Eine verführerisch unnahbare Lady - Loretta Chase - E-Book

Eine verführerisch unnahbare Lady E-Book

Loretta Chase

0,0
4,49 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

An Verehrerinnen mangelt es dem Draufgänger Darius Carsington wahrlich nicht wohl aber an seiner Bereitschaft zur Ehe. Bis sein Vater eine List ergreift: Er vermacht Darius einen ruinösen Landsitz. Gelingt es ihm nicht, diesen binnen eines Jahres wieder in Schwung zu bringen, muss er heiraten! Grimmig entscheidet sich Darius für das in seinen Augen kleinere Übel, den Landsitz doch da läuft ihm seine neue Nachbarin über den Weg ... Darius verliert fast die Fassung. Nicht dass er etwas gegen die schöne, unnahbare Lady Charlotte hätte, nein. Aber muss sie dabei derart verführerisch sein, dass sie nie gekannte Gelüste nach Liebe in ihm weckt?

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 458

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



IMPRESSUM

Eine verführerisch unnahbare Lady erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

Redaktion und Verlag: Postfach 301161, 20304 Hamburg Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0 Fax: +49(0) 711/72 52-399 E-Mail: [email protected]
Geschäftsführung:Ralf MarkmeierRedaktionsleitung:Claudia Wuttke (v. i. S. d. P.)Produktion:Jennifer GalkaGrafik:Deborah Kuschel (Art Director), Birgit Tonn, Marina Grothues (Foto)

© 2007 by Loretta Chekani Originaltitel: „Not Quite A Lady“ erschienen bei: Avon Books, New York Published by arrangement with Loretta Chekani Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe HISTORICAL GOLDBand 228 - 2010 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg Übersetzung: Alexandra Kranefeld

Umschlagsmotive: Novel Expression

Veröffentlicht im ePub Format in 10/2018 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733737733

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, HISTORICAL, MYSTERY, TIFFANY

Alles über Roman-Neuheiten, Spar-Aktionen, Lesetipps und Gutscheine erhalten Sie in unserem CORA-Shop www.cora.de

Werden Sie Fan vom CORA Verlag auf Facebook.

PROLOG

Yorkshire, England24. Mai 1812

Dürfte ich ihn wohl sehen?“, fragte das Mädchen. Und ein Mädchen war sie wahrlich, gerade siebzehn Jahre alt. Schmerz und Erschöpfung standen ihr ins kreidebleiche Gesicht geschrieben, die blauen Augen darin riesig. Sie schien viel zu jung, schon Mutter zu sein.

Es war eine schwere Geburt gewesen, die Gefahr noch nicht gebannt.

Die beiden Frauen, die sich um das Mädchen kümmerten – die eine, obgleich schlicht gekleidet, ganz offensichtlich eine Dame, die andere ebenso offensichtlich eine Dienerin –, wechselten besorgte Blicke.

Kaum ein Jahr war es her, dass die Dame die Marchioness of Lithby und Stiefmutter des jungen Mädchens geworden war, doch zeigte sie sich nicht minder mitfühlend und zugewandt als eine Mutter oder Schwester. Sie beugte sich über den blonden Schopf auf dem Kissen. „Liebes, es wäre besser, wenn du ihn nicht siehst“, meinte sie leise. „Du solltest jetzt ruhen.“

„Er ist so still“, sagte das Mädchen. „Warum ist er so still?“

Lady Lithby strich ihr über die Stirn. „Der Kleine ist … sehr schwach, Charlotte.“

„Er wird sterben, nicht wahr? Oh, Lizzie, lass ihn mich sehen! Nur einen Augenblick, bitte. Es tut mir leid, so viel Mühe zu machen …“

„Du brauchst dich nicht zu entschuldigen“, entgegnete Lady Lithby scharf. „Gib niemals dir die Schuld an dem, was geschehen ist.“

„Da hören Sie, was Ihre Ladyschaft sagt“, bemerkte die Dienerin. „Dieses durchtriebene Mannsbild hat an allem Schuld – er und diese schändliche Kreatur, die sich Gouvernante geschimpft hat. Sie hätte vor Wölfen im Schafspelz auf der Hut sein sollen. War sie aber nicht, das faule Stück. Ihnen hat sie das überlassen, Lady Charlotte – aber wie soll denn eine unschuldige junge Dame von der Verworfenheit der Männer wissen?“

Der Wolf im Schafspelz war mittlerweile tot. Getötet bei einem Duell – wegen einer Frau, versteht sich. Denn Lady Charlotte Hayward war keineswegs die Erste oder gar die Letzte, die dem Charme von Geordie Blaine erlegen war, wenngleich vermutlich die jüngste und hochwohlgeborenste.

„Siehst du?“, sagte ihre Stiefmutter. „Molly ist auf deiner Seite. Ich bin auf deiner Seite.“ Eine Träne rann ihr die Wange hinab und tropfte auf das Kissen. „Denk daran, Liebes – du kannst jederzeit zu mir kommen.“

Hättest du das nur im vergangenen Sommer getan …

Lady Lithby sprach sie nicht aus, doch die Worte hingen unheilvoll in der Stille des Zimmers.

„Es tut mir leid“, sagte das Mädchen. „Ich war so töricht. Es tut mir leid. Aber bitte, Lizzie … dürfte ich ihn sehen? Einen Augenblick nur. Bitte.“

Ihr Atem kam stoßweise, und jedes Wort bereitete ihr Mühe. Tränen standen ihr in den Augen, ihre Brust hob und senkte sich schwer. Die beiden Frauen fürchteten sie zu verlieren, waren indes darauf bedacht, sich ihre Besorgnis nicht anmerken zu lassen.

„Sie darf sich nicht aufregen“, murmelte Lady Lithby an die Dienerin gewandt. „Holen Sie ihr das Kind.“

Molly verschwand im Nebenzimmer, wo die Amme sich des Kleinen angenommen hatte.

Alles war mit großer Sorgfalt und Diskretion arrangiert worden: die Hebamme, die Kinderfrau, die Kutsche, die den Jungen gleich nach der Geburt zu seinen neuen Eltern bringen würde. Der Fauxpas seiner Mutter war bestens verborgen geblieben.

Nach ein paar Minuten kehrte die Dienerin mit dem Säugling zurück. Lächelnd erhob Charlotte sich ein wenig aus den Kissen, als Molly ihn ihr in die Arme legte. Er machte einen kläglichen Versuch, ihre Brust zu finden, gab jedoch mit einem leisen Seufzer auf.

„Nicht sterben, mein Kleiner“, sagte seine Mutter und strich über den hellen Flaum auf seinem Kopf. Mit der Fingerspitze fuhr sie ihm leicht über Nase, Lippen und Kinn. Als sie seine Hand berührte, schlossen seine winzigen Finger sich um den ihren. „Du darfst nicht sterben“, flüsterte sie ihm zu. „Hör auf deine Mama.“ Dann sagte sie noch etwas, doch so leise, dass die anderen es nicht hören konnten.

Fragend sah sie zu ihrer Stiefmutter auf. „Man wird sich doch gut um ihn kümmern?“

„Er kommt in eine gute Familie“, versicherte ihr Lady Lithby. „Sie haben sich lange vergebens um ein Kind bemüht und werden ihn mit all ihrer Liebe überschütten.“

Wenn er überlebt.

Auch dies blieb ungesagt.

Vielleicht blieb zu vieles ungesagt, doch Charlotte war sich ihrer Schuld zu sehr bewusst und der misslichen Lage, in die sie ihre Stiefmutter gebracht hatte – war sich kurzum all dessen zu sehr bewusst, was sie diesen Frauen schuldig war, um zu sagen, was ihr auf dem Herzen lag.

Vielleicht drang der Schmerz auch zu tief in ihr junges Herz und nahm ihr die Worte.

Sie schaute ihr Kind nur an und verspürte eine Trauer, die sie nicht für möglich gehalten hätte. Sie schaute ihren Sohn an, ihren wunderschönen Sohn, und dachte, wie sehr sie doch in seiner Schuld stand.

Charlotte hatte geglaubt, Geordie Blaine hätte ihr Herz gebrochen, doch das war nichts gewesen, verglichen mit dem hier. Ein unschuldiges Kind hatte sie auf die Welt gebracht. Er war schwach, er brauchte seine Mutter, doch sie konnte ihn nicht behalten.

Liebe.

Aus Liebe hatte sie geirrt und war an so vielen schuldig geworden – vor allem an dem unschuldigen Geschöpf, das sie von ganzem Herzen zu beschützen wünschte.

Liebe.

Sie machte einen blind, ganz und gar. Blind für andere. Blind für die Vergangenheit, die Gegenwart, die Zukunft. Blind für alle außer einem einzigen gewissenlosen Mann und den verwerflichen Empfindungen, die er in ihr geweckt hatte: Verlangen … Leidenschaft …

Sehr poetische Worte für simple animalische Triebe. Das erkannte sie nun, doch zu spät. Diese Empfindungen waren rasch vergangen.

Was blieb, war der kaum zu ertragende Schmerz ihrer Trauer.

Liebe.

Nie wieder. Ihre Seele ertrug es nicht.

Charlotte gab ihrem Kind einen Kuss auf die Stirn, dann richtete sie ihren tränenfeuchten blauen Blick auf die Dienerin. „Sie können ihn nun fortnehmen“, sagte sie.

1. KAPITEL

Das Schlimmste an Darius Carsington war, dass er kein Herz hatte.

Alle in der Familie waren sich indes einig, dass der jüngste Sohn des Earl of Hargate einst eines gehabt hatte. Alle waren sich einig, dass er nicht von Beginn an dazu bestimmt gewesen war, der enervierendste der fünf Söhne Seiner Lordschaft zu sein.

Zumindest äußerlich unterschied er sich kaum von den anderen.

Zwei seiner Brüder, Benedict und Rupert, hatten Lady Hargates dunkles Haar und markante Züge geerbt. Darius hingegen war wie Alistair und Geoffrey mit Lord Hargates goldbraunem Haar und bernsteinbraunen Augen gesegnet worden. Wie all seine Brüder war auch Darius groß und kräftig gewachsen. Wie die anderen vier sah auch er bemerkenswert gut aus.

Anders als die anderen war er der Gelehrsamkeit zugeneigt, und das schon von jungen Jahren an. Sein unabänderlicher Wunsch, nach Cambridge zu gehen, hatte seinem Vater Kummer bereitet, waren alle Männer der Familie doch stets nach Oxford gegangen. Cambridge habe einen höheren wissenschaftlichen Anspruch, hatte Darius beharrt. Außerdem könne man dort Botanik studieren sowie Eisenverhüttung und andere Fächer naturphilosophischer und praktischer Natur.

Wohl wahr, er hatte sich in Cambridge hervorgetan. Leider hatte es aber den Anschein, dass seit Vollendung seines Studiums sein Intellekt sowohl über seine Gefühle als auch über seine Moral die Oberhand gewonnen hätte.

Oder anders ausgedrückt: Darius unterteilte sein Leben in zwei Bereiche.

1. Studium der Tierwelt, insbesondere des artspezifischen Paarungsverhaltens.

2. Nachahmung dieses Verhaltens in seinen Mußestunden.

Punkt zwei war das Problem.

Auch Lord Hargates restliche vier Söhne waren in Sachen Frauen keine Heiligen gewesen – mal abgesehen von Geoffrey, der schon monogam auf die Welt gekommen war –, keiner von ihnen konnte es in quantitativer Hinsicht mit Darius aufnehmen.

Wobei sein leichtfertiger Lebenswandel nicht das eigentliche Problem war, denn sein Vater, seine Mutter und der Rest der Familie waren alles andere als prüde. Da er gewisse Grenzen wahrte und keine Unschuldigen verführte, konnten sie sich zudem nicht darüber beschweren, dass er ein Wüstling gewesen wäre. Da er klug genug war, sich auf die Halbwelt und die äußeren Randgebiete der beau monde zu beschränken, konnten sie sich auch über keine Skandale aufregen. Die Moral in diesen Kreisen war ohnehin so lax, dass deren Treiben keinerlei Entrüstung weckte, geschweige denn eine Erwähnung in den Skandalblättern wert gewesen wäre.

Was die Familie erzürnte, war die methodische und höchst unpersönliche Weise, mit der er zu Werke ging.

Seine Studienobjekte aus dem Tierreich bedeuteten ihm mehr als eine jede der Frauen, mit denen er verkehrte. Er konnte alle Unterscheidungsmerkmale, die großen und die kleinen, der verschiedenen Schafsrassen referieren. Aber er konnte sich nicht an den Namen seiner letzten Gespielin erinnern, geschweige denn an die Farbe ihrer Augen.

Nachdem Lord Hargate lange vergeblich gewartet hatte, dass sein achtundzwanzigjähriger Spross sich die Hörner abgestoßen oder zumindest eine irgendwie menschliche Regung hätte erkennen lassen, entschied Seine Lordschaft, dass es an der Zeit war einzugreifen.

Er beorderte Darius in sein Arbeitszimmer.

Alle Söhne Lord Hargates wussten, was eine solche Order bedeutete: Es bedeutete, dass „der alte Herr es auf einen abgesehen hatte“, wie Rupert sagen würde.

Doch Darius betrat das von Alistair „die Inquisitionskammer“ genannte Zimmer mit demselben Habitus, mit dem er ans Rednerpult zu schreiten pflegte, um einen wissenschaftlichen Vortrag zu halten: mit gestrafften Schultern, erhobenen Hauptes und einem wachen Ausdruck streitlustiger Intelligenz in den goldbraunen Augen.

Voll der arroganten Selbstgewissheit stand er vor seines Vaters Schreibtisch und erwiderte den väterlichen Blick unerschrocken. Alles andere wäre fatal gewesen, wie selbst weniger intelligente Männer wussten, die mit vier großen Brüdern aufgewachsen waren.

Auch gab er sich den Anschein, sich nicht um sein Äußeres bemüht zu haben, hätte dies doch so ausgesehen, als versuche er, das Ungeheuer zu beschwichtigen.

Tatsache war, dass Darius stets sehr genau wusste, was er tat und welchen Eindruck er erweckte.

Gut möglich, dass er sich nur einmal kurz mit der Bürste durch sein dichtes braunes Haar gefahren war. Aber dem aufmerksamen Beobachter dürfte nicht entgehen, wie vorteilhaft der Schnitt den von Natur aus goldenen Schimmer seines Haars hervorhob, welches dank der unter freiem Himmel verbrachten Zeit – allzu oft ohne Hut – mit blond gebleichten Strähnen durchzogen war. Auch auf sein Gesicht mit den scharf gemeißelten Zügen hatte die Sonne sich nicht nachteilig ausgewirkt. Ebenso diente die täuschend schlicht gehaltene Kleidung sehr wirkungsvoll dazu, die Aufmerksamkeit nicht von der kraftstrotzenden Gestalt darunter abzulenken.

Eigentlich sah er nicht wie ein Gelehrter aus. Er sah nicht einmal besonders zivilisiert aus. Und das lag nicht allein an seinem kräftigen Wuchs und der Ausstrahlung robuster Gesundheit, sondern an einer geradezu animalischen Kraft, die von ihm ausging und die erahnen ließ, dass unter der Oberfläche etwas Wildes, Ungezähmtes lauerte.

Manch einer – insbesondere Frauen – sahen in ihm weniger einen Gentleman als eine Naturgewalt.

Frauen ließen sich entweder von ihm hinreißen oder verspürten den Wunsch, ihn zu zähmen. Ebenso gut hätten sie versuchen können, den Wind oder den Regen oder das Meer zu zähmen. Er nahm sich, was sie ihm boten, und scherte sich nicht mehr um sie, als der Wind oder der Regen oder das Meer es getan hätten.

Und er wüsste nicht, warum es anders sein sollte. Derlei Begegnungen waren doch per definitionem flüchtiger Natur. Sie hatten keinen bleibenden Einfluss auf die Gesellschaft, auf die Landwirtschaft oder auf irgendetwas von Bedeutung.

Sein Vater war da ganz anderer Ansicht, wie er ihm unmissverständlich zu verstehen gab. Ein derart liederlicher Lebenswandel sei gewöhnlich, sagte er, geradezu vulgär, und die schiere Zahl seiner Gespielinnen lasse Darius langsam, aber sicher in Konkurrenz treten zu jenen untätigen – ja, unfähigen – Vertretern seines Standes, die nichts Besseres mit ihrem Leben anzufangen wüssten.

So ging es noch eine Weile weiter, in jenem erbarmungslosen Stil, der Lord Hargate zu einem der gefürchtetsten Rednern im Parlament gemacht hatte.

Sein Verstand sagte Darius, dass diese Rede lediglich eine der Logik zuwiderlaufende Litanei sei. Dennoch trafen ihn die Worte schmerzlich, was, wie er wusste, Ziel und Zweck dieser Rede war. Der rationale Mensch indes ließ sich in seinem Handeln auch im Angesicht äußerster Provokation nicht von seinen Gefühlen leiten. Wenn sein Vergehen darin bestand, sich nicht von seinen Emotionen beherrschen zu lassen, sei’s drum. Er hatte vor langer Zeit schon gelernt, dass kühle Logik und Distanz machtvolle Waffen waren, die zudringliche Familienmitglieder davon abhielten, einen kraft ihrer Persönlichkeit zu überwältigen, einen vor Manipulation insbesondere von weiblicher Seite bewahrten und einem Respekt einbrachten – zumindest in Gelehrtenkreisen.

Und so revanchierte Darius sich mit der enervierendsten Erwiderung, die ihm auf die Schnelle einfiel: „Bei allem Respekt, Sir, doch leider erschließt sich mir nicht, was Gefühle mit den von Ihnen erwähnten Belangen zu tun haben. Es ist ein männlicher Naturinstinkt, sich mit dem anderen Geschlecht zu paaren.“

„Wie du verschiedentlich mit Bezug auf das Paarungsverhalten von Tieren dargelegt hast, ist es ein bei vielen Arten weit verbreiteter Naturinstinkt, sich eine Partnerin zu suchen und bei ihr zu bleiben“, erwiderte Lord Hargate.

Ah, nun kam man also endlich zur Sache – und überraschend war das nicht. „Mit anderen Worten: Sie wünschen, dass ich heirate“, sagte Darius. Er hatte noch nie einen Sinn darin gesehen, lange um den heißen Brei herumzureden – eine weitere seiner enervierenden Eigenschaften.

„Du hast dich gegen eine wissenschaftliche Laufbahn in Cambridge entschieden“, sagte seinVater. „Hättest du die Gelehrtenlaufbahn eingeschlagen, würde man selbstverständlich nicht von dir erwarten zu heiraten. Doch du hast keinen Beruf.“

Keinen Beruf? Mit seinen achtundzwanzig Jahren war Darius Carsington bereits eines der renommiertesten Mitglieder der Philosophischen Gesellschaft. „Sir, wenn Sie mir die Bemerkung gestatten, aber meine Arbeit …“

„Arbeit! Der halbe Adel schreibt zum Zeitvertreib vermeintlich wissenschaftliche Abhandlungen, um eine der unzähligen Gelehrtengesellschaften zu beeindrucken“, winkte Lord Hargate ab. „Die meisten dieser Gentlemen verfügen indes über ein Einkommen – und die Quelle dieses Einkommens speist sich nicht daraus, dass sie ihren Vätern auf der Tasche liegen.“

Das saß. Darius wollte zu einer Erwiderung ansetzen.

Was soll ich denn sonst mit meinem Leben anfangen?, hätte er fragen können. Wie soll ich mich denn sonst von den anderen abheben? Von Benedict, dem mustergültigen Politiker und Philanthropen, Geoffrey, dem vorbildlichen Familienvater, Alistair, dem tapferen Kriegshelden und heillosen Romantiker, Rupert, dem liebenswerten Lebemann und jüngst auch wagemutigen Abenteurer. Wodurch sollte ich mich denn auszeichnen, wenn nicht durch meinen einzigen Vorteil – meinen Intellekt? Wie würden Sie an meiner Stelle denn aus dem Schatten meiner Brüder treten?

Obwohl all diese Fragen durchaus vernünftig und berechtigt gewesen wären, stellte er keine einzige. Er würde sich nicht dazu herablassen, sich gegen einen Vorwurf zu verteidigen, der so offensichtlich ungerecht und unlogisch war.

Stattdessen setzte er eine belustigte Miene auf. „Wenn dem so ist, Vater, seien Sie doch bitte so gut, eine begüterte Braut für mich auszuwählen. Meine Brüder scheinen mit der für sie getroffenen Wahl zufrieden zu sein – und mir ist das Ganze herzlich egal.“

Das war es wirklich. Was wiederum die Geduld seines Vaters aufs Äußerste strapazieren dürfte, was Darius seinerseits ein Trost hätte sein können. Allerdings kein großer, verstand Lord Hargate es doch vortrefflich, sich seine Gefühle nicht anmerken zu lassen.

„Ich habe keine Zeit, dir eine passende Braut zu suchen“, beschied Seine Lordschaft. „Aber wenn ich mich recht entsinne, habe ich das Thema Heirat deinen Brüdern gegenüber erst kurz vor ihrem dreißigsten Geburtstag zur Sprache gebracht. Der Fairness halber gestehe ich dir also ein weiteres Jahr zu. Ich werde dir Gelegenheit geben, dich zu bewähren, wie ich es auch bei meinen anderen nachgeborenen Söhnen getan habe.“

Benedict, der älteste Sohn, hatte sich nicht in Form einer einträglichen Tätigkeit oder einer vermögenden Braut bewähren müssen, da er eines Tages alles erben würde. Bislang hatten die anderen Söhne allesamt reich geheiratet. Dass sie auch aus Liebe geheiratet hatten, ließ Lord Hargate lieber unerwähnt.

Für Darius fiel das Konzept romantischer Liebe in dieselbe Kategorie wie Aberglaube, Mythen und Poesie. Anders als gegenseitige Anziehung, animalische Lust, ja selbst elterliche Liebe und Zuwendung, die man auch im Tierreich beobachten konnte, war romantische Liebe seiner Ansicht nach ein nicht der Natur, sondern einzig der menschlichen Fantasie geschuldetes reines Konstrukt.

Im Moment sann er jedoch nicht über Liebe nach. Er überlegte, was sein durchtriebener Vater im Schilde führte. „Welche Art von Gelegenheit?“

„Ein etwas heruntergekommenes Anwesen fiel jüngst in meinen Besitz“, ließ Lord Hargate ihn wissen. „Du hast genau ein Jahr, um es wieder profitabel zu machen. Gelingt es dir, bist du von allen Fragen der Heirat ausgenommen.“

Darius’ Herz machte einen Sprung. Eine Herausforderung, eine echte Herausforderung! War seinem Vater endlich bewusst geworden, wozu sein jüngster Sohn fähig war?

Nein, natürlich nicht. Ausgeschlossen.

„Das klingt zu schön, um wahr zu sein“, meinte er. „Wo ist der Haken?“

„Nun …“, begann sein Vater. „Das Anwesen befand sich zehn Jahre in der Treuhandschaft des Gerichts.“

„Zehn Jahre?“ Darius horchte auf. „Sie meinen doch nicht etwa das Anwesen in Cheshire? Das Haus dieser verrückten Alten – wie hieß es noch gleich?“

„Beechwood.“

Die verrückte Alte war Lord Hargates Cousine, Lady Margaret Andover, die zum Zeitpunkt ihres Todes weder mit ihrer Familie noch mit ihren Nachbarn ein Wort wechselte, ja eigentlich mit überhaupt niemandem mehr sprach außer mit ihrem Mops – Galahad genannt und auch längst verschieden –, dem sie ihr Anwesen vermacht hatte. Diese Verfügung fand sich in einem Kodizill zu ihrem Testament, dessen gesamte Nachträge zweihundertachtzehn Seiten umfassten und sich sämtlich widersprachen, ebenso wie ihre zahlreichen anderen Testamente, die sie in den letzten Jahrzehnten ihres Lebens aufgesetzt hatte. Das war auch der Grund, weshalb das Anwesen in der Treuhandschaft des Gerichts gelandet und dort so lange verblieben war.

Nun wurde ihm einiges klar. „Aber das Haus steht noch?“, vergewisserte sich Darius.

„Gerade so.“

„Und die Ländereien?“

„Du kannst dir gewiss vorstellen, in welchem Zustand sie sich nach Jahrzehnten der Vernachlässigung befinden.“

Darius nickte. „Verstehe. Eine wahre Herkulesaufgabe.“

„So ist es.“

„Sie scheinen davon auszugehen, dass es nicht ein, sondern mehrere Jahre brauchen wird, das Anwesen wieder profitabel zu machen“, stellte Darius fest. „Das ist der Haken an der Sache.“

„Es war einmal ein sehr einträgliches Anwesen und hat viel Potenzial“, sagte sein Vater. „Lord Lithby, dessen Ländereien im Osten angrenzen, hat schon seit Ewigkeiten ein Auge auf Beechwood geworfen. Wenn du dich der Herausforderung nicht gewachsen fühlst, würde er sie mir gewiss gern abnehmen.“

Damit – und das wusste er ganz genau, dieser hinterhältige Teufel – hatte er Darius an seinem wunden Punkt erwischt. Selbst der schärfste Verstand ist gegen verletzten Mannesstolz machtlos.

„Sir, Sie wissen ganz genau, dass ich, wenn Sie es so formulieren, unmöglich Nein sagen kann – dass ich nicht Nein sagen werde“, entgegnete Darius. „Wann beginnt mein Jahr?“

„Jetzt“, sagte Lord Hargate.

CheshireSamstag, 15. Juni 1822

Das Schwein hieß Hyacinth.

Hyacinth lag zufrieden im Koben und säugte ihre zahlreiche Ferkelschar. Sie war die fetteste und fruchtbarste Muttersau der ganzen Grafschaft, womit sie ihrem Besitzer, dem Marquess of Lithby, Anlass zu Stolz und seinen Nachbarn Anlass zu Neid gab.

Lord Lithby lehnte am Pferchgatter und blickte voller Bewunderung auf sein Lieblingsschwein.

Die junge Frau, die neben ihm stand, dachte bei sich, dass sie und Hyacinth ganz schön viel gemein hatten, waren sie doch beide von Seiner Lordschaft abgöttisch geliebte Prachtexemplare.

Lady Charlotte Hayward war siebenundzwanzig Jahre alt und als Lord Lithbys einziges Kind aus erster Ehe und als einzige Tochter seine größte Freude und sein ganzer Stolz.

Auch die schärfsten Kritiker hätten an ihrem Äußeren nichts zu beanstanden gewusst. In den besten Kreisen war man sich einig, dass sie weder zu groß noch zu klein geraten, weder zu dick noch zu dünn war. Hellblondes Haar rahmte ein Gesicht, das allen Kriterien klassischer Schönheit genügte: porzellanblaue Augen, eine elegante Nase und fein geschwungene Lippen, alles auf blassem Alabasterteint vollendet zur Geltung gebracht. Diejenigen Frauen, die sie insgeheim beneideten, mussten zudem feststellen, dass es schier unmöglich war, sie nicht zu mögen, schließlich war Lady Charlotte nicht nur schön, sondern auch gütig und großherzig, bescheiden und genügsam.

Sie ahnten ja nicht, wie anstrengend es war, Charlotte Hayward zu sein, und wären außer sich gewesen, hätten sie gewusst, dass Charlotte insgeheim das Schwein beneidete.

Soeben überlegte sie, wie es wohl sein mochte, sich im Schlamm zu suhlen und mit der Schnauze tagein, tagaus im Dreck zu wühlen und sich keinen Deut darum zu scheren, was andere von einem dachten, als ihr Vater sagte: „Du solltest heiraten, Charlotte.“

Alles in ihr erstarrte. Das wäre mein Ende, dachte sie.

Ihr war, als würde sie in einen tiefen Abgrund blicken. Anzumerken war ihr von ihrem Unbehagen indes nichts. Unerfreuliche Gefühle zu verbergen war ihr zur zweiten Natur geworden.

Lächelnd sah sie ihren Vater an. Sie wusste, wie sehr er sie liebte. Es war nicht seine Absicht gewesen, sie in tiefste Verzweiflung zu stürzen. Er konnte ja nicht ahnen, was er da von ihr verlangte.

Wie sollte sie heiraten, wenn schon in der Hochzeitsnacht die Gefahr bestand, dass ihre geheime Vergangenheit herauskäme? Wie würde der Mann reagieren, dem sie anheimgegeben wurde, wenn er herausfand, dass seine frisch Angetraute nicht mehr unberührt war? Und wie würde sie reagieren? Könnte sie gut genug lügen, um ihn glauben zu machen, dass er sich täuschte? Wollte sie ihre Ehe mit einer Lüge beginnen? Aber wie konnte sie ihm ihr Geheimnis offenbaren? Wie all die Täuschungen eingestehen, die sie begangen hatte und weiter begehen würde an denen, die sie liebte?

Diese und viele weitere Fragen hatte sie sich seit geraumer Zeit gestellt und sich alle nur möglichen Szenarien ausgemalt.

Sie war zu dem Schluss gekommen, dass es das Beste wäre, als alte Jungfer zu sterben.

Aber das konnte sie Papa nicht sagen. Unverheiratet bleiben zu wollen war ein höchst unnatürlicher Wunsch für eine Frau.

Da es auch für einen Vater unnatürlich gewesen wäre, dies von seiner Tochter zu wünschen, überraschte es sie wenig, dass er das Thema nun zur Sprache brachte. Andere Väter hätten dies schon vor Jahren getan. Sie sollte dankbar für die Zeit der Freiheit sein, die ihr vergönnt gewesen war. Dennoch fragte sie sich: Warum jetzt? Und dachte sehr unglücklich und bei sich: Warum überhaupt?

„Eine Frau sollte heiraten. Ich weiß, Papa“, sagte sie.

Aber ich kann es nicht, dachte sie. Ich kann nicht heiraten. Nicht mit diesem Geheimnis, das auf mir lastet, und das ich nicht offenbaren kann.

„Du bist zu lange schon viel zu selbstlos gewesen“, fuhr ihr Vater fort, sich in seiner Unschuld nicht bewusst, wie sehr seine Worte ihr Gewissen malträtierten. „Ich weiß, dass du dein eigenes Glück hintangestellt hast, um deiner Stiefmutter während ihrer Wochenbetten zur Hand zu gehen. Ich weiß, wie sehr du sie liebst. Ich weiß, wie sehr du auch deine kleinen Brüder liebst. Aber nun, meine Liebe, ist es an der Zeit, dass du an dich denkst, dass du deinen eigenen Haushalt gründest und eigene Kinder hast.“

Oh, das schmerzte. Die Trauer ging so tief wie schon lange nicht mehr.

Eigene Kinder.

Aber er wusste ja nicht, was vor zehn Jahren geschehen war. Er ahnte nicht, was seine Worte für sie bedeuteten und wie sehr sie schmerzten. Und er durfte es nie erfahren.

„Wahrscheinlich ist es meine Schuld“, meinte ihr Vater. „Ich habe es mir in meinem Eigennutz zur Gewohnheit gemacht, dich wie den Sohn zu behandeln, den ich nie zu haben glaubte – eine Gewohnheit, die auch jetzt, da du vier kleine Brüder hast, schwer zu brechen ist.“

Sie war noch keine fünfzehn gewesen, als ihre Mutter gestorben war. Zu ihrem großen Entsetzen hatte ihr Vater nur ein Jahr darauf wieder geheiratet. Ihre Stiefmutter Lizzie war gerade mal neun Jahre älter als sie und ihr eher wie eine große Schwester denn eine Mutter … Was Charlotte zu gegebener Zeit leider nicht begriffen hatte. Wie dumm sie gewesen war.

„Du hast mich zu sehr verwöhnt, das ist das Problem“, diagnostizierte ihr Vater. „Seit jener schrecklichen Zeit, wo du so krank gewesen warst, hast du mir nicht einmal mehr Anlass zu Kummer oder Sorge gegeben. Stattdessen hast du dich selbstlos aufgegeben – für unser aller Wohl.“

Nach der Geburt des Kindes, von dem er nichts wusste, war sie tatsächlich lange Zeit sehr krank gewesen. Und nach dieser schrecklichen Zeit hatte sie sich geschworen, dass sie niemals wieder den Menschen, die sie liebte, Angst, Kummer oder Schande bereiten wollte. Der Schaden, den sie bereits angerichtet hatte, war nie wiedergutzumachen und würde für ein ganzes Leben reichen.

„Vielleicht dachte ich ja auch, dass keiner der jungen Herren, die um dich herumscharwenzelten, deiner würdig wäre“, fuhr Papa fort und legte ihr freimütig seine Gedanken dar, wie er es schon immer getan hatte. „Da dein Verhalten stets über jeden Tadel erhaben ist, begegnetest du ihnen zwar freundlich – wenngleich nicht zu freundlich –, doch gehe ich gewiss recht in der Annahme, dass nicht einer von ihnen deine Gefühle zu wecken wusste?“

„Nicht einer“, bestätigte sie. „Wahrscheinlich ist das mein Schicksal.“

„Ich denke, man sollte dem Schicksal nicht zu sehr vertrauen“, erwiderte er. „Mir hat es zugegebenermaßen gute Dienste geleistet. Nach dem Tod deiner Mutter war ich sehr einsam. Ich hätte leicht einen törichten Fehler machen können.“

Auch sie hatte sich nach dem Tod ihrer Mutter einsam gefühlt. Und nachdem ihr Vater wieder geheiratet hatte … oh, Charlotte konnte sich kaum noch daran erinnern, entsann sich nur noch eines entsetzlichen Gefühls unermesslicher Verlassenheit. Sie war sehr verletzlich gewesen in jener Zeit. Und dann war Geordie Blaine aufgetaucht und hatte sich das zunutze gemacht.

Ihr Vater war so nett, sie nicht an den Fehler zu erinnern, von dem er glaubte, dass sie ihn beinah gemacht hätte. Er glaubte, Blaine zum Teufel geschickt zu haben, bevor Schlimmeres hatte geschehen können.

Selbst die beiden Menschen, die als Einzige die Wahrheit kannten, waren so nett, sie niemals daran zu erinnern, dass Schlimmeres geschehen war.

Charlotte bedurfte auch nicht der Erinnerung.

Als ihr Vater sich ihr zuwandte, blickten seine grauen Augen ungewohnt ernst. Lord Lithby war ein von Natur aus fröhlicher Mensch, und meist lag ein vergnügtes Funkeln in seinen Augen. „Das Leben ist unberechenbar, meine Liebe. Nichts ist gewiss, außer dass wir eines Tages sterben werden.“

Vor einigen Monaten hätte ein Fieber ihn fast dahingerafft.

Sie schloss ihre behandschuhten Hände fester um das Gatter. „Oh Papa, ich wünschte, du würdest so etwas nicht sagen.“

„Der Tod ist unausweichlich“, beharrte er. „Im Winter, als ich so scheußlich krank war, fiel mir ein, was zuvor noch alles zu erledigen wäre. Eine meiner größten Sorgen galt dir. Wer wird sich um dich kümmern, wenn ich nicht mehr bin?“

Dienstboten, dachte sie. Anwälte. Verwalter. Eine Erbin konnte immer Leute bezahlen, sich um sie zu kümmern, und es dürfte kein Mangel an Bewerbern für diese lukrative Aufgabe herrschen. Keine Frau auf Erden hätte eines Ehemanns weniger bedurft als eine reiche Frau.

Und Charlotte war eine sehr reiche Frau. In der ehelichen Vereinbarung ihrer Mutter war auch die großzügige Versorgung ihrer Nachkommen festgelegt worden. Da aus der Ehe nur ein Kind hervorgegangen war, erfreute Charlotte sich einer Summe, die für die Tochter eines Marquess ungewöhnlich beachtlich war.

„Es tut mir leid, dir solche Sorgen zu bereiten“, sagte sie.

Er winkte ab. „Es gehört zu den Aufgaben eines Vaters, sich um seine Kinder zu sorgen. Kein Anlass zur Beunruhigung, einfach nur ein Problem, das es zu lösen gilt. Zugegeben, ich habe mich nie zuvor in der Kuppelei versucht. Mittlerweile habe ich indes einige Gedanken an die Angelegenheit verschwendet. Sowie ich wieder genesen war, habe ich aufmerksam verfolgt, was sich während der Saison so alles in London getan hat.“

Die Londoner Saison war eine, wenn nicht gar die Gelegenheit für unverheiratete Adelige eine passende Partnerin zu finden. Wie es sich für eine junge Dame von Stand schickte, hatte Charlotte gehorsam alle erforderlichen Veranstaltungen besucht. Wie die anderen Damen auch hatte sie sich auf den wöchentlichen Bällen bei Almack’s präsentiert, zu denen nur die besten Kreise geladen wurden – zu dem rühmlichen Zweck, wie ihr schien, sich mit ausgesuchter Langeweile zu malträtieren.

„Die meisten Mädchen finden während der Saison einen Mann“, bemerkte Lord Lithby. „Du hattest bereits die achte Saison. Da dein vorbildliches Verhalten nicht der Grund für den ausbleibenden Erfolg sein kann, muss es andere Gründe geben. Nach reiflicher Überlegung bin ich zu zwei Schlüssen gelangt: Erstens ist die Methode zu beliebig. Zweitens bietet London zu viele Zerstreuungen. Wir sollten wissenschaftlich an das Problem herangehen.“

Lord Lithby war Agrarwissenschaftler. Als Mitglied der Philosophischen Gesellschaft las er ständig deren Pamphlete oder verfasste Abhandlungen über den Ackerbau. Er fuhr fort, seiner Tochter zu erklären, dass einige der in der Landwirtschaft bewährten Prinzipien sich auch auf Menschen anwenden ließen. Was es brauchte, war ein System, und ihm sei auch schon eines eingefallen.

Er ahnte ja nicht, wie viel Bedacht seine Tochter darauf verwandt hatte, den angestrebten Erfolg abzuwenden. Wenn er wüsste, wie wissenschaftlich sie an das Problem des Sich-der-Verheiratung-Entziehens herangegangen war! Charlotte hatte schon vor Jahren ein System ersonnen und arbeitete ständig an seiner Verbesserung.

Einmal war sie einem Mann blindlings erlegen. Einmal und nie wieder.

Wegen ihrer langen Krankheit – die eine Erkrankung des Körpers als auch der Seele gewesen war –, die ihrem unbedarften Fehltritt auf dem Fuße gefolgt war, hatte sie ihr Debüt erst im reifen Alter von zwanzig Jahren gemacht. Schon geraume Zeit zuvor hatte sie jedoch begonnen, die Gentlemen ihres Kreises zu taxieren, hatte ihren jeweiligen Charakter mit derselben Sorgfalt einer Prüfung unterzogen wie ihr Vater die spezifischen Eigenschaften seiner Bohnen und Rüben, seiner Kühe, Schafe und Schweine auf ihren Nutzen hin abwog. So wie ihr Vater nach immer neuen Methoden forschte, sein Vieh und seine Ackersaat wachsen und gedeihen zu lassen, suchte sie nach immer neuen Methoden, Männer in die Flucht zu schlagen.

Bei dem einen gab sie sich einsilbig und begriffsstutzig, bei einem anderen unscheinbar bis zur Unsichtbarkeit. Bei anderen redete sie ohne Unterlass, bei manchen verstummte sie ganz. Dann wieder gab sie sich entrückt und zerstreut. Wunder wirkte es auch, sich eines Herrn nach wiederholter Aufwartung partout nicht mehr zu erinnern. Am liebsten aber verkuppelte sie ihre Verehrer mit anderen Frauen.

Letzteres Manöver bedurfte äußerster Umsicht und großen Fingerspitzengefühls.

Einer gewissen Vorsicht bedurften indes all ihre Methoden, denn ganz gleich, welche sie wählte, musste sie immer den Anschein freundlicher Verbindlichkeit wahren.

Es war keine leichte Aufgabe für eine attraktive und vermögende junge Frau, sich der Eheschließung zu entziehen und sich zugleich nicht dabei ertappen zu lassen, eben dies zu tun.

Sie sollte sich schämen, ihren Vater derart zu täuschen, aber für die Wahrheit schämte sie sich noch viel mehr.

„Lizzie und ich haben eine Liste von Gentlemen erstellt, von denen wir glauben, dass sie dir gefallen könnten“, teilte ihr Vater ihr mit. „In einem Monat werden die Herren sich für einen zweiwöchigen Aufenthalt in Lithby Hall einfinden. Selbstverständlich haben wir auch einige deiner Cousinen und Freundinnen eingeladen, um für ausgewogene Verhältnisse zu sorgen. Unter diesen Bedingungen solltest du ausreichend Gelegenheit finden, die Gentlemen kennenzulernen, und sie wiederum werden sich nicht von den vielfältigen Zerstreuungen der Stadt davon ablenken lassen, dein Wohlwollen zu gewinnen.“ Strahlend sah er sie an.

Lord Lithbys Strahlen beschränkte sich nicht auf ein Lächeln, sondern schien von innen heraus zu kommen.

Charlotte lächelte zurück. Was hätte sie auch tun sollen, da er von seinem erschreckenden Einfall so begeistert war?

„Und wenn es diesmal nicht gleich klappt, wagen wir während der Jagdsaison einen weiteren Versuch“, fuhr er fort. „Gäste würden wir zu der Zeit ja ohnehin haben.“

Obwohl dem kein „aber“ folgte, meine Charlotte doch eines zu hören.

Ihr Vater hatte sein Herz darangesetzt, ihr auf diese Weise einen Gatten zu finden, und er schien zuversichtlich, gleich im ersten Anlauf Erfolg zu haben. Es wäre eine herbe Enttäuschung für ihn, wenn dem nicht so war.

Sie konnte ihn unmöglich enttäuschen.

Sie konnte unmöglich tun, was er wünschte.

„Ich bin mir sicher, dass es funktioniert, Papa“, sagte sie. „Da vertraue ich ganz deiner Einschätzung.“

„Das wollte ich hören“, meinte er schmunzelnd und klopfte ihr auf die Schulter.

Nachdem das geklärt war, wandte er sich in glücklicher Ahnungslosigkeit dessen, was er da losgetreten hatte, anderen Themen zu: das angrenzende Anwesen … Rechtsstreit rasch beigelegt … aber Lord Hargate war ja schon immer … seine Söhne … Carsingtons Abhandlung über Salz … Klauenseuche bei Schafen …

Charlotte versuchte ihm zuzuhören, aber der Aufruhr in ihrem Kopf blendete alles andere aus. Ihr Verstand schoss von einem panischen Gedanken zum nächsten, von einer unerwünschten Erinnerung zur anderen. Sie starrte auf das Schwein hinab und wünschte sich dessen schweinsselige Zufriedenheit. Was hätte sie nicht für Hyacinths fraglose Gewissheit ihres Platzes und ihrer Stellung in der Welt gegeben.

Dann machte Lord Lithby sich auf, um mit seinem Wildhüter zu reden, und Charlotte ging ihres Weges und nahm ihre aufgewühlten Gedanken mit sich.

Was Lord Lithby seiner Tochter zu sagen versucht hatte, war, dass das benachbarte Anwesen nun wieder bewohnt war, und zwar von niemand Geringerem als Darius Carsington.

Da Darius Carsington für keine Skandale sorgte und Lord Lithby den Gesellschaftsgazetten und Gerüchten wenig Beachtung schenkte, wusste er nicht – und hätte er es gewusst, hätte es ihn wahrscheinlich wenig gekümmert –, dass sein neuer Nachbar ein ausgemachter Lebemann war. Lord Lithby interessierte vielmehr, dass Lord Hargates jüngster Sohn ebenfalls der Philosophischen Gesellschaft angehörte und einige höchst anregende Abhandlungen über das artspezifische Verhalten von Tieren und recht bemerkenswerte Pamphlete über Viehhaltung verfasst hatte. Lord Lithby besaß eine jede dieser Arbeiten. Insbesondere jene zur Schweinezucht hielt er für bahnbrechend.

Folglich war er sehr erfreut, dass dieser brillante Bursche sich des heruntergekommenen Besitzes annehmen würde, der sich an die westliche Gemarkung seines eigenen Grund und Bodens anschloss.

Seiner Tochter hatte Lord Lithby soeben das Gerichtsverfahren erklärt, und wie erstaunlich es sei, dass Lord Hargate den Fall nach nur zehn Jahren beigelegt bekommen habe. Begeistert hatte er Mr. Carsingtons Studien zur Klauenseuche und seine Überlegungen zu Salz im Tierfutter erörtert. Gleich heute wolle er seinem neuen Nachbarn einen kurzen Besuch abstatten und ihn zum Abendessen einladen, ließ er seine Tochter wissen.

Ebenso gut hätte Seine Lordschaft seine Worte an das Schwein richten können.

Zwei Meilen entfernt fand sich derweil Darius – der mit dem ton herzlich wenig am Hut hatte und sich lieber mit einer rostigen Klinge erdolchen ließe als einen Fuß über die Schwelle von Almack’s zu setzen – in völliger Unwissenheit von Lord Lithbys Begeisterung, seinen Plänen oder seiner Tochter.

Lord Hargates enervierender Sohn war am Tag zuvor spätabends eingetroffen und hatte die Nacht im „Unicorn Inn“ verbracht, einem der Gasthöfe des keine drei Meilen entfernt liegenden Städtchens Altrincham. Obwohl seine Mutter darauf bestanden hatte, Dienstboten vorauszuschicken, um das Haus, wenn schon nicht gemütlich, so doch zumindest bewohnbar zu machen, war Darius wenig gewillt, dort zu nächtigen.

Welchen Sinn hätte es, das Haus wiederherzurichten? Das würde Geld kosten, aber keines einbringen. Im Gasthof zu wohnen war einfacher und günstiger. Er brauchte nur seine Rechnung zu begleichen, keine weiteren Dienstboten als seinen Kammerdiener Goodbody anzustellen, nichts reparieren zu lassen. Sich um sein leibliches Wohl zu kümmern, blieb dem Wirt überlassen. Außerdem befand sich das Büro seines Landverwalters Quested in Altrincham.

Die Ländereien hatten Vorrang. Weshalb er gleich heute Morgen mit Quested das Anwesen erkundet hatte.

Dessen Zustand stellte sich mehr oder minder wie erwartet dar. Da die Besitzansprüche während der letzten zehn Jahre streitig gewesen waren, hatte alles zehn Jahre lang brachgelegen.

Vögel, Insekten und diverses Kleingetier bevölkerten die Außengebäude, die sich in unterschiedlichen Stadien des Zerfalls befanden. Die Gärten waren der Wildnis anheimgefallen, die Pflanzungen ins Kraut geschossen. Flora und Fauna gediehen prächtig, wenngleich das Ungeziefer nicht gar so zahlreich war wie befürchtet.

Die eigentliche Überraschung war Beechwood. Das Gutshaus war keineswegs die verlassene Ruine, die Darius sich vorgestellt hatte. Jemand – vermutlich sein Vater – musste die gerichtlichen Vorgaben umgangen und Leute eingestellt haben, die das Gebäude in Schuss hielten.

Dennoch fand sich Quested, als er einige Stunden später aufbrach, im Besitz einer langen Liste zu erledigender Dinge. Ganz oben stand das Anheuern von Arbeitern.

Um seinem Geist nach all dem Abwägen, Vermessen und Berechnen ein wenig Ruhe zu gönnen, unternahm Darius einen Spaziergang durch die grüne Wildnis, die einst der Park gewesen war, und gelangte entlang eines überwucherten Pfades zu einem trüben Tümpel. Der Anblick zweier Libellen ließ ihn innehalten.

Eines der Mitglieder der Philosophischen Gesellschaft hatte einen Aufsatz über das Paarungsverhalten von Libellen geschrieben, den Darius recht possierlich gefunden hatte. Insekten, so sie keine Gefahr für das Nutzvieh darstellten, interessierten ihn nicht sonderlich. Dennoch gönnte er den liebestollen Libellen einen flüchtigen Blick. Und wie so oft ging plötzlich die Neugierde mit ihm durch.

Im nächsten Moment schon lag er bäuchlings inmitten des Ufergrases, seinen wachen Forschergeist auf die feenhaften Geschöpfe gerichtet, die über dem Wasser tänzelten. Ganz darauf konzentriert, Männchen und Weibchen ohne Zuhilfenahme eines Fernglases zu unterscheiden, war er taub, blind und unempfänglich für alles, was um ihn her geschah.

Eine Herde wild gewordener Stiere hätte er vielleicht noch bemerkt, doch es hätte schon eine sehr große Herde sein müssen.

Was erklären dürfte, weshalb er es nicht eher gewahrte.

Wie aus weiter Ferne war er sich eines leisen Gemurmels bewusst, registrierte es jedoch kaum. Einen Augenblick darauf schon hörte er es im Geäst knacken. Er schaute auf und sah sich um.

Es war eine junge Frau, keine drei Meter von ihm entfernt. Als sie seinen Kopf aus dem Ufergras auftauchen sah, stieß sie einen Schrei aus und sprang erschrocken zurück. Sie stolperte, und ihre Arme flatterten wie Windmühlenflügel, als sie versuchte, das Gleichgewicht wiederzufinden, doch der Boden war matschig, und sie rutschte aus, geradewegs hinab zum trüben Gewässer. Während die Vögel noch aus den Bäumen aufflogen und ihr aufgeregtes Gezeter das leise Summen der Insekten übertönte, war er schon auf den Beinen und eilte zu ihr.

Beherzt fasste er sie um die Taille, aber als er sie berührte, schrie sie wieder und hätte sie schier beide ins schlammige Nass befördert. Er riss sie zurück, was ihm einen Tritt gegen das Schienbein einbrachte. Obwohl er robuste Stiefel trug, wäre er fast aus dem Gleichgewicht geraten. Er fluchte.

„Halten Sie still, verdammt noch mal!“, schnauzte er sie an. „Wollen Sie uns beide ertränken?“

„Fassen Sie mir nicht an die Brust, Sie … Sie …“ Sie zerrte seine Hände fort, und wieder rutschten sie weiter wasserwärts.

„Ich fasse Sie überhaupt nicht …“

„Lassen Sie mich los!“

Er fasste sie fester und zog sie zurück ans Ufer.

„Sie sollen mich loslassen! Loslassen!“ Sie wand sich in seinen Armen und rammte ihm ihren Ellenbogen in den Bauch.

Er ließ sie so jäh los, dass sie taumelte.

Hastig streckte sie die Hand nach ihm aus und hielt sich an seinem Arm fest. „Sie Schuft! Das haben Sie mit Absicht getan!“ Noch immer an seinen Arm geklammert, beugte sie sich vor und rang nach Luft.

„Sie hatten mich gebeten, Sie loszulassen“, erwiderte er.

Da schaute sie auf, und er blickte in eine ungeahnte Welt, die nur aus dem Blau ihrer Augen bestand. Alles andere verschwand ins Nichts, während er zu erfassen versuchte, was er sah: das ovale Gesicht, so fein und makellos wie eine Kamee … die entlang der zart geschwungenen Wangen rosig schimmernde Alabasterhaut … das leise Schmollen ihrer leicht geöffneten Lippen.

Er sah die endlos blaue Welt ihrer Augen sich weiten, und einen Moment lang war alles vergessen: wo er war und wer er war und was er war. Dann fuhr er sich mit der Hand durchs Haar und fragte sich, ob er sich wohl den Kopf angeschlagen habe, ohne es zu merken.

Rasch sah sie beiseite, senkte den Blick auf ihre behandschuhte Hand, die noch immer seinen Arm umklammerte. Sie zog ihre Hand zurück und gab ihm dabei einen kleinen Schubs.

Er hätte einen Schritt zurücktreten können, wie sie es ganz offensichtlich wünschte, doch er blieb, wo er war – viel zu nah. „Das hat man also davon, wenn man einer jungen Frau zu Hilfe eilt“, meinte er.

„Was fällt Ihnen eigentlich ein, sich hier im Gras zu verstecken und mich anzuspringen wie ein … wie ein …“ Sie tastete nach ihren hoch aufgesteckten blonden Locken und sah sich stirnrunzelnd um. „Mein Hut. Wo ist mein Hut? Oh nein.“

Ihr Hut, ein lächerliches Ding aus Strohgeflecht und Spitze, dümpelte am Ufersaum.

Er verkniff sich ein Lächeln und machte sich auf den Weg, auch den Hut zu retten.

„Machen Sie sich keine Umstände“, beeilte sie sich zu sagen und lief los.

„Machen Sie sich nicht lächerlich“, sagte er.

Mit langen Schritten holte er sie rasch ein, und sie bückten sich beide zugleich nach dem Hut. Dank seiner längeren Arme bekam er ihn als Erster zu fassen, doch als er sich wieder aufrichtete, stieß sein Kopf mit ihrem zusammen.

„Au!“ Sie sprang zurück und hielt sich die Stirn. Ihre Füße verloren allen Halt auf dem trügerischen Grund, und in einem Wirbel aus Röcken und Unterröcken ging sie zu Boden. Rasch setzte sie sich auf, aber nicht rasch genug, als dass er nicht einen kurzen Blick auf eine wohlgeformte Wade hätte werfen können.

Beide Beine fest auf den Boden gestemmt, fasste er sie unter die Arme und half ihr hoch, zog sie fest an sich und stieg rückwärts mit ihr die Böschung hinauf.

Ihr rundes Gesäß drückte sich an seinen Schoß. Inmitten des Geruchs nach morastigem Tümpel meinte er noch einen lieblicheren, eindeutig weiblichen Duft auszumachen. Er entdeckte einen winzigen Schlammspritzer auf ihrem glatten weißen Hals. Gerade noch rechtzeitig fing er sich, einen halben Herzschlag bevor seine Zunge herausgefahren wäre, um … sie sauber zu lecken?

Sie trat ihm kräftig auf den Stiefel und stieß mit den Ellbogen.

Er ließ sie los. „Wenn Sie damit nicht aufhören, könnte ich mich genötigt sehen, den Konstabler zu verständigen“, sagte er.

Scharf fuhr sie zu ihm herum. „Den Konstabler?“

„Ich könnte Anklage gegen Sie erheben, wegen Landfriedensbruchs“, sagte er. „Und tätlichen Übergriffs.“

„Landfrie… tätlichen Übergriffs? Sie haben meine … meine …“ Sie deutete auf ihre Brust, die sehr ansehnlich war und der seine Hand während des Gerangels vielleicht nicht ganz zufällig begegnet war. „Sie sind zudringlich geworden.“ Mittlerweile strahlten ihren Wangen sehr rosig.

„Ich könnte es wieder werden“, meinte er, „wenn Sie weiterhin hier herumtrampeln und die Tiere aufschrecken.“

Er hätte es nicht für möglich gehalten, dass ihre blauen Augen noch größer werden konnten. „Herumtrampeln?“

„Ich fürchte, Sie haben zwei Libellen während eines höchst delikaten Vorgangs gestört“, sagte er. „Die beiden waren gerade dabei, sich zu paaren, und Sie haben den armen Tierchen einen Heidenschreck eingejagt. Es mag sich Ihrer Kenntnis entziehen, aber wenn das Männchen unter Schock steht, zieht dies seine Fortpflanzungsfähigkeit erheblich in Mitleidenschaft.“

Sie starrte ihn an. Ihr Mund öffnete sich, doch kein Wort kam heraus.

„Jetzt verstehe ich auch, warum die Art so dezimiert ist“, sagte er. „Sie haben sie alle vergrault oder ihrer Fortpflanzungsfähigkeit bleibenden Schaden zugefügt.“

„Ihrer … nein, habe ich nicht. Ich …“ Ihr Blick fiel auf den Hut, den er noch immer in der Hand hielt. „Geben Sie mir meinen Hut.“

Er drehte den Hut in den Händen und betrachtete ihn. „Das ist der frivolste Hut, den ich jemals gesehen habe.“ Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Er wusste es nicht. Frauenkleider waren für ihn allenfalls Hindernisse, die es so schnell wie möglich aus dem Wege zu räumen galt.

Doch er sah, dass dieses Ding, das er in den Händen hielt, ein drolliges Nichts aus ein bisschen Strohgeflecht, Spitze und ein paar Bändern war. „Wozu soll es nütze sein? Es kann weder Sonne noch Regen abhalten.“

„Es ist ein Hut“, erwiderte sie. „Ein Hut muss zu nichts nütze sein.“

„Warum tragen Sie ihn dann?“

„Warum?“, wiederholte sie. „Warum? Weil … weil …“ Ihre Stirn legte sich in nachdenkliche Falten.

Er wartete geduldig.

Nach reiflicher Überlegung meinte sie: „Zur Zierde. Und jetzt geben Sie ihn mir. Ich muss gehen.“

„Wie – kein ‚bitte‘?“

Die blauen Augen blitzen ihn an. „Nein“, sagte sie.

„Dann muss ich wohl mit gutem Beispiel vorangehen“, fand er.

„Geben Sie mir meinen Hut.“ Sie streckte die Hand danach aus.

Er ließ den unnützen Kopfputz hinter seinem Rücken verschwinden. „Ich bin Darius Carsington“, sagte er und verbeugte sich.

„Von mir aus“, sagte sie.

„Beechwood ist mir übertragen worden.“

Sie drehte sich um. „Behalten Sie den Hut, wenn Sie sich nicht davon trennen können. Ich habe noch andere.“

Damit ging sie davon.

Das durfte er nicht zulassen. Sie war ausgesprochen hübsch. Und die Brust, die ihm mehr oder minder zufällig in die Hand gefallen war, schien angenehm gerundet.

Er lief ihr nach. „Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie in der Nähe wohnen?“

„Anscheinend zu nah“, erwiderte sie.

„Das Anwesen war die letzten Jahre unbewohnt“, sagte er. „Vielleicht waren Sie sich der neuen Besitzverhältnisse nicht bewusst.“

„Doch. Papa hat es mir erzählt. Ich … hatte es vergessen.“

„Papa“, wiederholte er, und seine gute Laune begann zu schwinden. „Das wäre …?“

„Lord Lithby“, beschied sie. „Wir sind gestern aus London gekommen. Der Bach begrenzt unsere Ländereien im Westen. Ich bin die letzten Jahre immer hierhergekommen und … Aber das tut jetzt auch nichts mehr zur Sache.“

In der Tat, jetzt nicht mehr.

Ihre Art zu sprechen, sich zu kleiden, ihre Manieren – all das ließ Darius wissen, dass er es mit einer Dame zu tun hatte. Er hatte nichts gegen Damen. Anders als manch andere fühlte er sich nicht ausschließlich zu Frauen der unteren Stände hingezogen. Sie schien zwar ein bisschen begriffsstutzig und schien keinerlei Sinn für Humor zu haben, aber das sollte ihn nicht stören. Ob es einer Frau an Intelligenz gebrach oder nicht, hatte ihn noch nie interessiert. Was er von einer Frau wollte, hatte wenig mit ihren Geistesgaben oder ihrem Sinn für Humor zu tun.

Was ihn allerdings interessierte, war, dass die Dame hatte durchblicken lassen, dass das an Beechwood grenzende Anwesen ihrem Vater gehörte. Und nicht ihrem Gatten.

Folglich musste sie eine Tochter des Marquess of Lithby sein – und eine unverheiratete Tochter noch dazu, schien sie doch bei ihrem Vater zu leben.

Es war schon seltsam, und recht verdrießlich zudem, dass Darius sie derart falsch eingeschätzt hatte. Eigentlich erkannte er Frauen, von denen es die Finger zu lassen galt, auf fünfzig Schritt Entfernung. Hätte er gewusst, dass sie eine unverheiratete junge Dame war, würde er sie errettet haben und hätte sie sogleich wieder ihres Weges ziehen lassen. Denn obwohl er wenig Verwendung für die unlogischen Anstandsregeln der Gesellschaft hatte, ging er doch nie so weit, Unschuldige zu verführen.

Da Verführung nunmehr ausgeschlossen war, sah er keinen Grund, weiter Konversation zu betreiben. Er hatte ohnehin schon zu viel Zeit vertan.

Er reichte ihr den Hut.

Mit einem argwöhnischen Blick nahm sie ihn entgegen.

„Dann möchte ich mich dafür entschuldigen, Sie erschreckt oder Ihnen aufgelauert zu haben oder was immer es war, das ich getan habe“, sagte er mit leisem Spott. „Natürlich dürfen Sie gern wie gehabt über das Anwesen trampeln. Es soll mich nicht weiter stören. Ich wünsche einen schönen Tag.“

2. KAPITEL

Darius wandte sich ab, zog sich wieder ins Ufergras zurück und befahl seinen Fortpflanzungsorganen sich zu beruhigen. Dann begab er sich abermals in Bauchlage, um die Libellen zu beobachten.

Da eine Vertreterin der weiblichen Spezies unmöglich einen erfahrenen Lebemann in Panik versetzen konnte, lag ihm der Gedanke fern, dass die Begegnung ihn in Panik versetzt hatte und er zu voreiligen Schlüssen gelangt war.

Doch Darius’ innigste Vertraute war – sehr zum Leidwesen seiner Familie – bekanntlich die Logik. Er war geradezu erschreckend rational und sachlich. Weshalb es auch nicht lange dauerte, bis er sich eines gravierenden Denkfehlers bewusst wurde.

Während er mit mäßigem Erfolg versuchte, seine Gedanken wieder auf die Libellen zu richten, wies seine beste Freundin und Lehrmeisterin, die Logik, ihn darauf hin, dass eine bei ihrem Vater lebende Tochter Lord Lithbys nicht notwendigerweise unverheiratet sein müsse. Eine unglücklich verheiratete Tochter könnte zu Besuch sein. Eine verwitwete Tochter könnte wieder zu ihren Eltern zurückgekehrt sein.

Abermals regte sich Hoffnung.

Und mit ihr Darius. Er stand auf.

Immerhin war Lord Lithbys Tochter sehr hübsch gewesen.

Und nun war sie fort.

„Verdammt“, sagte Darius.

So träge im Geist kannte er sich gar nicht. Wie lange er wohl hier gelegen und auf die schwirrenden Insekten gestarrt hatte, ehe sein Verstand sich geregt hatte?

Unwillig schüttelte er den Kopf. Er hatte zu viel Zeit in London verbracht, das war das Problem. Die gute Landluft hatte noch nicht genügend Zeit gehabt, sein Gehirn durchzupusten.

Doch wie weit konnte sie in dieser Wildnis schon gekommen sein?

Er machte sich auf den Weg und folgte dem Pfad, den sie genommen hatte.

Als er an den Wasserlauf gelangte, der die beiden Anwesen voneinander trennte, sah er indes keine Spur mehr von seiner Beute.

Missmutig trat einen Kiesel in den Bach und machte sich auf den Weg zum Haus – oder vielmehr zu den Stallungen. Er wollte sich frisch machen und etwas essen, und dazu musste er zurück zum Gasthof reiten. Dort waren ihm bereits zwei ansehnliche und offensichtlich willige Dienstmädchen aufgefallen.

Eine von ihnen – vielleicht auch beide – würde seinem Zweck dienen.

Mit der Dame hatte er schon genug Zeit unnütz vertan.

Lithby Hall, nur wenig später

Ihre Stiefmutter kam die Treppe herab, als Charlotte hinaufging. Beide blieben wie angewurzelt stehen.

„Du lieber Himmel, Charlotte, was ist denn passiert?“

„Nichts“, erwiderte Charlotte.

„Rede doch keinen Unsinn“, entgegnete Lizzie. „Du hast Schlamm auf der Nase. Dein Kleid ist beschmutzt, deine Handschuhe unaussprechlich. Und wo ist dein Hut?“

„Den habe ich Hyacinth gegeben“, sagte Charlotte. Auf dem Rückweg hatte sie kurz im Schweinestall vorbeigeschaut.

„Du hast was?“

„Sie mochte ihn sehr“, fuhr Charlotte fort. Entgegen Lord Lithbys Annahme fraß Hyacinth mit großem Genuss und ohne sichtliche Folgen alles, was ihr vor die Schnauze kam. Das Schwein hatte schon einige fromme Breviers verdaut, die wohlmeinende Verwandte Charlotte zugesteckt hatten.

Lizzi machte auf dem Absatz kehrt und folgte Charlotte die Treppe hinauf. Allerdings sprach sie kein Wort mehr, bis sie bei Charlottes Zimmer angelangt waren.

„Du lieber Himmel, Euer Ladyschaft, was ist denn passiert?“, empfing ihre Zofe Molly sie.

„Nichts“, sagte Lady Lithby. „Lass uns einen Augenblick allein, Molly. Wir werden nach dir läuten, wenn wir dich brauchen.“

„Aber … Euer Ladyschaft, sie ist von oben bis unten voller …“, sagte Molly.

„Mach dir deswegen keine Sorgen“, unterbrach Charlotte. „Du musst die Kleider nicht säubern. Wirf sie einfach Hya…“ Sie verstummte und fragte sich, was nur los war mit ihr. Sie sollte ihre Zunge besser im Zaum halten.

Der Bach, der Beechwood vom Anwesen ihres Vaters trennte, war etwa zwei Meilen von Lithby Hall entfernt. Auf ihren täglichen Spaziergängen legte Charlotte meist die doppelte oder gar dreifache Entfernung zurück. Ausgiebige Spaziergänge halfen ihr, zur Ruhe zu kommen. An manchen Tagen musste sie mehr zur Ruhe kommen als an anderen.

Vielleicht hätte sie heute noch etwas weiter laufen sollen.

Molly begutachtete Charlotte von oben bis unten und schüttelte den Kopf.

„Später, Molly“, sagte Lady Lithby entschieden. „Mach die Tür hinter dir zu.“

Noch immer kopfschüttelnd ging das Mädchen hinaus. Es schloss die Tür hinter sich.

„Charlotte“, sagte Lizzie.

„Es ist nicht der Rede wert“, sagte Charlotte. „Ich war drüben spazieren, auf Beechwood. Ich habe den neuen Bewohner getroffen.“

„Du meinst Mr. Carsington? Die Nachbarn reden von nichts anderem mehr. Mir wurde gesagt, dass er gestern eingetroffen sei.“ Lizzie musterte sie von oben bis unten. „Hast du ihn getroffen, bevor oder nachdem du in den Schweinekoben gefallen bist?“

Charlotte, die als Kind öfter mal in den Schweinekoben gefallen war, erwog kurz, es dabei zu belassen. Doch leider merkte ihre Stiefmutter sofort, wenn sie log. Das Leben war einfacher, wenn man ihr ohne Umschweife die Wahrheit sagte, und sei es nur so wenig davon wie absolut nötig.

„Er lag im Ufergras“, sagte sie. „Zuerst habe ich ihn gar nicht gesehen. Ich war in Gedanken versunken und habe mich zu Tode erschrocken, als er plötzlich den Kopf hob. Ich bin gestolpert … und gefallen.“

Charlotte sah keinen Grund, sich detailliert darüber auszulassen, was zwischen dem ersten Stolpern und dem tatsächlichen Sturz geschehen war.

Das versuchte sie nach Kräften zu vergessen.

Er war so … so groß … und stark … und seine Hände …

Zehn Jahre lang hatte ihr Körperkontakt zu Männern allenfalls in einer leichten Berührung einer behandschuhten Hand bestanden, welche die ihre locker hielt oder beim Walzer leicht auf ihrem Rücken lag.

Er hatte keine Handschuhe getragen, und auch die zahlreichen Lagen ihrer Kleidung hatten sich als nutzlos erwiesen.

Seine Hände, seine Hände. Sie meinte sie noch immer zu spüren … ebenso wie weitere verstörende Empfindungen, die Verlangen beängstigend nah kamen.

Aber das konnte ja gar nicht sein. Niemals würde sie nach der Berührung eines Mannes verlangen, sagte sie sich. Sie hatte ihre Lektion gelernt.

Was heute geschehen war, ließ sich ganz einfach erklären: Sie war bereits sehr außer sich gewesen, als sie auf ihn getroffen war. Und weil sie so außer sich gewesen war, war sie sogleich in Panik geraten, weshalb sie nicht mehr klar hatte denken können. Denn sonst hätte sie natürlich sofort begriffen, dass der Mann nur hatte verhindern wollen, dass sie in den Tümpel fiel, der einst ein Zierteich gewesen war.

Papas Worte waren es gewesen, die sie so außer sich hatten geraten lassen – seine Worte und der Gedanke an den Albtraum einer Ehe, die in Schande beginnen und letztlich das Glück aller zerstören würde, die ihr am Herzen lagen: nicht nur das ihres Vaters, sondern auch Lizzies, die ihren Gatten Charlotte zuliebe gleich zu Beginn ihrer Ehe hintergangen hatte.

Während ihr all diese Sorgen durch den Kopf gegangen waren, hatte sie sich auf einmal ohne jegliche Vorwarnung in den Armen eines Mannes wiedergefunden … eines sehr großen und starken Mannes.

Kein Wunder, dass sie wie ein in die Enge getriebenes Tier reagiert hatte.

Noch während sie versucht hatte, wieder zur Vernunft zu kommen, hatte sie aufgeblickt und in sein Gesicht geschaut. Doch dank dieser golden schimmernden Augen und einer tiefen Stimme, die sie wie eine Stimmgabel in Schwingung versetzte, war es endgültig um alle Vernunft geschehen.

Einen Moment war ihr gewesen, als hätte ein griechischer Gott – Apollo beispielsweise – es auf sie abgesehen, waren die Gottheiten der Antike doch bekannt dafür, sich in der Natur getarnt an arglosen Frauen zu vergreifen.

„Verstehe“, sagte Lizzie.

Charlotte schreckte aus ihrem bewegten Tagtraum auf.

Ihre Stiefmutter besaß die beunruhigende Fähigkeit, bisweilen mehr zu bemerken, als einem lieb sein konnte.