Gestohlene Küsse des Gentleman - Loretta Chase - E-Book

Gestohlene Küsse des Gentleman E-Book

Loretta Chase

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Beschreibung

Ein Herzensbrecher, der vor seiner dunkelsten Sehnsucht flieht und eine Lady, die ihn befreien könnte …
Die mitreißende Regency Romance für Fans von Minerva Spencer

England, 1818: Miss Mirabel Oldridge liebt ihr ruhiges Leben auf Oldridge Hall. Zumindest bis Alistair Carsington auftaucht, der ihre idyllische Heimat in Aufruhr versetzt. Dabei hat sie schon genug damit zu tun, auf ihren exzentrischen Vater aufzupassen und den weitläufigen Familiensitz zu verwalten. Doch jedes Mal, wenn sie Alistair begegnet, macht ihr Herz einen Sprung. Bis sie herausfindet, was er wirklich vorhat und sich fest vornimmt: Sie wird seine Pläne durchkreuzen. Denn der unverschämter Gentleman aus London weiß ganz sicher nicht, was gut für sie und ihr Land ist. Oder vielleicht doch …?

Erste Leserstimmen
„Ich verschlinge jeden Liebesroman von Loretta Chase und wurde auch hier nicht enttäuscht!“
„Entführt in eine andere Zeit und lädt zum Versinken und Träumen ein.“
„Clevere Dialoge, viel Humor und leidenschaftliche Gefühle – perfekt!“
„Unterhaltsame Historical Romance ganz nach meinem Geschmack.“

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Seitenzahl: 669

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Über dieses E-Book

England, 1818: Miss Mirabel Oldridge liebt ihr ruhiges Leben auf Oldridge Hall. Zumindest bis Alistair Carsington auftaucht, der ihre idyllische Heimat in Aufruhr versetzt. Dabei hat sie schon genug damit zu tun, auf ihren exzentrischen Vater aufzupassen und den weitläufigen Familiensitz zu verwalten. Doch jedes Mal, wenn sie Alistair begegnet, macht ihr Herz einen Sprung. Bis sie herausfindet, was er wirklich vorhat und sich fest vornimmt: Sie wird seine Pläne durchkreuzen. Denn der unverschämter Gentleman aus London weiß ganz sicher nicht, was gut für sie und ihr Land ist. Oder vielleicht doch …?

Impressum

Erstausgabe 2004 Überarbeitete Neuausgabe Mai 2021

Copyright © 2022 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten

E-Book-ISBN: 978-3-96817-723-6

Copyright © 2004 by Loretta Chekani Titel des englischen Originals: Miss Wonderful

Loretta Chase: Ein unverschämt charmanter Gentleman. Übersetzt von Alexandra Kranefeld. © für die deutsche Übersetzung © CORA-Verlag in der by HarperCollins Germany GmbH, Hamburg.

Published by Arrangement with Loretta Chekani

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Copyright © 2010, CORA-Verlag Dies ist eine überarbeitete Neuausgabe des bereits 2010 bei CORA-Verlag erschienenen Titels Ein unverschämt charmanter Gentleman (ISBN: 978-3-89941-692-3).

Übersetzt von: Alexandra Kranefeld Covergestaltung: Grit Bomhauer unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com: © photogl, © sumroeng chinnapan, © Nebs, © tikisada, © Artiste2d3d Periodimages.com: © VJ Dunraven / Mary Chronis Korrektorat: Katrin Ulbrich

E-Book-Version 27.07.2022, 09:40:35.

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.

Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

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Gestohlene Küsse des Gentleman

Prolog

London, Spätherbst 1817

Der Hochehrenwerte Edward Junius Carsington, Earl of Hargate, hatte fünf Söhne, und das waren drei mehr, als er eigentlich brauchte. Da das Schicksal – mit ein wenig Unterstützung seitens seiner Gemahlin – ihn schon früh mit einem kräftigen und gesunden Erben sowie einem ebenso kräftigen und gesunden zweiten Sohn gesegnet hatte, wäre es ihm lieber gewesen, wenn die drei nachfolgenden Kinder Töchter gewesen wären.

Denn Seine Lordschaft hatte, anders als die meisten Gentlemen seines Standes, eine geradezu krankhafte Abneigung gegen das Anhäufen von Schulden. Und bekanntlich kommen einen Söhne, allen voran die Söhne des Adels, ungeheuer teuer zu stehen.

Die bescheidene Schulbildung, deren adelige Mädchen bedürfen, kann man ihnen getrost zu Hause angedeihen lassen. Jungen hingegen müssen auf ein Internat geschickt werden und dann zur Universität.

Anständig aufgezogene Mädchen geraten, während sie heranwachsen, nur äußerst selten in Schwierigkeiten, aus denen ihr Vater sie dann gegen Zahlung einer beträchtlichen Summe befreien darf. Jungen hingegen geschieht dies andauernd, es sei denn, man hält sie in Käfigen, was jedoch in der Praxis nicht durchführbar ist.

Zumindest traf dies auf die Söhne von Lord Hargate zu. Da sie das gute Aussehen ihrer Eltern geerbt hatten, deren unbändige Lebensfreude und auch den stark ausgeprägten Eigensinn, stürzten sie sich mit betrüblicher Regelmäßigkeit in Schwierigkeiten.

Zudem soll noch angemerkt werden, dass eine Tochter sich bereits in recht jungen Jahren mit vergleichsweise geringem finanziellem Aufwand verheiraten lässt, womit dann das Problem an den jeweiligen Gatten weitergereicht ist.

Aber Söhne … Am Ende lief es jedenfalls immer darauf hinaus, dass ihr Vater ihnen Positionen kaufen musste – in der Regierung, in der Kirche oder beim Militär – oder dass er wohlhabende Ehefrauen für sie fand.

Im Laufe der letzten fünf Jahre hatten die beiden ältesten Söhne von Lord Hargate ihre Pflichten, was ihre Ehe anging, durchaus erfüllt. Daher konnte der Earl nun seine ganze Sorge und Aufmerksamkeit jenem neunundzwanzigjährigen, aller Vernunft zuwiderhandelnden Phänomen widmen, das ihm ein schier unlösbares Rätsel war – dem Ehrenwerten Alistair Carsington, seinem dritten Sohn.

Jedoch soll keinesfalls der Eindruck erweckt werden, dass Alistair nicht auch zuvor bereits in den Gedanken seines Vaters präsent gewesen wäre. Nein, durchaus nicht, denn schon durch die Rechnungen zahlreicher Kaufleute blieb er ihm Tag für Tag nur allzu gegenwärtig.

„Mit den Unsummen, die er für seinen Schneider, den Schuhmacher, Hutmacher, Handschuhmacher und verschiedene Herrenausstatter ausgibt – ganz zu schweigen von den Wäscherinnen, den Wein- und Spirituosenhändlern, Konditoren und so fort –, könnte ich eine ganze Schiffsflotte ausstatten“, beklagte Seine Lordschaft sich eines Abends bei seiner Gemahlin, als er neben ihr ins Bett stieg.

Lady Hargate legte das Buch beiseite, in dem sie gelesen hatte, und schenkte ihrem Gatten ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. Die Countess war dunkelhaarig und eine stattliche Erscheinung, eher gut aussehend als schön, mit funkelnden schwarzen Augen, einer beachtlichen Nase und einem kräftigen Kinn. Zwei ihrer Nachkommen hatten ihre Züge geerbt.

Besagter Sohn jedoch hatte das Aussehen von seinem Vater. Beide waren hochgewachsen und schlank, und der Earl war noch immer nicht fülliger um die Hüften, als er es in Alistairs Alter gewesen war. Sie besaßen das gleiche raubvogelartige Profil und die gleichen von schweren Lidern verhangenen Augen, wenngleich die des Earls eher braun als golden und schon von mehr Falten umkränzt waren. Auch wies das dunkelbraune Haar des Vaters bereits die ersten grauen Strähnen auf. Beide hatten sie die tiefe Stimme aller männlichen Carsingtons, die sich je nach Gefühlslage in ein noch tieferes Brummen verwandeln konnte.

Im Moment brummelte Lord Hargate.

„Du musst dem ein Ende setzen, Ned“, erklärte Lady Hargate.

Mit erhobenen Augenbrauen sah er sie an.

„Ja, ich erinnere mich daran, was ich dir letztes Jahr geraten habe“, entgegnete sie. „Ich meinte, dass Alistair so übermäßig auf sein Äußeres bedacht sei, weil er sich seines lahmen Beines schämte. Damals riet ich dir, dass wir abwarten und uns gedulden müssen. Aber nun sind mehr als zwei Jahre vergangen, seit er vom Kontinent zurückgekehrt ist, und es wird keineswegs besser mit ihm. Vielmehr hat es den Anschein, als würde ihn außer seiner Garderobe gar nichts mehr interessieren.“

Lord Hargate runzelte die Stirn. „Ich hätte nie geglaubt, dass einmal der Tag käme, an dem wir uns um ihn sorgen müssten, weil er nicht wegen einer Frau in Schwierigkeiten steckt.“

„Du musst etwas unternehmen, Ned.“

„Das würde ich ja – wenn ich nur wüsste, was.“

„Das ist doch Unsinn!“, erwiderte sie. „Wenn du mit dem königlichen Nachwuchs fertigwerden kannst – ganz zu schweigen von dieser aufsässigen Bagage im Unterhaus –, wirst du ja wohl auch mit deinem Sohn zurechtkommen. Dir fällt schon etwas ein, da habe ich nicht den geringsten Zweifel. Jedoch, Sir“, fügte sie strengen Tones hinzu, „rate ich Ihnen sehr, sich recht bald etwas einfallen zu lassen.“

Eine Woche später stand Alistair Carsington auf Geheiß Lord Hargates in dessen Arbeitszimmer und sah sich ein recht umfangreiches Dokument durch. Es handelte sich um eine Aufstellung dessen, was sein Vater „Episoden der Dummheit“ nannte, sowie deren Kosten in Pfund, Schilling und Pence.

Gemessen an den Gepflogenheiten manch anderer Männer, war die Liste von Alistairs Verfehlungen kurz. An Torheit waren die zu trauriger Berühmtheit gelangten Episoden jedoch kaum zu übertreffen, wie er sich nun zu seinem tiefen Bedauern eingestehen musste.

Er brauchte keine solche Liste, um sich dessen bewusst zu sein – er verliebte sich rasch und unbedacht, bedingungslos und verheerend.

Mit vierzehn zum Beispiel war es Clara gewesen: goldblondes Haar, rosige Wangen, die Tochter eines Hausmeisters in Eton. Wie ein Hündchen war Alistair ihr nachgelaufen und hatte sein ganzes Taschengeld ausgegeben, um sie mit Süßigkeiten und irgendwelchem Tand zu beschenken. Eines Tages machte dann ein Rivale, ein eifersüchtiger Junge aus dem Dorf, eine beleidigende Bemerkung. Der Streit wuchs sich von einem Wortgefecht zu einem handfesten Schlagabtausch aus. Die nachfolgende Prügelei zwischen einigen von Alistairs Schulkameraden und einer Gruppe von Dorfjungen zog zwei gebrochene Nasen, sechs ausgeschlagene Zähne, eine leichte Gehirnerschütterung sowie beträchtlichen Sachschaden nach sich. Clara beweinte den arg mitgenommenen Rivalen und schimpfte Alistair einen ungehobelten Kerl. Nun, da sein Herz gebrochen war, machte es ihm auch nichts mehr aus, dass er der Schule verwiesen wurde und Anklagen wegen Körperverletzung, Störung des Königlichen Friedens, Anstiftung zur Unruhe und Sachbeschädigung entgegensah. Lord Hargate wurde verpflichtet, für den Schaden aufzukommen, und es kostete ihn eine beträchtliche Summe.

Mit sechzehn war es Verena, die Alistair während der Sommerferien kennenlernte. Weil ihre Eltern streng und sehr religiös waren, las sie heimlich Schundromane und verständigte sich mit Alistair nur durch verstohlen geflüsterte Worte und heimliche Briefe. Eines Nachts schlich er sich, wie vereinbart, zu ihrem Haus und warf Steinchen an das Fenster ihres Schlafzimmers. Er hatte angenommen, dass sie die Balkonszene aus Romeo und Julia nachspielen würden. Doch Verena hatte andere Pläne. Sie warf einen Koffer herab und kletterte an einem Seil aus zusammengeknoteten Bettlaken hinterher. Nicht länger würde sie die Gefangene ihrer Eltern sein, verkündete sie. Sie würde mit Alistair davonlaufen. Der war so angetan von dieser Vorstellung, dass er wenig Gedanken an die praktischen Notwendigkeiten bei einer Flucht verschwendete. Noch bevor sie die Nachbargemeinde erreicht hatten, wurden sie eingeholt. Verenas erboste Eltern verlangten, dass er wegen Entführung angeklagt und nach New South Wales verschifft werde. Nachdem er auch diese Angelegenheit gütlich beigelegt hatte, hielt Lord Hargate seinen Sohn dazu an, sich irgendein leichtes Mädchen zu suchen und nicht länger wohlerzogenen jungen Damen nachzustellen.

Mit siebzehn war es Kitty, eine Schneidergehilfin mit großen blauen Augen. Von ihr wurde Alistair, unter anderem, in den Feinheiten der Damenmode unterwiesen. Als die Beschwerde eines eifersüchtigen, hochwohlgeborenen Kunden Kitty ihre Stellung kostete, veröffentlichte der über diese Ungerechtigkeit zutiefst empörte Alistair eine Schmähschrift. Der Kunde strengte daraufhin eine Verleumdungsklage an, und der Schneider verlangte Wiedergutmachung für die Rufschädigung und den Verlust von Aufträgen. Lord Hargate tat das Übliche.

Mit neunzehn war es Gemma, eine schicke Hutmacherin. Eines Tages, als sie eine romantische Landpartie machten, wurde ihre Kutsche von Gendarmen angehalten, die Diebesgut in Gemmas Gepäck fanden. Sie behauptete, dass eifersüchtige Rivalen ihr eine falsche Beweislast anhängen wollten, und Alistair glaubte ihr. Seine leidenschaftliche Rede, in der er Komplotte im Allgemeinen und korrupte Gesetzeshüter im Besonderen anklagte, lockte eine Menge Schaulustiger herbei, die bald außer Kontrolle geriet, wie Menschenmengen das oft an sich haben. Der Riot Act wurde verlesen und Alistair gemeinsam mit seiner langfingrigen Geliebten in Gewahrsam genommen. Lord Hargate kam einmal mehr zu seiner Rettung.

Mit einundzwanzig war es Aimée, eine französische Balletttänzerin, die Alistairs bescheidene Junggesellenräume in ein elegantes Appartement verwandelte. Dort gaben sie rauschende Feste, die bald in der Londoner Halbwelt berühmt waren. Da Aimées Geschmack es durchaus mit dem der verschiedenen Marie Antoinettes aufnehmen konnte und es Alistair nicht im Traum eingefallen wäre, ihr einen Wunsch zu versagen, fand er sich bald im Schuldnerarrest wieder – der letzten Stufe vor dem Gefängnis. Der Earl beglich die astronomisch hohen Schulden, brachte Aimée bei einer umherziehenden Balletttruppe unter und ließ Alistair wissen, dass es an der Zeit sei, sich mit achtbaren Menschen zu umgeben und sich nicht länger zum allgemeinen Gespött zu machen.

Mit dreiundzwanzig war es Lady Thurlow, Alistairs erste und einzige verheiratete Liebschaft. In der vornehmen Gesellschaft pflegt man eine ehebrecherische Beziehung mit der größten Diskretion zu behandeln, um den Ruf der Dame zu schützen und ihrem Gemahl unerfreuliche Duelle und rechtliche Schritte zu ersparen. Doch da Alistair mit seinen Gefühlen nur schlecht an sich halten konnte, sah Lady Thurlow sich genötigt, die Beziehung zu beenden. Leider hatte ein Diener Alistairs Liebesbriefe gestohlen und drohte nun mit deren Veröffentlichung. Um seine Geliebte vor dem Skandal und einem verärgerten Gatten zu bewahren, musste Alistair, der sich außerstande sah, das recht beachtliche Schweigegeld aufzubringen, seinen Vater um Hilfe bitten.

Mit siebenundzwanzig beging er seine größte Dummheit – Judith Gilford war das einzige Kind eines vermögenden, soeben in den Ritterstand erhobenen Witwers. Sie trat zu Beginn des Jahres 1815 in Alistairs Leben. Schon bald entledigte er sich aller ihrer Rivalinnen, und im Februar wurde die Verlobung bekannt gegeben. Bereits im März befand er sich mitten im Fegefeuer.

In der Öffentlichkeit war Judith lieblich anzusehen und eine charmante Gesprächspartnerin. Im Privaten jedoch begann sie zu schmollen oder bekam einen Wutanfall, sobald sie nicht sofort genau das bekam, was und wann sie es wollte. Sie verlangte, dass alle Aufmerksamkeit stets einzig und allein auf sie gerichtet war. Ihre Gefühle waren leicht zu verletzen, aber sie nahm wenig Rücksicht auf die Gefühle anderer. Zu ihrer Familie und zu ihren Freunden war sie unfreundlich, die Bediensteten behandelte sie schlecht, und wenn jemand versuchte, ihre Launen oder ihre Worte zu zügeln, wurde sie geradezu hysterisch.

Und so kam es, dass Alistair schon im März zutiefst verzweifelt war, denn für einen Gentleman geziemte es sich nicht, eine Verlobung zu lösen. Und da auch Judith dies nicht zu tun beabsichtigte, blieb ihm nur zu hoffen, dass er von einem Pferd zu Tode getrampelt, in die Themse gestürzt oder von Wegelagerern erstochen würde. Eines Nachts, als er sich auf dem Weg in ein sehr zweifelhaftes Viertel befand, wo ein gewaltsamer Tod recht wahrscheinlich war, stolperte er indes – und er wusste kaum, wie ihm geschah – in die tröstenden Arme einer üppigen Kurtisane namens Helen Waters.

Alistair verliebte sich einmal mehr unbesonnen und beging einmal mehr eine Indiskretion. Judith fand alles heraus, machte furchtbare Szenen in der Öffentlichkeit und drohte mit rechtlichen Schritten. Die Klatschmäuler waren begeistert. Lord Hargate hingegen nicht. Ehe er es sich recht versah, fand Alistair sich auf einem Schiff wieder, das in Richtung des Kontinents ablegte.

Gerade rechtzeitig für Waterloo.

Und damit war er am Ende der Liste angekommen.

Mit erhitztem Gesicht humpelte Alistair vom Fenster herüber, wo er sich alles durchgelesen hatte, und legte die Papiere auf den wuchtigen Schreibtisch, hinter dem sein Vater saß und ihn beobachtete.

Mit einer Unbeschwertheit, die er keineswegs empfand, sagte Alistair: „Bekomme ich mildernde Umstände dafür, dass ich seit dem Frühjahr 1815 keine solche Episode mehr gehabt habe?“

„Du bist nur deshalb nicht in Schwierigkeiten geraten, weil du die meiste Zeit außer Gefecht gesetzt warst“, bemerkte Lord Hargate. „Unterdessen sind jedoch Wagenladungen von Rechnungen eingetroffen. Ich kann mich kaum entscheiden, was schlimmer ist. Für die Summen, die du für deine Garderobe ausgibst, könntest du einen ganzen Harem französischer Mätressen unterhalten.“

Dem konnte Alistair nichts entgegensetzen. Er war schon immer sehr eigen gewesen, was seine Garderobe anbetraf. Und es mochte stimmen, dass er in letzter Zeit noch mehr auf sein Äußeres bedacht war als zuvor – vielleicht, weil es ihm half, sich von anderem abzulenken. Dem fünfzehnten Juni zum Beispiel, jenem Tag und jener Nacht, an die er sich nicht erinnern konnte. Waterloo war wie ein verschwommener Fleck in seinem Gedächtnis. Allerdings gab er vor, sich durchaus daran erinnern zu können, ebenso wie er vorgab, nicht zu bemerken, was sich seit seiner Heimkehr verändert hatte: die Heldenverehrung, die ihn vor Verlegenheit erschaudern ließ, das Mitleid, das ihn zur Raserei brachte.

Er verdrängte diese Gedanken und runzelte die Stirn, weil er einen Fussel auf dem Ärmel seines Gehrocks entdeckte. Doch er widerstand dem Impuls, ihn wegzuschnippen. Das konnte als eine nervöse Geste gedeutet werden. Er fing an zu schwitzen, aber das sah man nicht. Noch nicht. Er hoffte, sein Vater würde ein Ende finden, bevor seine steif gestärkte Halsbinde zu erschlaffen begann.

„Ich verabscheue es, über Geld zu sprechen“, stellte sein Vater klar. „Eine Unsitte. Leider lässt sich das Thema nun nicht mehr umgehen. Wenn du deine jüngeren Brüder um das bringen willst, was ihnen zusteht, dann soll es wohl so sein.“

„Meine Brüder?“ Alistair begegnete dem argwöhnenden Blick seines Vaters. „Warum sollte ich …“ Er verstummte, weil Lord Hargates Mundwinkel leise zuckten und die Andeutung eines Lächelns erkennen ließen.

Oh, dieses Lächeln verhieß nie etwas Gutes.

„Lass es mich dir erklären“, meinte Lord Hargate.

„Er gibt mir Zeit bis zum ersten Mai“, berichtete Alistair seinem Freund Lord Gordmor an jenem Nachmittag. „Hast du schon jemals so etwas Grausames gehört?“

Er war eingetroffen, während sein einstiger Waffenbruder sich gerade ankleidete. Gordmor brauchte nur einen einzigen Blick auf Alistairs Miene zu werfen, um seinen Kammerdiener hinauszuschicken. Sowie sie ungestört waren, hatte Alistair von dem morgendlichen Treffen mit seinem Vater zu erzählen begonnen.

Anders als die meisten Adeligen war der Viscount bestens imstande, sich ohne fremde Hilfe anzukleiden, und genau das tat er, derweil sein Besucher ihm Bericht erstattete.

Nun stand Seine Lordschaft gerade vor dem Spiegel und legte die Halsbinde an. Da dies einem nicht nur abverlangte, den Knoten einwandfrei zu schnüren, sondern auch die Falten mit peinlichster Sorgfalt aufzuwerfen, vertat man meist ein halbes Dutzend frisch gestärkter Linnentücher, bevor Vollkommenheit erreicht war.

Alistair lehnte am Fenster des Ankleidezimmers und sah seinem Freund dabei zu, wenngleich das kunstfertige Anlegen einer Halsbinde mit dem heutigen Morgen ein wenig seines einstigen Reizes für ihn verloren hatte.

„Dein Vater ist mir ein Rätsel“, bemerkte Gordmor.

„Er findet, ich solle eine Erbin heiraten. Ist das zu fassen? Nach der Katastrophe mit Judith?“

Gordmor hatte Alistair damals gewarnt, dass ein Einzelkind nie die Aufmerksamkeit und die Liebe seiner Eltern mit Geschwistern habe teilen müssen und daher oft die Neigung zeige, verzogen und verwöhnt zu sein.

„Sicher gibt es zumindest eine Erbin in England, die nicht unansehnlich oder anderweitig unerfreulich ist“, meinte Gordy.

„Das ändert nichts an der Sache“, befand Alistair. „Ich gedenke nicht zu heiraten, bevor ich alt und schwach bin. Mit fünfundvierzig vielleicht. Nein, besser mit fünfundfünfzig. Sonst begehe ich nur erneut eine furchtbare Dummheit und werde dann bis ans Ende meiner Tage damit leben müssen.“

„Du hattest bislang lediglich Pech mit den Frauen“, beschwichtigte ihn Gordy.

Alistair schüttelte den Kopf. „Nein, es ist eine verheerende Charakterschwäche – ich verliebe mich zu rasch und stets unbedacht, und dann folgt ein Unheil auf das andere. Ich frage mich, weshalb mein Vater nicht einfach eine reiche Gemahlin für mich auswählt. Seine Urteilskraft ist sicherlich besser als die meine.“

Doch Alistair wusste, dass ihm selbst damit nicht gedient war, solange er seiner Braut nichts bieten konnte. Es war schon schwer genug, auf das Geld seines Vaters angewiesen zu sein – sich jedoch von einer Gemahlin abhängig zu machen und sich von ihrer Familie ausgehalten zu fühlen … Die Vorstellung ließ ihn erschaudern. Ihm war natürlich bekannt, dass viele jüngere Söhne auf eine gute Partie setzten, und niemand dachte deshalb schlecht von ihnen. Es war völlig legitim. Aber sein Stolz wollte ihm nicht erlauben, diese Ansicht zu teilen. „Ich wünschte, er hätte mir erlaubt, in der Armee zu bleiben“, brummte er.

Für einen kurzen Moment blickte Gordmor von seiner Halsbinde auf und sah Alistair an. „Vielleicht teilt er meine Ansicht, dass du dein Glück auf dem Schlachtfeld ausgereizt hast. Ich bin ehrlich gesagt froh, dass er dir die Rückkehr dorthin verwehrt hat.“

Es ließ sich nicht leugnen, dass Waterloo sich alle erdenkliche Mühe gegeben hatte, Alistair dem Leben zu entreißen. Wie ihm später erzählt worden war, hatte der Feind drei Pferde unter ihm weggeschossen, ihn mit Säbeln attackiert und mit Lanzen drangsaliert. Ein ganzes Regiment der eigenen Kavallerie war über ihn hinweggeritten, und einige Soldaten hatten auf ihm ihr Leben gelassen. Längst war er aufgegeben und für tot erklärt worden. Stunden hatte er unter einem Haufen Leichen gelegen. Als Gordmor ihn fand, war er fast selber eine gewesen.

Alistair erinnerte sich keineswegs daran, auch wenn er es vorgab. Aus den Erzählungen anderer hatte er sich ein Bild der Ereignisse zusammengesetzt, von dem er nicht einmal wusste, ob es der Wahrheit entsprach. Vielleicht war es heillos übertrieben. Sicher war er sich indes, dass auch Gordy den Verdacht hegte oder gar davon überzeugt war, seitdem sei etwas in Alistairs Oberstübchen durcheinandergeraten. Doch darüber sprachen sie nie.

„Hätte mein Vater mir erlaubt, in der Armee zu bleiben, müsste er nun nicht beklagen, dass ich mein Leben in Untätigkeit vertrödele“, fand Alistair.

„Aber ein Gentleman hat untätig zu sein.“

„Dieser wohl nicht“, stellte Alistair fest. „Zumindest nicht mehr. Bis zum ersten Mai muss ich eine Möglichkeit finden, selbst für meinen Unterhalt aufzukommen.“

„Noch sechs Monate“, murmelte Gordmor. „Das sollte Zeit genug sein.“

„Das will ich hoffen. Wenn ich bis dahin keine einträgliche Beschäftigung gefunden habe, werde ich eine Erbin umwerben und für mich gewinnen müssen. Wenn mir beides nicht gelingen sollte – bestraft er meine jüngeren Brüder!“

Das war Lord Hargates letzter Trumpf gewesen.

Der Titel des Earls, alle Ehren und Privilegien sowie der Familiensitz und ein Großteil des Vermögens würden nach dem Tode ihres Vaters an Alistairs ältesten Bruder Benedict übergehen. Es war üblich, große Besitzungen auf diese Weise zu vererben, damit sie über die Generationen erhalten blieben. Aber damit übertrug sich zugleich die Unterhaltsverpflichtung für die jüngeren Söhne vom Vater auf den ältesten Sohn. Um diese Bürde von Benedict zu nehmen, hatte Seine Lordschaft beizeiten verschiedene Besitzungen erworben, die er seinen Jungen als Hochzeitsgeschenke zugedacht hatte.

Heute Morgen nun hatte er damit gedroht, eines oder gar beide der für seine jüngsten Söhne gedachten Anwesen zu veräußern, um aus dem Gewinn die jährlichen Unterhaltszahlungen für Alistair zu finanzieren, falls es dem nicht gelang, in besagtem Zeitraum eine gewinnbringende Beschäftigung zu finden – oder aber eine vermögende Braut.

„Nur dein unergründlicher Vater kann sich einen solchen Plan ausdenken“, stellte Gordmor fest. „Ich finde seine Denkweise fast orientalisch.“

„Du meinst sicher machiavellistisch“, wandte Alistair ein.

„Es scheint mir dem Wohlbefinden sehr abträglich, einen so bestimmenden Vater zu haben“, bemerkte Gordmor. „Aber ich komme nicht umhin, ihn zu bewundern. Er ist ein ausgezeichneter Politiker, wie alle im Parlament wissen – und deswegen vor ihm zittern. Du musst ihm zugestehen, dass sein Vorgehen strategisch brillant ist. Er hat dich an deinem wunden Punkt getroffen: deinen kleinen Brüdern, diesen unglaublichen Lümmeln.“

„Das ist kein wunder Punkt“, berichtigte Alistair. „Meine Brüder gehen mir gehörig auf die Nerven. Aber ich kann nicht zulassen, dass er ihnen ihren Anteil nimmt, um meinen Unterhalt zu finanzieren.“

„Gib wenigstens zu, dass dein Vater dich nachhaltig aus der Ruhe gebracht hat, was keine geringe Leistung ist. Ich erinnere nur daran, wie du sagtest, als der Wundarzt vorschlug, dein Bein abzunehmen: ‚Wie bedauerlich. Wir fühlten uns einander so verbunden.‘ Da stand ich, heulte und tobte, und du lagst da, fast zu Tode getrampelt, und warst ebenso wenig aus der Fassung zu bringen wie der Eiserne Duke höchstpersönlich.“

Der Vergleich war absurd. Der Duke of Wellington hatte seine Armeen wiederholt zum Sieg geführt. Alistair hatte es lediglich vollbracht auszuharren, bis er gerettet wurde.

Und was sein gefasstes Verhalten anbelangte – wenn er alles mit Fassung ertragen hätte, warum konnte er es dann nicht klar und deutlich vor sich sehen? Warum blieb das Geschehene wie von einem Nebel verschleiert und entzog sich seiner Erinnerung?

Er wandte dem Fenster den Rücken zu und betrachtete den Mann, der ihm nicht nur das Leben gerettet, sondern auch dafür gesorgt hatte, dass er all seine Gliedmaßen behielt. „Dir fehlt meine Erfahrung, Gordy“, meinte er. „Du hattest nur eine ältere Schwester, wohingegen ich mich von klein auf von zwei älteren Brüdern prügeln und quälen lassen musste.“

„Meine Schwester hat ihre eigenen Methoden, mich zu quälen“, ließ Gordy ihn wissen. Er zog seinen Gehrock über und warf einen letzten prüfenden Blick auf sein Spiegelbild. Er war blond, ein wenig kleiner als Alistairs beeindruckende Einsachtzig und von gesetzterem Körperbau.

„Mein Schneider macht wahrlich das Beste aus den Gegebenheiten“, meinte er nun, „aber was ich auch tue oder wie viel ich dafür ausgebe, immer gelingt es mir, einen Deut weniger elegant auszusehen als du.“

Alistairs Bein verlangte nach Ruhe. Er verließ seinen Platz am Fenster und humpelte zum nächsten Sessel. „Das liegt daran, dass Kriegsverletzungen dieser Tage sehr in Mode sind.“

„Nein, es liegt an dir. Du humpelst sogar mit Stil.“

„Wenn man schon humpelt, dann sollte man es formvollendet tun.“

Gordmor lächelte nur.

„Auf jeden Fall verdanke ich dir einiges“, sagte Alistair zu seinem Freund. „Wärst du nicht gewesen, würde ich nun in aller Stille ruhen.“

„Nicht in aller Stille“, berichtigte Seine Lordschaft. „In Verwesung. Soweit ich weiß, ein sehr reger Vorgang.“ Er ging zu einem kleinen Kabinett hinüber und nahm eine Karaffe und zwei Gläser heraus.

„Ich dachte, wir wollten ausgehen“, wandte Alistair ein.

„Gleich.“ Gordmor goss ihnen ein. „Zunächst will ich mich mit dir über einen Kanal unterhalten.“

1. Kapitel

Derbyshire

Montag, 16. Februar 1818

Mirabel Oldridge kam aus den Stallungen und lief den Schotterweg hinauf in Richtung Oldridge Hall. Als sie in den Garten einbog, stürmte der Hausdiener Joseph zwischen einigen Büschen hervor auf den Weg.

Man sah Miss Oldridge keineswegs an, dass sie kürzlich ihren einunddreißigsten Geburtstag begangen hatte. Besonders in diesem Moment – ihr rotgoldenes Haar war vom Wind zerzaust, ihre milchweißen Wangen schimmerten rosig, ihre blauen Augen funkelten lebhaft – wirkte sie überaus jung.

Dennoch war sie in jeder Hinsicht das Familienoberhaupt, und sobald ein Problem auftauchte, war es Miss Oldridge – und nicht ihr Vater –, an die sich alle Bediensteten wandten. Das mochte daran liegen, dass ihr Vater oft die Ursache des Problems war.

Aus Josephs plötzlichem Erscheinen und seinem atemlosen Zustand schloss sie, dass es Schwierigkeiten gab, noch bevor er auch nur ein Wort gesprochen hatte – was er aber schließlich in grammatikalisch bedenklicher Weise tat.

„Wollen Sie so freundlich sein, Miss“, fing er an, „da wär’ ein Gentleman, der wo Mr. Oldridge sprechen will. Der wo einen Termin hat, sagt er. Hat er auch, sagt Mr. Benton, weil das Buch von unserm Herrn offen gewesen ist und Mr. Benton es so klar wie am helllichten Tag gesehen hat, in der Schrift vom Herrn selbst.“

Wenn Benton, der Butler, sagte, dass es diesen Kalendereintrag gab, dann gab es ihn wohl, so unwahrscheinlich das auch war.

Mr. Oldridge vereinbarte nie mit irgendjemandem Termine. Seine Nachbarn wussten, dass sie ihre Besuche mit Mirabel absprechen mussten, wenn sie ihren Vater zu sprechen wünschten. Ging es um das Anwesen, musste man sich an Oldridges Verwalter Higgins wenden oder aber auch an Mirabel, die ohnehin ein wachsames Auge auf die Arbeit des Verwalters hatte.

„Möchte der Gentleman nicht lieber mit Higgins sprechen?“, fragte sie.

„Mr. Benton sagt, das schickt sich nicht, Miss, weil Mr. Higgins unter der Würde von dem Gentleman wär’. Ein Mr. Carsington, dem sein Vater der Earl von irgendwas sein tut. Mr. Benton hat gesagt von was. Irgendein gate, nur Billingsgate war’s nicht oder irgendeins von den andern aus London.“

„Carsington?“, wiederholte Mirabel. „Das ist der Familienname des Earl of Hargate.“ Eine alteingesessene Familie aus Derbyshire – aber keine, mit der sie gesellschaftlichen Umgang zu pflegen gewohnt war.

„Ja, das war’s, Miss! Er ist der Gentleman, den wo sie in Waterloo so heldenhaft niedergetrampelt haben, und deshalb hat Mr. Benton ihn in den Salon gebracht. Mit allem Respekt, Miss, aber es tut gar nicht geh’n, dass er sich da jetzt die Füß’ in den Bauch steht, als ob er niemand Besonders wär’.“

Mirabel sah an sich hinunter. Es hatte im Laufe des Vormittags immer wieder mal geregnet. Der Rock ihres recht durchnässten Reitkleides war von dicken Schlammspritzern übersät, und dank des kurzen Fußmarsches zu den Stallungen und zurück waren auch ihre Stiefel schlammverkrustet. Ihr Haar und ihre Haarnadeln waren unlängst getrennte Wege gegangen, und sie wagte kaum, sich Gedanken über den Zustand ihres Hutes zu machen.

Sie überlegte, was sie tun sollte. Es erschien ihr höchst despektierlich, derart verschmutzt vor dem Besucher zu erscheinen. Doch wenn sie sich erst zurechtmachte, würde das Ewigkeiten dauern, und man hatte den Gentleman – den berühmten Helden von Waterloo – bereits über Gebühr warten lassen.

Sie raffte ihre Röcke zusammen und rannte zum Haus.

Alistair wäre jetzt gern anderswo gewesen als in Derbyshire. Dem Landleben konnte er keinen Reiz abgewinnen. Er gab der Zivilisation den Vorzug, und damit meinte er London.

Oldridge Hall lag fern aller Zivilisation in einem gottverlassenen Winkel am Rande von Derbyshires gottverlassenem Peak.

Gordmor hatte ihm vom Krankenbett aus mit heiserer Stimme sehr trefflich die Reize des Peaks beschrieben: „Touristen, die malerische Aussichten und malerische Bauern bestaunen. Eingebildete Kranke, die sich an Mineralquellen laben und in mineralischen Bädern planschen. Erbärmliche Straßen. Kein Theater, keine Oper, keine Klubs. Es bleibt beim besten Willen nichts zu tun, als die Aussicht – Berge, Täler, Felsen, Bäche, Kühe und Schafe – zu bestaunen oder aber die Bauern, Touristen und Gebrechlichen.“

Mitte Februar entbehrte die Gegend sogar dieser Reize. Die Landschaft war von einem einheitlich kargen Braun und Grau, das Wetter bitterkalt und nass.

Aber Gordmors – und damit auch Alistairs – Problem war hier angesiedelt, und seine Lösung konnte nicht bis zum Sommer warten.

Oldridge Hall war ein hübsches altes Herrenhaus, das im Laufe der Jahre erheblich ausgebaut worden war. Es war allerdings höchst unwegsam gelegen am Ende einer langen Strecke von etwas, das man in dieser Gegend scherzhaft als „Straße“ bezeichnete: ein schmaler, holperiger Fahrweg, auf dem bei trockenem Wetter der Staub die Herrschaft übernahm und bei Regen der Schlamm.

Alistair war davon ausgegangen, dass Gordmor mit seiner Beschreibung der Straßenverhältnisse übertrieben habe. Tatsächlich jedoch hatte Seine Lordschaft untertrieben. Alistair konnte sich keine Gegend in ganz England vorstellen, die eines Kanals dringender bedurft hätte.

Nachdem er die Gemäldesammlung im Salon, in der sich einige vortreffliche Szenen aus Ägypten fanden, und das Muster des Teppichs eingehend begutachtet hatte, ging Alistair zu den Flügelfenstern hinüber und sah hinaus. Durch die Glastüren bot sich ein Ausblick auf die Terrasse, die zu einem reich bepflanzten Garten führte, hinter dem sich eine weitläufige, sanft ansteigende Parkanlage erstreckte, hinter der wiederum sich malerische Berge und Täler erahnen ließen.

Ihm entging jedoch jede einzelne dieser Naturschönheiten. Er sah nur ein junges Mädchen.

Es rannte die Treppe zur Terrasse herauf, den Rock bis zu den Knien gerafft, den Hut schräg auf dem Kopf, und ein wilder Haarschopf von der Farbe des Sonnenaufgangs tanzte um sein Gesicht.

Während er noch ganz in den Anblick ihres Haars versunken war – ein wirbelnder Feuerball, als eine Windbö es erfasste –, eilte sie über die Terrasse. Alistair war ein ungehinderter Blick auf ihre schlanken Fesseln und ihre wohlgeformten Waden vergönnt, bevor sie ihren Rock herabfallen ließ, um ihre Beine zu bedecken.

Als er ihr die Tür öffnete, stürmte sie herein und brachte Schlamm und Regen mit sich, doch das schien sie so wenig zu kümmern wie einen Hund.

Sie lächelte.

Ihr Mund war sehr voll, und so kam es Alistair vor, als würde ihr Lächeln kein Ende nehmen und ihn völlig umfangen. Ihre Augen waren blau – blau wie das Licht der Dämmerung –, und für einen Augenblick schien sie ihm der Anfang und das Ende von allem zu sein, vom morgensonnigen Strahlenkranz ihres Haars bis zum dämmrigen Blau ihrer Augen.

In diesem einen Augenblick konnte Alistair an nichts anderes mehr denken, nicht einmal an seinen eigenen Namen, bis sie ihn aussprach.

„Mr. Carsington“, sagte sie, und ihre Stimme war kühl und klar mit einem samtweichen dunklen Unterton.

Haare wie der Sonnenaufgang, Augen wie die Dämmerung. Und eine Stimme wie die Nacht.

„Ich bin Mirabel Oldridge“, fuhr sie fort.

Mirabel. Das bedeutete wunderbar. Und sie war wirklich …

Im Nu hatte Alistair sich wieder gefangen, bevor sein Verstand sich ganz verlor. Keine Poesie, ermahnte er sich. Keine Luftschlösser.

Er war geschäftlich hier, und das durfte er nicht vergessen.

Er konnte sich nicht erlauben, seine Gedanken abschweifen zu lassen, auch nicht für einen Moment, um bei dieser Frau zu verweilen … ganz gleich, wie zart ihre Haut war oder wie herzerwärmend ihr Lächeln … Wie die ersten lauen Frühlingslüfte nach einem langen, dunklen Winter …

Keine Poesie. Er sollte sie lieber betrachten wie ein … Möbelstück. Das sollte er.

Wenn er sich ein weiteres Mal ins Unglück stürzte – und ein solches war unvermeidlich, sobald er dem anderen Geschlecht zu viel Aufmerksamkeit widmete –, so würde er diesmal nicht nur wie üblich Enttäuschung, Herzschmerz und Kummer zu erleiden haben.

Diesmal würde seine Unbesonnenheit auch anderen schaden. Seine Brüder würden ihre Besitzungen verlieren, und Gordmor wäre, wenn auch nicht völlig ruiniert, so doch zumindest in entwürdigender Bedrängnis. Das war keine Art, es dem Mann zu entgelten, dem er nicht nur sein Leben, sondern auch sein Bein verdankte. Alistair wollte sich als des Vertrauens würdig erweisen, das sein Freund in ihn gesetzt hatte.

Er wollte zudem Lord Hargate beweisen, dass sein dritter Sohn keineswegs ein untätiger Schmarotzer und nutzloser Geck war.

In der Hoffnung, dass seine Miene ihn nicht verriet, trat Alistair einen Schritt zurück, verbeugte sich und murmelte die üblichen Worte der Höflichkeit.

„Ich weiß, dass Sie meinen Vater sprechen wollten“, sagte die junge Frau. „Er hatte für heute einen Termin mit Ihnen vereinbart.“

„Daraus schließe ich, dass er derzeit andernorts unabkömmlich ist.“

„So ist es“, erwiderte sie. „Ich habe schon erwogen, ihm dies auf seinen Grabstein schreiben zu lassen: ‚Sylvester Oldridge, geliebter Vater, andernorts unabkömmlich‘. Wenn er einmal einen Grabstein braucht, wäre es ja sogar zutreffend, nicht wahr?“

Die leicht rosige Färbung ihrer Wangen strafte den kühlen Klang ihrer Stimme Lügen. Alistair gab dem Impuls nach, sich ein wenig zu ihr zu neigen, um zu sehen, ob sie noch rosiger erröten würde.

Ziemlich hastig trat sie beiseite und begann, die Bänder ihres Hutes aufzuschnüren.

Alistair kam rasch wieder zu Verstand, straffte die Schultern und sagte sehr gefasst: „Ihren Worten entnehme ich, dass er somit nur auf die übliche Weise unabkömmlich ist und keineswegs im endgültigen Sinne.“

„Allzu üblich“, seufzte sie. „Wenn Sie ein Stück Moos oder eine Flechte wären oder über Stempel und Staubgefäße oder sonst eine pflanzliche Eigenschaft verfügten, würde er sich bis in das letzte Detail an Sie erinnern. Aber selbst wenn Sie der Erzbischof von Canterbury wären und das Seelenheil meines Vaters davon abhinge, Sie zu einer bestimmten Zeit zu treffen, würde es Ihnen genauso ergehen wie jetzt.“

Alistair war viel zu sehr damit beschäftigt, ungelegene Gefühle zu unterdrücken, als dass er auch nur eines ihrer Worte verstanden hätte. Glücklicherweise zog ihre Garderobe schließlich seine Aufmerksamkeit auf sich und trieb ihm jegliche poetische Anwandlung aus.

Das Reitkleid war aus teurem Stoff und gut geschnitten, doch bar aller Eleganz und von einem Grün, das ihr sehr unvorteilhaft zu Gesicht stand. Auch der Hut war von guter Machart, aber fürchterlich altmodisch. Alistair war sprachlos. Wie konnte es sein, dass einer Frau, die offenbar Wert auf Qualität legte, jedes Gespür für Mode abging?

Dieser Widerspruch bereitete ihm Verdruss, der, gepaart mit seinen zu verdrängenden Gefühlen, vielleicht erklären mochte, warum es ihn so über die Maßen aufbrachte, wie sie nun, statt die Bänder ihres Hutes zu lösen, diese nur noch weiter verhedderte.

„Und daher möchte ich Sie bitten, die Abwesenheit meines Vaters als eine Eigenart oder auch eine Schwäche seines Charakters zu entschuldigen“, bat sie ihn, während sie versuchte, die Schnüre zu entwirren, „und nicht als Beleidigung aufzufassen. Verflixt.“ Sie zerrte an den Bändern und zurrte dabei den von ihr geschaffenen gordischen Knoten nur noch fester.

„Dürfte ich Ihnen behilflich sein, Miss Oldridge?“, fragte Alistair.

Sie wich einen Schritt zurück. „Danke, aber ich wüsste nicht, warum wir uns beide von einem widerspenstigen Stück Band ärgern lassen sollten.“

Er ging auf sie zu. „Ich bestehe darauf. Sie machen es nur noch schlimmer.“

Sie umklammerte das verknotete Band mit einer Hand.

„Sie können ja nicht einmal sehen, was Sie da tun“, stellte er fest und schob ihre Hand beiseite.

Sie ließ die Arme seitlich herabhängen und machte sich steif wie ein Brett. Ihre blauen Augen waren starr auf den Knoten seiner Halsbinde gerichtet.

„Ich müsste Sie bitten, Ihren Kopf ein wenig nach hinten zu neigen“, meinte Alistair.

Sie tat es und richtete ihre Augen nun auf einen Punkt, der irgendwo rechts über seinem Kopf liegen musste. Ihre Wimpern waren lang und dunkler als ihr Haar. Ein rosiger Hauch glitt über ihre Wangen, verschwand aber schnell wieder.

Alistair zwang seinen Blick weiter nach unten – über ihren wundervollen Mund hinweg – zu dem Knoten, der sehr klein und sehr fest war. Er musste sich nah heranbeugen, um erkennen zu können, wo er sich wohl öffnen ließ.

Augenblicklich wurde er eines Geruchs gewahr, der nicht von nasser Wolle herrührte, sondern unverkennbar weiblich war. Sein Herz schlug schwer.

Fest entschlossen, diesen störenden Ablenkungen keine Beachtung zu schenken, gelang es ihm, mit einem seiner gepflegten Fingernägel eine winzige Öffnung zu finden. Aber die Bänder waren feucht, und der Knoten gab kein bisschen nach – und er konnte ihren Atem auf seinem Gesicht spüren. Sein Puls beschleunigte sich.

Er richtete sich auf. „Ein hoffnungsloser Fall“, beschied er. „Ich rate zur Operation.“

Später kam ihm der Gedanke, dass er ihr hätte raten sollen, nach ihrer Zofe zu schicken, aber in besagtem Augenblick war er zu sehr von dem Anblick abgelenkt, wie sie sich gedankenverloren auf die Unterlippe biss.

„Nun gut“, meinte sie und sah noch immer zu dem Punkt rechts über seinem Kopf hinauf. „Zerreißen Sie es, oder schneiden Sie es auf – was am schnellsten geht. Das Ding macht mehr Ärger, als es wert ist.“

Alistair holte sein Taschenmesser hervor und durchtrennte das Band säuberlich. Er verspürte das Bedürfnis, ihr den furchtbaren Hut vom Kopf zu reißen, ihn auf den Boden zu werfen, darauf herumzutrampeln und ihn dann ins Feuer zu werfen – und den Hutmacher öffentlich an den Pranger zu stellen, weil er so Schreckliches überhaupt hergestellt hatte.

Stattdessen zog er sich in sichere Entfernung zurück, steckte sein Taschenmesser wieder ein und mahnte sich zur Ruhe.

Miss Oldridge warf den Hut achtlos auf einen in der Nähe stehenden Sessel.

„Das ist gleich besser“, meinte sie und sah Alistair mit einem strahlenden Lächeln an. „Ich fürchtete schon, ich müsste das Ding nun für den Rest meines Lebens tragen.“

Die lichte Wolke ihres feuerroten Haars und ihr Lächeln ließen Alistairs Gedanken durcheinanderpurzeln wie umfallende Kegel.

„Das will ich nicht hoffen“, erwiderte er aufrichtig.

„Entschuldigen Sie, dass ich Sie damit behellige“, erwiderte sie. „Sie haben meines Erachtens schon genug damit auf sich genommen, die lange Fahrt hierher zu machen – wenngleich ich gar nicht weiß, von wo Sie gekommen sind.“

„Matlock Bath“, ließ er sie wissen. „Kein langer Weg. Ein paar Meilen.“ Ihm war es wie mindestens zwanzig Meilen erschienen, auf verschlammten Straßen und unter einem Himmel, aus dem sich eisiger Regen ergoss. „Das macht nichts. Ich werde an einem anderen Tag wiederkommen, wenn es besser passt.“ Wenn sie, wie er inständig hoffte, andernorts unabkömmlich sein würde.

„Es sei denn, Sie kämen als Dreilappiger Papau-Baum wieder, wäre es nur ein weiterer unnützer Weg“, stellte sie fest. „Selbst wenn Sie meinen Vater zu Hause antreffen sollten, fänden Sie ihn doch nicht zu Hause vor – wenn Sie verstehen, was ich meine.“

Alistair verstand es zwar keineswegs, aber bevor er sie noch bitten konnte, es ihm zu erklären, kamen zwei Diener mit Tabletts herein, auf denen sie Verpflegung für ein ganzes Dragonerregiment vor sich hertrugen.

„Bitte stärken Sie sich mit einer kleinen Erfrischung“, forderte sie ihn auf, „derweil ich mich einen Moment zurückziehe, um mich wieder vorzeigbar zu machen. Wenn Sie schon einmal hier sind, können Sie genauso gut mich mit Ihrem Anliegen betrauen. Vielleicht kann ich Ihnen behilflich sein.“

Alistair war überzeugt, dass es fatale Folgen haben würde, wenn er noch mehr Zeit mit ihr allein verbrachte. Dieses Lächeln brachte ihn entsetzlich durcheinander.

„Nein, Miss Oldridge, es macht mir wirklich keine Umstände“, versicherte er ihr. „Ich kann ein andermal wiederkommen. Ich werde noch eine Weile hier in der Gegend bleiben.“ So lange wie nötig. Er hatte versprochen, sich des Problems anzunehmen, und er würde nicht nach London zurückkehren, bis er das getan hatte.

„Es würde Sie nicht weiterbringen, ganz gleich, wann Sie kommen.“ Sie machte sich auf den Weg zur Tür. „Sie könnten Papa vor sich in den Boden pflanzen, und er würde keinem Ihrer Worte Beachtung schenken.“ Sie blieb stehen und bedachte ihn mit einem kritischen Blick. „Es sei denn, Sie gehören doch zur Spezies des Vegetativen.“

„Wie bitte?“

„In den Bereich der Botanik“, erläuterte sie. „Ich weiß zwar, dass Sie in der Armee waren, aber das heißt ja nicht, dass Sie als Zivilist nicht einer anderen Beschäftigung nachgingen. Sind Sie etwas Botanisches?“

„Nicht im Geringsten“, entgegnete Alistair.

„Dann wird er Sie nicht beachten.“ Sie ging weiter zur Tür.

Alistair wünschte, er hätte sie sich mit ihrem Hutband strangulieren lassen. „Miss Oldridge, ich bekam einen Brief von Ihrem Vater, in dem er nicht nur sein Interesse an meinem Vorhaben bekundet, sondern auch durchblicken lässt, dass er sich dessen Tragweite bewusst ist. Ich kann mir daher nur schwer vorstellen, dass der Mann, der diesen Brief geschrieben hat, meinen Worten keine Beachtung schenken würde.“

Wie angewurzelt blieb sie stehen. Sie wandte sich zu ihm um und sah ihn mit weit aufgerissenen blauen Augen an. „Mein Vater hat Ihnen geschrieben?“

„Er hat unverzüglich auf meinen Brief geantwortet.“

Es folgte eine längere Pause, bevor sie meinte: „Sie sprachen von einem Vorhaben – aber es sei nichts Botanisches …“

„Eine langweilige Geschäftsangelegenheit“, winkte er ab. „Ein Kanal.“

Sie erblasste ein wenig, dann gefror ihr bislang so lebhaftes Gesicht zu einer höflichen Maske. „Lord Gordmors Kanal.“

„Sie haben demnach davon gehört?“

„Wer hätte das nicht.“

„Ja … nun, es scheint einige Missverständnisse zu geben, was die Pläne Seiner Lordschaft betrifft.“

„Missverständnisse“, wiederholte sie und verschränkte ihre Hände vor dem Bauch.

Die Zimmertemperatur schien rapide zu sinken.

„Ich bin gekommen, um das zu klären“, meinte Alistair. „Lord Gordmor ist derzeit krank – die Grippe –, aber ich bin einer seiner Geschäftspartner und mit allen Einzelheiten des Vorhabens vertraut. Ich bin mir sicher, die Vorbehalte Ihres Vaters entkräften zu können.“

„Wenn Sie glauben, dass wir nur Vorbehalte hätten“, wies sie ihn zurecht, „geben Sie sich einer schwerwiegenden Fehleinschätzung hin. Wir – und ich denke, dass ich damit für die Mehrheit der Grundbesitzer von Longledge Hill spreche – sind unwiderruflich gegen den Kanal.“

„Bei allem Respekt, Miss Oldridge, mir scheint, dass Ihnen das Vorhaben falsch dargelegt wurde. Aber ich bin sicher, dass die Herren von Longledge mir aus Gründen der Fairness Gelegenheit geben werden, diesen Eindruck zu korrigieren. Da Ihr Vater über die meisten Ländereien verfügt, wollte ich zuerst mit ihm sprechen. Seine Fürsprache wird gewiss einen guten Einfluss auf seine Nachbarn haben.“

Ihre Mundwinkel zuckten leicht und deuteten ein Lächeln an, das ihn auf unerfreuliche Weise an das seines Vaters erinnerte.

„Wie Sie meinen“, erwiderte sie. „Dann suchen wir Papa. Aber vielleicht geben Sie mir ein paar Minuten Zeit, damit ich mir etwas anziehen kann, das ein wenig trockener und sauberer ist als das hier.“ Sie deutete auf ihr Reitkleid.

Alistair stieg glühende Hitze ins Gesicht. Ihr Lächeln und der Geruch ihrer Haut hatten ihn in einen Zustand versetzt, über dem er ganz vergessen hatte, wie durchnässt und wahrscheinlich auch durchgefroren sie war. Und er hatte sie hier die ganze Zeit aufgehalten, während sie sich sicher nichts sehnlicher wünschte, als aus ihren nassen Kleidern herauszukommen!

Nein, er würde sich nicht gestatten, daran zu denken, was damit einherging, sich ihrer Kleider zu entledigen … die Knöpfe und die Verschlüsse und die Korsettschnüre, die geöffnet werden mussten …

Nein.

Er konzentrierte seine Gedanken auf Kanäle, Kohlegruben und Dampfmaschinen und entschuldigte sich für seine Unachtsamkeit.

Sie tat seine Entschuldigung kühl ab, bat ihn, es sich bequem zu machen und eine kleine Stärkung zu sich zu nehmen, lächelte noch immer das Lächeln, das nun kaum mehr eines war, und verließ den Salon.

Miss Oldridge – die jetzt ein anderes, aber nicht minder unvorteilhaftes Kleid trug – führte Alistair zu einem Wintergarten, der sich durchaus mit dem des Prinzregenten in Carlton House messen konnte. Der des Regenten wurde jedoch vor allem für Gesellschaften und Feiern genutzt, wobei je nach Bedarf Pflanzen aufgestellt oder hinausgeräumt wurden. Mr. Oldridges Pflanzen waren weitaus zahlreicher und weniger beweglich.

Der Wintergarten wirkte weniger wie ein überdachter Garten, sondern mutete eher an wie ein Museum oder eine Bibliothek voller Pflanzen.

Jede Spezies war sorgfältig beschriftet und mit Anmerkungen und Querverweisen versehen. Auf dem Boden lagen aufgeschlagene Notizbücher herum, in denen handschriftliche Aufzeichnungen auf Latein standen, und Alistair erkannte Mr. Oldridges Schrift wieder.

Der Schreiber selbst fand sich im Wintergarten jedoch nicht, ebenso wenig war er vor dem Haus noch in den Gewächshäusern oder im Garten.

Von einem der Gärtner erfuhren sie schließlich, dass Mr. Oldridge ganz darin vertieft sei, die Moosvegetationen in den höheren Regionen zu studieren. Wahrscheinlich sei er auf den Heights of Abraham, wohin es ihn seit Kurzem bevorzugt zog.

Alistair wusste nur zu gut, dass die Heights of Abraham sich in Matlock Bath erhoben. Selbst wenn der bewaldete Hang mit der hervorspringenden Felskuppe, der direkt hinter seinem Hotel lag, seiner Aufmerksamkeit entgangen wäre, so ließen sich doch die zahlreichen Karten und Hinweisschilder, von denen der Ort nur so wimmelte, schwerlich übersehen.

Kaum zu glauben, dass er auf dieser erbärmlichen Straße hierher hatte kommen müssen, nur um zu erfahren, dass der Mann, den er hatte aufsuchen wollen, sich derweil dort aufhielt, von wo er gekommen war, und womöglich just in diesem Moment von einem Felsen stürzte und sich den Hals brach!

Alistair sah zu Miss Oldridge hinüber, deren Blick in die Ferne gerichtet war. Er fragte sich, was sie wohl dachte.

Sogleich ermahnte er sich, dass ihre Gedanken nichts zur Sache taten. Er war geschäftlich hier – was zählte, waren die Ansichten ihres Vaters.

„Ihr Vater scheint eine ungewöhnliche Hingabe zu seinem … äh … Hobby zu haben“, bemerkte er nun. „Es gibt sicher nicht viele Leute, die zu dieser Jahreszeit auf Berge hinaufsteigen. Halten Moose keinen Winterschlaf oder was immer Pflanzen im Winter machen?“

„Ich habe nicht die geringste Vorstellung.“

Ein eisig kalter Nebel senkte sich herab, und Alistairs schlimmes Bein nahm die Witterung mit Krämpfen und stechenden Schmerzen zur Kenntnis. Miss Oldridge lief jedoch von dem Wetter unbeirrt weiter in den Garten hinaus, und Alistair humpelte neben ihr her.

„Sie teilen seine Begeisterung demnach nicht“, stellte er fest.

„Es übersteigt meinen Horizont“, erwiderte sie. „Wie unwissend ich bin, zeigt sich daran, dass ich mir einbilde, er sollte doch eigentlich genügend Moos und Flechten auf seinem eigenen Grundstück finden, als dass er bis zum Derwent River wandern müsste, um welche zu suchen. Aber das Wandern und Klettern hält ihn beweglich, und zumindest ist er so nicht … ah, da kommt er.“

Ein Mann von mittlerer Größe und schlankem Körperbau tauchte zwischen den Büschen auf und schlenderte zu ihnen herüber. Mit einem Hut und einem Übermantel aus Öltuch war er bestens gegen die Witterung geschützt, und seine abgelaufenen Stiefel machten einen sehr robusten Eindruck.

Als er näher kam, bemerkte Alistair die Ähnlichkeit zwischen ihm und seiner Tochter, und er kam zu dem Schluss, dass Miss Oldridge ihre Gesichtszüge wohl der mütterlichen Seite verdankte, während ihre Haare und ihre Augen eine jüngere und lebhaftere Version derer ihres Vaters waren. Das Alter hatte seine Haare eher an Leuchtkraft verlieren lassen, als dass sie ergraut wären, und auch seine Augen schienen zu einem blasseren Blau verblichen zu sein, wenngleich sein Blick immer noch wach und rege war.

Als sie einander vorgestellt wurden, deutete jedoch nichts in seiner Miene darauf hin, dass er wusste, wer Alistair war.

„Mr. Carsington hat dir einen Brief geschrieben, Papa“, erinnerte ihn Miss Oldridge. „Wegen Lord Gordmors Kanal. Du hattest für heute einen Termin mit Mr. Carsington verabredet.“

Mr. Oldridge runzelte die Stirn. „Habe ich das wirklich?“ Er dachte einen Augenblick nach. „Ach ja. Der Kanal. Genauso hat Smith seine Beobachtungen gemacht, müsst ihr wissen. Faszinierend, sehr faszinierend. Auch Fossilien. Äußerst erhellend. Nun, Sir, ich hoffe, Sie bleiben zum Abendessen.“

Weg war er und ließ Alistair sprachlos zurück.

„Er muss jetzt seine neue Spezies besuchen“, ließ sich die samtweiche Stimme kühl neben ihm vernehmen. „Dann wird er sich zum Abendessen umziehen. In den Wintermonaten essen wir früh, und der einzige Ort, an dem Sie meinen Vater zuverlässig finden können, ist abends im Speisezimmer, pünktlich auf die Minute. Ganz gleich, wo er tagsüber gewandert oder von welchem botanischen Rätsel er gerade in Beschlag genommen wird, er schafft es stets, rechtzeitig zum Essen zu Hause zu sein. Ich rate Ihnen, seine Einladung anzunehmen. Das gibt Ihnen gut zwei Stunden, Ihren Fall darzulegen.“

„Es wäre mir eine Ehre“, erwiderte Alistair, „aber ich bin für den Anlass nicht passend gekleidet.“

„Sie sind bereits jetzt eleganter gekleidet als alle Leute, mit denen wir im Laufe der letzten Jahre zu Abend gegessen haben“, versicherte ihm Miss Oldridge. „Papa wird ohnehin nicht bemerken, was Sie anhaben. Und mir ist es völlig gleichgültig.“

Es stimmte tatsächlich, dass Mirabel Oldridge die feinen Nuancen der äußeren Erscheinung recht einerlei waren. Nur selten achtete sie darauf, wie andere sich kleideten, und es machte ihr das Leben leichter, wenn die anderen es an ihr ebenso wenig beachteten. Sie kleidete sich schlicht, weil sie die zahlreichen Männer, mit denen sie zu tun hatte, ermutigen wollte, sie ernst zu nehmen – ihr zuzuhören, statt sie nur anzuschauen – und sich auf das Geschäftliche zu konzentrieren.

Zu ihrem größten Unbehagen musste sie sich nun eingestehen, dass sie Mr. Carsington wiederholt und sehr aufmerksam betrachtet hatte, vom Scheitel seines eleganten Hutes bis zur Sohle seiner auf Hochglanz polierten Stiefel.

Ihr war nicht entgangen, dass sein dunkelbraunes Haar einen goldenen Schimmer hatte, wie er auch in seinen tief liegenden Augen aufschien. Sein Gesicht war kantig, sein Profil bis ins kleinste Detail aristokratisch. Er sah auf beunruhigende Weise gut aus, hochgewachsen, schlank und doch breitschultrig. Selbst seine Hände waren lang und feingliedrig. Als er angeboten hatte, ihr mit dem verknoteten Hutband zu helfen, war ihr von einem einzigen Blick auf seine Hände ganz schwindelig geworden.

Dass er dann so nah bei ihr gestanden hatte, um die Bänder zu entwirren, hatte alles nur noch schlimmer gemacht. Ein angenehmer Duft hatte sie gestreift, Rasierseife vielleicht – so schwach, dass Mirabel nicht einmal sagen konnte, ob sie es sich nicht nur eingebildet hatte.

Sie meinte zu wissen, dass ihre Verwirrung allein ihrer Aufregung zuzuschreiben sei – was nur allzu verständlich wäre. Schließlich war etwas geschehen, was nicht nur gänzlich ungewöhnlich und unerwartet, sondern ihr auch sehr unlieb war.

Nachdem es vor Jahren fast ein Desaster gegeben hätte, war sie dazu übergegangen, sich über alle Belange ihres Vaters auf dem Laufenden zu halten. Auf diese Weise würde niemand sich auf seine Kosten einen Vorteil verschaffen oder aber ihr selbst unliebsame Überraschungen bereiten können. Auf diese Weise würde sie jederzeit genau wissen, was zu tun war.

So erledigte sie beispielsweise die gesamte Korrespondenz ihres Vaters. Er musste sich nur noch durchlesen, was sie geschrieben hatte, und seine Unterschrift daruntersetzen. Zumindest schien es so, als würde er sich durchlesen, was sie ihm vorlegte. Mit Sicherheit ließ sich nie sagen, ob er in Gedanken wirklich bei der Sache war. Meist war er viel zu sehr damit beschäftigt, die Geheimnisse floraler Fortpflanzung zu entschlüsseln, um seine Aufmerksamkeit den Briefen der Verwandtschaft zu widmen oder einem Schreiben seines Anwalts – oder was immer fern seinen botanischen Interessen lag.

Da sie aber niemals einen einzigen Brief von Mr. Carsington zu Gesicht bekommen hatte, wusste sie auch nicht, was er geschrieben hatte und was ihr Vater ihm geantwortet haben mochte.

Wenn sie beim Abendessen nicht völlig unvorbereitet erscheinen wollte, sollte sie diese Wissenslücke nun besser rasch schließen.

Und deshalb hielt sie sich nicht lange auf, bevor sie Mr. Carsington der Dienerschaft überließ, die sich darum kümmern würde, seine „unpassende“ Garderobe zu trocknen und abzubürsten und was immer noch er für seine Toilette brauchte.

Doch einen Moment verharrte Mirabel und sah ihm nach, wie er davonhumpelte, und wünschte sich sogleich, dass sie es nicht getan hätte: Denn ihr wurde auf einmal ganz warm ums Herz, als ob sie sich nach ihm sehne, was natürlich töricht war.

Sie hatte geholfen, Verwundete zu pflegen, die weitaus schlimmere Verletzungen davongetragen hatten. Sie kannte Männer als auch Frauen, die ebenso viel durchlitten hatten wie er, wenn nicht gar mehr. Sie wusste von einigen, die tapfer gewesen waren, genau wie er, und denen dennoch nicht annähernd so viel Bewunderung gezollt wurde. Und überhaupt, sagte sie sich, er wirkte viel zu elegant und selbstsicher, als dass er ihres Mitleids bedurft hätte.

Mirabel verbannte das lahmende Bein in den hintersten Winkel ihrer Gedanken und eilte zum Studierzimmer ihres Vaters.

Wie Joseph ganz richtig berichtet hatte, lag der Kalender seines Herrn mit dem heutigen Datum aufgeschlagen auf dem Schreibtisch, und der Termin war sorgfältig eingetragen.

Mirabel durchwühlte den Schreibtisch, fand aber keine Spur von Mr. Carsingtons Brief. Wahrscheinlich hatte Papa ihn in die Tasche gesteckt und dann Feldnotizen daraufgekritzelt. Oder ihn verloren. Die Abschrift seiner Antwort war glücklicherweise erhalten geblieben – er hatte sie in sein Notizbuch geschrieben anstatt auf ein loses Blatt Papier.

Der Brief war auf zehn Tage zuvor datiert und enthielt genau das, was Mr. Carsington erwähnt hatte: Ihr Vater signalisierte sein Interesse, zeigte sich mit der Tragweite des Vorhabens vertraut und versicherte seine Bereitschaft, den Kanal ausführlicher besprechen zu wollen.

Nachdem Mirabel die Worte gelesen hatte, musste sie schlucken.

In diesem Brief sah sie den Vater wieder, den sie einst gekannt hatte. Der an vielerlei Dingen und Menschen interessiert war, der gern redete – und auch aufmerksam zuhörte, sogar dem Geplapper eines kleinen Mädchens. Sie erinnerte sich noch daran, wie sie während der zahlreichen Abendessen, der Kartenrunden und Gesellschaften heimlich auf der Treppe gesessen und den Stimmen unten gelauscht hatte. Und wie oft mochte sie mit angehört haben, wie er sich mit ihrer Mutter unterhielt, bei Tisch, in der Bibliothek, dem Salon oder in diesem Studierzimmer?

Doch seit dem Tod ihrer Mutter vor fünfzehn Jahren hatte sich sein Interesse zunehmend auf das Leben der Pflanzen gerichtet anstatt auf das seiner Mitmenschen. Wenn er bei Gelegenheit einmal aus dem Reich der Botanik auftauchte, was selten genug geschah, dann war es immer nur für kurze Zeit.

Mirabel musste die letzte solche Gelegenheit verpasst haben. Er schien von seiner Umgebung Notiz genommen zu haben, während sie einige Tage lang in Cromford bei ihrer einstigen Gouvernante zu Besuch gewesen war.

Während dieses Besuches hatte Mirabel sich auch den Hut gekauft, mit dessen Bändern sie sich heute Nachmittag schier erdrosselt hatte.

Nach wie vor konnte sie es nicht fassen, dass sie sich von diesem Mann so völlig aus der Ruhe hatte bringen lassen! Schließlich hatte sie mit Leuten seiner Art schon früher einmal Bekanntschaft gemacht.

Sie kannte diese kultivierten Stimmen, den trägen Tonfall und das leichte Lispeln, das einige der Reichen und Schönen aufsetzten, kannte das Gelächter, den Klatsch und die Koketterien.

Auch Stimmen wie die seine hatte sie vernommen, so tief und wohlklingend, dass sie selbst der belanglosesten Bemerkung noch den Anschein größter Vertraulichkeit gaben und jedes Klischee wie ein köstliches Geheimnis klang.

„Habe ich alles schon einmal gehört und gesehen“, murmelte sie vor sich hin. „Er ist nichts Besonderes, einer dieser Londoner Gecken, die uns für Landeier und Bauerntölpel halten. Dumme Hinterwäldler, die nicht wissen, was gut für sie ist.“

Mr. Carsington sollte schon bald entdecken, dass er sich täuschte.

Bis dahin stand ihm jedoch noch eine höchst vergnügliche Abendunterhaltung mit Mr. Oldridge bevor.

2. Kapitel

Wenngleich Alistair noch nie Anspruch auf überragende geistige Fähigkeiten erhoben hatte, so war er doch durchaus in der Lage, eins und eins zusammenzuzählen, und das an sich recht schnell.

Heute jedoch schien sich alles gegen ihn verschworen zu haben. Gemessen an den indiskutablen Maßstäben von Miss Oldridge, mochte er für ein abendliches Essen auf dem Lande elegant genug gekleidet sein. Doch er wusste es besser.

Dank der gewissenhaft arbeitenden Dienerschaft und eines prasselnden Kaminfeuers war seine Kleidung nun zumindest trocken und ordentlich abgebürstet. Aber es war Kleidung für den Nachmittag, und auch die eifrigsten Diener konnten daraus keine angemessene Abendgarderobe zaubern.

Zudem fand sich keine Zeit mehr, seine Halsbinde frisch zu stärken. Schlaff hing sie herab und warf an den falschen Stellen Falten, was ihn schier wahnsinnig machte.

Sein Bein, welches das feuchte Klima hasste und eigentlich in Marokko hätte leben müssen, rächte sich derweil dafür, dass er es im eisig kalten Nebel spazieren geführt hatte, und schnürte sich zu einem Strang pulsierender Knoten zusammen.

All diese Ärgernisse hatten dazu beigetragen, dass ihm bislang nicht bewusst geworden war, was jeder halbwegs intelligente Mensch schon Stunden zuvor gemerkt hätte.

Miss Oldridge hatte von Stempeln und Staubgefäßen gesprochen und ihn gefragt, ob er „etwas Botanisches“ sei. Alistair hatte den Wintergarten gesehen, die Notizbücher, die endlosen Reihen der Gewächshäuser.

Aber wenn er nicht gerade einen Anfall wegen seiner Kleidung hatte oder von seinem Bein gequält wurde, war er wegen Miss Oldridge völlig durcheinander gewesen. Und deshalb ging es ihm erst auf, als sie sich vor dem Essen im Salon trafen und Mr. Oldridge ihm Hedwigs Beobachtungen zu den Fortpflanzungsorganen der Moospflanzen erklärte – der Mann war das Opfer einer fixen Idee.

Alistair war dieses Krankheitsbild nicht unbekannt. Immerhin hatte er eine evangelistische Schwägerin und eine Cousine, die versuchte, den Stein von Rosetta zu entziffern. Da solche Menschen nur selten aus eigenem Antrieb ihren bevorzugten geistigen Aufenthaltsort verließen, musste man sie fest am Ellenbogen packen – bildlich gesprochen – und in andere Gefilde führen.

Sobald sein Gastgeber zu Beginn des zweiten Gangs seine Ausführungen unterbrach, um sich auf das Anschneiden der Gans zu konzentrieren, ergriff Alistair daher rasch die sich ihm bietende Gelegenheit.

„Ich bin beeindruckt, über welchen Fundus an Wissen Sie verfügen“, meinte er. „Ich wünschte, Sie hätten uns mit Ihrem Rat zur Seite gestanden, bevor wir den ersten Entwurf des Kanals vorstellten. Doch ich hoffe, dass Sie uns von nun an beraten werden.“

Mr. Oldridge fuhr fort, das Geflügel zu zerlegen, spitzte lediglich kurz die Lippen und runzelte nachdenklich die Stirn.

„Wir sind natürlich gern bereit, den Verlauf des Kanals zu ändern, wenn das Ihr dringlichstes Anliegen ist“, fuhr Alistair fort.

„Könnten Sie ihn nicht in eine andere Grafschaft verlegen?“, schlug Miss Oldridge vor. „Vielleicht nach Somersetshire, wo Schlackenhaufen bereits die Landschaft verunstalten.“

Alistair sah sie über den Tisch hinweg an, was er von nun an tunlichst vermied, da er erstmals ihre Abendgarderobe erblickte.

Die Farbe ihres Kleides war ein kühles Lavendelblau, obwohl sie doch nur warme, kräftige Farben tragen dürfte! Es hatte keinen nennenswerten Ausschnitt, und ein Besatz aus Spitzenrüschen verdeckte auch noch das wenige, was das Oberteil von Hals und Schultern sehen ließ. Ihr herrliches Haar war wahllos aufgesteckt und hinten am Kopf recht ungeschickt zu einem Knoten zusammengefasst. Als Schmuck trug sie eine Kette mit einem schlichten Silbermedaillon.

Alistair fragte sich, wie es ihr möglich war, in den Spiegel zu blicken und dabei das Offensichtliche nicht zu sehen – alles, was sie ausgewählt und getan hatte, um sich zu kleiden und zu schmücken, war ein einziger, wahrhaftiger, unverzeihlicher Fehlgriff! Es musste ihr an einer Fähigkeit mangeln, über die alle anderen Frauen dieser Welt verfügten. Er überlegte, ob es sich dabei vielleicht um eine Störung handelte, die der Unmusikalität verwandt war, und ihr Anblick löste bei ihm dieselbe Irritation aus, wie ein Musikliebhaber sie verspüren musste, wenn er ein verstimmtes Instrument hörte oder einen Sänger, der den Ton nicht traf.

Er würde sie am liebsten wieder hinauf in ihr Zimmer schicken, damit sie sich ordentlich zurechtmachte, aber das konnte er natürlich nicht, was sehr ärgerlich war.

Das mochte erklären, warum er ihr nun in einem Ton antwortete, den er an sich für seine jede Geduld strapazierenden jüngeren Brüder reserviert hatte. „Miss Oldridge, gestatten Sie mir, Ihre kleine Fehleinschätzung zu berichtigen. Durch Kanäle entstehen keine Schlackenhaufen. Sie dachten sicher an Kohlegruben. Gegenwärtig ist es nur Lord Gordmor, der in dieser Gegend Kohle abbaut, und seine Gruben befinden sich fast fünfzehn Meilen von hier entfernt. Die Landschaft ist zudem sein Grund und Boden, und er verunstaltet sie, weil der Besitz zu nichts anderem nutze ist.“

„Ich möchte meinen, dass er mit weitaus weniger Aufwand und Lärm dort Schafe weiden lassen könnte und ihm damit genauso gut gedient wäre“, erwiderte sie.

„Es steht Ihnen natürlich frei zu meinen, was immer Sie wünschen“, sagte Alistair. „Ich möchte keineswegs eine rege Fantasie im Keim ersticken.“

Ihre Augen funkelten, doch bevor sie etwas erwidern konnte, wandte Alistair sich erneut seinem Gastgeber zu. „Wir streiten keineswegs ab, dass unsere Beweggründe eigennützig und praxisorientiert sind“, sagte er. „Das vorrangige Ziel ist, die Kohle besser und billiger transportieren zu können.“

Oldridge, der damit beschäftigt war, die besten Stücke des Geflügels seiner Tochter und seinem Gast aufzutragen, nickte nur.