Stadt der Steine - Xiaolu Guo - E-Book

Stadt der Steine E-Book

Xiaolu Guo

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Beschreibung

Die ergreifende Reise einer jungen Chinesin zu ihren Ursprüngen

Als die junge Chinesin Coral eines Tages einen getrockneten Aal aus ihrem Heimatdorf zugeschickt bekommt, bricht die Vergangenheit mit Macht über sie herein. In ihrer winzigen Wohnung im lärmenden Beijing erscheint er ihr wie ein Bote aus einer längst vergessenen Welt: das ärmliche Fischerdorf an der ostchinesischen Küste, in dem sie aufwuchs, die gewaltigen Stürme, die wortkargen Menschen mit Herzen aus Stein, gefangen in ihren strengen Traditionen. Und Coral erinnerst sich an die tief in ihrem Inneren vergrabenen Erlebnisse, die damals in ihr nur einen einzigen Wunsch wachsen ließen – diesem Ort zu entkommen und sich weit fort in der pulsierenden Metropole ein neues Leben aufzubauen.

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Seitenzahl: 288

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Buch

Coral ist 28 Jahre alt und lebt in einem bescheidenen Apartment in Beijing. Eines Tages erhält sie ein Paket aus ihrem fernen Heimatdorf am Ostchinesischen Meer. Es enthält einen riesigen Aal, gesalzen und getrocknet, wie es in dem kleinen Fischerort ihrer Herkunft Tradition ist. Und mit dem salzigen Geruch des Meeres, der dem Aal entströmt, steigen in Coral Bilder aus ihrer Kindheit herauf: Bilder von den schwarzen Klippen, den dicht gedrängten Häusern und den geduckten Menschen – alles aus Stein, auch die Herzen der Bewohner. Es ist eine archaische Welt, in der die früh verwaiste Coral heranwuchs, den Widrigkeiten einer ungezähmten Natur ebenso ausgesetzt wie der Entbehrung von Wärme und Geborgenheit. Doch schmerzhafter als alle anderen Erinnerungen ist ein traumatisches Erlebnis, das Coral als junges Mädchen veranlasst hatte, der Stadt der Steine für immer den Rücken zu kehren.

Nun kann sie sich zum ersten Mal seit vielen Jahren der Bilder nicht erwehren, die sie an der tiefsten Stelle des Meeres begraben glaubte. Immer unaufhaltsamer sickert die Vergangenheit in die hektische, lärmende Gegenwart der Millionenstadt Beijing ein. Und Coral begreift, dass sie noch einmal in das Dorf zurückkehren muss, um die Wunden der Vergangenheit endgültig zu heilen und ihr eigenes Leben beginnen zu können.

Autorin

Xiaolu Guo gehört zu den interessantesten Autorinnen der jüngeren Generation in China. 1973 in einer kleinen Stadt am Chinesischen Meer geboren, ging sie mit 18 Jahren nach Beijing, wo sie an der Filmhochschule studierte. Im Jahr 2002 zog sie nach London. Ihr noch in China geschriebener Roman „Stadt der Steine“ wurde hier 2004 von Presse und Lesern begeistert aufgenommen. Danach begann Guo, auf Englisch zu schreiben. All ihre nachfolgenden Romane waren für renommierte Preise nominiert. Mit ihrer Autobiographie „Es war einmal in Fernen Osten“ gewann sie den National Book Critics Circle Award 2017.

Die Autorin lebt mit ihrer Familie in London und Berlin.

  Xiaolu Guo  

Stadt der Steine

Roman

Aus dem Englischen von Anne Rademacher

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Die chinesische Originalausgabe erschien 2003 bei Shanghai Culture and Art Publishing House, Shanghai. Die englische Ausgabe erschien 2004 unter dem Titel «Village of Stone» bei Chatto & Windus, London.

Die englische Übersetzung entstand in enger Zusammenarbeit mit der Autorin.

Copyright © der Originalausgabe 2004 by Xiaolu Guo Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2005 by Albrecht Knaus Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München. Umschlaggestaltung: Sabine Kwauka CN · Herstellung: Str. ISBN: 978-3-641-22909-2V003

www.goldmann-verlag.de

Meiner Heimatstadt Shi Tang, in der alles begann

 

 

Ich sehe mich auf einem Boot, das aufs Meer hinausfährt, aufs Meer der Stadt der Steine. In meiner Erinnerung türmen sich die Wellen immer deutlicher vor mir auf, je weiter ich mich von dieser ungeheuerlichen Stadt mit ihren ungeheuerlichen Gebäuden und ungeheuerlichen Menschen entferne. Unterwegs feuere ich Torpedos ab, stürme die geheimen Festungen meiner Seele, bis sie eine nach der anderen fallen. Meine Trommelfelle beben von den Explosionen, und die spritzenden Schaumkronen durchnässen meine Kleidung. Bald ist alles vorbei, das Meer beruhigt sich. Die Torpedos sinken in die Tiefe, explodieren weiter in Fischschwärmen. Das Meer färbt sich rot, und ich leide – all die Fische. Ich wollte sie nicht sterben lassen, ich wollte es wirklich nicht. Weinend stehe ich auf dem Boot und sehe meine Tränen ins Meer tropfen, ins Meer der Stadt der Steine, dem Ort, an dem ich meine Fische begrabe, meine Erinnerungen, meine Kindheit und alle Geheimnisse meines früheren Lebens.

 

Xiaolu Guo, Herbst 2000

1

Alles begann mit einem Paket, einem Paket, in dem ein getrockneter und gesalzener Aal steckte, aufgegeben von einem namenlosen Absender unter einer unbekannten Adresse in der Stadt der Steine.

Es ist ein großer, etwa fünfundachtzig Zentimeter langer Meeraal, ganz intakt, mit Schwanz- und Seitenflossen. Die Schwanzflosse ist außergewöhnlich lang. Ich stelle mir vor, wie dieser Aal nach dem traditionellen Verfahren der Stadt der Steine behandelt wurde, bei dem man ihn erst mit zwei Kilo grobem Meersalz pro fünf Kilo Aal bestreute und dann in der Sonne trocknen ließ. Man sieht noch die Narbe an der Stelle, wo das Messer in den silberweißen Bauch des Aals schnitt, um dann wieder herauszufahren und den Aal langsam vom Kopf bis zur Schwanzflosse aufzuschlitzen, bis er in zwei lange Streifen auseinanderfiel, die nur noch in der Mitte zusammenhingen.

Ein so riesiger Aal, überlege ich, muss im siebten Monat des Mondkalenders gefangen worden sein, in dem die Aale besonders fleischig und schmackhaft sein sollen. Als Erstes wird man ihm die Eingeweide ausgenommen haben, dann hat man ihn sicher an ein Nordfenster gehängt, wo er die Fischsaison des Winters über trocknete, bis er hart wie eine Messerklinge war. Dann muss ihn irgendeine Hand – wessen Hand, weiß ich nicht – vom Dachbalken genommen und in ein Paket gewickelt haben, das in eine tausendachthundert Kilometer weit entfernte Stadt geschickt wurde, die Stadt, in der Red und ich zu Hause sind.

Als ich das nach Fisch stinkende Paket auf den Küchentisch lege, steht Red neben mir. Red, mein bester Freund in dieser Stadt und der einzige Mann in meinem Leben, fragt mich argwöhnisch, woher das Paket kommt.

«Die Stadt der Steine», antworte ich abwesend.

«Die Stadt der Steine?» Die Worte scheinen Red zu verblüffen, als wären es kaum verständliche Silben einer altertümlichen Sprache.

Das Paket ist schwer. Als ich den riesigen Aal aus dem Einschlagpapier wickle und auf den Tisch lege, ist Red vor Schreck wie gelähmt. Der Aal wirkt auf unheimliche Art lebendig. Die monströse Schwanzflosse steht nach oben ab, als wolle das Tier jeden Moment losschwimmen.

Und sofort werde ich von Erinnerungen überflutet – der Salzgeruch des Ostchinesischen Meeres und der Geruch eines Taifuns über der Stadt der Steine, das alles scheint dem Körper des Aals zu entströmen. Synapsen verbinden sich, Schleusen gehen weit auf, und der reißende Strom der Erinnerung kann ungehindert fließen. Er strömt durch die Tunnel der Vergangenheit, droht die Erde zu überschwemmen und den Himmel zu verdunkeln.

Ich habe die ersten fünfzehn Jahre meines Lebens in der Stadt der Steine verbracht, doch ich habe sie weit hinter mir gelassen. Jetzt lebe ich tausendachthundert Kilometer von ihr entfernt mit einem Mann zusammen, der nichts über meine Vergangenheit weiß, in einer Stadt, die sich auf jede nur denkbare Weise von meinem Geburtsort unterscheidet. Schon seit Jahren habe ich jeden Briefkontakt zur Stadt der Steine abgebrochen, doch jetzt muss ich plötzlich an sie denken – an die Dinge, die dort passierten, und an die Menschen, die dort lebten. All diese Menschen, deren Leben meines berührten und deren Leben ich berührte.

Wäre mir nicht von einem fernen Ort dieses Paket mit einem getrockneten und gesalzenen Aal geschickt worden, hätte ich nie wieder an all das gedacht, was in der Stadt der Steine geschehen ist.

Doch so begann die Erinnerung.

2

Ich will das Tor zur Vergangenheit noch einen Moment lang schließen und ein wenig über die Gegenwart erzählen. Red und ich leben in der gewaltigen, sonnenversengten Megalopole Beijing. Ich bin achtundzwanzig, und Red ist neunundzwanzig, doch in wenigen Tagen wird er dreißig. Laut Konfuzius soll ein Mensch mit dreißig Jahren sesshaft werden, aber Red und ich hatten noch nie das Gefühl, irgendwohin zu gehören, was in einer Stadt wie dieser auch schwer fällt. Ich denke, wir sind in dem Alter, in dem man sich des Verlusts seiner Jugend bewusst wird, auch wenn sich für mich nichts Wesentliches verändert hat. Mit achtundzwanzig hat man die Dummheit der Jugend gerade hinter sich gelassen, ist aber immer noch weit von den Achtzigern entfernt. Das Einzige, was ich an dieser Zahl irgendwie von Bedeutung finde, ist, dass die Meeresgöttin Mazu Niangniang achtundzwanzig war, als sie starb. Natürlich haben die Menschen in der Stadt der Steine niemals das Wort «gestorben» benutzt. Sie sei «direkt in den Himmel aufgestiegen» und unsterblich geworden, hieß es. In der ganzen Stadt gab es keinen Fischer und keine Frau, die das Andenken der Meeresgöttin nicht in Ehren gehalten hätten. Zu ihren Lebzeiten war Mazu Niangniang eine weise Frau, von der man sagte, sie könne schlechtes Wetter vorhersagen und sogar Schiffe aus einem Taifun retten. Als Mazu Niangniang mit achtundzwanzig an einer Krankheit starb, hinterließ sie eine Reihe von Tempeln, die zu ihrem Andenken gestiftet wurden. Aus ihnen wehten Weihrauchwolken über den Taifun umtosten Felsvorsprung der Stadt der Steine. Und jetzt bin ich selbst achtundzwanzig geworden. Ich lebe noch, und es geht mir gut, auch wenn ich nicht ganz sicher bin, ob man es wirklich gut nennen kann, denn ich habe oft Angst. Wovor ich Angst habe, weiß ich selbst nicht so genau. Mazu Niangniang hat sicher nie Angst gehabt. Vielleicht konnte sie gerade deshalb anderen so viel Liebe und Mitleid entgegenbringen. Ich habe mich immer nur um mich selbst gekümmert.

Ich arbeite in einer Videothek im Haidian-Viertel im Norden Beijings, in einer Nebenstraße der Universitätsstraße. Es ist ein winziger Laden, der zwischen anderen Häusern eingezwängt ist und an einer Allee aus riesigen Pappeln liegt. Jedes Frühjahr werfen diese Pappeln Millionen flaumiger weißer Samenhülsen ab, die wie schmutzige Bällchen aus Rohbaumwolle durch die Luft schweben. Links von der Videothek befindet sich ein Drogeriemarkt, der sich auf die Art Medikamente, Spielzeuge und Stimulierungsmittel spezialisiert hat, die man euphemistisch als «Erwachsenenartikel» bezeichnet. Im Laden zur Rechten wird knallbunte Kinderkleidung eines kleineren Herstellers verkauft. Unsere drei Läden existieren sehr friedlich nebeneinander, da keiner von uns jemals dem anderen die Kundschaft streitig machen kann. So klein und unauffällig unsere Läden auch sein mögen, gerade mal winzige Pünktchen auf einem Plan, so braucht uns diese Stadt genauso, wie wir diese Stadt brauchen.

Ich arbeite halbtags in der Videothek. Der Laden ist nur zwölf Quadratmeter groß, und die Wände sind mit Postern von Filmstars wie Jackie Chan, Tom Cruise und Julia Roberts und mit Werbeplakaten für Filme aus Amerika und Hongkong vollgepflastert. Meine Aufgabe ist es, Videos zu verleihen, deshalb stehe ich jeden Tag hinter der winzigen Theke und helfe den Kunden, die gewünschten Kassetten zu finden, tippe Preise in die Kasse und schaue in die neuesten Filme rein. Die Arbeit ist zwar recht eintönig, aber immerhin kann ich dabei Filme sehen, und ich verdiene genug, um unsere Miete zu zahlen. Red hat gerade wieder einen Job geschmissen, vielleicht besser so, denn er hasst jede Arbeit. Er sagt, arbeiten sei idiotisch. Zum Glück hat er Eltern, die ihm finanziell unter die Arme greifen. Doch insgesamt ist Red ein anständiger Kerl, auch wenn ich nicht weiß, wie lang wir noch zusammen sein werden.

Red und ich leben wie ein Paar Einsiedlerkrebse in einem riesigen Hochhausblock. Er hat fünfundzwanzig Stockwerke, und wir wohnen im Erdgeschoss. Manchmal, wenn wir unter die Decke gekuschelt im Bett liegen, haben wir das Gefühl, als würden unsere Körper immer schwerer, bleiern und unbeweglich. Vielleicht hat das mit den vierundzwanzig Stockwerken über uns zu tun, mit der geballten Schwerkraft Tausender Mitbewohner, die auf uns drückt. Genau genommen passt der Vergleich mit den Einsiedlerkrebsen auch gar nicht, eher müsste man sagen, dass wir sie beneiden, weil sie in einer Behausung leben, die sie einfach mit sich herumtragen können. Einsiedlerkrebse können jederzeit aus ihrer Muschel oder ihrem Schneckenhaus herauskriechen und in eine neue, bessere Muschel umziehen, was Red und mir nicht möglich ist.

Deshalb leben wir wie zwei Einsiedler in dieser Erdgeschosswohnung, klammern uns aneinander wie zwei Ertrinkende, lesen still unsere Bücher und verschlafen die Tage wie zwei ältere Menschen, die wissen, dass sie für diese Welt nicht mehr viel Zeit übrig haben. Wir haben nie versucht, uns eine Katze oder sogar einen Hund zu halten, aber wir hatten einmal ein paar Topfpflanzen, von denen wir hofften, dass sie irgendwann blühen würden. Wir haben es leider nie erlebt, weil das gegenüberliegende, ebenfalls fünfundzwanzig Stockwerke hohe Gebäude fast kein Sonnenlicht in unsere Wohnung ließ. Anders gesagt, um auch nur ein wenig Sonnenlicht zu ergattern, hätten sich diese kümmerlichen kleinen Topfpflanzen so lang wie möglich strecken und alles Licht auftanken müssen, das morgens in der kurzen Zeit von genau acht Uhr bis acht Uhr fünfundvierzig durchs Fenster fiel. Hatten sie diese wertvollen fünfundvierzig Minuten fahlen Sonnenlichts verpasst, mussten sie abwarten und versuchen, es bei der nächsten Gelegenheit zu schaffen, wenn die Sonne zwischen sechzehn Uhr und sechzehn Uhr fünfundvierzig noch einmal ins Zimmer schien. Außerdem konnten sie nur hoffen, dass ihre Besitzer daran gedacht hatten, die Kleider wegzunehmen, die sie zum Trocknen aufgehängt hatten, ebenso all die durcheinanderliegenden Gegenstände, die ihnen das Licht nahmen. Wenn wir das vergaßen, raubten wir den Pflanzen grausam die ihnen zustehende Tagesration Sonnenlicht. Schließlich starben sie nach nur sechs Monaten bei uns einen frühen und vielleicht schicksalhaften Tod.

Eine Zeit lang besaßen wir auch zwei glupschäugige Goldfische, die wir nach den beiden Figuren der japanischen Fernsehserie Tokio Love Story Kanji Nagao und Rika Akana tauften. In der Hoffnung, dass sie sich ganz im Geist dieser unsterblichen Fernsehromanze entwickeln würden, stellten wir Kanji und Rika in einem großen grünen Glasbecken ans Fenster. Als wir nach einiger Zeit erkannten, dass sich die Goldfischzucht für uns mehr oder weniger darauf beschränkte, jede Woche auf dem Markt Ersatz- Kanjis und -Rikas zu kaufen, brachten wir es nicht mehr übers Herz, weitere Kreaturen zu dem grünen Aquarium zu verdammen. Es steht noch immer am selben Platz auf der Fensterbank, hat allerdings mittlerweile einen viel trockeneren Grünton angenommen. Die Romanze zwischen Kanji und Rika ist nur noch eine belanglose Erinnerung – Red und ich sind als einzige Lebewesen in dieser düsteren Erdgeschosswohnung übrig geblieben, wenn man mal von den Kakerlaken absieht, die gelegentlich über den Boden krabbeln.

Natürlich gibt es in unserem Hochhaus noch die anderen Mieter, und die scheinen tagaus, tagein beschäftigt zu sein. Sie kochen und kacken, vögeln und feiern, drücken ständig auf die Toilettenspülung, duschen, bohren, streiten, schlagen ihre Kinder, um sie im nächsten Moment wieder zu hätscheln, machen Aerobic-Übungen und spielen Mah-Jong – von morgens bis abends, an Wochentagen, Wochenenden und in den Ferien. Als würde die überschäumende Energie ihres Alltagslebens und die geballte Kraft ihres trivialen Daseins sich Schicht für Schicht über uns auftürmen und in alle fünfundzwanzig Stockwerke unseres Gebäudes ausdehnen. Diese Schichten drücken auf unsere triste Erdgeschossexistenz und ähneln darin meinen Kindheitserinnerungen, die sich langsam über mein sonst so ruhiges Leben zu legen beginnen. Manchmal versuche ich, mit Red über die Stadt der Steine zu reden, und dann merke ich, dass er eigentlich nur sehr wenig über mich weiß. Meine Gefühle oder meine Vergangenheit haben in unserer Beziehung nie eine besondere Rolle gespielt. Red und ich haben unterschiedliche Lebenslinien, das Blut fließt anders in unseren Adern. In der Nacht mögen unsere Körper sich vereinigen, doch unsere Erinnerungen verschmelzen nie, weder bei Tag noch bei Nacht.

Zwischen unseren Lebensgeschichten gibt es keinerlei Übereinstimmung.

Reds Welt ist ein geschlossener Kreis. Was eigentlich keine Rolle spielt. Schließlich bin ich selbst ein geschlossener Kreis, und mir bleibt nichts anderes, als in diesem Kreis irgendeinen Punkt zu finden, von dem ich losgehen, und einen, an dem ich ankommen kann. Im Kreis eines anderen Menschen werde ich weder meinen Anfang noch mein Ende jemals finden. Zwei Menschen ergeben zusammen eben nie etwas anderes als die Summe aus einem Menschen plus einem Menschen. Weil wir nicht anders können, als uns auf diese Weise zusammenzuaddieren, werden die Menschen immer einsam sein.

Die Liebe ist unsicher, unsere Jobs sind unsicher, unsere Zukunft in dieser Wohnung ist unsicher. Und meine Zukunft mit Red ist bestenfalls noch unsicherer.

Meine einzige Sicherheit ist, dass ich sehr weit von der vom Regen gepeitschten und von Taifunen umtobten Stadt am Meer weggereist bin. Ich habe eine große Entfernung zwischen mich und die kleine Fischerstadt geschoben, in der die Dächer mit Steinen bedeckt und die Straßen mit Steinen gepflastert sind. Ich habe es geschafft, meiner Kindheit zu entkommen, dem Chaos und Gefühlsaufruhr jener Jahre.

Doch die Stadt der Steine – jener winzige Fleck am Meer, der auf der Karte Chinas nicht mehr als einen dunkelblauen Punkt ausmacht und durch keine Schiffs- oder Fluglinie mit dem Rest der Welt verbunden scheint – hat noch immer eine seltsame Gewalt über mich. Ich fühle mich dieser Stadt verbunden, sie ist wie ein Traum, der pünktlich um Mitternacht wiederkehrt, oder wie hartnäckiges, schlimmes Heimweh. In den ungewöhnlichsten Situationen, wenn ich überhaupt nicht damit rechne, muss ich an sie denken: wenn ich durch Beijing laufe und die Busse höre, die in langsamem Tempo menschenleere Haltestellen anfahren, oder abends, wenn ich nach der Arbeit in der Küche den Gasherd anstelle und das Essen koche, oder morgens, kurz nachdem ich aufgestanden bin und mir Zahnpasta aus der Tube drücke. Die Erinnerungen kommen so ungefragt wie die Gezeiten in der Stadt meiner Kindheit, wie Wasser aus dem Nichts, das uns plötzlich bis zu den Knien umspült.

3

Ich war sieben, als es passierte.

Weiter zurück kann ich mich nicht erinnern. Alles, was vorher war, ist in meiner Erinnerung verwischt und undeutlich, wie Bilder, die ich durch eine regenverschleierte Fensterscheibe sehe. Doch in dem Jahr, als ich sieben war, ist so viel passiert, fürchterliche, unaussprechliche Dinge, dass ich dieses Jahr und alles, was danach kam, wohl niemals vergessen werde.

Ich war sieben, nicht mehr richtig klein und gerade alt genug, um ganz normale menschliche Regungen wie Freundlichkeit und Güte zu verstehen. Ich wusste bereits, dass die Menschen sehr warmherzig und sehr kalt sein konnten, denn ich hatte schon viel mehr gesehen als die meisten Kinder meines Alters. Für ein siebenjähriges Kind war ich sicher sehr verschlossen. Meine Eltern hatte ich nie gekannt, eine Mutter habe ich nie besessen und eigentlich auch keinen Vater. Meine Großmutter hatte mir erzählt, dass meine Mutter mich in einem Ruderboot zur Welt brachte. Es war eine schwere Geburt, und bis das kleine Boot wieder den Strand erreicht hatte, war meine Mutter am Blutverlust gestorben. Warum sie aufs Meer hinausgefahren und ob jemand bei ihr gewesen war, hat meine Großmutter mir nie erzählt. Ich selbst kann mich an diese Ereignisse natürlich nicht erinnern, und mein Vater war nicht da, um sie zu bezeugen. Er hatte die kleine Stadt schon vor meiner Geburt verlassen, um einem Dasein als Fischer zu entkommen. In seiner Abwesenheit brandmarkten die Stadtbewohner ihn wegen seiner bourgeoisen Ansichten als «kapitalistischen Herumtreiber». Das war während der Kulturrevolution. Wäre er in die Stadt zurückgekommen, hätte man ihn ins Gefängnis geworfen.

Nach meiner Geburt taufte mein Großvater mich Coral, ein Name, der mit dem Meer zu tun hatte. Die chinesischen Schriftzeichen in meinem Namen bedeuten «rote Koralle». Weiße und grüne Korallen habe ich schon oft gesehen, doch noch nie eine rote. Vielleicht steht das Rot für das Blut meiner Mutter, das Blut auf den Planken des Ruderboots. Mein Großvater gab mir auch einen Spitznamen: «Kleiner Hund». «Hund» ist ein guter Spitzname, ein Name, der Glück bringt. Mein Großvater sagte mir, dass es in unserer Stadt mindestens zehn Kinder gäbe, die «Hund» genannt wurden, denn je schlimmer ein Spitzname, so lautete die allgemeine Überzeugung, umso unwahrscheinlicher, dass sich der Meeresdämon das Kind holen kam. Und es stimmte – die schlimmsten Spitznamen brachten das meiste Glück. Jedes Jahr, wenn der Meeresdämon zur Zeit der Taifune aus dem Ozean aufstieg, um sich ein paar spielende Kinder vom Strand zu schnappen, waren es immer die Kinder mit den hübschen Namen, die verschwanden. Und mal ehrlich, niemand bei Verstand hätte sich ein Kind mit dem Spitznamen «Hund» oder, noch schlimmer, «Lepra» geholt.

Die Stadt der Steine war meine ganze Welt, meine fensterlose Festung, der Ort, an dem man mir schon bald nach meiner Geburt ein Grab schaufelte. Die Bewohner begruben ihre Toten am entlegensten Ende des schroffen Felsens, der sich hinter dem Städtchen erhob und es von der übrigen Welt abschnitt. Sobald ein Mensch geboren wurde, gingen seine Verwandten zu einem Feng-Shui-Spezialisten, um für ihn ein Grab in günstiger Lage und passender Himmelsrichtung auszuwählen. Hatte man sich für einen Platz entschieden, errichtete die Familie einen Grabstein, auf dem der Name des Neugeborenen zu lesen war, damit niemand anderes mehr diese Stätte für sich in Anspruch nehmen konnte. Wie kann ein Mensch einen Ort verlassen, an dem man ihm schon im Moment seiner Geburt ein Grab zugewiesen hat? Als Kind konnte ich mir nicht vorstellen, der Stadt der Steine jemals zu entfliehen. Nein, das wäre unmöglich. Im Alter von sieben Jahren kannte ich Worte wie «fliehen» oder «flüchten» noch nicht und hatte auch keinerlei Vorstellung von der Bedeutung, die sich dahinter verbarg. Die Worte fehlten mir nicht, so wie mir auch meine Eltern niemals gefehlt hatten. Was man nie gehabt hat, kann einem auch nicht fehlen. Es war, als hätte es meine Eltern niemals gegeben, als wäre ich einfach so aus dem Nichts entstanden.

Mit einer roten Koralle hatte ich eigentlich wenig Ähnlichkeit. Ich glich eher einem winzigen Kieselstein, der aus dem Meer angespült worden war und in einer Spalte im Straßenpflaster stecken blieb, wo er von den Vorbeigehenden festgetreten wurde. Tagtäglich liefen die Fischer in ihren wasserdichten Stiefeln und mit ihren Netzen und Korkschwimmern im Schlepptau durch die gepflasterten Gassen, ebenso die Frauen der Fischer mit den flachen runden Bambuskörben, in denen sie Garnelen trockneten. Nach dieser Prozession lag das Pflaster erst einmal nass da. Am Mittag kam dann die Sonne und ließ das brackige Wasser zwischen den Steinen verdunsten, so dass sie bald weiß gebleicht und mit einer feinen Kruste aus getrocknetem Meersalz überzogen waren.

Das Haus, in dem ich aufwuchs, lag in einer dieser gepflasterten Gassen am Meeresufer. Es war kaum mehr als ein kleiner Stein – salzverkrustet, still, unauffällig und unbedeutend. Von der Haustür meiner Großmutter lief unsere kleine Gasse weiter bis direkt ans trübe Wasser der tobenden See. Die Bucht in der Nähe unseres Hauses war früher einmal das Versteck japanischer Piraten gewesen, die hin und wieder bis in die Stadt hinaufkamen, um zu vergewaltigen, zu plündern und unter den Bewohnern ein Werk der Zerstörung anzurichten. Aus diesem Grund hieß unsere Straße Piratengasse.

Als ich sieben war, lief ich während der Taifunsaison jeden Tag hinaus ans Ende der Piratengasse, wo ich still dastand und aufs Meer hinausschaute. Es ist nur selten blau, seine normale Farbe ist ein gelbliches Braun oder ein erdfarbener Ton. Wie eine Fischersfrau, die schon viele Jahre auf die Rückkehr ihres Mannes wartet, stand ich da und sah zu, wie der Taifun die Wellen aufwühlte. Die rauen Winde umtosten mich, bis meine Haut, meine Haare, meine Augen und sogar meine Fingernägel die Farbe der See angenommen hatten. Ich war ein kleines, erdfarbenes Wesen. Mein ganzer Körper hatte die Farbe von Dreck. Die See war meine einzige Freundin, meine treue, mysteriöse und Ehrfurcht gebietende Begleiterin. Jeden Tag ging ich an den Strand und watete ins Meer hinaus. Es hatte einen ungewöhnlich beißenden, starken Salzgeschmack. Jeder Wellenberg durchdrang mich bis auf die Knochen.

Alle meine Erinnerungen an die Stadt der Steine beginnen immer bei dieser grausamen, erdfarbenen See. Das Geräusch der See, die Farbe der See, ihre Mächtigkeit und ihre Weite, ihre vier Jahreszeiten, ihre Neigung, ganze Boote zu verschlingen; der Meeresdämon, der in der Taifunsaison die Kinder vom Strand leckte, und die Frauen, die am Meeresufer standen und ihre verschwundenen Männer beklagten. Als ich sieben war, hatte ich Angst vor der See – und betete sie an.

«Den Meeressammler und den Meeresdämon trennen nur sieben Zentimeter Holzplanke.» Das war ein geliebter Ausspruch unseres Nachbarn, dem Vater meiner besten Freundin. Er war Kapitän seines eigenen Fischerbootes.

Meeressammler – so nannten sich die Fischer und Frauen der Stadt. Sie hingen vom Meer ab, lebten von dem, was sie ihm entrangen, entliehen oder in ihm fanden.

Auch unser Nachbar mit seinem Boot und der eigenen Mannschaft war ein Meeressammler. Jeder in der Stadt nannte ihn «Kapitän». Die Haut des Kapitäns hatte die Farbe von Kupfer, und ich hielt ihn für den tapfersten Meeressammler der Stadt. Einmal hatte er einen Hai gefangen, und alle Stadtbewohner kamen, um von seiner Haiknorpelsuppe zu essen. Wie es so schön heißt: Man ist, was man isst, und die Leute in der Stadt behaupteten, dass Haiknorpelsuppe die Knochen stärke.

Zumindest der Kapitän behauptete das. Er sagte immer solche Sachen.

In jenen Tagen fand man mich oft an der Seite des Kapitäns. Immer wenn ein beschädigtes Boot vom Meer hereinkam, drehte er sich zu mir um und sagte: «Hör zu, Kleiner Hund, den Meeressammler und den Meeresdämon trennen nur sieben Zentimeter Holzplanke. Das weißt du doch, Kleiner Hund?»

Das Meer war alles, was die Stadt der Steine besaß, mehr Natur war nicht da. Die Stadt war auf einer Halbinsel angelegt worden, auf der es weder Flüsse, Seen noch Ackerland gab, nur den schroffen, kahlen Berg, der hinter ihr zum Meer abfiel. Weil die Menschen in der Stadt der Steine ihre Häuser in Reihen an den unteren Berghängen hochzogen, gingen alle Straßen steil bergab. Dadurch waren die Häuser vor der Flut geschützt, und außerdem konnten sie nicht, was noch wichtiger war, von einem der zahlreichen Taifune weggefegt werden.

Meine Großmutter und die anderen Bewohner stiegen jedes Jahr auf ihre Häuser und beschwerten die schwarzen Ziegeldächer mit Steinen, um sie vor den zerstörerischen Taifunen zu sichern. Uns Kindern kam die Aufgabe zu, auf den Berg zu klettern und Steine zu sammeln. Je mehr Steine man auf sein Dach häufte, desto unwahrscheinlicher war es, dass es der Taifun wegriss – vorausgesetzt natürlich, das Dach brach nicht schon vorher unter dem Gewicht der Steine zusammen. Und so wurde aus der Stadt immer mehr eine Stadt der Steine: Die Häuser waren aus den großen Steinen gebaut, die man überall auf der Halbinsel fand, die Straßen waren mit kleineren Kieselsteinen gepflastert, und selbst die Dächer waren von Steinhaufen übersät. Aus welcher Richtung man auch auf die Stadt schaute – unten vom Ufer, vom Berg oder sogar oben vom Himmel aus –, es war eine Stadt, die ganz aus Stein bestand.

Erde gab es in der Stadt keine mehr, denn die ewigen Stürme, die während der Taifunsaison über die Halbinsel fegten, hatten den Boden immer mehr ausgewaschen, bis auch die letzte Erdschicht abgetragen war. Die Taifune und Regenstürme nahmen alles mit, was sie bekommen konnten, selbst die kleinsten und unscheinbarsten Dinge wie Unkraut, Wurzeln und Samen, Gänseblümchen, die in den Mauerritzen wuchsen – bis zum Schluss nur noch die großen Felssteine übrig blieben.

In der Taifunzeit wurden die Häuser regelmäßig überflutet, und wenn der Sturm sich dann gelegt hatte, sah man oft einzelne Pantoffeln oder Essstäbchen in den Wasserpfützen treiben. Ich erinnere mich, dass ich einmal sogar ein paar goldene Weihrauchfässchen sah, die neben einer weißen Guanyin-Statue, der buddhistischen Göttin der Gnade, schwammen. Jetzt war die Göttin genauso hilflos wie ich, ein kleines Kind. Als ich durch das Wasser watete, das mir schon bis weit über die Knie reichte, sah ich ein paar Erwachsene auf mich zugepaddelt kommen. Ich begann zu weinen und zu schreien. In dem Moment bemerkten die Erwachsenen jedoch die forttreibende Statue und eilten ihr nach, um sie aus dem Wasser zu fischen. Erst dann zogen sie mich hoch und brachten mich nach Hause und in Sicherheit.

Ob es in der Stadt der Steine irgendwo Bäume gab, weiß ich nicht mehr. Nach meinem Gefühl war es ein Ort ohne jede Vegetation. Irgendetwas muss es natürlich gegeben haben, das ist klar, doch das einzige Grün, an das ich mich erinnern kann, ist das Grün der Fischernetze am Meeresufer. Es waren Netze, die aussahen wie grüne Drachen, die sich am Strand räkelten, verknotete grüne Nylonstränge, die sich verzogen, verhedderten und um die Frauen wickelten, die in ihnen standen, um sie zu flicken. Es sprangen auch immer Kinder um die Netze herum, und obwohl sie ständig über die Schnüre stolperten und hineinfielen, weinten sie nie. Oft fand man sie sogar friedlich schlafend in einen großen Netzhaufen gekuschelt.

An den Tagen, an denen die Fischer nicht auf See waren, legten sie ihre Netze in den Höfen ihrer Häuser aus, um sie in der Sonne trocknen zu lassen. Genau – die Höfe. Jetzt fällt mir ein, dass es in den Höfen Grün gab. Im Winter waren es die grünen Blätter der Narzissen mit ihren langen Stängeln. Die Bewohner pflanzten die Narzissen in riesige Nautilusmuscheln, die sie mit Erde gefüllt hatten. Ich erinnere mich an die langen Muschelreihen, die sich im Winter über die Fensterbänke zogen, an die vielen, üppig grünen Blätter und die gelben Blüten der Narzissen. Den ganzen Winter über thronten sie auf den Fensterbänken wie winzige Statuen der Göttin Guanyin. Doch wenn dann der Frühling mit seinen Südwinden kam, welkten alle Narzissen über Nacht, als hätte jemand mit einem Pfiff den Pflanzen das Signal gegeben, auf einen Schlag ihre gelben Köpfe hängen zu lassen.

Ich selbst bin dem Frühling in der Stadt der Steine nie begegnet. Frühling? Was war Frühling? Frühling war für mich nur die Jahreszeit, die den Südwind brachte und Regenstürme durch die Stadt trieb. Heiß und nass blies der Südwind vom Meer her, kroch bis in die letzten Winkel des letzten Hauses und ließ die Wände feucht werden, so dass sie aussahen, als würden sie schwitzen. Er brachte eine triefende Schwere mit, die auf einem lastete, sich auf Haut und Haare legte und jede einzelne Pore des Körpers durchdrang. Eine Schwere, die die Bewohner unbeweglich machte, sie wie mit Bienenwachs an ihren Ort am Rande der dreckfarbenen Meeresfläche festklebte. Selbst an Tagen, an denen der Himmel klar war, so weit das Auge reichte, und das Sonnenlicht sich auf der unendlichen Meeresfläche spiegelte, spürte man noch den feuchten Atem des Windes auf der Haut und wusste, dass der Regen nicht weit war.

Als ich sieben war, stand ich immer am Ende der Piratengasse und sah zu, wie sich die Flut von der Küste zurückzog und die zerklüfteten Klippen freilegte. Ich beobachtete die Fischersfrauen, die am Strand saßen und plaudernd ihre Netze knüpften. Sie trugen weiße Gardenien im Haar. Jetzt merke ich, dass meine Erinnerung mich immer wieder trügt, denn auch diese weißen Gardenien wuchsen in den Höfen. Die kleinen, stark duftenden Blumen, die sich die Frauen der Fischer in die glänzenden Haarknoten steckten, schafften es irgendwie, den Stürmen zu trotzen. Ihre feinen weißen Blüten sprangen auf, obwohl ein Taifun durch die Stadt tobte. Jetzt sehe ich die Pflanzen deutlich vor mir, wie sie in den Höfen der Fischerhäuser in zersprungenen Tontöpfen wuchsen. Manchmal pflanzten die Leute die Gardenien auch in alte rostige Nachttöpfe, die irgendeinem Vater oder Großvater gehört hatten und nach dessen Tod einer neuen Nutzung zugeführt worden waren. Kurz vor dem Herbst begannen die Gardenienblüten zu welken und entwickelten Samenkapseln, kleine, gelbe Früchte, die von den Fischersfrauen abgeerntet und mit Mörser und Stößel zu einer Art Farbe verarbeitet wurden.

Einige Frauen, die einen besonderen Sinn für Schönheit hatten, färbten ihre schlichten weißen Baumwollhemden in einem Gefäß, das mit dieser duftenden Farbe gefüllt war. Später sah man sie dann stolz in ihren leuchtend gelben Hemden durch die Straßen flanieren.

Und es gibt noch einen Duft, der durch meine Erinnerungen an die Stadt der Steine weht. Wie konnte ich die Jasminbäume vergessen, die neben der Grundschule wuchsen, in die wir alle mit acht Jahren kamen? Unser kleiner Spielplatz lag unter einem Schirm duftender weißer Jasminblüten, sie bildeten ein riesiges schneeweißes Blütenzelt, das durchtränkt war vom Jasmingeruch. Bald konnten wir wegen der vielen Zweige nicht einmal mehr Seilspringen oder ungehindert herumrennen. Bei der morgendlichen Fahnenzeremonie verdeckten die duftenden Blüten sogar die rote Flagge, die über dem Schulhof gehisst wurde. Wenn wir zum Gruß die Hände über unsere Köpfe streckten, suchten wir vergeblich nach der Flagge, die wir grüßen sollten, denn sie war von dem ausladenden Jasmindach geschluckt worden. Später wurde der Duft des Jasmins dann unerträglich, manche Schüler bekamen Schwindelanfälle, andere entwickelten Allergien und begannen zu niesen, wieder andere verhedderten sich in seinen Zweigen. Der Duft wehte aus dem Schulhof heraus und durchzog die ganze Stadt. Manchmal kamen Frauen und brachen riesige Zweige ab, die sie mit nach Hause nahmen und in der Sonne trockneten. Die getrockneten Blüten legten sie dann während der Regenzeit in Wäschekommoden und Vorratsschränke.

«Die See ist zum Essen da», sagte mein Großvater immer. Er behauptete, dass alles im Meer essbar sei: Seeigel, Seegurken, Seesterne, Algen, Tang und sogar die Steine von den Klippen, an denen man seiner Meinung nach saugen sollte. Davon war mein Großvater felsenfest überzeugt.

«Ja, auch die Klippen sind essbar.» Ich imitierte meinen Großvater, wenn ich das sagte, und klang dann genauso überzeugt wie er.

Jeden Tag zog sich die Flut zurück und legte die schwarzen Klippen frei, die von einer grünen Flechtenschicht überzogen waren. Unter den Klippen hingen ballenweise Austern, die mit ihren schiefergrauen Schalen so gut getarnt waren, dass man sie leicht für spitze Kanten der Klippen halten konnte. In den Spalten zwischen den Felsen fand man dunkelblaue Muscheln mit dem fleischigen, lachsrosa Muschelfleisch, das wir «Meereszinnober» nannten. Manchmal fanden wir zwischen den Felsen auch besonders eklige Meeresorganismen – glitschige, grellfarbene Kreaturen mit langen, vorstehenden Köpfen, die an den Felsen hafteten und eine dickliche, gelbe Flüssigkeit absonderten, wenn man in sie biss oder schnitt. In der Stadt nannte man sie «Meeresstacheln», und es hieß, sie sähen genauso aus wie ein bestimmter Teil des männlichen Körpers. Immer wenn jemand auf diese Meeresstacheln zu sprechen kam, was meist geschah, wenn die Erwachsenen beisammen saßen, tranken, gesalzene Erdnüsse aßen und sich Geschichten erzählten, löste das allgemeines Gelächter aus.

«Ich kann in letzter Zeit verdammt schlecht schlafen», sagte dann zum Beispiel einer der Männer.

«Du kannst nachts nicht schlafen?», erwiderte ein anderer. «Dann koch dir doch einfach ein paar Meeresstacheln. Die geben dir Kraft.»

Und der Mann, der nachts nicht schlafen konnte, antwortete: «Was soll ich mit mehr Kraft? Dann kann ich ja noch schlechter schlafen!»

«Wenn du mehr Kraft hättest», rief irgendjemand dazwischen, «könntest du es deiner Frau besorgen! Danach würdest du hervorragend schlafen!»

Daraufhin brachen alle in laut röhrendes Gelächter aus, kippten noch ein paar Glas Sorghum-Whisky, und die gesalzenen Erdnüsse waren bald aufgegessen.

Die Männer kochten die Meeresstacheln in einer mit Ingwer gewürzten Brühe, bis sie eine sämige, lehmfarbene Suppe vor sich hatten. Sie galt als hervorragendes Stärkungsmittel – selbst meine Großmutter war davon überzeugt. Für mich hat sie die Suppe natürlich nie gekocht.

Das raue Leben in der Stadt der Steine war vom Meer geprägt. Seit meiner Kindheit war das Meer für mich etwas völlig Unergründliches; es gebar alles und verschlang alles. Wir lebten und starben durch das Meer. Die mutigen Fischer, die sich manchmal in seinen Bauch vorwagten, kamen mit Beute zurück; aber manchmal kamen sie auch nicht mehr zurück. Viele Fischerboote und die Netze, die von den Fischern die Küste entlanggeschleppt wurden, endeten auf dem Meeresboden. Für mich war das Meer fürchterlicher als der Tod.