Es war einmal im Fernen Osten - Xiaolu Guo - E-Book

Es war einmal im Fernen Osten E-Book

Xiaolu Guo

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Beschreibung

East goes West – Ein Leben zwischen zwei Welten.

Es ist kein einfacher Start ins Leben: Gleich nach der Geburt geben die Eltern, glühende Anhänger Maos, ihre Tochter in die Obhut eines kinderlosen Bauernpaares in den Bergen. Zwei Jahre später bringen diese die halbverhungerte Kleine zu ihren des Lesens und Schreibens unkundigen Großeltern. Ein Jahr später stirbt der Große Vorsitzende, und in China beginnt ein dramatischer gesellschaftlicher Wandel.

In ihrem neuen Buch erzählt die chinesische Autorin und Filmemacherin Xiaolu Guo von dem langen Weg, der sie aus einem ärmlichen Fischernest am Ostchinesischen Meer an die Filmhochschule im sich rasant verändernden Peking der 90er Jahre und schließlich 2002 nach London führt. 15 Jahre später beschreibt sie ihre Reise von Ost nach West mit einer Klarsicht, die nur jemand besitzt, der angekommen ist und sich zugleich fremd fühlt.

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Seitenzahl: 519

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Über das Buch:

Es ist kein einfacher Start ins Leben: Gleich nach der Geburt geben die Eltern, glühende Anhänger Maos, ihre Tochter in die Obhut eines kinderlosen Bauernpaares in den Bergen. Zwei Jahre später bringen diese die halbverhungerte Kleine zu den einfachen, des Lesens und Schreibens unkundigen Großeltern in ein Fischernest am Ostchinesischen Meer. Ein Jahr später stirbt der Große Vorsitzende, und in China beginnt ein dramatischer gesellschaftlicher Wandel.

In ihrem neuen Buch erzählt Xiaolu Guo von dem langen Weg, der sie aus einer ärmlichen Fischerhütte an die Filmhochschule im sich rasant verändernden Peking führt. Dort wird sie mit den dunklen Seiten der chinesischen Moderne konfrontiert: Zensur, Zwang zur Konformität, Anfeindungen wegen feministischer Überzeugungen. 2002 verlässt Xiaolu China und zieht nach London. Auch hier geht ihr Kampf um Anerkennung als Künstlerin weiter. 15 Jahre später beschreibt sie ihre Reise von Ost nach West mit einer Klarsicht, die nur jemand besitzt, der angekommen ist und sich zugleich fremd fühlt.

Es war einmal im Fernen Osten ist voller Lebenslektionen: Künstlerin zu bleiben, wenn die Zensur alle Kreativität abtötet; Frau zu sein, wenn wegen der Ein-Kind-Politik weibliche Neugeborene ertränkt werden und sexuelle Übergriffe zum Alltag gehören; zu lieben, wenn man nie gelernt hat, wie das geht.

Über die Autorin:

Xiaolu Guo, geboren 1973, studierte an der Filmhochschule Peking. Bereits vor ihrer Ausreise nach London 2002 veröffentlichte sie in ihrer Heimat sechs Bücher. Die englische Ausgabe von Stadt der Steine schaffte es auf die Shortlist für den »Independent Foreign Fiction Prize« und wurde für den »International IMPAC Dublin Literary Award« nominiert. Ihr erster in englischer Sprache verfasster Roman, Kleines Wörterbuch für Liebende, stand auf der Shortlist des »Orange Prize for Fiction«, Twenty Fragments of a Ravenous Youth auf der Longlist für den »Man Asian Literary Prize«. Xiaolu Guos jüngstem Roman Ich bin China gelang der Sprung auf die Longlist des »Baileys Women’s Prize for Fiction«. 2013 wurde Xiaolu Guo in die »Granta’s List of Best Young British Novelists« aufgenommen. Als Filmemacherin drehte sie zudem zahlreiche preisgekrönte Filme, darunter She, a Chinese sowie Late at Night, eine Dokumentation über London. Xiaolu Guo lebt in London und Berlin.

Xiaolu Guo

ES WAR EINMAL IM FERNEN OSTEN

Ein Leben zwischen zwei Welten

Aus dem Englischen von Anne Rademacher

Knaus

Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel »Once Upon a Time in the East. A Story of Growing Up« bei Chatto & Windus, London Die Autorin dankt Eva Hoffman für die Genehmigung des Zitats aus »Lost in Translation: A Life in a New Language«. Auszüge aus » MCMXIV, The Whitsun Wedding« mit freundlicher Genehmigung des © Estate of Philip Larkin. Die Auszüge aus Walt Whitmans »Grasblätter« folgen der Übersetzung von Jürgen Brôcan. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Carl Hanser Verlag, München. © aller Fotos: privat Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2017 by Xiaolu Guo

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2017 beim Albrecht Knaus Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlag: Sabine Kwauka

Umschlagabbildung: privat

Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München ISBN 978-3-641-21818-8 V002 www.knaus-verlag.de

Für Marguerite Duras, die mir in den harten, kämpferischen Jahren in Südchina den Glauben daran gab, Künstlerin zu werden

Die Seele kann durch ein Übermaß an kritischer Distanz schrumpfen. Wenn ich nicht für den Rest meines Lebens in einem unfruchtbaren inneren Exil verharren will, muss ich einen Weg finden, meine Entfremdung zu überwinden, ohne mich dabei selbst zu verlieren.

EVA HOFFMAN

Inhalt

Fremdes Land Vergangenheit

TEIL I – SHITANGGESCHICHTEN VOM OSTCHINESISCHEN MEER

TEIL II – WENLING DAS LEBEN IN EINEM KOMMUNISTISCHEN WOHNHOF

TEIL III – PEKING IM WIRBELWIND DES LEBENS

TEIL IV – EUROPA IM LAND DER NOMADEN

TEIL V – DER KREIS VON LEBEN UND TOD

Dank

Fremdes Land Vergangenheit

Getrieben, entwurzelt und heimatlos. Eine Nomadin – im Herzen und im Denken. Das war aus mir geworden, seit ich China verlassen hatte, um in den Westen zu gehen. Fünfzehn Jahre immer in Bewegung, fünfzehn Jahre vergessen und verändern, sich ein- und umgewöhnen. Doch eines Tages, ich war gerade vierzig geworden, begann sich mein Bauch zu wölben. Der Sog der Erde, der Trieb zur Mutterschaft. Am zweiten Tag des Jahres 2013 lag ich auf dem OP-Tisch eines Londoner Krankenhauses, mein Körper verkabelt und über Schläuche mit einer Batterie summender Maschinen verbunden. Ich glaubte zu platzen. Wortwörtlich. Ein Kaiserschnitt, das Baby wurde aus mir herausgezogen, und schon hörte ich sie schreien. Ihre Stimme klang sofort vertraut, aber gleichzeitig auch völlig überraschend. Da war sie, in ein frisches Handtuch gewickelt, ihr feuchtes, zerdrücktes Gesichtchen an meiner Brust. Ich hielt sie ängstlich und ehrfurchtsvoll. So ist es gut, dachte ich. Dieses Kind wird hier Wurzeln schlagen. Meine Tochter wird mit beiden Beinen fest im Leben stehen. Ganz anders als ihre Mutter, das kulturell verwaiste, vagabundierende Bauernmädchen.

Zwanzig Minuten nach der Entbindung wurden wir auf die Neugeborenen-Station gefahren. Überall Babys und frischgebackene junge Mütter. Noch immer leicht von Morphinen umnebelt, hörte ich um mich herum ein Sprachengewirr: Hindi, Arabisch, Deutsch, Spanisch, Polnisch. Drei Tage lang blieben wir im Krankenhaus. Ich trug die ganze Zeit nur einen dünnen Morgenmantel, versuchte zu stillen und kämpfte mit jedem Toilettengang. Wie viel Blut aus mir kam! Schockierend.

Am vierten Tag durften wir nach Hause. Dort überkam mich das überraschende Bedürfnis, meine Mutter anzurufen. Neun lange Monate hatte ich meine Schwangerschaft mit keinem Sterbenswort erwähnt. Wir hatten schon länger nicht mehr miteinander gesprochen, was typisch für unsere Beziehung war.

Ich wählte die ungeliebte Nummer, die sich so tief in mein Gedächtnis eingeprägt hatte, dass ich sie im Traum hätte aufsagen können.

»Mutter, ich bin’s.«

»Ach, Xiaolu, mit dir hätte ich jetzt nicht gerechnet.« Und dann sofort: »Wo bist du?«

»In London.«

»Was ist los? Warum rufst du an?« Die übliche, an Unhöflichkeit grenzende Direktheit. Im Alter von siebzehn Jahren war meine Mutter, ein ungehobeltes Mädchen vom Land, direkt aus den Reisfeldern heraus den Roten Garden beigetreten. Vermutlich war das einer der Gründe dafür, dass wir uns nie vertragen haben.

»Mir geht’s gut«, sagte ich. »Ich wollte dir nur mitteilen …« Plötzlich fehlten mir die Worte, ich brachte es kaum über die Lippen zu sagen: »Ich habe gerade ein gesundes kleines Mädchen zur Welt gebracht.«

»Was?«, rief meine Mutter. »Du hast ein Kind gekriegt?«

»Ja. Sie ist halb chinesisch, halb westlich.«

»Meine Güte! Du warst schwanger?«

Ein paar Sekunden lang herrschte Schweigen am anderen Ende der Leitung. Ich dachte, sie würde wenigstens den Namen meines Babys wissen wollen, doch alles, was sie sagte, war: »Kommst du zum Qingming-Fest heim?«

Am Qingming-Fest Anfang April gedenken wir unserer Toten. Wir säubern die Gräber, zünden Weihrauchstäbchen an und beten. Ich sagte nichts, sondern lauschte nur der wütend weinerlichen Stimme meiner Mutter am Telefon.

»Du musst heimkommen! Du weißt noch nicht einmal, wo dein Vater begraben liegt! Ich will die Asche deiner Großmutter aus dem Dorf holen und sie neben deinen Vater betten. Da solltest du mit dabei sein.«

Dieses Mal fehlte mir eine Entschuldigung, es gab wirklich nichts, das ich hätte vorschützen können, also reiste ich besser hin und erfüllte ein für alle Mal meine Tochterpflichten. Schließlich waren es nur zwölf Stunden Flug. Was sprach dagegen? Mein ganzes Erwachsenenleben lang hatte ich tunlichst vermieden, an die Orte meiner Kindheit zurückzukehren. Das Fischernest Shitang, in dem ich einige Jahre das freudlose, bitterarme Leben meiner Großeltern geteilt hatte, war mir verhasst. Genauso wenig mochte ich Wenling, die Stadt meiner späteren Kinder- und Jugendjahre, in der meine Probleme mit Autoritäten begannen. Als ich 1993 zum Studium nach Peking ging, hatte ich mir geschworen, nie wieder in diese rückständige Provinzgegend zurückzukehren. Ab sofort keine ideologische Gehirnwäsche mehr, sagte ich mir, als ich zehn Jahre später China verließ und nach England zog. Ich werde mich von meinen angefaulten bäuerlichen Wurzeln nicht zurückhalten lassen.

Doch nun war die Zeit gekommen, mich meiner Vergangenheit zu stellen. Ich wollte versuchen, meiner Familie zu erklären, wie ich in den letzten Jahren gelebt hatte, denn eines Tages würde ich es auch meiner kleinen Tochter erklären müssen. Frei nach James Baldwin: Geh hin, und verkünde es vom Berge. Verkünde es deiner Familie, verkünde es den Lebenden und den Toten. Ich musste mich stellen. Ihnen allen. Es gab kein Entkommen.

Und so wickelte ich fünf Tage vor dem Qingming-Fest mein Neugeborenes so warm wie möglich ein und nahm ein Flugzeug zurück zum Ort meines Ursprungs.

TEIL I – SHITANGGESCHICHTEN VOM OSTCHINESISCHEN MEER

Im Anbeginn der Zeit gab es weder Osten noch Westen, weder Tier noch Mensch. Äonen vergingen, und es ward Wasser. Algen und Fische begannen zu wachsen, und Pflanzen schlugen ihre Wurzeln in den sandigen Boden der Gestade. Bald flogen Vögel von Berg zu Berg. Noch einmal vergingen Äonen. Tiger und Löwen, Phoenixe, Schlangen, Salamander und winzige Kriechtiere suchten sich in den Urwäldern ihre Plätze zum Jagen und Ruhen. Doch noch immer herrschte Stille auf der Welt. Es schien, als warte sie auf ein bedeutsames Ereignis, die Geburt eines allmächtigen Wesens. Eines Tages erblickte das Himmelsauge auf einem Berg im Westen einen Stein, der in fünf Farben funkelte. Er funkelte und funkelte, bis er mit einem Mal in tausend Stücke zerbarst und ein Affe daraus hervorsprang. Der Affe war von schlanker Gestalt, hatte ein hübsches Gesicht und vier lange Gliedmaßen. Fröhlich tollte er durch die frische Bergluft und blickte sich neugierig um. Schließlich verneigte er sich in alle vier Himmelsrichtungen, um für seine Geburt zu danken.

Der kleine Affe erkundete die Welt. Bananen und Erdnüsse waren seine Nahrung, und er trank aus Gräben und Quellen. Tiger, Leoparden, Faultiere und Paviane wurden seine Gefährten. Doch eines Abends im Herbst überkam den Affen bei Sonnenuntergang eine große Traurigkeit. Weinend blickte er den aufgehenden Mond im Osten an. Wie einsam er sich fühlte! Tief in seinem Herzen verspürte er das unstillbare Verlangen, etwas Wichtiges und Verdienstvolles zu tun. Aber was nur konnte das sein? Der Affe starrte den Mond an, der bereits in Richtung Westen den Himmel hinabwanderte, und schlummerte ein. In der Nacht spürte er, wie ihm ein Tautropfen aufs Gesicht fiel. Dann hörte er eine Stimme:

»Kleine Kreatur, du bist kein gewöhnlicher Affe«, flüsterte sie ihm ins Ohr. »Dich haben die fünf Elemente genährt, und seit Anbeginn der Zeit hast du die Energie von Himmel und Erde empfangen. Du bist die Energie hinter allem menschlichen Leben. Geh nun und suche die Menschenwelt. Du musst einen Mönch namens Xuanzang finden und ihm helfen, in den Besitz der erhabensten Schriften des Buddha auf Erden zu kommen. Erst mit dem Sutra wird die Menschheit das wahre Wissen über Leben und Tod erlangen.«

Der Affe erwachte. Noch immer schien der Mond, und die Worte hallten in seinen Ohren nach. Da spürte er, wie der Strahl des Polarsterns durch die Bananenblätter drang und ihn mitten auf der Stirn traf.

Der Fischerort Shitang in den 1970er Jahren

Die Waise

Ich kam als Waise zur Welt. Nicht, weil meine Eltern gestorben waren, nein, sie waren beide quicklebendig. Doch meine Eltern haben mich weggegeben.

An meine ersten beiden Lebensjahre habe ich natürlich keine genauen Erinnerungen. Niemand in meiner Familie weiß etwas über diese Zeit. Gleich nach meiner Geburt wurde ich zu einem Bauernpaar gebracht, das in einem entlegenen Bergdorf unserer Provinz am Ostchinesischen Meer lebte. Viele Jahre später erklärte man mir, meine Mutter habe sich damals nicht um mich kümmern können, weil mein Vater im Arbeitslager gewesen war und immer noch als Klassenfeind gesehen wurde. So kam es, dass ich meine ersten beiden Lebensjahre in den Bergen verbrachte. Meine einzige Erinnerung an diese Zeit ist eine falsche und stammt von meinen Großeltern. Sie erzählten mir von dem Tag, an dem das kinderlose Paar aus dem Hochland mich, das ungewollte Kind, von den Bergen hinab zu ihnen brachte.

Noch ein Baby, und schon zum zweiten Mal weggegeben.

Das Paar hatte die Adresse meiner Großeltern ausfindig gemacht und war mit dem Fernbus den weiten Weg bis zu unserem bescheidenen Haus gefahren. Kaum angekommen, legten sie mich gleich in die Arme meiner Großmutter.

»Die Kleine wird sterben, wenn sie bei uns bleibt. Das sehen Sie doch selbst«, sagten sie zu meiner Großmutter. »Wir haben nichts zu essen. Mehr als fünfzig Kilo Yams im Herbst wirft unser Land nicht ab, und die brauchen wir, um sie auf dem Markt zu verkaufen. Wir haben die Kleine deshalb mit einem Brei aus zerkleinerten Yamblättern gefüttert, aber jedes Mal, wenn sie das grüne Mus auf dem Löffel sieht, dreht sie den Kopf weg oder spuckt alles wieder aus. Mittlerweile isst sie überhaupt nichts Grünes mehr! Wir haben aber nicht so viel Reis, wir haben nur die Blätter. Sehen Sie doch, wie gelb sie schon im Gesicht ist. Und die schwachen Knochen! Sie hört gar nicht mehr auf zu weinen. Und sie isst nichts. Wenn sie bei uns bleibt, wird sie sterben. Wir flehen Sie an, bitte nehmen Sie das Kind zurück. Jetzt sofort. Auch wenn wir selbst keine Kinder bekommen können, ein sterbendes Baby können wir nicht brauchen. Bitte, nehmen Sie die Kleine zurück!«

Meine Großeltern standen völlig perplex da. Was hätten sie auch sagen sollen, schließlich hatten nicht sie mich in diese Familie geschickt. Sie nahmen mich wortlos zurück. Seit diesem Tag lebte ich bei meinen Großeltern am Meer. Meine Adoptiveltern kehrten zu ihren Yams zurück und ließen nie wieder von sich hören. Später erzählte man mir, die Familie habe Wong geheißen und mit ihren Yams und anscheinend auch ein paar Ziegen auf einem Berg gelebt. Weil die Frau unfruchtbar war (vielleicht war es ja auch der Mann, aber bei den Bauern trägt immer die Frau alle Schuld), habe sie mich nicht stillen können. Ich frage mich oft, ob sie mich damals mit Ziegenmilch gefüttert haben. Aber vielleicht haben auch ihre Ziegen keine Milch gegeben. Zu jener Zeit hat in China kein Mensch die Milch von Tieren getrunken, denn wir vertrugen keine Laktose. Wahrscheinlich haben sie mich mit Sojamilch gefüttert, bis ich Zähne bekam. Was hätten sie sonst mit einem hungrigen Baby tun sollen, das von seiner Mutter weggegeben worden war?

Jahre später saß ich über einer Landkarte der Provinz und versuchte das Bergdorf zu finden, in dem meine Adoptiveltern gelebt hatten. Ich war verblüfft, wie unendlich viele Dörfer dieser Art über das Land verstreut waren – all die Orte, die nur von obskuren gelben oder grünen Punkten markiert wurden. Tausende Dörfer mit Namen und noch mehr Dörfer ohne Namen. War es vielleicht Diaotou gewesen? Pinshan? Yongjia? Hengshantou? Changshi? Shifou? Ich gab auf und faltete die Karte wieder zusammen. Man sagte mir, dass aus den meisten dieser Dörfer Bauland für die wuchernden Städte geworden sei. Selbst die Berge hatten sie enthauptet. Die Gipfel waren abrasiert worden, um Platz für Straßen oder Steinbrüche zu schaffen. Alles für das Wachstum unserer großen Nation.

Wenn ich an meine ersten beiden Lebensjahre denke, steigt vor mir immer das Bild einer klapperdürren kleinen Ziege auf, die über einen kahlen Berg trottet. Wo ist das saftige Gras geblieben, an dem sie sich satt fressen kann? Wo das Wasser, um ihren Durst zu stillen? Der Berg ist nackt und kahl. Nichts als Steine und kunstdüngerverseuchter Boden.

Doch irgendwie schaffte es die kleine Ziege, ihre entbehrungsreichen ersten Jahre zu überleben.

Großvater

Mein Großvater, ein ehemaliger Fischer, war ein verbitterter alter Mann. Er kam 1905 zur Welt, nur ein Jahr vor der Geburt von Chinas letztem Kaiser Puyi. Ob dies ein Omen war, eine Erklärung für sein Schicksal? Die letzte im Kaiserreich geborene Generation ist von der neuen Zeit überrollt worden. An dem Tag, als mein Großvater geboren wurde, soll sein Vater auf See gewesen sein. In den Fischerorten geht die Legende, dass ein Neugeborenes zu einem ordentlichen Fischer heranwachse, wenn sein Vater während der Geburt draußen auf dem Meer ist und gleichzeitig die Flut hereinkommt. Doch als mein Großvater das Licht der Welt erblickte, war Ebbe. Das hat aber nicht er mir erzählt. Ich habe es von den Dorfbewohnern erfahren, die auf den Bänken vor ihren Häusern saßen und tratschten. Seit ich diese Geschichte kenne, mag ich den Anblick der Ebbe nicht mehr.

Früher hatte Großvater ein Boot besessen und sein Geld damit verdient, mehrmals in der Woche am Kai ein paar Fische zu verkaufen. Das Boot war Großvaters Ein und Alles, nichts anderes im Leben zählte für ihn. Wie auf allen Fischerbooten im Ort prangten auch auf seinem Boot zwei riesige gemalte Augen. Die Fischer nannten sie Drachenaugen, denn ein Boot ist ein Drache, der die Wellen bezwingt. Die leuchtenden Farben vertreiben die anderen Meereslebewesen. Alle paar Monate malte Großvater die Augen mit frischer dunkelroter Farbe aus und erneuerte die schwarzen und blauen Linien, die um den Bootsrumpf herumliefen. So machten es alle Fischer. Aus der Ferne sah sein Boot wie ein riesiger, von schillernder Kraft getriebener Tropenfisch aus. Ab und zu brachte Großvater eine frische Teerschicht auf, weil er hoffte, dass sein Boot mit der glänzend glatten neuen Haut wie ein Walfisch durch die Wellen gleiten würde. Nach einem großen Fang ließ er das Boot in der Sonne trocknen. Er reparierte die Lecks, und meine Großmutter half, die Fischernetze zu flicken, denn nach jedem Fang gab es neue Löcher. Anschließend ließ er das Boot an einem frühen, strahlend blauen Morgen wieder zu Wasser. Trotz begrenzter Benzinvorräte fuhr er weit aufs offene Meer hinaus. Manchmal kam er bis Gong Hai, der Meerenge zwischen China und Taiwan. Weiter durfte er nicht, denn es war verboten, in die Formosastraße hineinzufahren. Hier draußen waren nur noch wenige Schiffe unterwegs, und Großvater hatte das Gefühl, das Meer gehöre ihm allein. Außerdem gab es mehr Fische, und die Aale waren fetter und länger als anderswo. Zwei oder drei Tage später kam Großvater dann zurück, manchmal völlig erschöpft, aber meistens mit einem guten Fang an Bord.

Zu jener Zeit kaufte in chinesischen Fischerorten kein Mensch toten oder halbtoten Fisch, denn der galt als minderwertig. In unserer Küche wurde alles lebend gekocht, damit so viel wie möglich von der Energie, dem Chi des Meeres, erhalten blieb. Wenn die Boote zurückkamen, standen meine Großmutter und die anderen Fischerfrauen schon wartend am Ufer. Sie hatten sich Eimer an den Beinen festgebunden und harrten im seichten Wasser in Nähe der Ankerplätze aus, bis ihre Ehemänner die Boote verließen. Dann eilten sie herbei, um den Fang auszusortieren. Garnelen kamen in einen Eimer, Aale in den anderen. Barsche wurden in eine Schüssel mit Wasser geworfen, Muscheln und Krabben wanderten gemeinsam in ein großes Fass. Nur wenige Minuten später tauchten die Fischhändler vom Stadtmarkt auf, um die schönsten und frischesten Stücke zu ergattern. Sie zogen gleich die speckigen Geldscheine aus den Taschen, denn es gab keinen Grund zu feilschen. Der Preis für Garnelen, Krabben und Barsche blieb immer gleich, lediglich bei den Aalen variierte er je nach Saison und danach, wie schwer es gewesen war, sie zu fangen. In Südchina gelten Aale genau wie in Japan als Delikatesse.

Doch das war in der guten alten Zeit, als die Küstenbewohner noch ungebundene Meeresräuber waren. Als die kommunistische Regierung in den Siebzigerjahren Fischerei-Kollektive einführte, wurden private Boote wie das meines Großvaters eingezogen und vom Staat »verwaltet«. Die Fischer bildeten Teams, deren Größe in einer bestimmten Relation zur regionalen Bevölkerungszahl stehen musste, und betrieben den Fischfang von großen, industriellen Schiffen aus. Die Meeresabschnitte wurden ihnen zugewiesen, und alles, was gefangen wurde, gehörte dem Staat, der die Ausbeute nach einem Quotensystem an die Familien verteilte. Mein Großvater weigerte sich, einem Kollektiv beizutreten. Er war unglücklich, weil man ihm sein altes Leben genommen hatte, die Zeiten, die er weitab vom Alltagstrott und all den Menschen, die er verachtete, allein auf seinem Boot verbrachte. Im Kollektiv hätte er unter staatlicher Aufsicht zusammen mit völlig Fremden industrielle Fischereitechniken erlernen müssen, und das in einer Atmosphäre, in der jeder jeden verpfiff. Für so ein Leben war Großvater nicht gemacht. Schließlich stammte er noch aus der Qing-Zeit, er war fast genauso alt wie unser letzter Kaiser. Großvater identifizierte sich mit den Qing und nicht mit der so wankelmütigen wie unberechenbaren Kommunistischen Partei. Als sein Boot in den frühen Siebzigerjahren in einen Taifun geriet – eine der schrecklichen Heimsuchungen, die jeden Sommer vom Südpazifik her kommend über das Ostchinesische Meer hinwegfegen – und völlig zerstört wurde, gab er die Fischerei auf. Er wurde missmutig, trank den ganzen Tag und begann meine Großmutter regelmäßig zu verprügeln. Seit meinem dritten oder vierten Lebensjahr habe ich ihn nur noch dumpf in seinem Zimmer brütend und mit einer Flasche in der Hand in Erinnerung.

Außer Fischen hatte mein Großvater nichts gelernt, und so konnte er kein Geld mehr verdienen. Er hungerte und war nicht mehr in der Lage, meine Großmutter und mich ordentlich zu versorgen. Eines Tages fand er dann an einer Straßenecke ein großes Holzbrett, zu dem er sich zwei Bänke aus der Küche holte und vor unserer Haustür einen Laden improvisierte. In diesem Laden versuchte er alles zu Geld zu machen, was ihm in die Hände fiel: Gemüse, sauer eingelegte Fische, Garnelenpaste, Seife, Nägel und Zigaretten. Seine Zigaretten sahen immer ein wenig seltsam aus, er verkaufte sie stückweise, es waren die »Schätze«, die er am Strand fand. Ursprünglich waren sie dicht an dicht in Schachteln verpackt gewesen wie teure Kekse aus dem Westen. Sie stammten von den vielen taiwanesischen Schiffen, die im Sturm kenterten oder im Krieg mit den Kommunisten gesunken waren. Die »Schatzkisten« wurden zusammen mit anderem Treibgut an den Strand gespült, und Großvater wurde zum Strandgutsammler. Tagelang wanderte er am Meeresufer entlang und durchstöberte die Gaben der See. Irgendwie gelang es ihm immer, vom Meerwasser aufgeweichte Zigarettenschachteln zu finden. Manchmal brachte er auch feine amerikanische Kekse in bunten Dosen mit, oder er tauchte mit Lebensmittelkonserven auf, meistens Bohnen. Die Zigaretten packte er aus und trocknete sie in der Sonne. Dann verschönerte er sie und verkaufte sie billig. Dieses Geschäft funktionierte eine Weile lang, doch es war vom Fortgang der Konflikte in der Formosastraße abhängig. Schiffsuntergänge waren im Ostchinesischen Meer schließlich nicht an der Tagesordnung, und manchmal trieb die Strömung die Ausbeute der Wracks auch weiter nach Süden.

Immerhin konnte mein Großvater uns auf diese Weise eine Weile lang über Wasser halten. Jeden Tag gab es Haferbrei und gekochten Seetang zu essen. Unsere Nachbarn, die Familien der Fischer, die auf den Schiffen des Kollektivs arbeiteten, schenkten uns hin und wieder ein bisschen Reis oder ein paar Nudeln. Doch wir wussten alle, dass die Strandsammlertage meines Großvaters nicht von Dauer sein würden.

Shitang

Einige behaupteten, Shitang sei eine Insel, andere nannten es eine Halbinsel. Etwa dreihundert Kilometer von der Küste Taiwans entfernt, lag Shitang als feuchter Vorposten des Festlands an der ostchinesischen Küste und fing frühmorgens die ersten Sonnenstrahlen ein. Im Jahr 2000 schaffte der Ort es sogar bis in die Fernsehnachrichten, weil auf einer in Richtung Osten blickenden Klippe eine Sonnen-Statue errichtet worden war. Mit der Sonne hatte das Objekt allerdings nicht die geringste Ähnlichkeit, es sah eher aus wie ein riesiger, schmaler Monolith aus dem Film 2001: Odyssee im Weltraum, doch es lockte Touristen in die Stadt. Die Bewohner Shitangs fanden das ganze Theater ziemlich seltsam, hatten sie doch schon immer gewusst, dass ihre Stadt der östlichste Punkt Chinas war. Was sollte also plötzlich die Aufregung?

Wörtlich übersetzt bedeutet Shitang Steinteich. Vielleicht war die Gegend vor vielen tausend Jahren eine Salzwasserlagune hinter der Küste gewesen, bis Menschen kamen und das Land trockenlegten. Auch Hongkong und Macau waren schließlich auf Marschwiesen und Sumpfland errichtet worden. Das Haus meiner Familie war ein kleines grünes Steingebäude am äußersten Zipfel der Halbinsel. Großvater lebte oben im ersten Stock und konnte durch eine Fensterluke über seinem Bett aufs Meer hinausblicken. In meiner Erinnerung ist das Meer immer gelbbraun, egal, ob man es vom Fenster meines Großvaters aus betrachtete oder vom Strand. Die gelbbraune Farbe kam von den weitläufigen Tangfeldern im seichten Uferwasser. Wir nannten den Tang haifa – Meereshaar. Er bestand aus langen, groben Stängeln mit blattartigen, grünbraun gestreiften Wedeln. Ineinander verschlungen wie ein Schwarm glitschiger Seeschlangen, waren sie ein ziemlich ekliger Anblick, doch wir liebten den Geschmack von Seetang. Entweder ließen wir ihn in Aalsuppe ziehen oder brieten ihn mit Schweinefleisch. Wir wurden ihn nie leid, genauso wenig wie die kleinen Kelpfische, die wir zwischen den Algen fanden.

Der Boden in Shitang war sehr salzig und nicht für den Ackerbau geeignet. Es gab fast keine Bäume im Ort, bis auf die besonders robusten Gardenien. Sie wuchsen zwischen den Steinen und Felsen, und ihre weißen Blüten wirbelten im salzigen Wind. Es war die einzige Pflanzenart, die der gelben Meeresgischt widerstand. Ich liebte die üppig duftenden Blüten, die sich die Frauen oft in die Zöpfe flochten. Über dreißig Jahre später stieß ich eines Tages in Nordeuropa auf eine Gardenie. In der klaren europäischen Luft sog ich den vertrauten Duft ein und weinte. Dieser Gardenienbaum hatte nichts in meinem Leben im Westen verloren. Sein Geruch machte mich traurig, eine Trauer, unter die sich eine Spur von bittersüßem Heimweh mischte und die mich sofort in meine Kindheit an der taifunumtosten Küste des Ostchinesischen Meers zurückversetzte.

Während Großvater als Einziger im Haus einen Blick auf die Tangfelder und die schäumende See hatte, lebten Großmutter und ich unten im Erdgeschoss, wo die Fenster von den Wäscheleinen der Nachbarn verdeckt wurden und gesalzene Tintenfische und Sensenfische an Stangen hingen. Damals hätte ich nicht sagen können, ob ich unser Haus hasste oder liebte. Ich lebte dort, bis ich siebeneinhalb war, und das Haus war einfach unser Haus, so wie Shitang einfach unsere Heimat war. Ich hatte keinen Vergleich, kannte keine Alternativen. Doch Jahre später, nachdem ich Shitang längst verlassen hatte, spürte ich, dass dieser Ort alle Zärtlichkeit in meinem Herzen getötet hatte. Shitang war zu einem Stein in meiner Brust geworden. Die scharfen Ecken und Kanten der Steinhäuser hatten auch mich versteinert, mich unbarmherzig und aggressiv gemacht.

Ursprünglich hatte unsere Straße Anti-Piratengasse geheißen, erst in den 1980er-Jahren wurde sie in Vorderer Grenzhang umbenannt. Der alte Name stammte noch aus der Ming-Dynastie. Damals wurde der Küstenabschnitt regelmäßig von Piraten aus dem Ostpazifik angegriffen und belagert, sodass die lokalen Milizen sich mit Gewehren und selbst gebastelten Bomben bewaffneten. Das alles lag nun schon vierhundert Jahre zurück, und ich hatte das Gefühl, dass seither nichts Bedeutendes mehr geschehen war, abgesehen davon, dass die Kommunalregierung irgendwann die Buddha-Bilder in ihren Büros durch Mao-Porträts ersetzt hatte. Von der Kaiserzeit bis heute war die Gegend immer tiefste Provinz geblieben. Die wenigen dramatischen Geschichten hatten alle mit dem Meer zu tun und ergaben sich aus unserer Nähe zu Taiwan.

In den Sechziger- und Siebzigerjahren gab es immer wieder Fischer und andere Dorfbewohner, die bei Nacht und Nebel bis nach Taiwan zu kommen versuchten. Sie glaubten, dass sie dort von der nationalistischen Regierung wie versprochen mit Gold und Ackerland empfangen werden würden. Einige hatten tatsächlich Glück und schafften es, doch die meisten wurden zurückgeholt und bestraft: Den Onkel und Bruder eines Bekannten hatten sie noch knapp vor den internationalen Gewässern erwischt und zum Tode verurteilt. »Im Morgengrauen erschossen« und »lebenslänglich« – dröhnte es regelmäßig aus den Lautsprechern im Dorf. In den 1970er-Jahren besaß noch niemand bei uns ein Radio oder einen Fernseher. Die Nachrichten hallten in voller Lautstärke durch die Straßen. Unser Haus stand direkt gegenüber einem Strommast, an dem zwei Lautsprecher hingen. Regelmäßig wurden wir frühmorgens von Kommunistenliedern geweckt, denen ein »im Morgengrauen erschossen« folgte. Obwohl die Todesstrafe damals noch gang und gäbe war, erfüllten die Durchsagen mich jedes Mal mit Entsetzen. Ich war zwar noch nie bei einer Erschießung dabei gewesen, doch der Dorfklatsch reichte, um mich erschauern zu lassen.

Unsere Straße, die bei einem buddhistischen Tempel in den Bergen begann und vor dem Strand am offenen Meer endete, war die Marktstraße von Shitang. Der Lärm von draußen erfüllte unser Haus: laute Stimmen, Geschrei, Streiten, Feilschen, krähende Hähne, kreischende Kinder und Schweinegrunzen. Von morgens bis abends. Niemals auch nur einen Moment lang Ruhe und Frieden. Für mich war der Marktlärm das Geräusch Chinas. Wo man auch hinging, überall wimmelte es von Menschen. Meine Großeltern kannten jeden im Dorf, ein Fremder wäre ihnen sofort aufgefallen. Großvater war missmutig und grüßte niemanden auf der Straße, obwohl er alle kannte. »Was macht deine Schaluppe, alter Guo?«, fragten ihn die Leute, oder »Hast du heute schon gegessen?« – das lokale Äquivalent für »Hallo«. Großvater reagierte mit keinem Wort. Er grunzte und ging weiter, ohne auch nur die Augenbrauen zu heben.

Großmutter war genau das Gegenteil, doch sie wusste auch, dass sie mit ihrer Freundlichkeit nichts gegen den Klatsch tun konnte, der über ihre Ehe mit Großvater im Umlauf war. Kein Wunder, denn der Klatsch war die einzige Form von Unterhaltung, die es in Shitang gab.

Großmutter

Meine Großmutter war eine gute, manchmal ein wenig ängstliche Frau. Obwohl sie fast nie einen Pfennig in der Tasche hatte, schaffte sie es immer, ein paar kleine Geschenke für die Kinder, die draußen auf der Straße spielten, zusammenzukratzen: Bonbons, Reisreste oder eine Handvoll bunter Muscheln. Sie war gutmütig, still und der bescheidenste Mensch, der mir jemals begegnet ist. Ich bildete mir ein, dass ihr Buckel eine Folge dieser Demut war. Er machte sie langsam, sie konnte noch nicht einmal in einem normalen Tempo gehen. Natürlich spielten dabei auch ihre winzigen gebundenen Füße eine Rolle, über die sie sich aber nie beklagte. In meiner Erinnerung ging sie schon immer vornübergebeugt, lange bevor sie alt wurde. Oft hänselten mich die anderen Kinder wegen ihr: »Deine Großmutter sieht aus wie eine Riesengarnele, sie kann nur ihre Zehen sehen!« Oder: »Da kommt die Schildkröte auf ihren Hinterbeinen!« Großmutter trug ihr dünnes weißgraues Haar immer zu einem Knoten am Hinterkopf gebunden. Wegen ihres kaputten krummen Rückgrats war es sehr mühsam für sie, sich die Haare zu waschen, außerdem schlief sie sehr schlecht. Nachts weckten mich ihre langgezogenen Seufzer und das Knarren des Bambusbetts, in dem sie ihren verwachsenen Körper umherwälzte.

Damals machte man auf dem chinesischen Land keine Fotos, deshalb werde ich nie erfahren, wie sie als junge Frau ausgesehen hat. Vielleicht war sie ein ganz hübsches Mädchen gewesen, wenn auch sehr klein und dünn. Ihre Eltern hatten ihre Ehe arrangiert, als sie noch ein Baby war. Mit zwölf Jahren wurde sie dann als Kindsbraut zu meinem Großvater geschickt – oder besser: an ihn verkauft, für einen Sack Reis und acht Kilo Yams. Von ihrem Heimatdorf bis nach Shitang war es ein zweitägiger Fußmarsch gewesen, auf dem ihr Vater sie begleitet hatte. In Wahrheit kam sie, um ihren hungrigen Magen zu füllen, denn sie wusste nicht, dass ihr alter Ehemann selbst nicht viel Reis in seinem Fass hatte. Es waren die 1930er Jahre, in denen China unter dem Joch des Bürgerkriegs zwischen den Kommunisten und der nationalistischen Regierung litt. Bald darauf fielen die Japaner ins Land ein und überzogen es bis 1945 mit ihren Gräueltaten. Großmutter konnte sich noch vage daran erinnern, wie japanische Soldaten ihr Haus geplündert hatten, während die Familie sich in den Bergtempeln versteckte. Als sie Wochen später zurückkamen, sahen sie, dass ihnen bis auf einen alten Wok, der immer noch auf dem Herd stand, nichts von Wert geblieben war. Als Großmutter den Deckel anhob, starrte ihr ein großer brauner Kackhaufen entgegen. Ich muss um die sechs gewesen sein, als sie mir diese Geschichte erzählte, und damals glaubte ich, dass sie im ganzen Japanisch-Chinesischen Krieg nichts anderes getan hatten, als in Woks zu scheißen. Mehr hatte Großmutter nicht über jene Zeit erzählt, obwohl sie alle Kriege miterlebt hatte, die es seit Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts in China gegeben hatte.

In den 1970er Jahren lebten die einfachen Leute in den Dörfern noch wie zu Zeiten des Feudalismus. Frauen wurden wie billige Ware gehandelt. Meine Großmutter war in unserem Fischerort immer eine Außenseiterin geblieben. Da sie in einem Bauerndorf im Landesinneren aufgewachsen war, kannte sie das Meer und die Lebensweise der Fischer nicht. Wie alle Frauen aus der Gegend setzte sie niemals einen Fuß in das Boot ihres Mannes oder in irgendein anderes Boot. Eine Frau im Boot brachte Unglück.

Oft sah ich Großmutter weinen. Meistens schluchzte sie still und allein in der hintersten Küchenecke oder vor der weißen Porzellanstatue der Göttin Guanyin, die auf einem Bord an der Küchenwand stand. Großmutters Blick war fast immer umwölkt. Sie betete täglich zu Guanyin, der Göttin der Barmherzigkeit, die in unserer Gegend besonders verehrt wurde. »Xiaolu, ich habe ein Hundeleben, das sich kaum zu leben lohnt«, sagte sie einmal, als ich fünf oder sechs war und etwas mehr von der Welt zu verstehen begann. »Aber ich bete für dich, für deine Mutter und deinen Vater.« In dem Alter hatte ich keine Vorstellung von meinen Eltern, und Großmutter äußerte sich immer nur sehr zurückhaltend über unsere Familie.

Auch über meinen Großvater redete Großmutter nie, zumindest nicht in meiner Gegenwart. Sie hatte Angst vor ihm. Wenn er sich näherte, erstarrte sie, und manchmal begann sie sogar zu zittern. Ich habe die beiden nie zusammen in einem Bett liegen sehen oder auch nur länger als eine halbe Stunde im selben Zimmer. Großvater aß fast nie mit uns in der Küche. Wenn er es aber tat, zog sich meine Großmutter zurück und setzte sich in eine Ecke am Herd, den Platz, an den die Frau in der chinesischen Tradition gehört. Großmutter aß auch nur Essensreste. Normalerweise aber verschwand Großvater mit seiner Reisschüssel nach oben, wo er sich in seinem Unglück suhlte und mit Alkohol volllaufen ließ. Ich glaube, er hat Großmutter zutiefst verachtet: Zum einen, weil es Tradition war, seine Frau zu verachten, zum anderen, weil Großmutter aus dem Landesinneren kam und nicht wusste, wie man sich als Frau eines Fischers zu verhalten hatte. Man erzählte mir, er habe bereits im ersten Ehejahr begonnen, seine Frau zu hassen. Großmutters Vergehen war, dass sie nicht wusste, wie man im Haus eines Fischers einen Fisch isst. In Shitang haben wir Fische immer vom Schwanz her gegessen, man fing nie am Kopf an. Als Erstes den Kopf eines Fisches zu essen brachte Unglück. Doch das wusste Großmutter nicht. Sie wollte ihre Bescheidenheit demonstrieren und nahm sich ein klein wenig von dem Teil des Fisches, den mein Großvater nicht anrührte, woraufhin dieser wutschnaubend den Tisch verließ. Großmutter bemühte sich, die lokalen Sitten und Gebräuche zu erlernen, doch es war zu spät. Es gelang ihr nie, sein Herz zu erobern.

Meine Großeltern führten eine schreckliche Ehe. Großvater verprügelte seine Frau fast täglich, und zwar wegen Kleinigkeiten: Mal holte sie ihm nicht schnell genug die Streichhölzer, wenn er rauchen wollte, dann wieder schmeckte ihm ihr Essen nicht, oder sie war nicht in der Küche, wenn er Hunger hatte. Manchmal verprügelte er sie auch ganz ohne Grund. Er trat gegen ihre kurzen dünnen Beine, schubste sie und stieß sie zu Boden. In unserem Haus war das ein ganz normaler Anblick. Großmutter weinte erst, wenn er gegangen war, sie blieb einfach auf dem kalten Steinboden liegen. Diese Szenen haben mich schon in früher Kindheit abgestumpft, ich sah sie einfach zu oft. Außerdem war häusliche Gewalt in den 1970er Jahren auf dem Land noch gang und gäbe. Ich stand meinem Großvater nicht nahe, weil er mir gegenüber nie Zuneigung oder Wärme zeigte, doch für ein Ungeheuer hielt ich ihn auch nicht. Dort, wo ich aufwuchs, schlug jeder Mann seine Frau und seine Kinder. Morgens, abends und in der Nacht, ständig schluchzte irgendjemand in der Nachbarschaft. Erst hörte man eine brüllende Männerstimme und das Geräusch von herumfliegenden Möbeln, dann das Weinen einer Mutter oder einer Tochter. So war das Leben in der Provinz. Schläge waren völlig normal. Damals nahm ich mir vor, nicht zu heiraten, weil ich hoffte, dann einigermaßen sicher zu sein.

Ich erinnere mich noch, wie meine bucklige alte Großmutter einmal ihre mageren Ersparnisse zusammenkratzte, um mir einen Eislutscher zu kaufen, natürlich die billigste Sorte, die nur aus Zuckerwasser bestand. Sie hatte den Lutscher in ihr schmutziges Taschentuch gewickelt, in das sie ihren Lungenschleim hustete, und war mich in der sengenden Hitze des Sommernachmittags suchen gegangen, um mir das kleine Stück Eis zu bringen. Doch bis sie endlich herausgefunden hatte, wo ich mich im Dreck wälzte oder mit einer Kinderbande Krieg spielte, war in ihrem rotzverschmierten Taschentuch nur noch ein zusammengeschmolzener Rest übrig geblieben. Sie hielt mir den dünnen kleinen Stiel mit dem Eisklumpen hin. »Schnell, leck es auf!«, rief sie, noch ganz außer Atem von der Suche. Ich war durstig genug und schleckte es weg wie ein Straßenköter. Das war die Liebe meiner Großmutter, auch wenn ich damals nicht wusste, was »Liebe« bedeutete. Liebe – so etwas gab es bei uns nicht, zumindest wurde nicht darüber geredet. Erst später, als ich erwachsen war, begriff ich, dass meine Großmutter mich geliebt haben musste. Ich habe ihr wirklich etwas bedeutet. Ein Eislutscher kostete damals genauso viel wie ein Gemüsebrötchen. Für unsere Maßstäbe war es eine luxuriöse Liebe, deshalb hätte ich Großmutter beistehen müssen, insbesondere, wenn mein Großvater ausrastete und mit Fäusten auf sie losging. Doch ich war zu klein und hatte selbst Angst vor ihm. Lieber versteckte ich mich, so schnell ich konnte. Auch mir liefen Tränen übers Gesicht, aber nicht wegen meiner Großmutter. Es waren Zornestränen, ich heulte vor Wut, weil ich in diesem Scheißkaff gelandet war und mich so unendlich einsam fühlte.

Die Göttin der Barmherzigkeit

Über unserem Küchentisch thronte eine kleine weiße Porzellanstatue der Göttin Guanyin. Seit ich mich erinnern konnte und bis zu dem Tag, an dem ich Shitang verließ, hing sie dort. Die Statue war immer von einer dicken Staubschicht bedeckt, denn meine Großmutter war so kurzsichtig, dass sie nicht sah, wie schmutzig sie war. Mit gleichgültigem Gesichtsausdruck starrte Guanyin in die nur schwach beleuchtete Küche, an der alten Bank vorbei, von der sich die Farbe schälte, den kaputten Regenschirmen und Großmutters Kamm, der still und zahnlos auf dem Fensterbrett lag.

Guanyin ist unsere Göttin der Barmherzigkeit. Oft wird sie mit der Jungfrau Maria verglichen, vielleicht, weil man sie gern mit einem Weidenzweig im einen und einem Baby im anderen Arm darstellt. Doch bei unserer Göttin der Barmherzigkeit geht es nicht darum, dass sie einen zukünftigen Gott großzieht. Guanyins Erbarmen gilt all den leidgeplagten Ehefrauen und unglücklichen Töchtern.

Meine Großmutter, die lieber zu Guanyin betete als zu Buddha, identifizierte sich mit der Göttin. Von Frau zu Frau.

Guanyin – 观音 – bedeutet wörtlich: die das Klagen der Welt hört. Der Legende nach lebte Guanyin vor tausend Jahren als Tochter eines grausamen Königs. Eines Tages bat ihr Vater sie, einen reichen Mann zu heiraten, den sie nicht liebte. Guanyin erwiderte dem König, dass sie nur dann heiraten werde, wenn durch die Verbindung die drei großen Übel der Menschheit gelindert werden könnten: Alter, Krankheit und Tod. Wenn sich aber durch ihre Ehe keines dieser Leiden ändern werde, wolle sie sich lieber zurückziehen und ihr Leben der Religion weihen. Als ihr Vater fragte, wer denn diese Leiden lindern könne, nannte sie ihm einen Arzt. Dieser Mann sei in der Lage, alle drei Übel zu heilen. Der König wurde wütend. Er wollte seine Tochter mit einem mächtigen und reichen Mann verheiraten, nicht mit einem Heilkundler. Er bestrafte sie, indem er sie zu harter Abend zwang und sie hungern und dursten ließ. Doch Guanyin gab nicht nach.

Jeden Tag bettelte die Königstochter, sie einem Tempel beitreten und Nonne werden zu lassen. Schließlich gab ihr Vater nach, doch um ihren Willen zu brechen, erwirkte er, dass seiner Tochter die schwersten Arbeiten gegeben wurden. Guanyin aber war ein so guter Mensch, dass selbst die Tiere, die in der Umgebung des Tempels lebten, ihr halfen. Voller Wut zündete ihr Vater den Tempel an und hoffte, die Flammen würden auch seine Tochter verschlingen. Guanyin saß in der Falle und war dem Tod geweiht, doch da erschien ein weißer Tiger, rettete sie aus den Flammen und brachte sie in die Unterwelt. Als Guanyin aus ihrer Ohnmacht erwachte, fand sie sich im Land der Toten wieder. Ihr Blick ruhte auf den laut klagenden Seelen, und unter diesem Blick beruhigten sich die weinenden Kinder, begannen zu lächeln und zu spielen. Die Männer hörten auf, sich zu geißeln, und fanden ihren inneren Frieden. Die vertrockneten Weidenbäume schlugen grün aus, der tote Lotus trieb im stehenden Wasser Blüten. In der Hölle sah Guanyin all die Schrecken und Qualen, die Menschen erleiden müssen. Der Schmerz überwältigte sie. Voller Mitleid nutzte sie das gute Karma, das sie im Lauf ihres Lebens angesammelt hatte, und befreite die armen Seelen, die zurück auf die Erde durften. Seither wird sie als Göttin verehrt und Göttin der Barmherzigkeit genannt.

Dies war eine der wenigen Geschichten, die mir meine Großmutter jemals erzählte. Ich erinnere mich noch an meine erste Reaktion:

»Großmutter, warum können nicht alle Frauen wie Guanyin sein und unverheiratet bleiben?«

Großmutter sah mich an und schüttelte den Kopf. »Wir Frauen müssen heiraten«, seufzte sie dann. »Sonst werden wir bestraft.«

Ich fand, das war eine sehr schlechte Regelung für die Frauen, denn bestraft wurden sie auf jeden Fall, man musste nur meine Großmutter anschauen.

Trotzdem verstand ich, warum Großmutter täglich zu Guanyin betete. Frauen wie meine Großmutter wurden nicht um ihrer selbst willen geschätzt. Zuerst war sie eine pflichtbewusste Tochter gewesen und dann eine pflichtbewusste Ehefrau und Mutter. Bis sie eines Tages verlassen und vergessen werden würde.

Während der Kulturrevolution sollte die Göttin der Barmherzigkeit noch einmal bestraft werden. Anfang der 1960er Jahre wurden alle westlichen Bilder und Symbole wie die Jungfrau Maria oder Jesus Christus verboten und zerstört. Doch die Christen im Untergrund wollten die Jungfrau Maria weiter verehren und verkleideten sie deshalb als Guanyin-Statue mit einem Kind im Arm. An einem unauffälligen Teil ihres Körpers wurde ein Kruzifix versteckt. Eine Weile lang überlebte diese Mischung aus chinesischer Göttin und westlicher Madonna, bis Mao seine Bewegung »gegen den Feudalismus und gegen den Aberglauben« ausrief. Die Regierung in Peking ordnete an, dass alles, was irgendwie mit Chinas feudaler Vergangenheit zu tun hatte (etwa Bildnisse von Königen und Königinnen, volkstümliche Traditionen und Tempel) zerstört werden sollte. Über Nacht wurden auf dem Marktplatz antifeudale Versammlungen einberufen. Man zerschmetterte die Statuen der Göttin der Barmherzigkeit, und die versteckten Kreuze in der Robe Guanyins verschwanden genauso in der Versenkung wie das kleine Kind auf ihrem Arm. Bis zum Ende der 1970er Jahre, als Guanyin-Statuen wieder zugelassen wurden, hatte meine Großmutter ihre geliebte Porzellanstatue im Kleiderschrank versteckt, dann konnte sie ihren Glauben an eine Wiedergeburt durch Gebet wiederaufnehmen. Das nächste Leben konnte nur besser werden als das, was sie bisher gefristet hatte.

Schwertfisch

In Shitang waren alle verrückt nach Schwertfisch. Die guten Fischer prahlten, wie viele Exemplare sie in einer Saison fangen würden (bei Aalen machten sie es oft genauso). Mit der Zubereitung von Schwertfisch, egal ob gedünstet, gegrillt oder gebraten, gaben die Fischersfrauen sich besonders viel Mühe, und die Fischhändler auf dem Markt versuchten die Schwertfische so lange wie möglich außerhalb des Salzwassers am Leben zu erhalten, weil so das Fleisch wunderbar saftig blieb. Mir waren Schwertfische nicht ganz geheuer. Besonders bedrohlich fand ich ihre langen, scharfen Schnäbel, die wie Schwerter durchs Wasser schnitten und alles aufspießten, was ihnen in die Quere kam.

Unser nächster Nachbar war Da Bo. Er war um die vierzig, und weil er vier Töchter hatte, die alle ungefähr in meinem Alter waren, glaubte ich, dass mein Vater genauso alt sein musste wie er. Da Bo war ein geschickter Fischer und genoss einen guten Ruf. Im Unterschied zu meinem Großvater, der mit seinem Boot Schiffbruch erlitten und dann alles verloren hatte, sorgte Da Bo dafür, dass sein Boot immer in einwandfreiem Zustand war. Regelmäßig segelte er mit ihm aufs Meer hinaus, auch noch, als in unserer Region die Fischerei-Kollektive eingeführt wurden. Ich ging oft mit seinen Töchtern zum Kai, um mit ihnen zusammen auf Da Bos Rückkehr zu warten. Die vier Mädchen hörten alle auf den Namen Feng, was Phönix bedeutet. Unterschieden wurden sie durch Zahlen, von der Ältesten ausgehend bis hinab zur Jüngsten hießen sie Yifeng (Phönix Eins), Erfeng (Phönix Zwei), Sanfeng (Phönix Drei) und Sifeng (Phönix Vier). Es war aber keinesfalls so, dass sie von Da Bo und seiner Frau schlecht behandelt wurden, weil sie nur nutzlose Mädchen waren und keine heißersehnten Söhne. In meinen Augen hatten die Fengs es wirklich sehr gut bei ihren Eltern. Da Bo behandelte sie einfach wie Söhne. Ich musste unwillkürlich über meine eigenen Eltern nachdenken. Wenn sie mich geliebt hätten, würde ich doch sicher bei ihnen wohnen …

Als wir einmal in Da Bos Hinterhof spielten, erklärte er uns, wie man Schwertfisch fängt.

»Schwertfische sind die schnellsten Meeresfische. Sie können bis auf zweitausend Fuß Tiefe hinabtauchen und dann wie ein Pfeil wieder hochschnellen. Könnt ihr euch das vorstellen?« Da Bos blutunterlaufene Augen blitzten, und sein Blick durchbohrte mich. Wie ein Schwertfisch, musste ich denken.

Zaghaft schüttelte ich den Kopf.

»Schwertfische sind sehr schwer zu fangen, deshalb sind sie ja so wertvoll.« Während er redete, entwirrten Da Bos Hände ein Fischernetz. Seine Frau hielt das andere Ende fest und versuchte alle Stellen ausfindig zu machen, die geflickt werden mussten.

»Und, was meint ihr? Wie schaffe ich es wohl, sie zu fangen?«, fragte er voller Eifer. »Ich verrate es euch: Weil ich niemals schlafe! Ich fange sie bei Mondlicht, wenn die See ruhig ist. Ich mag es nämlich nicht, wenn die anderen Meeresjäger um mich herum sind. Schwertfische sind gefährliche Raubfische, weil sie große Flossen haben. Sie haben fast keine Feinde, nur Wale sind stark genug, um sie angreifen und fressen zu können. Ich fahre im Dunkeln mit meinem Boot raus und umkreise sie leise. Am besten fängt man sie in Garnelengründen, denn Schwertfische lieben Garnelen. Mannomann, die Teufel sind so verdammt schnell! Beim geringsten Schimmern eines Hakens oder einer Harpune tauchen sie blitzschnell weg. Wenn sie verletzt sind, rammen sie ihre Schwerter manchmal durch unsere Bootsrümpfe. Einmal habe ich gesehen, wie sich ein ganzer Schwarm von ihnen zusammenrottete und von der Seite mein Boot angriff. Einer von ihnen war fast vier Meter lang, fast halb so groß wie mein Boot! Ich dachte schon, die Scheißkerle würden es zerlegen.«

»Und was ist dann passiert?«, fragte ich. Ich fand die Geschichte gruselig.

»Sie haben überall Löcher ins Holz gebohrt, und das Boot ist vollgelaufen. Aber letzten Endes bin ich gut mit ihnen zurechtgekommen. Ich habe ein Viermetermonster mit meinen dicken Handschuhen gepackt und seinen Kopf mit einem Ruder zertrümmert.«

Da Bo stand auf, zog ein kleines Messer aus der Hosentasche und schnitt ein Stück von dem getrockneten Schwertfisch ab, der am Ast eines Lorbeerbaums hing. Ich nahm es und steckte es sofort in den Mund. Nachdem ich eine Weile lang darauf herumgekaut hatte, beschloss ich, dass meine Zähne nicht stark genug für Schwertfisch waren. Er schmeckte wie ein salziges Steak, hatte aber die Konsistenz von einem Stück Presspappe. Ich bekam das Stück nicht durch den Hals, eher hätte ich wohl noch die Schuhe meines Großvaters runterwürgen können. Also spuckte ich den Schwertfisch wieder aus. Da Bo nahm es mir nicht übel, er lachte nur.

Da ich keine Erfahrung mit dem Genuss von Schwertfisch hatte, vermutete ich, dass er gut schmeckte, solange er nicht getrocknet und gesalzen war. Meine Großmutter konnte sich Delikatessen wie Schwertfisch natürlich nicht leisten. Sie kaufte nur die billigsten Meeresfrüchte, kleine Krabben und Garnelen, die man mühselig schälen musste und aus denen sie eine Art saures Fischmus zubereitete. Meistens aber kaufte sie Quallen, denn die waren billig; für nur fünf Cent bekam man eine ganze Schüssel voll. Am besten schmeckten mir die sauer-würzigen weißen Kugeln in Ingwersauce. Das war mein Lieblingsessen, meine Vorstellung von Luxus, mein Schwertfisch ohne stolzes Schwert.

Die Hui

Als ich sechs war, erzählte mir einer unserer Nachbarn, dass ich eine Hui sei und keine Han-Chinesin. Ich hatte keine Ahnung, was das bedeutete. Der Nachbar meinte, die Hui würden kein Schweinefleisch essen, aber bei uns daheim schlangen wir es nur so herunter. Wir aßen jedes Fleisch, das im Ort zu kriegen war, einschließlich das von Hunden und Katzen, aber am liebsten Schwein. Ich ging also heim und befragte meine Großeltern. Mein Großvater, einsilbig wie immer, antwortete erst gar nicht. Und meine Großmutter wusste nichts über die Hui, da ihre Ahnen alle Han-Chinesen waren. »Mich musst du nicht fragen!«, sagte sie nur. »Du weißt doch, dass Großmutter dumm ist und weder lesen noch schreiben kann, noch nicht einmal den eigenen Namen.«

Und so ging ich zum Bahnhofsvorsteher. Er war um die vierzig und für den Fernbusverkehr unserer Kleinstadt verantwortlich. Die Leute erzählten sich, dass er schon viel in der Welt draußen herumgekommen sei und fast alles wisse. Außerdem war er Mitglied der Kommunistischen Partei. Nicht, dass ich gewusst hätte, was das bedeutete, aber mir war klar, dass es eine besondere Leistung sein musste. Ich ging also den weiten Weg zum Busbahnhof, der auf einem Hügel hoch über der Küste lag.

»Bahnhofsvorsteher, was sind Hui?«, fragte ich. Er stand am Fahrkartenschalter und hielt einen Ticketblock und einen Kuli in der Hand. Um seinen Hals hing eine Trillerpfeife, mit der er die Leute zum Einsteigen aufforderte. Doch jetzt war Mittag, und alle Busse waren abgefahren. Er hatte ein wenig Freizeit und kaute geröstete Sonnenblumenkerne, während sein Blick über den Bahnhof schweifte.

»Hui? Die stammen von Mongolen oder Türken ab. Deine Ahnen waren Tartaren.«

»Tartaren?« Ich verstand kein Wort.

»Ja. Sie stammen aus dem Norden oder genau genommen aus Zentralasien«, fuhr der Bahnhofsvorsteher fort. »Ein sehr mächtiges und brutales Volk. Hast du schon mal von den Mongolen gehört?«

Ich schüttelte den Kopf. Wie hätte ich in diesem Nest etwas über Mongolen erfahren sollen?

»Die Mongolen reiten auf Pferden und schlafen in Jurten auf der Steppe. Sie halten nichts davon, Reis anzubauen, und fischen können sie auch nicht.« Als Nächstes erklärte er mir, was eine Jurte ist.

»Sie schlafen in ihren Jurten auf dem blanken Boden?« Die Vorstellung gefiel mir, ich stellte es mir lustig vor, unter einem riesigen Regenschirm unter freiem Himmel zu wohnen.

»Du könntest von den Mongolen abstammen. Weißt du, einer von dreihundert Chinesen ist mit Dschingis Khan verwandt, dem großen Kaiser aus der Yuan-Dynastie. Ich wette, dass du eine von ihnen bist.«

Eine von ihnen? Ein Abkömmling von Dschingis Khan? Ich war sprachlos und ziemlich verwirrt.

»Bahnhofsvorsteher, soll das heißen, dass ich gar nicht aus dieser Gegend komme? Sondern von da, wo sie auf Pferden reiten und auf dem Boden schlafen?« Ich lechzte geradezu danach, dass er es mir bestätigte.

»Ja. Und wenn du groß bist, wirst du genauso sein wie deine Tartarenverwandten. Du wirst ein langes Messer bei dir tragen und die Welt erobern.«

Ich war schon immer ein wildes kleines Mädchen gewesen, und aus irgendeinem Grund hatte ich eine besondere Vorliebe für Heldenepen. Was der Bahnhofsvorsteher mir erzählte, machte einen tiefen Eindruck auf mich. Mit einem langen Messer die Welt erobern – für ein schmächtiges kleines Ding wie mich war das kaum vorstellbar. Es klang seltsam, aber wunderbar.

»Dein Großvater müsste eigentlich wissen, woher deine Familie stammt, frag doch ihn!«

»Aber Großvater redet nicht gerne, das weißt du doch. Noch nicht einmal zu Hause redet er.«

Während wir uns unterhielten, traf ein vollbesetzter Bus mit Fremden ein. Auf dem Dach festgezurrt, türmten sich Hühnerkäfige, Hochzeitsquilts und Gepäck. Die Abgase waren so stickig, dass ich mich fast übergeben musste. Der Bahnhofsvorsteher nahm seine Pflichten wieder auf, blies laut in die Trillerpfeife und machte dem Busfahrer verschiedene Handzeichen.

Während er den Busfahrer einwies, drehte er sich noch einmal zu mir um: »Wenn du eines Tages deine Eltern triffst, werden sie dir sagen, woher du kommst.«

Ich beobachtete die staubbedeckten Passagiere, die Hühner und ihre Einkäufe aus der nächstgelegenen größeren Stadt bei sich trugen, beim Aussteigen und versuchte mir ein Bild von meinen Eltern zu machen. Man hatte mir erzählt, dass sie woanders arbeiten müssten, in einer neugegründeten Stadt, die eine ganze Tagesreise von unserem Ort entfernt liege. Einmal musste ich immerhin schon bei ihnen gewesen sein, denn schließlich hatte meine Mutter mich zur Welt gebracht, doch mein armer Kopf war leer: kein Bild, keine Details. Ich hatte auch nicht das Gefühl, sie zu vermissen. Wie soll ein Kind auch Eltern vermissen, mit denen es noch nie zusammengelebt hat? Kann ein Mensch, der keine Liebe kennt, die Liebe vermissen?

Das Landleben im China der 1970er Jahre war bildungsfern: kein Fernsehen, keine Bücher oder Zeitschriften, keinerlei Zugang zu Informationen, die nicht vom Staat kontrolliert waren. Die kommunistische Ideologie durchdrang alle Lebensbereiche und ließ kaum Raum für private Gespräche über Liebe und Intimität. Ich kann mich nicht erinnern, vor meinem zwölften oder dreizehnten Geburtstag jemals das Wort Liebe gehört zu haben. Niemand nahm es in den Mund. Wenn man es hörte, dann höchstens zu Propagandazwecken für Mao und die Kommunistische Partei. In dem Zusammenhang wurde jedoch der Begriff »re ai«, 热爱, verwendet, der so viel wie »heiße Liebe« oder »leidenschaftliche Hingabe« bedeutet. Man sollte sich mit Haut, Haar und Herz der Partei und dem Großen Vorsitzenden Mao hingeben. Private Beziehungen galten nichts, und Liebe erst recht nicht. Jahre später fragte ich mich, ob das der Grund dafür war, dass meine Großmutter so oft allein in ihrer Küchenecke saß und weinte. Es gab so wenig Liebe in ihrem Leben. Sie konnte noch nicht einmal den Kommunismus oder die Lehren des Vorsitzenden Mao lieben, denn sie verstand sie ja nicht. Vermutlich hat sie ihren Sohn geliebt, meinen Vater. Aber der ließ sich fast nie mehr zu Hause blicken. Wir waren von meinen Eltern verlassen worden und von der Vorstellung abgeschnitten, dass man sich mit Haut, Haar und Herz dem Vorsitzenden Mao und der Kommunistischen Partei hingeben soll.

Piraten des Ostchinesischen Meers

Vor vierhundert Jahren, zur Zeit der Ming-Dynastie, waren regelmäßig lokale Milizen auf ihrem Weg in den Kampf gegen die japanischen Piraten durch unsere Gasse marschiert. Der Bahnhofsvorsteher stammte von einem dieser Kämpfer ab. Er versäumte keine Gelegenheit, Geschichten über seinen mutigen Ahnen zum Besten zu geben.

»Weißt du, warum wir die Piraten wokou genannt haben?«, fragte er mich einmal, als ich mir eine Geschichte über die Heldentaten seiner Familie anhörte.

»Wokou?« Ich schüttelte den Kopf. Es war ein ungewöhnliches Wort, das nur noch die ganz Alten im Dorf benutzten.

»Wo bedeutet ›kleine Menschen‹, Zwerge, wie die Japaner eben. Kou bedeutet Bandit oder Räuber, in diesem Fall handelte es sich um Seeräuber.« Der Bahnhofsvorsteher ging in die Hocke und malte mit dem Zeigefinger zwei Schriftzeichen in den Sand: 倭寇. Die Schriftzeichen hatten fürchterlich viele Striche, bestanden aus unterschiedlichen Radikalen und sahen wahnsinnig kompliziert aus. Als ich beobachtete, wie er mit dem Finger in den Sand schrieb, fragte ich mich, ob ich jemals Schreiben lernen würde, vor allem so komplizierte Schriftzeichen. Mir war unbegreiflich, woher Erwachsene dieses Wissen hatten, in meinen Augen war es unerreichbar. Kein Wunder, dass meine Großeltern Analphabeten waren.

»Die wokou, die japanischen Piraten, lebten auf kleinen Inseln draußen im Meer zwischen unserer Küste und Japan. Sie waren arm, und im Vergleich zu uns lebten sie wie die Wilden. Du musst wissen, dass damals die Zeit der reichen und kultivierten Ming-Dynastie war. Die wokou fischten nicht und bauten auch kein Gemüse an wie wir. Sie lebten auf Booten und fuhren die chinesischen Küsten ab, wo sie den Einwohnern Essen und Kleider raubten. Sie haben auch viele Menschen umgebracht …«

Menschen umbringen! Wie grauenerregend! Zum Glück würde ich diesen Zwergpiraten niemals begegnen.

»Einige von ihnen waren sogar Chinesen. Sie lebten auf winzigen Inseln im Ostchinesischen Meer und halfen den japanischen Teufeln, unsere Städte auszurauben. Wir konnten ihren Dialekt nicht verstehen. Weißt du, damals verstand man in China nur Menschen aus der eigenen Region. Doch mein Ur-Ur-Ur-Ur-Urgroßvater hatte ein Gefühl dafür, ob es sich um Piraten handelte oder nicht. Selbst wenn sie noch meilenwert entfernt draußen auf dem Meer waren, erkannte er es.«

»Wie konnte er das denn erkennen? Haben sie anders ausgesehen als wir?«, fragte ich.

»Ja. Sie haben sehr schäbige Kleider getragen – zerlumpte Mäntel und zerrissene Mützen. Wie ich schon sagte, sie waren viel kleiner als wir! Echte Zwerge waren das, hinterhältige, fiese Zwerge. Ihre Schiffe waren schlecht gebaut, und sie selbst hatten keine Manieren. Wenn man genau hinsah, erkannte man, dass keine Fischernetze aus den Schiffen heraushingen, denn dazu waren sie viel zu faul! Sie haben nur geklaut und nie gearbeitet.«

»Und wie hat dein Ur-Ur-Ur-Ur-Urgroßvater gegen sie gekämpft?« Ich wollte endlich die richtige Geschichte hören, doch der Bahnhofsvorsteher schweifte immer wieder ab.

»Ah! Er meldete sich freiwillig zum Kampf, nachdem die Zwergräuber unser Dorf angegriffen hatten. Sie kamen immer bei Nacht, raubten die Häuser aus und ermordeten die Menschen in ihren Betten. Vor dem Morgengrauen sind sie dann mit unseren Schweinen und Reissäcken zu ihren Booten zurückgelaufen. Schließlich schickte der Mingkaiser einen General namens Qi Jiguang. General Qi war ein hervorragender Soldat. Er bildete meinen Ur-Ur-Ur-Ur-Urgroßvater und die anderen Bauern und Fischer des Dorfes aus. Bei ihm lernten sie, wie man mit Gewehren und Schwertern umgeht, und sogar Schwimmen! Kannst du dir das vorstellen? Damals konnte in Shitang kein Mensch schwimmen, obwohl wir schon seit Jahrhunderten Fischer waren.« Der Bahnhofsvorsteher machte eine Kunstpause, um zu sehen, ob mir die Tragweite dieser Information bewusst war.

Ich schüttelte erst den Kopf, nickte aber im nächsten Moment sehr ernsthaft. Ja doch, das konnte ich mir vorstellen, denn mein Großvater war Fischer und hatte nie schwimmen gelernt. Wie wir alle glaubte er, die Meeresdämonen würden ihn holen, wenn er ins Wasser ging.

»Das war bestimmt sehr schwer für den General, den Fischern das Schwimmen beizubringen. Sicher hatten sie alle Angst davor, von Seeungeheuern gefressen zu werden«, sagte ich und stellte mir die im Wasser herumplanschenden Fischer vor.

»Da hast du Recht, Xiaolu. Du bist ein schlaues Mädchen.« Der Bahnhofsvorsteher tätschelte mir sanft den Kopf. »Aber General Qi kam aus dem Landesinneren, außerdem hatte der Kaiser ihn geschickt, deshalb war es ihm egal, was unsere Fischer über Seeungeheuer dachten. Er stellte sehr strenge Regeln auf. Und er hat es geschafft, zum Schluss waren alle unsere Männer ausgebildet. Auf Betreiben des Generals hin haben sie in unserer Provinz sogar vierzig große Kriegsschiffe gebaut!«

Wow! Ich war beeindruckt. In meinen Augen war der General der wahre Held und nicht der Vierfachurgroßvater des Bahnhofsvorstehers, der eigentlich nur ein einfacher Soldat gewesen war.

»So kam es, dass wir die Zwergpiraten schließlich besiegten. Fortan haben sie sich nie wieder in die Nähe unserer Küste gewagt! Und die Menschen bei uns haben gelernt, richtig große Schiffe zu bauen. Sie waren so groß, dass man alles auf ihnen mitnehmen konnte, was man brauchte, um mehrere Tage auf See zu leben.«

»Und was ist aus deinem Ur-Ur-Ur-Ur-Urgroßvater geworden, Bahnhofsvorsteher?«

»Er ist in der Schlacht gefallen. Viele von unseren Fischern starben. Diese widerwärtigen Banditen!«, fluchte der Bahnhofsvorsteher.

Es hieß immer, nur wer im Kampf sterbe, sei ein Held. Wenn der Ur-Ur-Ur-Ur-Urgroßvater des Bahnhofsvorstehers nicht im Kampf gefallen wäre, würde seine Familie jetzt nicht von einem Helden abstammen. Das Schicksal seines Ahnen hatte dem Bahnhofsvorsteher Respekt im ganzen Dorf verschafft. Ich machte mich auf den Heimweg. Bilder von großen Schiffen schwirrten mir durch den Kopf. Wie gerne hätte ich auf einem Schiff mit genügend Essen und Trinken gelebt. Dann wäre ich frei gewesen, und ich hätte überall hinfahren können. Die Welt hätte mir offengestanden.

Ungewöhnlicher Besuch

Bis zum Tag der Volkszählung, an dem die Gemeindeverwaltung zwei Männer zur Datenerhebung in unsere Straße schickte, hatte ich nicht gewusst, wie meine Großeltern hießen. Es war Ende der Siebzigerjahre, und man hatte gerade die Ein-Kind-Politik eingeführt, deshalb nahm die Regierung die Identitätsprüfungen sehr ernst. Großvater wurde im Dorf nur »alter Guo« genannt, das war sein Familienname, und meine Großmutter hieß für alle »Großmutter« oder einfach nur »Shi«, 氏, was »Frau« bedeutet. Bislang war ich nicht einmal auf die Idee gekommen, dass meine Großeltern Vornamen haben könnten, darum hatte ich auch nie danach gefragt. Für eine alte Frau war es zu der Zeit normal, keinen Namen zu haben. Als dann Ende 1978 die Haushalte in Shitang überprüft wurden, herrschte allseits große Verwirrung. Die Regierung wollte nicht nur genaue Angaben zur Person (Name, Alter, Geburtsort, politischer Status, Zahl der Kinder etc.), sondern in den Dörfern und Städten mussten alle Straßennamen auf Metallschildern angegeben werden. Außerdem sollte auf jeder Haustür eine Hausnummer stehen, damit der Briefträger sich leichter zurechtfand und die Regierung die jeweiligen Familienverhältnisse besser kontrollieren konnte.