Ich bin China - Xiaolu Guo - E-Book

Ich bin China E-Book

Xiaolu Guo

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Beschreibung

Über die Rolle des Künstlers in einer von ideologischen Kämpfen zerrissenen Welt

In einem Land, in dem die Freiheit ein rares Gut ist, sind die beiden Liebenden Mu und Jian Teil einer subversiven jungen Künstlerszene. Mit Musik und Literatur wollen sie gegen die politische Unterdrückung kämpfen und für das Recht ihrer Generation, frei zu leben. Bis sie die zerstörerische Kraft der chinesischen Staatsmacht zu spüren bekommen und plötzlich nicht nur ihr gemeinsames Leben auf dem Spiel steht.

In einem beeindruckenden Roman voller Kraft, Wut und Hingabe schlägt die gefeierte chinesische Autorin Xiaolu Guo den Bogen vom China der Neuzeit bis nach Europa und erzählt eine Geschichte, die uns alle berührt.

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Seitenzahl: 479

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Xiaolu Guo

Ich bin China

Roman

Aus dem Englischen von Anne Rademacher

Knaus

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen. Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel »I am China« bei Chatto & Windus.

1. Auflage

Copyright © der Originalausgabe 2014 by Xiaolu Guo

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2015

beim Albrecht Knaus Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Das Motto aus dem Gedicht »Als ich eines Abends ausging«

von W. H. Auden entstammt der Übersetzung von Ernst Jandl.

Die Adaption des Gedichts »Amerika« von Allen Ginsberg basiert auf der Übersetzung von Carl Weissner.

Das Zitat aus dem Daodejing, Laozi, entstammt

der Übersetzung von Richard Wilhelm.

Der Verlag hat sich bemüht, Genehmigungen Dritter für im Buch verwendete Abbildungen einzuholen. Sollten Sie sich in Ihrem Recht betroffen fühlen, bitten wir Sie, den Verlag zu kontaktieren.

Umschlaggestaltung: Sabine Kwauka

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-15029-7V003www.knaus-verlag.de

Ich liebe dich, Liebe, ich lieb dich,Bis der Fluss den Berg überspringt,Bis sich China und Afrika treffenUnd der Fisch auf der Straße singt.

»Als ich eines Abends ausging«, W. H. Auden

PROLOG

29. Dezember 2011

Liebste Mu,

die alte Himmelshure Sonne brennt mir das Hirn weg. Ich fühle mich nackt und leer und habe nichts mehr im Herzen, außer Deinem Bild.

Über den Ort, von dem ich Dir schreibe, darf ich nichts verraten, erst wenn ich in Sicherheit bin, kann ich vielleicht mehr sagen. Ich weiß nicht, wie es weitergeht und was die Zukunft bringt, nur eins ist sicher: Für Dich will ich überleben, für Dich will ich frei bleiben. Doch was immer auch geschehen mag: Ich kann nicht von meinen Überzeugungen lassen. Sie haben mein Leben geprägt und mich schließlich an diesen Ort gebracht. Auch für sie muss ich leben. Eines Tages werden wir uns wiedersehen, meine Geliebte, doch wann dieser Tag ist, weiß ich nicht.

Wenn ich mich hier umsehe, wird mir klar, dass alles genau so kommen musste. Vielleicht war ich schon immer auf dem Weg hierhin, nur wusste ich es nicht, oder ich habe es nicht wahrhaben wollen. Dabei hat meine Reise schon im Juni 1989 begonnen. Ja, ich weiß, nicht schon wieder das alte Thema, aber heute, an diesem Abend unter dem fremden südlichen Himmel, flackern die Bilder jener Nacht wieder in mir auf. Du lebtest damals noch in Deiner Heimatstadt im Süden, wir kannten uns noch nicht. Doch ich war dort, ich war dabei, und ich sage es an dieser Stelle noch einmal: Ich wünschte, sie hätten mich an jenem Tag erschossen. Ich hätte dort sterben sollen. Niedergemetzelt und von den Panzern platt gewalzt.

Der Abend nach dem Massaker – ich erinnere mich noch genau an ihn. Ich ging allein zum Tiananmen-Platz. Es war Mitternacht. Die Truppen der Volksbefreiungsarmee hatten das Blut bereits vom Straßenpflaster gewaschen. Die Zelte der Hungerstreikenden waren verschwunden, und der Platz lag verwaist, aber von Müll übersät da: zerrissene Studentenhalstücher, blutbeschmierte Hemden und Blut in den Spalten zwischen den Steinen. Ich stand einfach nur da. Unser ruhmreichster Platz. Seit Jahrhunderten war hier gefeiert, gekämpft und marschiert worden. Hunderttausende Fahrräder sind über das Pflaster des Platzes gerollt, Hunderttausende Menschen über ihn spaziert. Doch jetzt ist das Volk besiegt. Ach, wäre doch auch mein Blut im Boden zwischen den Steinen versickert. Das wäre ein würdiger Tod gewesen. Und eine würdige Jugend.

Liebste Mu, Du weißt, was ich sagen will. Ich kann nichts anderes mehr denken, es wiederholt sich als Endlosschleife in meinem Kopf. Auch die achtzehn Jahre, die wir nun schon zusammen sind, konnten mir meine innere Zerrissenheit nicht nehmen. Achtzehn Jahre – so lange liebe ich Dich schon. Du bist alles, was ich in dieser Welt an Familie habe. Aber Du sagst, dass Du mit Politik nichts anfangen kannst, es noch nie konntest. Du bist 1989 nicht mit dabei gewesen, sonst würdest Du alles verstehen.

Ich erinnere mich noch an den Mai vor dem Massaker. Der Vorsitzende Hu Yaobang war gerade gestorben, und ich hatte die erste chinesische Übersetzung von »Howl – Das Geheul« entdeckt. Es war die Taschenbuchausgabe, in der wir gemeinsam gelesen haben. Die Studenten an Pekings Universitäten machten sich Sorgen um die Zukunft. Hu war Chinas letzter guter Führer gewesen. Wir saßen in den Cafés und diskutierten – das Studium schien plötzlich keine Rolle mehr zu spielen. Wir fragten uns, ob es noch Hoffnung gäbe. Dann kamen die ersten freien Wahlen im sozialistischen Polen. Im Westen redeten plötzlich alle über das Thema Demokratie versus Kommunismus. Aber China interessierte das nicht. Wir wussten: Hier würde sich niemals etwas ändern. Ich war erst siebzehn, aber ich fühlte mich wie ein alter Mann – traurig und desillusioniert. Was war aus meinen Überzeugungen geworden? Was aus meinem Mut und der Hoffnung, politisch etwas bewirken zu können? Ach, scheiß auf die Politik, dachte ich mit einem Mal, bei dem ganzen Mist war nur ein Gutes herausgekommen: die Band. Meine erste Band, die Dir so gut gefallen sollte. Du weißt, was sie damals für mich bedeutet hat. Ich wollte das neue Jahrzehnt mit neuer Musik begrüßen, mit der ersten echten chinesischen Rock ’n’ Roll-Band. Lieber mit der Gitarre Trommelfelle zertrümmern, dachte ich, als auf den Barrikaden zu kämpfen.

Und so hatte ich nur noch Rock ’n’ Roll im Kopf, als in jenem Juni die Studentenproteste auf dem Platz begannen. Er war meine große Leidenschaft. Meine Kommilitonen demonstrierten und traten in den Hungerstreik, doch ich war längst der Ansicht, dass die musikalische Revolution den Protestaktionen überlegen sei. Am 3. Juni habe ich zwei Stunden lang auf dem Platz Transparente und Banner geschwenkt, doch dann war ich es leid. Ja, Mu, ich gebe es zu, ich hatte keine Lust mehr. Ich bin allein zum Campus zurückgegangen, doch ich hätte bleiben sollen. Es wäre mein großer Tag geworden. Jetzt ist es, als wäre ich beim wichtigsten Ereignis meines Lebens nicht dabei gewesen.

Am Abend jenes schicksalhaften Tages hing ich allein im Studentenwohnheim herum, hörte die Sex Pistols und dachte über Musik nach, über meine Musik. Das Gebäude war menschenleer. Der Wind schien verrückt zu spielen und heulte laut durch die Korridore. Ein Schauder lief mir über den Rücken. Ich setzte mich aufs Bett und klimperte auf meiner alten Gitarre herum. Sie brauchte neue Saiten und war völlig verstimmt, außerdem fehlten zwei Röhren am Verstärker, doch während der Wind mir in den Nacken kroch, schrieb ich die ersten beiden Zeilen von »Langer Marsch in die Nacht«: »Hey, kleine Schwester, komm mit raus auf die Straße, der lange Marsch wartet …«

Ich muss jetzt gehen, meine Liebste. Das Flugzeug, das mich wegbringen soll, wartet. Ich glaube fest daran, dass wir uns bald wieder in den Armen halten werden.

In Liebe,

Jian

EINS – IONA

谁谓河广,一叶杭之。

谁谓宋远,趾予望之。

Shui wei he guang, yi ye hang zhi.Shui wei song yuan, zhi yu wang zhi.

Wer sagt, der Fluss sei breit?Mit einem Blatt kann ich ihn überqueren.Wer sagt, das Reich Song sei weit?Schon auf Zehenspitzen kann ich es sehen.

Buch der Lieder (1000–700 v. Chr.)

1 – London, April 2013

London ist ein Dröhnen, eine langsame Explosion, die alles auseinanderreißt – Lebendes und Totes. Nie ein Moment Ruhe, überall Rauschen oder dessen Widerhall. Selbst Farben und Gerüche scheinen zu schreien, es ist abstoßend und anziehend zugleich. Der Lärm tönt noch in den so friedlich wirkenden Ecken hinter den verschnörkelten Gitterzäunen von Hackneys grüngrauen Parks. Die Stadt pulsiert von einer alles durchdringenden Energie, die auch die Docklands und Limehouse draußen im Osten mit ihren Kanälen und dem pseudovenezianischen Lido-Lebensgefühl erfasst und immer weiter und weiter bis hinaus nach New Cross, Shepherd’s Bush, Kilburn und Kensal Rise rollt, wo geisterweiße Jugendliche schweinsäugige Hunde vor tristen Fassaden spazieren führen. Alles brummt und summt und ist wie elektrisiert von einem einzigen langen Schrei.

Auch in einer winzigen Zweizimmerwohnung in Islington, dem Viertel, in dem es sich die Londoner Mittelklasse gemütlich gemacht hat, sind die Ausläufer des Dröhnens zu spüren. Hier lebt, zumindest vorübergehend, eine junge Frau mit pechschwarzen Haaren und blauen Augen: Iona Kirkpatrick.

Als ein neuer Londoner Tag beginnt, setzt Iona sich im Bett auf, stellt die nackten Füße auf den Holzboden und zieht einen schwarzen BH an. Dann geht sie ans Fenster, um die abgestandene Nachtluft hinauszulassen. Sie atmet tief durch, und ihr Blick folgt dem Kondensstreifen eines Flugzeugs am Morgenhimmel.

In der dunklen Wohnung hinter ihr zieht sich ein Mann an. Während er in Hemd und Hose schlüpft, betrachtet er Ionas nackten Rücken, ihren knabenhaften Hintern, ihre grazil-kompakten Formen. Er wirkt ein wenig verlegen. Iona lädt ihn nicht zum Frühstück ein, noch nicht einmal auf eine Tasse Kaffee. Seit sie aufgewacht sind, will sie nichts mehr von ihm wissen, obwohl sie sich ihm am Vorabend so bereitwillig hingegeben hat.

»Wollen wir irgendwo einen Kaffee trinken gehen?« Der Satz bleibt in der Luft hängen. Der Mann scheint noch mehr sagen zu wollen, verstummt dann aber.

»Nein.« Iona schüttelt den Kopf, ohne sich zu ihm umzudrehen. »Keine Zeit.«

Er sieht ihr zu, wie sie in ein schwarzes Seidenhöschen steigt, und erinnert sich daran, wie er es ihr am Vorabend abgestreift hat. Sie stand an ihren Schreibtisch gelehnt und hatte beide Arme über den Kopf gehoben wie ein Soldat, der sich ergibt. Wehrlos hatte sie sich von ihm ausziehen lassen, doch jetzt ist sie kalt und abweisend und sieht ihn nicht einmal an, während sie sich das Pyjamaoberteil überstreift.

»Findest du hinaus?«, fragt sie höflich, aber distanziert. »Oder muss ich dich nach unten begleiten?« Sie knöpft das Pyjamaoberteil zu, lässt die Beine aber nackt.

»Ich komme schon klar«, erwidert er. Eine Pause. »Sehen wir uns wieder?«

Jetzt sieht sie ihn an. Ablehnung steht in ihren Augen. Sie zuckt mit den Schultern, ein verhaltenes »Nein«.

Der namenlose Mann küsst sie zum Abschied und geht. Seine Schritte werden leiser, dann fällt die Tür hinter ihm ins Schloss. Vom Fenster aus sieht Iona den Mann in der Menschenmenge verschwinden. Sie blickt zurück ins Zimmer und nimmt irritiert den Geruch von Sex wahr, der immer noch in der Luft hängt, an ihr selbst und in der Bettwäsche. Auf dem Kissen liegen fremde Haare, und die noch warmen Laken verströmen einen fremden Duft. Sie zieht das Bett ab und stopft das Lakenknäuel in die Waschmaschine. In weniger als einer Stunde wird sie den Geruch vergessen haben und bald darauf auch das Gesicht des Mannes.

Im Badezimmer zieht sie das Pyjamaoberteil und die Unterwäsche wieder aus. Sie stellt sich unter die Dusche und lässt das Wasser über ihre Haare laufen. Eine vertraute Erleichterung durchflutet sie. Die Lust und der Schmutz des Vorabends werden von ihrer blassen Haut gewaschen und durch den Abfluss gespült, wo sie sich mit anderen Abwässern mischen und ihre Reise durch Londons Kanalisation antreten, die in der trüben Themse enden wird.

2 – London, April 2013

Iona braucht den Sex, um sich zu spüren. Es genügt schon der kurze Moment, in dem sie beschließt, den Pub mit einem fremden Mann zu verlassen und mit ihm nach Hause zu gehen, um so etwas wie Lebensfreude in ihr zu wecken. Sie liebt es, in der pechschwarzen Nacht in eine völlig neue Welt einzutauchen. Der nächste Tag lebt sich dann leichter.

Ihre andere Welt sind die Wörter. Wenn sie sich in Formen vertieft und Formulierungen im Kopf bewegt, hat sie das Gefühl, in Kontakt mit dem Leben zu sein. Iona ist auf einer kleinen, hauptsächlich von Schafen bevölkerten schottischen Insel aufgewachsen, auf der sie als Teenager vor Langeweile fast verrückt geworden wäre. Doch dann entwickelte sie eine Leidenschaft für fremde Wörter: der ungewohnte Klang, die unbekannten Silben und Schreibweisen – Vokabeln lernen wurde ihr Ein und Alles. Sie stopfte sich voll mit Sprachen und ging an die Universität, um noch mehr davon zu bekommen. Für Iona waren die Fremdsprachen ein Zufluchtsort. In der Schule hatte man sie immer damit aufgezogen, dass sie Schauspielerin werden müsse, weil sie dem Hollywoodstar Winona Ryder so verblüffend ähnlich sah, doch für die schüchterne Iona war das unvorstellbar. Sie hatte sich lieber in die Welt der Wörter zurückgezogen.

Der morgendliche Straßenlärm steigt zum Fenster von Ionas Wohnung hoch. Sie schüttelt die Lethargie und die Erinnerung an die Berührungen des Mannes ab und macht sich einen starken Tee, mit dem sie sich an den Schreibtisch setzt. Neben einem dicken Englisch-Chinesisch-Wörterbuch liegt ein Stapel fotokopierter chinesischer Schriftstücke. Iona blättert durch die Seiten. Bei einigen Texten handelt es sich um Briefe, andere sind Tagebucheinträge in kaum zu entziffernden Schriftzeichen. Wahllos zieht sie eine Seite aus dem Stapel. Die Handschrift ist fast unleserlich, es könnte schwieriger werden, als sie dachte. Mühsam beginnt sie den Text zu entziffern.

Liebste Mu,

die alte Himmelshure Sonne brennt mir das Hirn weg. Ich fühle mich nackt und leer und habe nichts mehr im Herzen, außer Deinem Bild.

Über den Ort, von dem ich Dir schreibe, darf ich nichts verraten, erst wenn ich in Sicherheit bin, kann ich vielleicht mehr sagen.

Ein paar Wochen zuvor war ein Verlag an sie herangetreten, mit dem sie noch nie zusammengearbeitet hatte. Man bot ihr die Übersetzung einer Sammlung chinesischer Briefe und Tagebücher an – den ungeordneten Papierstapel, der jetzt vor ihr liegt. Die Bezahlung war nicht schlecht, außerdem hatten Ionas Übersetzungsaufträge sich bislang fast ausschließlich auf langweilige Geschäfts- oder Gerichtsdokumente beschränkt, deshalb nahm sie den Auftrag ohne weitere Nachfragen an. Sie fühlte sich in die erste Zeit nach ihrem Universitätsabschluss zurückversetzt, als sie einfach in den Tag hinein lebte, ohne Zukunftspläne, aber mit fünftausend chinesischen Schriftzeichen im Kopf, die nach draußen drängten.

Jetzt will sie mit der Übersetzungsarbeit beginnen, doch die Texte verwirren sie. Auf einigen Seiten fehlt das Datum, andere sind nur halb lesbar, weil der Fotokopierer tiefschwarze Flecken hinterlassen hat. Außerdem wurden die Originale eindeutig von einer Person kopiert, die kein Chinesisch konnte, denn die Seiten sind ohne ersichtliches System zusammengelegt worden. Während Iona durch den Stapel blättert, fragt sie sich, wie der Verlag wohl an die Unterlagen gekommen ist. Einige Briefe und Tagebucheinträge scheinen älteren Datums zu sein, andere sind noch recht neu. Die Dokumente umfassen einen Zeitraum von fast zwanzig Jahren und sind übersät mit Schmutzflecken, Abdrücken von fettigen Fingern und Tintenklecksen. An einigen Stellen sind die Schriftzeichen stark verschmiert, als sei das Manuskript nass geworden oder als habe jemand beim Schreiben in die Seiten geweint. Die Lektorin von Applegate Books hatte den schweren Ordner mit der Post geschickt und nur ein kurzes Schreiben beigefügt, in dem sie erklärte, das Material müsse etwas mit einem berühmten chinesischen Musiker zu tun haben. »Wir wollen uns einen Eindruck verschaffen, was wir da vor uns haben«, hatte es weiter geheißen. »Wir vermuten, dass es sich um etwas sehr Interessantes handeln könnte, aber ohne Übersetzung kommen wir nicht weiter.«

Iona kann sich an die Lektorin erinnern. Es war auf einer der wenigen Verlagspartys gewesen, die sie bislang besucht hat. Sie wollte damals nur auf zwei schnelle Gläser vorbeischauen und hatte sich vor allem am Rand des Geschehens aufgehalten, weil sie sich mit ihrem zu langen Rock und ihrer Ernsthaftigkeit fehl am Platz fühlte, doch sie hatte die Lektorin jammern gehört: »Früher haben wir die Biografien bedeutender Persönlichkeiten wie dem Dalai Lama verlegt, aber so etwas will heute kein Mensch mehr lesen. Die Leute interessieren sich nur noch für Randfiguren, insbesondere, wenn sie in irgendwelche Skandalgeschichten verwickelt sind.«

Den ersten Papierbogen des Stapels krönen ein offiziell wirkender Briefkopf – »Gefangenensammelstelle Peking 1540« – und eine Adresse, die Iona nicht kennt. Sie tippt sie in Google Maps ein. Die Nadel landet in einem grauen Nirgendwo aus Schnellstraßen vor den Toren Pekings. Iona versucht sich den trostlosen Ort vorzustellen – graue Fassaden und graue Straßen. Dann kehrt sie zu dem Textstapel zurück und liest weiter.

11. November 2011

Liebe Mu,

ich halte es nicht mehr aus. Die Tage vergehen so wahnsinnig langsam. Durch das Fenster dringt fast kein Licht, und meine einzige Gesellschaft sind die nackten, kalten Gefängnismauern. Womit soll ich mich ablenken, damit ich nicht verrückt werde? Ich denke mir die Wände unserer kleinen Wohnung in dieses dunkle Zellenloch, unser Zuhause mit den schlappen Zimmerpflanzen im heißen Nachmittagslicht. Wir stehen auf dem Balkon, hören Musik von raubkopierten ausländischen CDs und blicken auf den Berg Xiang in der Ferne. Diese Vorstellung beruhigt mich.

Ich weiß, dass Du mich nicht besuchen kannst, aber ich wünschte, Du würdest mir schreiben. Seit ich Dir das Manifest gezeigt habe, schweigst Du. Es ist unerträglich für mich. Wie kannst Du nur sagen, dass Du nicht an das glaubst, was ich geschrieben habe? Wenn Du nicht an mein Manifest glaubst, glaubst Du auch nicht an mich. Findest Du das jetzt übertrieben? Mir kommt es nicht so vor, auch wenn Du vielleicht lachst und mich naiv und viel zu idealistisch nennst. Kunst, Politik und Liebe – für mich gehört das alles zusammen. Du kennst meine Art zu leben seit Jahren, sie sollte nichts Neues mehr für Dich sein. Es ist nun schon über zwanzig Jahre her, dass ich meinen ersten Song geschrieben habe. Zwanzig Jahre, Mu, das ist ein halbes Leben! Die Hälfte unserer Leben: So lange kenne ich Dich schon, und so lange kennst Du mich. Du hast mit mir zusammengelebt. Du hast mich geliebt, und das heißt auch, dass Du mich so akzeptiert hast, wie ich bin. Was ist jetzt anders?

Was für ein Manifest?, fragt sich Iona. Sie liest den Brief noch einmal. Die Stimme auf der Seite vor ihr klingt wütend. Selbst die Handschrift ist wütend: Der Stift wurde scheinbar fest aufs Papier gedrückt, Wörter sind durchgestrichen und dann noch einmal geschrieben worden. Und wer ist diese Mu? Iona blickt aus dem Fenster. Der Himmel ist weiß geworden und scheint den hektischen Menschenmassen unten auf der Straße alle Energie auszusaugen.

Auch wenn Du es nicht hören willst, ich sage es noch einmal. Ich kenne Dich, darum weiß ich, dass Du mich verstehst. Es gibt keine Kunst ohne politische Aussage, alle Kunst ist politische Agitation. Du weißt das genau, Mu, warum verbannst Du mich dann weiterhin aus Deinen Gedanken? Wir hatten doch vorher alles besprochen. Du wusstest, dass ich das Manifest auf meinem Konzert verteilen würde. Ich hatte das Gefühl, nicht mehr frei atmen zu können. Wir haben damit gerechnet, dass etwas wie dies hier passieren könnte. Und sosehr ich Dich auch vermisse, ich denke immer noch, die Sache war es wert.

Stell Dir vor, wie Du in unserem Bett in meinen Armen liegst. Meine Frau, Du weißt, dass ich Dich liebe.

Dein Pekingmann,

Jian

3 – Lincolnshire, Januar 2012

Jian sitzt am Tisch. In der Hand hält er einen kaputten Kugelschreiber. Die Tischplatte ist völlig verkratzt und von den Handschriften all der Menschen übersät, die vor ihm hier saßen. Er öffnet sein Tagebuch, aus dem Seiten herausfallen, und versucht sich an die zurückliegenden Wochen zu erinnern, doch er ist zu erschöpft. Vielleicht leidet er immer noch unter dem Jetlag, oder er ist einfach desorientiert. Er starrt auf die Eiche draußen vor dem Fenster, deren knorrige Äste wie seine Gedanken dem wolkenverhangenen Himmel entgegenstreben. Ein alter Garten unter einem alten Himmel. Alte Haut an einem alten Körper. Alt, England ist alt, murmelt er vor sich hin. Allein zwei kleine Kirschbäume unter der schützenden Krone der riesigen Eiche erinnern ihn an China. In der überhitzten Zimmerluft werden seine Augen müde und sein Kopf schwer. Vielleicht liegt es auch an den Schlaftabletten, die sie ihm geben. Oder den Worten, den vielen Worten, die ihm die Krankenschwestern entgegenschleudern. Trotz allem, was er an der Universität gelernt hat, versteht er sie nicht richtig. Wenn er die Krankenschwestern mit leeren, traurigen Augen ansieht, verziehen sich ihre Gesichter zu gereizten Grimassen.

Er beobachtet die fremden Menschen in seiner Umgebung und denkt über die Einrichtung nach, in der er sich befindet – das Florence Nightingale Haus. Alle Insassen tragen dieselben gestreiften Pyjamas, manche wirken nervös, andere lethargisch, doch allen geht es schlecht. Warum machen sie es nicht wie in China und nennen die Sache beim Namen? »Besserungsanstalt für Verrückte«. Jian versteht die vielen Arten Verwirrtheit, die es an diesem Ort gibt, nicht.

Er blickt wieder auf die Tischplatte, und die Erinnerung an die jüngsten Ereignisse überwältigt ihn. Das Weißgrau seiner Umgebung wirkt betäubend. Wie gedemütigt er sich gefühlt hat, als der Arzt ihn vor ein paar Tagen über seine »Borderline-Störung« aufklärte. Er war sprachlos gewesen. Die Worte wollten nicht kommen, wie gelähmt hatte er dagestanden und konnte nicht gegen die Diagnose protestieren oder erklären, was wirklich mit ihm los war.

Jeden Abend starrt er seine ramponierte Gitarre an, die er den weiten Weg aus China mitgebracht hat, doch seit er in diesem Land ist, hat er die Saiten kaum mehr angerührt. Im Gedränge und Gerangel nach dem Konzert hatte der Korpus einen neuen Riss bekommen. Die groben heißen Hände, die ihn packten und von der Bühne zerrten, die Scheinwerfer, die ihm grell ins Gesicht leuchteten. Seit Wochen hat er die Erinnerung daran nicht mehr zugelassen. Die Gitarre ist wie ein stummer Vorwurf. Wenn er sie ansieht, steigt auch das Gesicht eines chinesischen Mädchens vor ihm auf, das aus der ersten Reihe des Publikums zu ihm hochblickt, ihr offenes Gesicht, so rund und zart, der einzige ruhige Punkt im wild wogenden Wahnsinn der Menge.

Seine Gedanken schweifen weiter zu den seltenen Tagen, an denen er sich von seinen Musikerfreunden absetzte, um allein zu sein und ein Lied zum Gedenken an seine schon lange verstorbene Mutter zu schreiben. Als Kind hatte er an ihrem Grab vor Wut, Verwirrung und Verlorenheit geweint, jetzt scheinen die einsamen Tage Normalität geworden zu sein.

Plötzlich durchdringt ein gellendes Geräusch die Stille. Es gleicht dem verzweifelten Schrei eines Vogels, der in einem Raum eingesperrt ist. Jian wird aus seinem Tagtraum gerissen. Er sitzt immer noch in der Patienten-Bibliothek. Seine Mitinsassen sind in Sudokus und Kreuzworträtsel vertieft. Jian ist wach, doch die Müdigkeit steckt ihm immer noch tief in den Knochen. Er denkt an »Mala«, seine Lieblingsnudelsuppe mit Rind, Schwein und extrascharfem Sichuan-Pfeffer, bis er den Dampf der heißen Suppe beinahe auf seinem Gesicht fühlen kann. China ist immer noch lebendig in ihm. Es ist noch nicht zu lange her, er kann es noch schmecken, riecht den scharfen Geruch in den feuchtkalten Gassen Pekings und spürt, wie ihm die Chilis in der Nase kitzeln, wenn er an den Marktständen vorbeigeht. Er wartet. Sein Körper ist dumpf und schwer.

Spätabends. Jian blickt in den dunklen Himmel und sucht nach vertrauten Sternen. Der Große Wagen ist nur leicht von Wolken verdeckt, eingebettet in das weite schwarze Firmament. Da sieht er einen Kometen auf den dunklen Horizont zuschießen. Noch bevor er ihn richtig wahrgenommen hat, ist er vorbeigeflogen. Als sein Blick dem verbrennenden Staub des Kometenschweifs folgt, fühlt Jian sich selbst wie ein Komet, der am Tag seiner Geburt im Schaltjahr 1972, als China noch fest in den Klauen der Kulturrevolution steckte, durchs dunkle Blau zoomte und in einer halb mongolischen, halb Pekinger Familie aufschlug. Jian ist im Jahr der Ratte geboren, vielleicht ist das der Grund, warum alles so gekommen ist. Die Ratte rannte bereits, als er als plärrender Balg in Pekings Frauenkrankenhaus Nr. 8 aus dem Bauch seiner Mutter schoss und die Nabelschnur um seinen Hals das Geschrei fast erstickt hätte. Von seinen Großeltern weiß er, dass die Familie sich mitten im Mao-Wahnsinn befand, der letzten ideologischen Schlacht des Großen Vorsitzenden gegen das Schreckgespenst des Imperialismus und die bourgeoise Unterwanderung der Volksrevolution. Sicher hatte die Ratte gezischt, als seine Großmutter mit ihm zu dem alten Handleser in Pekings Himmelstor-Park ging. Der weißbärtige Mann hatte die Hand des Kindes genommen und ein paar Sekunden lang hineingeschaut. »Dunkle Wolken ziehen über sein Schicksal, doch seine Energie ist stärker als die Wolken«, verkündete er schließlich. »Wenn er seinen Ungehorsam überwindet, wird er Erfolg im Leben haben.« Während seine Großmutter noch über die rätselhafte Aussage nachsann, hatte sich der kleine Jian von ihr und dem Handleser losgerissen und versucht, in die dampfigen Gassen Pekings zu entfliehen.

Schon mit der Muttermilch sog das Rattenkind Indoktrination und Ideologie ein: Marxismus und Leninismus in der Interpretation Maos. Im Alter von acht Jahren war Jian ein wilder, kräftiger Bursche mit kirschförmigem Gesicht, der mit rotem Halstuch und einem Holzgewehr in der Hand auf einer mit Bannern geschmückten Bühne Parteiparolen brüllte, als wäre er einem Gemälde des sozialistischen Realismus entstiegen. Doch seine Parteitreue hielt nicht lange an: In der Pubertät wechselte er mit seinen Überzeugungen auf die andere Seite.

In der kühlen Nacht unter dem schweren englischen Himmel kommt Jian die Vergangenheit wie verglühende Asche vor, wie ein stummes Schattenspiel in seinen Gedanken. Als eine Krankenschwester vorbeigeht und etwas in der immer noch fremd klingenden Sprache vor sich hin murmelt, weiß er wieder, wo er ist. Es ist spät geworden, halb elf. Langsam geht er in das Schlafzimmer, das er sich mit anderen Patienten teilt. Er schluckt die Schlaftablette, die man ihm in einem kleinen Plastikbecher auf den Nachttisch gestellt hat, nimmt die Gitarre und setzt sich mit ihr aufs Bett. Auf einem der Zargen stehen Schriftzeichen. Obwohl sie schon sehr verkratzt sind, kann Jian sie immer noch lesen:

资本主义清道夫 – Diese Maschine tötet Kapitalisten

Seine Finger tasten übers Griffbrett und finden in die vertrauten Akkorde, die immer noch in seinem kräftigen Rattenherzen tönen. Er schlägt eine Saite an. Das lang gezogene Geräusch hallt durch die Stille der Nacht. Einer seiner Mitpatienten wird wach, dreht den Kopf zu ihm um und sieht Jian so lange schweigend an, bis dieser die Gitarre mit einem Seufzen wegstellt. Er legt den Kopf aufs kalte Kissen, starrt die graue Zimmerdecke an und spürt, wie die Dunkelheit ihn umhüllt. Doch der Schlaf will bis zum Morgengrauen nicht kommen. Ein glühend heißer Gedanke hält ihn wach: Ich muss hier raus, egal wie. Und deshalb fängt er an höchster Stelle an.

4 – Lincolnshire, Februar 2012

Kublai Jian

Psychiatrische Klinik Lincolnshire

2 Brocklehurst Crescent

Grantham NG31

An die Queen

Buckingham Palace

London SW1A 1AA

Liebste Queen,

mein Name lautet Kublai Jian, aber die meisten sagen einfach Jian, was stark und kräftig bedeutet. Ich schreibe Ihnen aus einem Irrenhaus in Lincolnshire. Sicher kennen Sie Ihre englischen Städte so gut wie die eigenen zehn Zehen an den Füßen und wissen auch, dass Lady Thatcher aus Lincolnshire stammt. Vielleicht denken Sie jetzt, dass ich nicht ganz richtig im Kopf bin wie die anderen Insassen dieser Irrenanstalt, aber ich kann Ihnen versichern, dass es in diesem Haus keinen klareren und ruhigeren Menschen als mich gibt.

Ich glaube, dass Sie etwas von Gerechtigkeit verstehen, und ich hoffe, dass eine mächtige Person wie Sie mir helfen kann. In China heißt es: Wenn du mit dem Chef sprechen kannst, wende dich nicht an die Sekretärin, und wenn du mit der Frau vom Chef sprechen kannst, wende dich nicht an den Chef. Und Sie, liebe Queen, sind eine Frau und die Chefin, besser geht es nicht!

Ich habe mein ganzes Leben lang in China gelebt. Oder besser: bis vor ein paar Wochen. Ende Dezember bin ich nach London gekommen und zunächst in einer feuchten kleinen Wohnung in der Nähe der U-Bahn-Station Mile End gelandet. Es war schon ziemlich deprimierend, den ganzen Tag in einem stinkenden Loch zu sitzen, aber das war noch nichts im Vergleich zu dem, was dann kam. Eines Morgens, ich hatte mir gerade zwei fettige Würstchen geholt, an denen ich kaute, fand ich im Briefkasten ein Schreiben vom englischen Innenministerium vor. Sie hatten meinen Asylantrag abgelehnt. Ich schluckte das zweite Würstchen und beschloss, mich zu wehren, doch für einen Einspruch musste ich 2000 Pfund zusammenkratzen und außerdem verschiedene Dokumente vorlegen, die mir fehlten. An dem Tag bin ich durchgedreht. Ich habe jeden angebrüllt, der mit mir reden wollte. In der Nacht hat dann mein Magen rebelliert, und ich spürte stechende Schmerzen in den Organen. Mit solchen Dingen kennen Sie sich wahrscheinlich nicht aus, liebe Queen, doch ich habe seit meiner Kindheit Darmprobleme, genau wie Fidel Castro, der hat sie auch schon ein Leben lang. Alles ist verknotet in mir, es pocht, gärt und bläht. In jener Nacht habe ich geglaubt, ich müsste sterben.

Aber ich bin nicht gestorben. Am nächsten Morgen hat mich jemand ins Krankenhaus gebracht. Nach einer gründlichen Untersuchung sagte mir der Arzt, mit meinen Organen sei alles in Ordnung, aber vielleicht nicht mit meinem Kopf. Ich habe ihn verflucht, seine Mutter, seine Großmutter und seinen Urgroßonkel auch. Daraufhin hat er mich sofort zu einem anderen Arzt geschickt, einem Gehirnspezialisten. Vor Wut und Ungeduld habe ich dem Gehirnspezialisten ins Gesicht geschlagen und ihm die Brille zertrümmert.

Sofort haben mich drei Sicherheitskräfte gepackt und in einen Transporter verfrachtet. Zwei Stunden später fand ich mich in einem hässlichen Provinznest wieder, umgeben von Feldern mit Schafen. Sie brachten mich an diesen sehr einsamen Ort, der wie ein Seniorenheim aussieht, aber ein paar Stunden später erfuhr ich, dass es sich um eine psychiatrische Klinik handelt! Ich musste meine Kleider abgeben und einen gestreiften Anstaltspyjama anziehen, dann sollte ich mich in einem Bett in einem fensterlosen Raum ausruhen. »Ausruhen? Wozu soll ich mich ausruhen?«, habe ich sie angebrüllt, aber sie haben mir nicht einmal geantwortet. Am nächsten Morgen hat mich ein »Facharzt für Psychiatrie« in sein Sprechzimmer bestellt und mir erklärt, dass sie mich nicht entlassen könnten, weil es mir zu schlecht gehe. »Es wäre das Beste für Sie, wenn Sie eine Weile bei uns blieben«, meinte er, doch ich widersprach ihm und erklärte, dass es sich um ein Missverständnis handele: Man habe mich einfach in einen Transporter geworfen und in eine Irrenanstalt gefahren wie ein Schwein ins Schlachthaus. Er meinte nur, alle Patienten würden das bei ihrer Ankunft behaupten. »Sie werden sich bald eingewöhnen.« Er klopfte mir auf die Schulter, als wäre ich ein entfernter Verwandter.

Liebste Queen, ich will Ihnen ganz offen und ehrlich sagen, warum ich Ihnen diesen Brief schreibe: Ich brauche Ihre Hilfe. Vielleicht halten Sie mich für einen Quertreiber, aber das bin ich nicht. Ich bin in Peking aufgewachsen, wo man es mit der Ideologie sehr genau nimmt. Dort begannen meine Probleme. In Peking war ich Punkmusiker. Sie müssen wissen, dass ein chinesischer Punk etwas völlig anderes ist als die jungen Leute in Ihrem Land. Vielleicht halten Sie uns junge Chinesen für unanständige Rabauken, die fluchen und spucken, ihre Gitarren verbrennen oder auf der Bühne ihre Genitalien aus der Jeans holen. Aber so sind wir nicht, ganz und gar nicht! Wir sind diszipliniert und gebildet, und in unseren Liedern geht es um Politik und Kunst. Allerdings ist es nicht immer einfach, gegen die Regierung zu protestieren. Ich dachte, vielleicht gefällt Ihnen meine Musik, deshalb lege ich Ihnen unser berühmtestes Album mit dem Titelsong »Langer Marsch in die Nacht« bei.

Bitte entschuldigen Sie meine Weitschweifigkeit, doch ich hoffe, dass Sie mich hier rausholen können.

Mit freundlichen Grüßen,

Kublai Jian

5 – London, April 2013

Iona ist beim dritten Kaffee des Tages angelangt. Gegessen hat sie kaum etwas, aber sie mag das hohle Gefühl im Magen. Sie vergisst oft zu essen. Ihre Schwester behauptet sogar, sie leide an einer Essstörung. Ganz abstreiten lässt sich tatsächlich nicht, dass sie mit ihrer Ernährung, genau wie mit den Männern, gewisse Probleme hat.

Im Moment nährt sie das Vergnügen, chinesische Texte zu lesen. Iona brütet über einem fotokopierten Tagebucheintrag und fühlt sich wie eine Nonne, die in ihrer Zelle über einer wertvollen illuminierten Handschrift sitzt. Das Tagebuch scheint vom Verfasser der Briefe zu stammen, die sie vor ein paar Tagen übersetzt hat, denn es ist dieselbe Handschrift – flüchtig, maskulin und mit starkem Strich. Langsam tippt Iona die Übersetzung.

2. November 1993

Es ist halb neun am Morgen, doch ich gehe heute nicht in die Vorlesung. Vor ein paar Stunden habe ich das Mädchen mit dem Mondgesicht wiedergetroffen. Ich glaube, jetzt habe ich ein genaueres Bild von ihr. Sie strahlt eine nervöse Energie aus wie ein kleiner Kanarienvogel im heißen Rauch am Schlund eines Vulkans. Sie wirkt auf anziehende Weise robust und bodenständig, gleichzeitig aber so zart und zerbrechlich wie ein Vögelchen. Auch wenn es albern klingt – schließlich kenne ich sie kaum! –, glaube ich ihre Stimmungen zu spüren. Sie rollen wie Meereswogen durch meine Brust, wenn ich in ihre dunklen Augen unter dem dichten Pony blicke. Als ich sie vor ein paar Wochen bei einem Volleyballspiel kennenlernte, hätte ich mich am liebsten sofort mit ihr verabredet, doch wegen der vielen Proben mit der Band fehlte mir die Zeit dazu. Wir sind uns danach immer wieder in Seminaren und Vorlesungen begegnet. Manchmal hat sie mich von der Seite angesehen und dann schnell wieder weggeschaut. Wenn ich sie ansah, hat sie sich verlegen auf die Unterlippe gebissen und ist meinem Blick ausgewichen wie eine einsame Blume, die sich vor dem Wind fürchtet.

Doch gestern Abend war alles anders, wir haben zum ersten Mal richtig miteinander geredet. Unsere Band hatte einen Auftritt, meine Finger sind jetzt noch wund, und meine Ohren klingeln. Ich glaube, ich habe schon seit Wochen nichts Anständiges mehr gegessen und viel zu wenig geschlafen, aber scheiß drauf! Ich hetze durchs Leben. Mir ist, als säße ich in einem wild dahinrasenden Zug, aus dem ich so bald nicht mehr aussteigen werde.

Wir spielten im Café »Proletarier« in Wudaokou. Die Bühne war klein, aber für mich und die Band war es ein wichtiger Auftritt. Obwohl im Café nur Platz für achtzig Menschen ist, waren gestern Abend über zweihundert Fans da. Die Anlage war miserabel, aber wir haben uns die Seele aus dem Leib gespielt. Wir haben alles gegeben, und das Publikum ist wunderbar mitgegangen. Und dann sah ich plötzlich nur noch sie.

Jetzt unterteile ich mein Leben in die Zeit vor ihr und die Zeit nach ihr. Sie hat sich in mich gekrallt, heiß und aufwühlend. Gestern Abend hat sie mir erzählt, dass sie erst ein Mal geküsst worden ist. Sie war damals fünfzehn, und es war ein Junge aus ihrem Heimatdorf. Der Zweite bin jetzt ich, der erste erwachsene Mann in ihrem Leben! Gestern ist sie mein Feuer geworden und ich ihres. Unsere Band spielte unter kitschigen Discostrahlern aus den Achtzigern, und das Scheinwerferlicht flirrte vor meinen Augen. Sie hüpfte direkt vor der Bühne auf und ab, die Neonfarben reflektierten auf ihrem weißen Kleid. Ich sang laut und schnell, Schweiß strömte mir übers Gesicht, meine Finger verschmolzen mit der Gitarre und der Musik. Und dann begegnete mein Blick ihren großen schwarzen Knopfaugen, die zu mir hochschauten und so leuchteten, dass sie aus dem Menschenmeer vor mir herausstachen wie Blitze im dichten Nebel. Ja, ich weiß, ein Rock-Klischee, aber trotzdem wunderbar. Ich stand kreischend und jaulend in der Mitte der Bühne, rechts von mir Raohao mit seinem Bass, links Yanwu an der Gitarre und hinter mir Sunxin, der auf sein Schlagzeug eindrosch. Und sie tanzte direkt vor mir in der ersten Reihe, sang mit den anderen und schüttelte ihr glänzendes dunkles Haar. Ich glaubte sogar, ihre hohe Mädchenstimme aus der Lärmwolke herauszuhören. Sie war ein Wellenkamm in einer aufgewühlten See und ich das Auge des Sturms.

Plötzlich reißt ein schrilles Geräusch Iona aus ihrer Konzentration. Sie blickt auf. Ihr Handy auf der Schreibtischplatte klingelt laut, die Vibrationen auf dem Holz verstärken das Geräusch. Iona versucht das penetrante Klingeln zu ignorieren, doch es hört einfach nicht auf. Nachdem der Anrufer aufgelegt hat, versucht er es gleich wieder.

»Ja?«

»Iona? Ist es gerade ungünstig?« Die Stimme ihrer Mutter.

»Mum, ich arbeite.«

»Oh, das ist eine Überraschung! Aber eine wunderbare, mein Schatz.«

»Was ist los? Alles in Ordnung?«, fragt Iona ungeduldig.

»Ja, alles in Ordnung, mein Schatz. Nur die Melkmaschine funktioniert nicht mehr richtig, und gestern ist eins der Kälber aus dem letzten Jahr gestorben. Ich komme gerade aus dem Garten. Es war so kalt, dass ich wieder reingegangen bin, um mich in der Küche aufzuwärmen. Da habe ich gedacht, ich nutze die Zeit, bis der Wasserkessel kocht, und rufe dich an.«

»Ach, je, das tut mir leid.« Iona hat es eilig und hört gar nicht richtig zu. »Mum, kann ich dich später zurückrufen? Ich bin gerade mittendrin.« Sie macht eine Pause, auch am anderen Ende der Leitung herrscht Schweigen. »Es tut mir leid, Mum, es tut mir wirklich leid, es ist nur …«

»Macht nichts, mein Schatz. Tschüss.« Ihre Mutter hängt ein.

Iona kehrt zu der Stelle zurück, an der sie unterbrochen wurde, und beginnt den Rest der Passage zu übersetzen. Jetzt geht es besser, sie ist weniger zögerlich, und die Worte fließen förmlich aufs Papier.

… Sie war ein Wellenkamm in einer aufgewühlten See und ich das Auge des Sturms. Durch die verrauchte Luft und das flirrende Scheinwerferlicht sah ich, wie einige Studenten Feuerzeuge aufleuchten ließen, Kerzen anzündeten und sie im Takt meines Songs schwenkten. Die Discostrahler wurden gedimmt. Wir spürten, wie die Klangwellen uns alle miteinander verbanden, wir wurden eins mit der Musik. Es war unvergesslich! Perfekt! Und sie mittendrin! Doch da wurde plötzlich der Strom abgedreht. Die Doppeltüren am anderen Ende des Saals flogen auf. Polizei. In der Dunkelheit nur noch Geschrei. Ich spürte, wie jemand nach mir griff. Mus dünne Arme suchten mich, ihre Wange war ganz nah an meinem Gesicht, ihre Hände umfassten meine Taille. »Jian, ich begleite dich, wenn die Polizei dich mitnimmt«, schrie sie mir über den Lärm von Sirenen und dem allgemeinen Chaos ins Ohr. »Ich lasse nicht zu, dass sie dich alleine verhaften!« Und dann spürte ich ihre Lippen auf meinen. Da stand sie, das zierliche Mädchen, und wollte mit mir untergehen. Sie war die Mutigste von allen. Wir verhielten uns völlig still im allgemeinen Aufruhr. Nach einiger Zeit, es kam mir wie eine Ewigkeit vor, ging das Licht wieder an. Jetzt herrschte Stille im Lokal, die Polizei war verschwunden. Es war kaum noch jemand da, und der Betreiber des Cafés verlor die Nerven, aber das war uns scheißegal. Wir fingen wieder an zu spielen. Nach und nach kehrten immer mehr Leute zurück. Wir spielten bis zum Morgen, wilder als jemals zuvor. Und dann ist sie mit mir gekommen, mit in mein Zimmer (zum Glück hatte ich das Bett gemacht). Sie ist gerade erst gegangen, weil sie zu ihrem Seminar muss. Ich kann nicht genug von ihr bekommen.

Iona hält inne und blickt auf die abendliche Skyline vor ihrem Fenster. Unten auf der Straße wird das unverkaufte Gemüse von den Marktständen in Lieferwagen geladen, wobei die Händler es weiter laut schreiend anpreisen, um noch so viel wie möglich an den Mann zu bringen. Es ist Essenszeit, und in den Restaurants klappern Töpfe und Teller, doch Iona hört und sieht nur eine chinesische Band, die auf einer hell erleuchteten Bühne die Haare wirbeln lässt und die Menge mit dramatischen Ausfallschritten und elektrischem Gitarrenjaulen immer mehr hochpeitscht. Sie sieht ein Mädchen in einem weißen Kleid, das sich singend und schreiend bis in die erste Reihe vordrängelt. Und dann? Die Silhouetten von zwei jungen Liebenden, schüchtern und gleichzeitig erregt, die Haare feucht von Schweiß und die Haut immer noch glühend vom grellen Neonlicht der Discostrahler. Das Bild vor ihren Augen verschwimmt. Musik und Liebe – darum geht es, wenn man jung ist! Plötzlich wird Iona unruhig, sie hält es nicht länger auf ihrem Stuhl aus. Ihr Körper fühlt sich an wie flüssiger Beton in einer Gussform. Sie war zu lange in ihrem gemütlichen kleinen Gefängnis eingesperrt. Iona klappt den Laptop zu. Nichts wie raus.

6 – London, April 2013

Iona schlängelt sich durch die Menschenmassen in der White Lion Street, überquert die Upper Street, lässt die U-Bahn-Station Angel hinter sich und steuert auf ihren Lieblingspark zu – Duncan Terrace Garden. Kublai Jians Worte hallen funkensprühend in ihr nach, es ist, als habe sie sich selbst in einen Teenager verwandelt, dabei ist sie gerade einunddreißig geworden. Doch sie sieht jünger aus; auf den ersten Blick würde man nicht denken, dass sie im Frühjahr 1982 geboren wurde, als Großbritannien und Argentinien den Krieg um die Falklandinseln begannen und Ronald Reagan Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika war. Iona versteht immer noch nicht, warum sie ausgerechnet als Tochter von Michael und Bethan Kirkpatrick auf der Isle of Mull in Schottland zur Welt kam. Sie war das zweite Mädchen der Familie, und ihre Eltern hatten auf einen Jungen gehofft. Am Tag nach Ionas Geburt brach der Krieg aus. Während die junge Mutter das Baby badete und stillte, hockte der Vater vor dem uralten Radio im Wohnzimmer und lauschte gebannt den Reden von Margaret Thatcher. Fast schon fanatisch davon überzeugt, dass Großbritannien an der Schwelle zum Dritten Weltkrieg stand, bunkerte er Konservendosen mit Bohnen, Linsen, Tomaten und Erbsen. In den Schränken stapelten sich Nudel- und H-Milchtüten. Bei aller Sorge – er war gerüstet. Doch der Weltkrieg kam nicht. Statt in den Feuern der Apokalypse zu verglühen, wuchs Iona zu einem dünnen Mädchen mit X-Beinen und zerzausten Haaren heran.

Ihre Kindheit bestand aus Fragen, Warten und den Verheißungen jenseits des Meeres. Sie saß am Strand der Isle of Mull und blickte über das rußig violette Wasser auf die fernen Hügelsilhouetten, die sich aus dem Nebel über der Nachbarinsel schälten: Iona. Die Isle of Mull hatte Iona Kirkpatrick auf täglichen Streifzügen erkundet, sie barg für sie keine Geheimnisse mehr, doch die bläulich schimmernde kleine Insel in der Ferne, nach der sie getauft war, zog sie in den Bann. Die Bewohner Mulls senkten die Stimmen, wenn sie von der Nachbarinsel sprachen: »Magisch«, flüsterten sie, ein Sehnsuchtsort. Iona träumte von der Insel, doch sie hatte noch nie einen Fuß auf sie gesetzt. Im Winter schien sich die Insel zurückzuziehen, dann sah man sie nur noch verschwommen, als sei sie ein Schiff hinter hoch sprühender Gischt. Doch wenn im Sommer der Himmel ausnahmsweise einmal blau war, hob sich die Insel Iona grün glühend von ihm ab.

Ihre Eltern hatten die Flitterwochen auf Iona verbracht und redeten ständig davon, eines Tages wieder dorthin zu fahren, doch sie kamen nie dazu. Im Lauf der Jahre nahm die Geschichte über die Insel für Iona immer mehr Fabelcharakter an, denn ihr Vater schmückte in seinen wild übertreibenden Erzählungen jedes Mal andere Details aus, und so verschwand die Wahrheit – wie immer sie lauten mochte – hinter einer Flut kindlicher Bilder. Manchmal hatten ihre Eltern vom Hotelfenster aus Delfine gesehen, und manchmal behauptete ihr Vater im Brustton der Überzeugung, dass sie eines Tages ihren bescheidenen Lebensabend auf der Insel verbringen würden, doch Iona wusste nie, was sie glauben sollte, denn ihre Mutter steuerte den Erzählungen ihres Mannes höchstens ein unergründliches Lächeln bei.

Ionas Jugendjahre verstrichen ereignislos, doch dann kam der Tag, an dem sie die Isle of Mull mit zwei großen Koffern verließ. Sie erinnert sich noch genau an den Morgen im späten August, als sie im Alter von siebzehn Jahren mit der Fähre davonfuhr, um aufs College zu gehen. Ihre Mutter stand am Ufer und winkte ihr lächelnd nach, ein paar Schritte dahinter der Vater, wie immer völlig regungslos. Frauen gegenüber zeigte er ungern Gefühle. Ionas Schwester Nell hatte die Familie bereits vor über zehn Monaten verlassen und war im fernen Russland. Als die Fähre losfuhr, wirbelte eine Bö auf. Durch das Tosen des Windes hörte Iona plötzlich die Stimme ihres Vaters: »Schick mir Postkarten, Iona«, schrie er. »Machst du das, ja?« Da sah sie den grauhaarigen Mann genauer an. Sein Gesicht war gerötet. Ob er wieder bis in die frühen Morgenstunden hinein getrunken hatte? Oder hatte er schon immer so ausgesehen? Plötzlich reckte ihr Vater die dünnen Arme in die Luft und schien im unsichtbaren Wind zu schwanken. Er wirkte traurig und müde. Iona schnürte es die Kehle zu, und ihre Hände suchten Halt an der Reling. Sie zwang sich zu einem schiefen Lächeln, denn sie wollte ihren Eltern gegenüber keinen Abschiedsschmerz zeigen. Es würde als Schwäche gelten, als Zeichen von Unentschlossenheit und Unreife. Hatte sie sich nicht immer gewünscht, die Insel zu verlassen? War sie ihr nicht längst zu klein geworden? Doch als die Fähre Kurs auf Oban nahm, die nächste größere Stadt, von der aus Iona mit dem Zug weiterreisen würde, und sie auf ihre immer kleiner werdenden Eltern zurückblickte, liefen ihr Tränen über die Wangen. Die Wellen zischten vorbei wie sich ineinander verschlingende grüne Echsen mit weißen Rückenzacken. Iona kehrte ihrer Heimatinsel den Rücken zu und blickte aufs Festland, das mit jedem monotonen Sinken und Steigen des Schiffs näher rückte. Bald verwandelten sich ihre Tränen in Freudentränen, und schließlich trockneten sie im Wind.

Noch Jahre später sieht Iona beim Gedanken an ihren Vater das Bild eines Mannes vor sich, der am Strand steht und gegen den Wind anbrüllt. Es ist ein alter, von der Rauheit und Einsamkeit des Insellebens gezeichneter Mann, in dessen sehnig maskulinem Körper aber immer noch ein Rest jugendlicher Energie steckt. Sein Mund ist im Schrei aufgerissen, doch sie kann seine Stimme nicht hören. Das Bild vor ihrem geistigen Auge gleicht den schwarz-weißen Standbildern aus alten Stummfilmen und lässt sie erschauern. Rückblickend kann sich Iona kaum mehr vorstellen, dass es zwischen ihren Eltern jemals so etwas wie Liebe gegeben haben muss. Vielleicht, als ihre Schwester Nell geboren wurde, doch bis zu ihrer Geburt – dem Missgeschick, dem Eindringling – hatte sich diese Liebe sicher längst verbraucht. Als die Fähre im Hafen ablegte, hatte sie sich herrlich frei gefühlt: Endlich konnte sie das komplizierte Verhältnis zu den Eltern hinter sich lassen. Und sie fühlt sich immer noch frei – trotz der Echos aus der Vergangenheit. Frei und offen für eine Welt voller Möglichkeiten. Einer Welt jenseits der vom Meer umspülten und von rauen Winden gepeitschten dunklen Insel.

7 – Lincolnshire, Februar 2012

Jian wird von der Morgenvisite der Krankenschwester geweckt. Er schlägt die Augen auf und sieht sein Tagebuch offen neben dem Kopfkissen liegen. In seiner rechten Hand hängt noch der Stift. Draußen rauscht es – ein weiterer verregneter Morgen in der Psychiatrischen Klinik Lincolnshire. Doch dieser Tag beginnt mit einer Überraschung. Die Krankenschwester bringt Jian nicht nur seine Pillen und ein Glas Wasser, sondern auch einen Brief.

Zum ersten Mal, seit er an diesem Ort ist, erreicht ihn etwas aus der Außenwelt: ein makellos weißer Umschlag aus schwerem Pergament mit dem goldgeprägten Emblem des Buckingham- Palasts in der oberen linken Ecke. Die Adressaufschrift hinterlässt fast keine Einkerbungen im Papier. Sehr edel. Er hätte nicht gedacht, dass sie in diesem Teil der Welt die Kunst der Kalligrafie so gut beherrschen. Mit erwartungsvoll klopfendem Herzen reißt er den Umschlag auf. Seltsam: Drinnen stecken sein eigener Brief an die Queen und eine kleine Karte.

BUCKINGHAM PALACE

Mit der Bitte um Kenntnisnahme: Wenn Sie an Ihre Majestät schreiben wollen, sollten Sie den Brief an die KöniglicheHofdame unter der Adresse Windsor Castle,Berkshire SL4 1NJ adressieren und mit einer Briefmarke der Royal Mail freimachen.

Jian runzelt die Stirn. Warum können sie den Brief nicht einfach aus dem Buckingham-Palast an die offizielle »Hofdame« weiterleiten? Wozu müssen sie einen vor Müdigkeit schwankenden nigerianischen Postboten den weiten Weg in diese Thatcherstadt schicken, nur um Jian zu erklären, wie er der Queen zu schreiben hat? Ineffizienter bürokratischer Bullshit! Fluchend bittet Jian die Krankenschwester um zwei Papierbögen und schreibt einen zweiten Brief an die Queen.

An: Die Hofdame

Windsor Castle

Berkshire SL4 1NJ

Euer Majestät,

ich habe Ihnen schon Anfang des Monats, am 1. Februar, einen Brief geschrieben, den man mir aber zurückgeschickt hat. Sie haben ihn vermutlich nicht gelesen, doch ich gebe nicht auf. Sie müssen meine Geschichte hören, denn ich brauche dringend Ihre Hilfe.

Euer Majestät, weil ich Ihnen aus einem Irrenhaus schreibe, glauben Sie vielleicht, dass ich Ihre Zeit und Geduld nicht wert bin. Doch ich bin ganz klar und bei Sinnen, denn ich habe mich geweigert, die Wahnsinnspillen zu schlucken. Wahrscheinlich wissen Sie nichts über diese Pillen, liebe Queen, aber eins kann ich Ihnen verraten: Wenn Sie jemals Probleme bekommen, sollten Sie die Finger von »Spredee« oder »Darvon« lassen. Die Leute hier behaupten, der Scheiß sei angstlösend und würde mich beruhigen. Aber ich will mich nicht beruhigen, Euer Majestät, obwohl ich sehr beunruhigt bin! Dies ist ein ernsthafter Brief, er kommt aus tiefstem Herzen, und ich bitte Sie, auch meinen ersten Brief zu lesen.

Mir bleibt keine Zeit mehr, verehrte Königin! Morgen läuft mein Visum aus. Mittlerweile sind sie hier der Ansicht, dass ich doch nicht an einer psychischen Störung leide, darum wollen sie mich der Grenzpolizei übergeben! Ich flehe die Leute an, dass sie mich nicht nach China zurückschicken, weil ich dort nur bei den vielen anderen Künstlern im Gefängnis landen werde. Euer Majestät, heben Sie Ihren Finger! Sie sind jetzt meine Nüwa – unsere alte chinesische Göttin, die das Himmelsdach geflickt und die ganze Menschheit gerettet hat. Ich weiß, dass Frauen schon immer besser als Männer waren.

Und noch ein Letztes: Liebste Queen, als Sie 1986 in China waren, sind Sie meinem Vater begegnet. Ich habe ein Foto davon. Er saß damals hinter Deng Xiaoping, aber ich bin mir sicher, dass Sie sich an sein Gesicht erinnern würden. Wie auch immer, meine Telefonnummer hier lautet 01498 67803. Es ist die Nummer der Rezeption, aber wenn sie dort hören, dass Euer Majestät am Apparat ist, werden sie den Anruf ernst nehmen müssen.

Ihr

Kublai Jian

PS: Falls Sie mir nicht helfen wollen, könnten Sie mir dann bitte meine CD zurückschicken? Mein Album ist in diesem fremden Land der einzige Beweis für das, was ich bisher erreicht habe.

8 – Lincolnshire, Februar 2012

Trotz seiner Mühen mit der englischen Sprache hat sich Jian mit einer Krankenschwester angefreundet. Beth ist Mitte dreißig, mollig, warmherzig und blond. Sie erzählt ihm, dass sie einen besonderen Bezug zu China habe, weil ihr Vater für eine Pharmafirma arbeitet, die hauptsächlich nach China exportiert. Bislang sei sie zwar kaum über Lincolnshire hinausgekommen, aber eines Tages wolle sie nach China und dort »über die große Mauer laufen und Tai Chi lernen«. Jian ist nicht besonders beeindruckt.

An diesem Morgen begrüßt Beth ihn mit einer Frage.

»Guten Morgen, Kublai Jian, willst du mir nicht ein bisschen über dich erzählen? Hast du daheim in China eine Frau?« Sie rückt näher. »Kublai Jian?«

»Eine Frau?«, wiederholt er verständnislos.

Sie blickt ihn fragend an, den Kopf leicht geneigt, als wolle sie sagen, ja, sprich nur weiter.

Jian ist verwirrt. Eine Frau? Er schüttelt matt den Kopf.

»Nicht verheiratet? Hast du eine Freundin?« Sie zögert. Jian lächelt matt und schüttelt erneut den Kopf. Nicht mehr, denkt er.

Es war zu Beginn seines dritten Collegejahrs, neunzehn Jahre bevor er in das seltsame Lincolnshire kam. Die Universität hatte ein Volleyballturnier organisiert, um die Studenten im neuen Semester zu begrüßen. Sie hatten auf der schmalen Betonstufe vor dem Spielfeld gesessen, dem Match zugesehen und süße Wassereisstangen gelutscht. Das Mädchen neben ihm war schmal und klein, trug aber ein riesiges hellblaues Herrenhemd mit einer großen Tasche über der linken Brust. Als Wind aufkam, blähte sich das Hemd, als würde sie im nächsten Moment davonfliegen wie ein blauer Ballon.

»Woher hast du das Hemd?«, fragte Jian.

»Von meinem Vater«, erwiderte das Mädchen. »Ich trage gerne Männerhemden.« Beim Lächeln entblößte sie makellose Schneidezähne, zwischen denen sie jedoch eine Lücke hatte, sodass die Zähne wie einzelne Perlen aussahen.

Vielleicht war es diese Zahnlücke, die Jian so reizend fand, vielleicht auch das sich blähende Hemd, unter dem sie ihren Körper verbarg, auf jeden Fall begann er sie zu mögen. Als eine Turnierpause verkündet wurde, blickten sie den Spielern nach, die zu den Umkleidekabinen liefen, doch dann drehte sich das Mädchen zu Jian um und musterte ihn eine Sekunde lang neugierig.

»Weißt du was, du siehst aus wie der Pekingmann«, sagte sie schließlich lachend. »Ja, wie der Pekingmann, der vor einer halben Million Jahren in Höhlen gehaust hat!« Sie hielt kurz inne und wandte sich zu einem Geräusch vom Spielfeld um. »Was studierst du?«, fragte sie dann.

»Geschichte«, erwiderte Jian verlegen.

»Das passt ja wunderbar!«, prustete das Mädchen. Vor lauter Lachen musste es schließlich husten.

Jian reagierte verdutzt. Er fand den Vergleich nicht besonders schmeichelhaft. »So hässlich bin ich nun auch nicht! Der Pekingmann war noch nicht einmal ein richtiger Mensch, kein Homo sapiens!«

»Aber sieh doch.« Das Mädchen fuhr mit seinem zarten Finger über Jians Kinn. Er erschauerte. »Deine Kinnform und die Knochenkontur sind genau wie bei dem versteinerten Schädel, den ich im Museum gesehen habe. Ich erinnere mich noch genau an ihn – er hatte ein stark ausgeprägtes Kinn, genau wie du, und seine Stirn war auch so hoch wie deine!« Jian gab sich geschlagen und lächelte. Völlig schlecht konnte es schließlich auch nicht sein, mit dem mutmaßlichen Vorfahren aller Chinesen verglichen zu werden.

»Und was studierst du?« Jian starrte auf die Schneidezähne des Mädchens.

»Literatur«, antwortete sie. Plötzlich war sie wieder ernst geworden. »Westliche Literatur.«

Dann wechselte sie das Thema und kam wieder auf den Pekingmenschen zu sprechen. Sie vertraute Jian an, dass der Pekingmensch es ihr schon seit der Mittelschule angetan habe, sie sei fast ein wenig besessen von ihm. Wie alle anderen Schüler hatte sie im Geschichtsunterricht Daten über die Entwicklung der Menschheit auswendig lernen müssen, insbesondere die über den Pekingmenschen: »Er lebte vor 750.000 Jahren in Höhlen, und obwohl er noch sehr primitiv war, konnte er bereits Feuer machen und mit Werkzeugen umgehen …« Sie erzählte Jian vom Schulausflug ins Museum von Zhoukoudian bei Peking – dort befand sich die Originalhöhle, in der man die Fossilien des Pekingmenschen gefunden hatte. Sie habe in einem riesigen Ausstellungsraum gestanden und den Schädel bestaunt. Bis auf die großen, animalischen Zähne habe er ausgesehen wie der Kopf eines modernen Menschen. »Und jetzt habe ich einen echten Pekingmann kennengelernt. Einen lebendigen!« Ihr mondförmiges Gesicht glühte. Sie zog sich das weite Hemd über die Knie und rollte ihren zierlichen Körper darin zusammen wie in einem Kokon.

9 – London, Mai 2013

Iona steht vor dem Badezimmerspiegel und bürstet sich die Haare. Die schwarzen Strähnen glänzen im Licht der alten Art-decó-Lampe und umrahmen ein vertrautes Gesicht – eindeutig ihr eigenes. Am Hinterkopf haben sich die Haare verheddert, sie versucht sie durchzukämmen, aber sie lassen sich nicht entwirren. In der Küche klingelt schon wieder das Telefon. Nein, heute Abend werde ich nicht ausgehen, sagt Iona zu ihrem Spiegelbild, während sie weiter ihre Haare bearbeitet, und auch nicht am Wochenende. Ich muss arbeiten. Es gibt noch so viel zu tun.

Schließlich geht sie in die Küche zurück. Sie beugt sich über den Tisch, auf dem sie das Manuskript ausgebreitet hat, blättert durch den Stapel und zieht eine Seite heraus, die mit einer Bleistiftzeichnung beginnt:

Ein Mädchen mit einem fransigen, unregelmäßigen Pony, der ihr bis über die tränenförmigen Augen fällt, darunter ein verwischter Mund. Der Strich wirkt dynamisch und schwungvoll, als würde sich eine Schlange über das Papier winden. Ist das Mu? Oder ein anderes Mädchen, das am Morgen nach einer langen Nacht hastig aufs Papier geworfen wurde? Stammt die Zeichnung von Jian? Der Handschrift unter dem Bild nach müsste sie von ihm sein. Die fließende Linie lässt Iona an einen schlanken, biegsamen Körper in einer dunklen Jacke denken. Sie liest den Text unter dem Bild.

13. Oktober 1993

Ich habe das Mädchen vom Volleyballturnier wiedergetroffen. Ich war im Lesesaal und versuchte, das Trotzki-Buch zu Ende zu lesen, als sie auf mich zukam und am Nachbartisch Platz nahm. Ungefähr eine Stunde lang saßen wir einfach so nebeneinander. Irgendwann hielt sie mir ihre geöffnete Hand unter die Nase. »Siehst du etwas Ungewöhnliches?«, fragte sie und blickte mir dabei tief in die Augen, als wolle sie mich hypnotisieren.

Ich nahm ihre Hand und beugte mich darüber. Sie fühlte sich kühl und zerbrechlich an. »Wonach soll ich denn suchen?« Ich kam mir ein wenig albern vor und lachte verlegen, aber als ich zu ihr hochblickte, sah ich, dass sie es völlig ernst meinte. Ich strich sanft über ihre Handfläche: »Na ja, vielleicht ist dein Zeigefinger ein wenig krumm.«

»Mein Vater hat mich von frühster Kindheit an täglich Kalligrafie üben lassen. Ständig hatte ich einen Pinsel in der Hand – und das ist das Ergebnis. Was für eine sinnlose Beschäftigung!«, schimpfte sie, und ihre Stimme klang dabei aufgeregt wie die eines Kindes, das von einer Gruselgeschichte fasziniert ist. »Ich hatte nie Gelegenheit, meine Kalligrafiekenntnisse zu nutzen. Doch der krumme Finger bleibt mir jetzt ein Leben lang!«

Sie lachte, es klang wie Silberglöckchen, und entblößte dabei ihre Schneidezähne mit der süßen Lücke. Ich wollte sie unbedingt küssen, doch stattdessen sagte ich:

»Dann musst du deinen Vater hassen!«

»Nein, das tue ich nicht. Ich liebe meinen Vater. Wie kann man seine Eltern denn hassen?«

»Oh, das kann man schon«, sagte ich leise. »Ich hasse meinen Vater.«

Das schien sie sehr zu überraschen, aber sie fragte nicht, warum ich meinen Vater hasste. Es entstand ein kurzes kühles Schweigen. Ich blickte auf die Landkarte, die sie vor sich auf dem Tisch ausgebreitet hatte, und fragte sie, was sie da ansehe.

»Diese kleinen Inseln mitten im Meer.« Sie deutete auf die türkisblaue Fläche im Zentrum der Weltkarte. »Wäre es nicht toll, wenn wir eines Tages dorthin reisen könnten?«

Ihr leicht gekrümmter Zeigefinger tippte auf verschiedene gelbe Punkte im Meer. Stockend sprach sie die Namen der Inseln unter ihrem Finger aus. »Osterinsel, Pitcairn, Mallorca, Korsika, Sardinien, Kreta.«

»Auf welche würdest du reisen, wenn du dir nur eine aussuchen dürftest?«, fragte sie mich.

»Keine Ahnung. Wie sollen wir so etwas auch wissen, wenn wir noch nie außerhalb Chinas waren?«