geschmolzenen Schokolade gewusst, war unser Verhältnis seit diesem Vorfall abgekühlt.

Grant hatte einige Zweifel an meinem Projekt. Projekt war ein englisches Wort, dessen Bedeutung sich mir nicht richtig erschloss. Es war mir viel zu vage und abstrakt. Aber egal. Mein Projekt