Eine Welt nur für uns - Claire Deya - E-Book
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Eine Welt nur für uns E-Book

Claire Deya

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Beschreibung

Hyères an der Côte d’Azur, 1945: Vincent, ein Überlebender aus deutscher Kriegsgefangenschaft, kehrt nach Frankreich zurück, entschlossen, die Frau wiederzufinden, die ihm alles bedeutet: Ariane. Seit zwei Jahren ist sie verschollen, zuletzt gesehen bei den deutschen Besatzern. Um sie aufzupüren, schließt er sich einer Gruppe von Minenräumern an, die die tödlichen Hinterlassenschaften des Krieges an den Stränden der Côte d’Azur beseitigen. Unter ihnen: Die ehemaligen deutschen Besatzer, nun Internierte. Besonders einer, Lukas, scheint mehr zu wissen, als er zunächst preisgibt. Während die Bedrohung durch die Minen allgegenwärtig ist, wird Vincents Suche nach Ariane und nach einem Platz im neuen Frieden immer verzweifelter …

Claire Deya entspannt das Panorama einer Dorfgemeinschaft zwischen Aufbruch und Zerstörung. Bildreich erzählt sie von der unmittelbaren Nachkriegszeit, von einer leidenschaftlichen Liebe, von Vergeben, Vergessen und Versöhnung. Ein kraftvoller, schillernder, explosiver Roman.

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Seitenzahl: 506

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Cover

Titel

Claire Deya

Eine Welt nur für uns

Roman

Aus dem Französischen von Elisabeth Liebl

Insel Verlag

Impressum

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Die Wiedergabe von Gestaltungselementen, Farbigkeit sowie von Trennungen und Seitenumbrüchen ist abhängig vom jeweiligen Lesegerät und kann vom Verlag nicht beeinflusst werden.

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eBook Insel Verlag Berlin 2025

Der vorliegende Text folgt der deutschen Erstausgabe, 2025.

Erste Auflage 2025Deutsche Erstausgabe© der deutschsprachigen Ausgabe Insel Verlag Anton Kippenberg GmbH & Co. KG, Berlin, 2025© 2024 by Claire Deya

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln

Umschlagabbildung: Poster von Tom Morel de Tanguy, Die Côte d'Azur, Fédération des Syndicats d'initiative, 1920, Foto: Vintage Travel and Advertising Archive/Alamy/mauritius images, Mittenwald

eISBN 978-3-458-78288-9

www.insel-verlag.de

Widmung

Für Aurélie und Guillaume Für Dich – ohne Dich wäre nichts je möglich gewesenFür Euch, mein Sternbild

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Sollte er Ariane je wiedersehen

Auf der anderen Seite

In den Pausen

Für Lukas

Vincent lehnte an der Wand

Je schneller Vincent

Als die Minenräumer am Abend

Als sie schließlich im Café ankamen

Zwei Tage zuvor

Die Feierlaune am Hafen

In dem Bus

Es war Saskia peinlich

Sicher gab es

Das Gebrüll der Aufseher

Inmitten der durch Stacheldraht

Sie hatten also am Strand

Manchmal bedankte man sich

Saskia drückte sich eng

Vincent brachte Saskia

Als Vincent am Morgen

Mit dem Vorschuss

Am Strand wusste Vincent

Im Café

Wie die Gefangenen

Saskia wagte sich nicht

Das Gerücht

Vincent ließ das Fahrrad

Jeder andere Häftling

Während sie auf

Fabien war früh

Saskia hatte es geschafft

Mach keine Geschichten

Von der Terrasse

Ohne Fabien

Das Orchester

Das Feuerwerk

Nach dem Furor

In dem Augenblick

Die fünf Holzgestelle

Als Léna zurück

In der Pension

Wer mochte da wohl

Fabien hatte Vincent

Seit Saskia in den Süden

Auf dem Weg zum Haus

Am 8. Mai 1945

Wisst ihr

Aubrac hatte ins Schwarze

Fabien drehte sich um

Fabien schaute kurz

Seit dem Abend

Vincent kam beim

Saskia war wieder

Nachdem die Stadtverwaltungen

Vincent ließ Fabien herein

Vincent begriff nicht gleich

Saskia konnte es

Am nächsten Morgen

Vincent hätte sich

Fabien hatte Vincent

Es war eine dieser

Lukas war seinem Ziel

An jenem Morgen

Der erste Tag im Park

Am dritten Tag

Beim Anblick dieser Unmenge

Auf dem Heimweg

Vincent und Saskia

Dass Saskia die Schrift

Rodolphes Vater

Vincent hatte das Gefühl

Vincent war wieder

Jetzt musste es schnell gehen

Max hatte Fabien gestanden

Die Nacht war intensiv

Draußen merkte Vincent

Kein Laut

Im Atelier saß Vincent

Vincent fuhr die ganze Nacht

Blond mit großen hellgrünen Augen

Vincent löste den Schal

Ihr Blick sagte alles

Manche verloren den Krieg

Nachwort

Danksagung

Quellen

Informationen zum Buch

Eine Welt nur für uns

Sollte er Ariane je wiedersehen, würde er es nicht wagen, zärtlich über ihre Haut zu streichen. Seine Hände waren mittlerweile so derb, dass er sie selbst nicht wiedererkannte. Grob, mit dicken Fingerkuppen, die Haut zerfurcht und ausgetrocknet. Seine Hände hatten eine Verwandlung durchlaufen. Die Haut zeigte so tiefe Risse, dass sie auch dann nicht weicher wurde, wenn er sie ausgiebig und gründlich wusch. Es blieb immer dieses Netz aus schwarzen Adern, tief eingegraben in seine Handteller und die Glieder seiner Finger. Die Erde hatte ihm ihre unauslöschliche Tätowierung in die Haut gebrannt, sich in all die Risse und Schrunden geschmiegt, die ihm zwei Winter in Deutschland beschert hatten.

Vor dem Krieg tanzten seine Hände, wenn er sprach. Ariane amüsierte sich immer darüber und ahmte ihn oft nach. Er sah sie vor sich, an diesem Strand der Riviera, der jetzt vor ihm lag. Als sie das erste Mal hier gebadet hatten, hatte die Sonne noch kaum über den Horizont gelugt. Sie waren immer noch wie benommen von ihrer ersten gemeinsamen Nacht. Ariane musste bald zurück nach Hause, damit niemand merkte, dass sie fort gewesen war. Sie schlenderten den Strand entlang, als sie das unwiderstehliche Verlangen überkam, ihre Nacht im Meer zu verlängern. Die Sonne ließ die goldenen Inseln von Hyères erstrahlen. Vincent erinnerte sich noch an den Badeanzug, den sie sich mit kühner Geste selbst geknotet hatte, indem sie ihren Schal um die Brüste schlang.

Ihre spitzen Schreie, als sie ins Meer glitt, die Art, wie sie ihren Körper an den seinen schmiegte, elektrisiert vom kalten Wasser und der aufsteigenden Sonne … Dieser salzduftende Körper, dieses rauschende Begehren, während die feuchte Seide an ihrer Haut klebte. Er hätte alles getan, um nur ein einziges Mal noch diese Unbekümmertheit zu erleben, von Neuem tief einzutauchen in diese Liebe.

Er zog den Schal, den er ihr damals heimlich entwendet hatte, fester um seinen Hals.

Er war einzig und allein deshalb ausgebrochen, um Ariane wiederzufinden. Sie war verschwunden. Seit zwei Jahren hatte niemand mehr von ihr gehört, er aber würde sie überall suchen. Er konnte einfach nicht glauben, dass sie tot sein sollte. Das war unmöglich. Das hätte sie ihm niemals angetan. Außerdem hatte er, als er noch in Gefangenschaft war, diese rätselhaften Briefe erhalten …

Jetzt, nachdem der Süden von den Deutschen befreit war, war alles einfacher. Sie hatten noch nicht kapituliert, aber es hieß, dass sie nicht mehr lange durchhalten würden.

Und Vincent hatte schon eine Idee, wie er Ariane aufspüren konnte. Als ihm der Einfall kam, hielt er ihn mit aller Kraft fest, um sich selbst ein wenig Sicherheit zu schenken. In Wahrheit jedoch klammerte er sich an eine mehr als vage Chance, um nicht vollkommen in der Verzweiflung zu versinken. Er war allein, mittellos, und auch der Revolver, den er wie einen Talisman mit sich trug, würde daran nichts ändern.

Während sich die Stadt auf das erste große Fest seit Beginn des Krieges vorbereitete, bot der Strand weiter unten ein Bild der Verwüstung. Schützengräben und Stacheldrahtverhaue versperrten den Zugang zum Meer. Große Schilder untersagten jeglichen Zutritt und warnten vor der extremen Gefahr. Einer tödlichen Gefahr: Sämtliche Strände an der Côte d’Azur waren vermint.

Aus der Ferne drangen die Klänge eines übenden Amateurorchesters an Vincents Ohr. Es versuchte sogar ein paar lässige Ausflüge Richtung Jazz. Das Wetter war großartig. Die Menschen, die an ihm vorbeidrifteten, lächelten. Sie fühlten den anbrechenden Sommer. Der Krieg war fast vorüber, ihn aber quälte immer noch die Hölle der Einsamkeit.

Auf der anderen Seite der Brüstung, von der aus Vincent die Szene beobachtete, verteilten sich etwa ein Dutzend Männer über den Strand und rückten, einer neben dem anderen, langsam und schweigend vor. Ihre einzige Ausrüstung war ein einfaches Bajonett, mit dessen eiserner Spitze sie durch den Sand fuhren, um die Minen aufzuspüren, die die Deutschen zurückgelassen hatten. Fabien war der Anführer. Er schritt vorsichtig und konzentriert aus, und jeder der Männer an seiner Seite richtete seinen Schritt nach dem seinen aus.

Fabien war noch keine dreißig Jahre alt, aber er war ganz selbstverständlich zum Anführer des Trupps geworden. Seine natürliche Autorität, seine Ausbildung zum Ingenieur, sein Kampf, zuerst beim Maquis, dann in der Résistance … Er hatte unzählige Züge in die Luft gejagt und galt seitdem als unangefochtener Sprengstoffspezialist. Der Beamte im Rekrutierungsbüro hatte den jungen Mann sofort seinem Vorgesetzten gemeldet, dem bekannten Résistancekämpfer Raymond Aubrac.

Die Minenräumung war eine unumgängliche Voraussetzung für den Wiederaufbau Frankreichs, aber die Soldaten an der Ardennenfront und in Deutschland waren durch die provisorische Regierung von dieser Mission freigestellt worden. Wer aber konnte diese Aufgabe übernehmen? Schließlich war das Minenräumen kein Beruf. Niemand hatte Erfahrung mit dieser Art der Gefahr. Es gab nur wenige Freiwillige … Selbst wenn Fabien nie mehr getan hätte, als vom Deck eines Schiffs aus drei Feuerwerkskörper in die Luft zu schießen, hätte man ihn hierfür zum Engel erklärt.

Es lief das Gerücht um, dass die Minenräumer alle Verlorene waren, Gesetzlose aus den Gefängnissen, die sich eine Strafmilderung erkaufen wollten. Schlimmer noch, angeblich steckten unter ihnen auch Kollaborateure, die ihre finstere Vergangenheit reinzuwaschen suchten. Wenn Raymond Aubrac im Ministerium oder anderswo hörte, wie Leute verächtlich oder herablassend über seine Minenräumer sprachen, hielt er ihnen stets Fabien als Beispiel vor: Er war die personifizierte Perfektion.

Und das in einem Maße, dass niemand verstand, warum er sich überhaupt zum Minenräumen gemeldet hatte. Fabien wusste, was über ihn geredet wurde: Hatte er zuvor all diese Züge sabotiert, sabotiere er nun sich selbst. Die Behörden gingen davon aus, dass er aus Verzweiflung handelte. Seine Männer dachten, er habe etwas zu verbergen. Doch alle bewunderten seinen Mut. Und den brauchte es auch, neben einer ordentlichen Prise Opferbereitschaft, um selbst jetzt noch sein Leben aufs Spiel zu setzen, statt es endlich einfach nur zu genießen.

Das Ministerium für den Wiederaufbau warb die Leute für einen jeweils dreimonatigen Einsatz an. Aber das würde nicht reichen: Die Armee schätzte die Zahl der auf französischem Staatsgebiet vergrabenen Minen auf mindestens dreizehn Millionen. Dreizehn Millionen … Und so redete man den Männern gut zu, sich trotz Anstrengung und Erschöpfung zu einem erneuten Einsatz zu melden, kaum dass sie den vorigen beendet hatten.

Seit 1942 hatten die Besatzer den sogenannten Mittelmeerwall verstärkt. Die deutschen Minen sollten die Landung der Alliierten verhindern, die Minen der Alliierten den Rückzug der Deutschen. Mit dem Ergebnis, dass die Franzosen zwischen zwei Lagern eingekeilt waren. Die Opfer waren vor allem Kinder.

Die Strände von Hyères, Saint-Tropez, Ramatuelle, Pampelonne und Cavalaire waren sämtlich vermint. Kein dolce vita mehr an der Côte d’Azur. Niemand durfte sich mehr an den Strand wagen. Der Hafen von Saint-Tropez war mit Dynamit vermint, auch sämtliche Gebäude an der Uferpromenade. Die Schwebefähre im Hafen von Marseille war gesprengt worden, ebenso das Viertel Saint-Jean.

Im Hinterland fanden sich die verborgenen Höllenmaschinen unter Straßen und Eisenbahnlinien, in Fabriken und Verwaltungsgebäuden. Bei jedem Schritt konnte man in die Luft fliegen. Die Politik der verbrannten Erde war auf brutalste Weise perfektioniert worden.

Um angesichts dieser schwindelerregenden Zahlen nicht den Mut zu verlieren, konzentrierte Fabien sich stets ganz exakt auf die unmittelbar bevorstehende Aufgabe. Ruhig vorgehen, nicht fluchen, weil es an Freiwilligen, an deren Ausbildung und an Ausrüstung fehlte und weil man, was am schlimmsten war, keinen Verlegeplan der Minen hatte: Sie tasteten sich mehr oder weniger blind voran.

Plötzlich hob, wenige Meter neben Fabien, Manu, ein junger und nervös wirkender Beau, die Hand: »Mine!« Sein Bajonett war auf einen verdächtigen Widerstand gestoßen. Alle zogen sich instinktiv mit zusammengebissenen Zähnen zurück. Daran würden sie sich wohl nie gewöhnen. Mit einer einzigen Kopfbewegung beorderte Fabien die Männer weiter zurück als die üblichen fünfundzwanzig Meter. Ein Blick forderte Manu auf, die Stelle genauer zu untersuchen: Im Liegen musste er vorsichtig den Boden abtasten, um die Ausmaße des Objekts zu erkunden. Manu strich den Sand mit den Händen weg und brachte einen Zylinder aus schwarzem Metall zum Vorschein: eine leichte Panzermine, bekannt unter der Abkürzung l.Pz.Mi. Dreißig Zentimeter Durchmesser. Zwölf Zentimeter Höhe. Zweieinhalb Kilo TNT. Eine rundum tödliche Waffe, die einen Panzer von mehreren Tonnen pulverisieren konnte und natürlich auch jeden Menschen, der so unvorsichtig war, mehr als sieben Kilo zu wiegen.

Diese Mine musste von einem Mann mit Erfahrung entschärft oder gesprengt werden. In der Nähe waren sicher noch weitere Minen vergraben. Es war besser, diese hier zu entschärfen, auch wenn das schwieriger war. Minen waren dafür gemacht, in die Luft zu gehen, nicht dafür, gezähmt zu werden. Das musste mit bloßen Händen erledigt werden. Fabien übernahm. Er wusste, wie es ging … eigentlich, aber man konnte sich nie völlig sicher sein, es gab einfach zu viele verschiedene Modelle. Aber damit würde er sein Ansehen bei den Männern weiter stärken. Wenn er ganz ehrlich war, wenn er den Blick tief nach innen richtete, hatte er noch einen anderen Grund, warum er sich Tag für Tag in Gefahr begab, obwohl er das Leben so sehr liebte und sein Opfer ebenso schnell in Vergessenheit geraten würde wie das all der Toten, die er an seiner Seite hatte fallen sehen. Aber Fabien war nicht bereit, so weit in sein Innerstes hinabzusteigen, jedenfalls nicht heute: Er musste sich auf die Mine konzentrieren. Ein einziger Fehler, sei er noch so klein, und sie würde ihn zerreißen.

Atmen. Nicht zittern. Keinen nutzlosen Gedanken verschwenden. Keine unvermittelte Bewegung machen. Der Angst keinen Millimeter nachgeben. Die Mine. An nichts anderes denken … Wie oft hatte er das seinen Männern eingeschärft, auch wenn diese Warnungen letztlich Placebos waren?

Um die l.Pz.Mi zu sichern, musste man sich zuerst um den Druckzünder kümmern: die Schutzkappe in der Mitte der Untertasse entfernen und die Sicherungsspindel so weit hineindrehen, dass der Bajonettverschluss greift. So war die Mine gesichert. Dann hob man die Tretmine waagrecht aus der Erde und stellte sie auf den Rand. Bloß nicht flach auf die Erde legen! Die fünf Schraubenmuttern lösen, die die Zündhütchen hielten und diese mit ruhiger Hand entfernen.

Wie sollte er dabei locker bleiben? Sein ganzer Körper spannte sich an, bereit zur Flucht. Wie sollte er Luft holen, wenn ihm der Atem in der Kehle stockte? Wie sich konzentrieren, wenn ihm Fragen, Schuldgefühle, Gewissensbisse wie Geschosse durch den Kopf rasten?

Unmöglich: In der Ferne vernahm er die Akkorde ausgerechnet jenes Liedes, zu dem er zuletzt mit seiner Frau Odette getanzt hatte. Sie brachen ihm das Herz.

Fabien hielt einen Augenblick inne, um zuzuhören. Täuschte er sich auch nicht? Nein, es war ebendieses Lied. Mademoiselle Swing. Damals hatte er sich noch darüber lustig gemacht. Odette sagte ihm, es bringe Glück. Und war es in seiner schwungvollen, leichtfüßigen Art nicht die vollkommene Kampfansage an die Schwerfälligkeit der Nazis? Seit Odette nicht mehr da war, machte Fabien sich nicht mehr darüber lustig: Die beschwingten Akkorde erschütterten ihn tief.

Es hieß ja immer, kurz vor dem Tod liefe das eigene Leben noch einmal vor dem inneren Auge ab. Fabien aber sah immer nur Odette. Odette, die tanzte, glücklich, frei. Odette, wie sie ihm zulächelte. Odette mit den braunen Locken, dem Raubkatzenkörper und der unbekümmerten Eleganz der Feliden. Odette, bevor sie von den Deutschen verhaftet worden war.

Wie hypnotisiert bewegte Fabien sich keinen Millimeter. Seinen Männern war das nicht entgangen. Er spürte, wie ihre Blicke auf ihm lasteten, und fasste sich ein Herz.

Da er nicht sein früheres Leben vor sich sah, sondern die tanzende Odette, würde er wohl nicht sterben.

Nach dem Sichern wurde die Mine entschärft. Zuerst mit der Oberseite flach auf die Erde legen. Dann die Muttern auf der Unterseite herausschrauben. Das Klebeband entfernen, das die beiden Teile zusammenhält, und sie auseinandernehmen. Jetzt die Sprengladung aus dem Oberdeckel holen. Die Halterung für den Zünder aufschrauben und die Zündvorrichtung herausnehmen.

Bei den letzten Akkorden von Mademoiselle Swing hatte Fabien die Mine gezähmt. Odette hatte recht behalten: Das Lied hatte ihm Glück gebracht. Oder es war Odette, die ihm über den Tod hinaus Glück schenkte, wo auch immer sie sein mochte. Hier am Meer, hier vor den goldenen Inseln, an diesem Strand, den er so sehr liebte, sagte er sich, dass er den besten Teil seines Lebens schon hinter sich hatte. Eine Frau, die man im Angesicht der Gefahr immer noch liebt, ist unersetzlich. Odette würde für ihn auf ewig die Einzige sein.

In den Pausen fiel von allen immer einen Moment lang der Druck ab. In der Ferne hörte man das Amateurorchester üben, und so hatte der Trupp kein anderes Gesprächsthema mehr als das große Fest, das in einer Woche stattfinden würde. Alle würden zum Ball gehen und ihre schreckliche Aufgabe vergessen, würden aufleben, strahlen, sich unter die Optimisten mischen, die Begeisterten, die ungeduldig die neue Welt herbeisehnten. Für einen Abend konnten sie sein wie alle anderen. Sie würden sich nicht in Reihen vortasten wie Zwangsarbeiter, die in den Minenfeldern ihr Leben riskierten wie beim russischen Roulette. Nein, sie würden sich wiegen im Tanz und felsenfest an ein neues Leben, eine neue Zeit glauben.

Fabien würde nicht hingehen. Unmöglich, mit einer anderen als Odette zu tanzen. Auch er träumte von einem neuen Leben, aber das würde nicht mit einer neuen Liebe kommen. Seine Gedanken wanderten in jeder Pause zu ihr, verfingen sich in Traumbildern, in denen sie ihm erschien wie am ersten Tag – keck und eigensinnig. Oder wie an jenem Abend, als er mit beiden Händen ihre Taille umfasste, sie hochhob und ihren geschmeidigen nackten Körper bewunderte. Ohnehin war dies eines der großen Missverständnisse, was Fabien anging: Alle hielten ihn für einen Mann, der zupackte, dabei wünschte er sich nur eines: sich an irgendeinem sonnenbeschienenen Ort niederzulassen, um zu träumen.

Doch der Tag war noch nicht vorüber, und Fabien begann zu überlegen, wie er seine Leute noch mehr zusammenschweißen könnte. Immer wieder sagte er, welche Ehre es sei, Frankreich von diesen Mordmaschinen zu befreien, die die Nazis ihnen hinterlassen hatten. Minen zu räumen hieß, Widerstand zu leisten.

Fabien gab ihren Einsätzen einen tieferen Sinn. Indem sie das Land von diesen Todesfallen befreiten, konnten sie sich selbst retten, ihre Würde wiederherstellen, ihre Schuldgefühle ablegen. Denn sie alle fühlten sich schuldig: verraten, gelogen, gestohlen, verlassen zu haben; Fehler gemacht und sich nicht – oder erst spät – der Résistance angeschlossen zu haben; einen oder mehrere Menschen getötet zu haben; und überlebt zu haben, während so viele Freunde gefallen waren. Jeder Mensch trug diese Schuld in sich, die in solch unruhigen Zeiten erdrückend war. Und jeder musste, um weitermachen zu können, mit ihr wenigstens zurechtkommen, wenn er sich davon schon nicht lösen konnte. Fabien gelang es, seine Männer zu überzeugen, dass das Minenräumkommando ihnen ebenjene Erlösung bringen würde, auf die sie – ohne sich das einzugestehen – längst nicht mehr zu hoffen wagten.

Und seine Männer stimmten ihm zu, tief getroffen. Nur wenige verstellten sich. Seine Worte zeigten ihnen eine Möglichkeit auf, die Risiken, die sie – jetzt, in jungen Jahren – eingingen, nicht zu bereuen und ihr Schicksal anzunehmen.

Fabien bemerkte, dass der Mann mit dem Schal, der sie seit einer Stunde von der Ufermauer herab beobachtet hatte, plötzlich auf sie zukam.

»Bonjour, ich wollte nur fragen, ob Sie noch Leute brauchen?«

Fabien musterte ihn einen Augenblick lang. Im Maquis hatte er sich eine Intuition angeeignet, die ihn nur selten im Stich ließ. Er wusste einfach, wenn ein Mann etwas zu verbergen hatte.

»Ich vermute mal, Sie wissen nicht, wie man Minen entschärft.«

»Nun, lernen Sie die Leute nicht an?«

»Eigentlich verlangen wir nur, dass Sie kein Kollaborateur waren.«

»Keine Sorge!«

Trotz Vincents aufrichtigem Blick fühlte sich Fabien durch dessen knappe Antworten in seinem ersten Eindruck bestätigt: Dieser Mann wollte so wenig wie möglich von sich preisgeben.

Vincent deutete auf die Gefangenen, die von zwei Wachen begleitet wurden und sich vom Rest der Gruppe fernhielten.

»Stört euch das nicht, mit den Boches zu arbeiten?«

»Wir holen sie aus dem Kriegsgefangenenlager. Sie tun, was sie zu tun haben. Dann kommen sie ins Lager zurück. Da gibt es keine Nachsicht. Sie werden mitmachen, bis wir alles geräumt haben.«

Während Fabien sprach, ließ er seinen Blick über die Deutschen wandern. Sie machten mehr als die Hälfte des Trupps aus. Da sich nicht genug Freiwillige zum Minenräumdienst meldeten, war man beim Militär auf die Idee gekommen, Kriegsgefangene einzusetzen. Über seine französischen Helfer und ihre Leben wusste Fabien Bescheid. Mit den Boches jedoch wollte er nicht reden. Er hasste sie so sehr, dass es ihm Angst machte. Und er wollte sich auf keinen Fall davon abbringen lassen. Nichtsdestotrotz … Er hätte sich nie vorstellen können, einmal Seite an Seite mit dem Erzfeind zu arbeiten. Schlimmer noch: Stieß man auf eine Mine, hing das Leben aller von allen ab. Die absolute Gefahr. Was für eine erschreckende Ironie.

Für Lukas, der klammheimlich versuchte, die Pause in die Länge zu ziehen, indem er sich eine Zigarette anzündete, hatte schon lange nichts mehr Sinn. Er hatte es schrecklich gefunden, dass sein Land im Wahnsinn versank: Selbst seine Familie hatte auf den Diktator vertraut, der ihre Demokratie außer Kraft gesetzt hatte. Und er, der Frankreich liebte und das Werk Baudelaires und der Surrealisten beinahe auswendig kannte, wurde von den Franzosen wie ein Ungeheuer behandelt, so als hätten alle Deutschen ihre Seele an Hitler verkauft. In der Buchhandlung, in der er vor dem Krieg angestellt gewesen war, hatte er unermüdlich auf die Auswüchse des Nationalsozialismus hingewiesen. Und nun verfaulte er seit neun Monaten in einem Kriegsgefangenenlager, das im Winter eisig klirrte, im Sommer vor Hitze zu verglühen schien, ohne Decke, ohne Schuhe, die diesen Namen verdienten, und ohne jede Vorstellung, wann er wieder freikommen würde. Seine Familie verübelte ihm seine Einstellung noch immer – vermutlich auch deswegen, weil sie ihm den klaren Blick verübelten, der ihnen selbst gefehlt hatte. Nicht einmal vor dem endgültigen Ausbleiben der Post, die seit Monaten nicht mehr verteilt worden war, hatten ihm seine Angehörigen Kleidung oder auch nur Nachrichten zukommen lassen, um ihm zu zeigen, dass er nicht allein war. Er war sich nicht einmal sicher, ob seine Eltern ihn überhaupt aufnehmen würden, falls er eines Tages in sein Land zurückkehren könnte. Auch egal. Deutschland stand kurz vor der Kapitulation – so hieß es –, aber das musste nicht bedeuten, dass man die Kriegsgefangenen freilassen würde.

Lukas hatte das Gespräch zwischen Vincent und Fabien mitangehört. Niemand wäre auf die Idee gekommen, dass er Französisch verstand. In Uniform hatte man ihn gefürchtet. Als Gefangener war er unsichtbar. Zu gerne hätte er mit ihnen geredet, von einem vernunftbegabten Menschen zum anderen. Aber wer war das jetzt noch? Hätten sie ihm zugehört, wenn er ihnen sagen würde, dass er nicht verstand, wieso Frankreich, das Land der Menschenrechte, der ganzen Welt Moralpredigten hielt, während es doch ganz offensichtlich gegen das Genfer Abkommen über die Behandlung von Kriegsgefangenen verstieß? Es war verboten, Gefangene für gefährliche und erniedrigende Aufgaben einzusetzen. Doch das war eine Frage der Formulierung. Die Gefangenen mussten die Minen schließlich nicht räumen, sondern nur aufspüren. Als würde eine explodierende Mine diesen feinen Unterschied beachten und nur den Minenräumer in die Luft jagen, während sie alle anderen verschonte …

Die Franzosen argumentierten weiter, dass das Genfer Abkommen das Räumen von Minen nicht ausdrücklich als gefährliche Tätigkeit nannte. Das war unsinnig, aber wer hätte 1929, als es beschlossen wurde, schon ahnen können, dass die Minen in kriegerischen Konflikten einmal eine so zentrale Rolle spielen würden?

Es waren die Deutschen gewesen, die illegal und im Geheimen Millionen dieser Sprengkörper herstellten und die Alliierten, die nicht mit so etwas gerechnet hatten, damit völlig unvorbereitet trafen. Und das war noch keineswegs das schlimmste der Massenvernichtungsprojekte. Denn mittlerweile fingen alle an zu verstehen, was dieser Krieg eigentlich war. Das Unsagbare. Undenkbare. Das Nicht-Wiedergutzumachende.

Also sagte sich Lukas zu guter Letzt: Sollten ihm die Franzosen eine Zigarette anbieten und mit ihm darüber reden wollen, welche Seite die Verantwortung für was trüge, dann würde er ihnen in allem recht geben. Er gehörte zum Lager der Besiegten und Verdammten. Er hätte es nicht ertragen, zu den Siegern zu gehören.

Er war im Süden gefangen genommen worden, von den Kämpfern der Forces françaises de l’intérieur, wenige Tage, bevor die Alliierten im August 44 in der Provence landeten. Jetzt schrieb man den April 45, neun Monate später. Neun Monate des Eingesperrtseins, die ihn verrückt machten. Weil er dem Minenräumkommando angehörte, war es ihm wenigstens möglich, aus dem Lager herauszukommen, den Stacheldraht zu vergessen, der den Horizont versperrte, das Leid der mit dem Tod Ringenden, die Krankheiten, die Verletzungen und den schrecklichen Hunger, der zur Besessenheit wurde. Es war nicht viel, aber die Minensucher erhielten immerhin besseres Essen. Damit sie während der Arbeit nicht umfielen.

In Deutschland nahmen die Alliierten derzeit Hunderttausende Soldaten gefangen. Sie überstellten ganze Verbände an die Franzosen oder an die Russen. Seit einigen Tagen beobachtete Lukas, wie alle möglichen Leute hierhergebracht wurden, fanatische Anhänger des Dritten Reichs, Versprengte, Invaliden und Soldaten, die wie er zwangsweise eingezogen worden waren, um einen Krieg zu führen, den sie nicht wollten.

Was er nicht erwartet hatte, waren die Kinder. Sie schwammen förmlich in den zu großen Uniformhemden. Sie kannten nichts anderes als diesen Krieg, der ihnen Angst machte, genauso wie die älteren Gefangenen und die Lügen, die man ihnen über die Franzosen erzählt hatte: dass sie sie töten wollten und grässlicher Verbrechen fähig waren. Sie fürchteten sich vor all den Soldaten um sie herum, vor dem Herumgeschobenwerden von einem Lager zum anderen, vor den Zugfahrten unter schlimmsten Bedingungen. Sie waren in den letzten Monaten des Krieges auf Befehl Hitlers eingezogen worden, mit achtzehn oder sechzehn Jahren. Manche waren gerade erst vierzehn geworden.

Wen hätte man bitten sollen, für sie etwas zu tun? Die »Deutschen« gab es nicht mehr. Sie waren die Boches, die Fritzen, die Chleus, die Frisés, die Teutonen geworden.

Ob die Franzosen verstehen konnten, dass es auch Deutsche gab, die die Nazis hassten?

Der Krieg hatte ihm fünf Jahre seines Lebens geraubt. Und nun würde ihm die Niederlage ganz sicher auch noch den Rest nehmen. Mit dem Versprechen, sie früher freizulassen, wenn sie sich als besonders mutig erwiesen, hatte man versucht, die Gefangenen für die Minenräumkommandos zu gewinnen. Lukas machte sich in dieser Hinsicht keine Illusionen.

Die französischen Minenräumer glaubten sich frei. Er aber beneidete sie nicht. Alle logen sich selbst in die Tasche. Sie fielen auf die ganzen bombastischen Worte herein, an denen sie sich berauschten. Das große Frankreich, die letzte Schlacht gegen die deutschen Barbaren. Für Franzosen ist das Minenräumen eine Ehre, für die Deutschen eine Strafe. Die französischen Minenräumer waren überzeugt, dass sie anders waren als die Kriegsgefangenen, dabei waren sie alle gleich. Sie saßen in der Falle, versklavt, bereit, für das Glück der anderen zu sterben. Für sie, die schon ungeduldig mit den Füßen scharrten, weil der Strand noch den ganzen Sommer lang, der sich doch schon ankündigte, verbotenes Terrain sein würde. Aber dann, nächsten Sommer, da würden sie alle hier am Strand ihr Leben wieder aufnehmen, ihre Liebeleien, baden, die Sonne und das Meer genießen. Sie würden schnell vergessen, welche Opfer der glühend heiße Sand gefordert hatte.

Wer aber würde einen deutschen Kriegsgefangenen lieben? Wer einen Minenräumer, selbst wenn er Franzose war? Nach all den Jahren des Krieges hatte niemand mehr Lust auf die Nähe zum Tod. Lukas’ große Liebe, so lebendig für ihn, würde vielleicht seine letzte sein, sollte es ihm nicht gelingen zu fliehen. Sie aber, diese Verrückten, die sich freiwillig gemeldet hatten, merkten nicht, dass man sie schlimmstenfalls mit Verachtung betrachtete, bestenfalls mit Mitleid. Und auf Mitleid lässt sich keine Liebe bauen.

Die Minenräumer konnten auf dem Ball oder wo auch immer noch so großtun und den Mund noch so voll nehmen, dass sie keine Angst hätten, dass sie unter einem guten Stern stünden und Helden seien. Niemand hielt sie für Helden. Sie hatten einfach nur einen Grundsatz vergessen, der seit Menschengedenken galt: Freie Männer verlangen immer nach Sklaven.

Vincent lehnte an der Wand gegenüber dem Rekrutierungsbüro. Er zögerte. Dabei wusste er nicht, worauf er eigentlich wartete: auf ein Zeichen, ein Wunder, eine Begegnung, die alles verändern würde? Es war immer noch so heiß wie am Vortag. So heiß, wie es auch morgen sein würde. Ein junges Mädchen ging vorüber und warf ihm ein Lächeln zu. Höchstens zwanzig. Sie trug Ohrringe, die aussahen wie Margeritenblüten. Ein Baumwollkleid in zartem, beinahe weißem Gelb umhüllte ihren zierlichen Körper. Aber es waren die Ohrringe, die ihm besonders auffielen.

Das ärmellose Kleid ließ ihre gebräunten Arme sehen. Vermutlich wäre sie gern bis ans Ende der Welt gereist, wie sie da so durch die Straße hüpfte mit ihren Riemchensandalen, aus denen die Zehen hervorlugten. Eine winzige Schultertasche schwang auf Höhe der Taille hin und her. Sie trug ein Buch von Albert Camus in der Hand: Sie hätte ihm gefallen können. Dann wäre er ihr gefolgt. Stattdessen betrat er das Büro.

Vincent musste nicht warten. Der Rekrutierungsbeamte bat ihn, Platz zu nehmen, und spulte sein Programm ab. Seiner Ansicht nach war die Rekrutierung der wichtigste Schritt bei der Aufnahme zu den Minenräumern. Daher müsse er Vincents Vergangenheit unter die Lupe nehmen, seine Beweggründe und seine psychische Eignung.

Wie Fabien gesagt hatte, würde Vincent sofort von den Räumarbeiten ausgeschlossen, gäbe es auch nur den geringsten Nachweis für einen Kontakt mit dem Feind. Also tat Vincent peinlich berührt.

»Kontakt mit dem Feind? Ja, das könnte man so sagen.«

Der Beamte erstarrte zur Salzsäule.

»Ich war als Kriegsgefangener in Deutschland. Also habe ich die Deutschen durchaus kennengelernt. Mehr als mir lieb war …«, fügte Vincent lächelnd hinzu.

Der Mann hinter dem Schreibtisch entspannte sich sichtlich. Diese Form der »Kollaboration« gefiel ihm. Und um zeigen, dass er Vincents Scherz verstanden hatte, zwinkerte er ihm zu.

Nachdem er ihm vorschriftsgemäß die Risiken geschildert hatte, wollte er von Vincent wissen, was ihn zu diesem Schritt bewog. Ein Meisterstück an bürokratischem Sadismus, der hinter dieser simplen Frage eine Wahrheit verbarg, die brutaler nicht hätte sein können: dass diese anstrengende, undankbare Arbeit obendrein noch extrem gefährlich war. Kein Mensch wird je mit Ihnen tauschen wollen, aber erzählen Sie uns doch bitte, inwieweit diese Hölle das ist, was Sie sich erträumen. Vincent ließ sich auf das Spielchen ein.

»Meine Motivation ist recht einfach: Kein Kind darf mehr wegen einer Mine sterben, die uns die Deutschen hinterlassen haben. Sonst haben sie am Ende doch noch gewonnen.«

Mit lauter Stimme vorgetragen schien seine Antwort ihm fast zu feierlich. Dem Beamten offensichtlich nicht. Nahtlos ging er zum dritten Teil des Gesprächs über.

»Nun, wollen Sie mir mal erklären, was mit ›psychischer Eignung für die Minenräumung‹ gemeint sein könnte?«

Vincent musste gar nichts sagen, der Mann redete einfach weiter.

»Das müssen Sie sich mal vorstellen. Wir haben nicht den geringsten Hinweis bekommen. Nicht einmal ein Formular zum Ausfüllen. Einfach gar nichts! Aber ich habe selbst einen Fragebogen entwickelt. Sie werden gleich sehen.«

Wieder das Zwinkern. Es genügte ihm wohl nicht, die Papiere umständlich über den Tisch zu schieben. Nein, er hatte auch zu jeder Frage einen Kommentar parat. Man wusste ja nie. Vielleicht hatte Vincent ja Schwierigkeiten, die Frage zu verstehen.

»Wie reagieren Sie, wenn Sie ein unerwartetes Geräusch hören? Zucken Sie zusammen? Bleiben Sie ganz ruhig? Denn wenn Sie nicht die Nerven bewahren können, wird es schwierig mit dem Minenräumen.«

Offenbar hatte der Rekrutierungsbeamte vergessen, dass Vincent im Krieg gewesen war. Er hielt ihn weiter auf, überglücklich, ein Publikum zu haben, dem er seine Fragen erläutern konnte, die er so großartig ausgeklügelt hatte. Und doch konnte er nicht die Augen davor verschließen, dass die Bewerber ohnehin ausgewählt wurden: Es meldeten sich einfach viel zu wenig Freiwillige.

Als Nächstes ging er auf die finanziellen Bedingungen ein, die für diese mageren Zeiten außergewöhnlich waren – »Das doppelte Gehalt eines einfachen Handlangers!« Und all die Prämien, die Verpflegung, die er Vincent im Einzelnen schilderte, als wäre das eine unfassbar gute Entlohnung für eine vollkommen überbewertete Tätigkeit. »Sie haben wirklich Glück!« Und dann noch der sichere Arbeitsplatz. Er zog das Vergnügen – das ganz bei ihm lag – weiter in die Länge. Vincent aber hatte langsam das Gefühl, dass es genug war. Der Ekel stieg ihm bis an die Lippen. Sollte er sich für diese großartige Chance vielleicht auch noch bedanken? Vincent zog sich die Jacke über, der Beamte ließ ihn aber noch nicht gehen.

»Warten Sie. Ich brauche noch Ihre Papiere und eine Unterschrift.«

»Die Papiere bringe ich morgen vorbei. Die Unterschrift, das lässt sich gleich machen.«

Der Mann schob ihm den Vertrag zum Unterzeichnen hin. Und schon war die Sache erledigt. Vincent gehörte nun zu den Minenräumern. Er hätte bei der Unterschrift zittern müssen, aber er setzte sie mit sicherem Schwung unter das Dokument. Er hatte sie schließlich geübt. Und der Rekrutierungsbeamte hegte keinerlei Zweifel. Zufrieden verließ Vincent sein Büro. Er hatte einen Pakt mit dem Teufel unterschrieben – jedoch mit einem falschen Namen.

Je schneller Vincent Ariane finden würde, desto eher könnte er sein altes Leben wiederaufnehmen. Er würde es genauso machen wie bei seiner Flucht. Einen Plan machen und methodisch und entschlossen umsetzen. Darauf verstand er sich. Er hatte es erprobt. Sein erster Fluchtversuch war schiefgegangen, weil man ihn verraten hatte. Den zweiten zog er alleine durch. Das war die Lektion, die er gelernt hatte. Alles alleine zu machen.

Kaum in Frankreich zurück, war das Nasenbluten gekommen. Es blutete nicht stark, doch es hörte nicht mehr auf. Und auf einmal schienen all seine Kräfte geschwunden, davongeflossen mit diesem winzigen Faden Blut. Er hatte sich bei Freunden ausruhen müssen, war bettlägerig, anämisch und kaum fähig, sich zu bewegen. Zu lange hatte er die unmenschlichen Zustände im Kriegsgefangenenlager durchgehalten. Sein Körper gab nun einfach nach. Sobald es einigermaßen ging, brachten seine Freunde ihn in das Krankenhaus in Val-de-Grâce.

Seine Heilung war ein wahres Wunder, aber alles, was er fühlte, war das Bedauern, dass er diese Zeit nicht mit Ariane hatte verbringen können.

In dem kleinen Lebensmittelgeschäft auf dem Platz, wo er mit seinem Rad stehen blieb, fragte er, ob jemand wüsste, wo er ein Zimmer mieten könnte. Aber man wusste sogar etwas viel Besseres für ihn: das kleine Fischerhaus am Strand.

Mathilde, eine Frau von etwa fünfzig Jahren mit einem feingemeißelten Gesicht wie eine Statue, war gerade dabei, die Fensterläden blaugrau zu streichen. Das hier war das alte Atelier ihres Mannes, der gleich zu Beginn des Krieges gefallen war. Vincent stellte keine Fragen. Mathilde gab ihm dazu auch gar keine Gelegenheit. Sie war nicht der Typ Frau, der dem Erstbesten gleich ihre ganze Lebensgeschichte erzählt.

Weiß gekalkte Mauern, kleine geflochtene Rundteppiche aus der Provence, wie sie in den Bädern zu sehen waren, die Bonnard so häufig gemalt hatte. Als er das Atelier zum ersten Mal betrat, schoss es Vincent durch den Kopf, dass Mathildes Mann sie wohl gerne nackt in der großen Kupferbadewanne gemalt hatte, die gleich neben einem der Teppiche stand. Sie war eine jener Frauen, von denen man sagte, dass sie früher einmal sehr schön gewesen sein musste, obwohl sie das eigentlich immer noch war.

Das Atelier war zeitlos, wie es alle bescheidenen Unterkünfte sind, sobald man ihre Kargheit und ihre Einfachheit akzeptiert hatte. Eine Katze hatte sich durch das Fenster hereingeschlichen und lag nun wie hingegossen auf dem Tisch. Vincent strich ihr über das Fell. Für ihn war dies ein Zeichen. Ariane hatte Katzen immer geliebt. Dieses Haus würde sie zurückbringen.

Und so verliebte Vincent sich auf der Stelle in die nackten Wände, die spärlichen Möbel aus grobem Holz und die Bodenfliesen, der einzige kupfrige Farbtupfer in seiner neuen Unterkunft. Sie würden sich kühl und sanft an seine Sohlen schmiegen. Das Haus hatte zwei Stockwerke, war aber trotzdem klein. Doch die weißen Wände und die blau gestrichenen Fenster verlängerten den Raum in den Himmel hinein. Tief gerührt entdeckte er hinter einem Paravent ein unter einem Tuch schlafendes Klavier.

Er öffnete den Klavierdeckel und schlug ein paar Tasten an. Bach – das war sein erster Einfall. Aber seine Gefühle drohten ihn zu überwältigen. Er hörte sofort auf.

»Wenn Sie möchten, kann ich Ihnen meinen Cousin schicken. Er kann es stimmen.«

Er verfluchte seine gebrochenen Finger, die so steif geworden waren. Würde er sie je wieder über die Tasten laufen lassen können?

»Es ist schon einige Zeit her, dass ich zuletzt gespielt habe … aber wenn das möglich wäre, gerne.«

»Na, dann lassen Sie uns jetzt mal das Geschäftliche erledigen. Ich vertraue Leuten, die Katzen und Klaviere mögen.«

Mathilde lächelte. Offensichtlich war sie froh, nicht weiter nach einem Mieter suchen zu müssen. Vielleicht hatte sie ja anderes zu tun.

»Ich wohne gleich gegenüber. Wenn Sie spielen, lassen Sie doch bitte das Fenster offen. Ich würde mich freuen.«

Sobald er allein war, kontrollierte er, ob die Tür auch wirklich verschlossen war. Dann stieg er in den ersten Stock hinauf und brachte dort seine Sachen unter. Letztlich waren es nur Bücher, die ein Freund für ihn aufbewahrt hatte. Einige davon waren gebunden. Recht viel mehr besaß er eigentlich nicht: nur einen Kamm, ein Rasiermesser, ein Hemd, zwei weiße – genauer gesagt, zwei verschmutzte weiße – Unterhemden und eine Hose zum Wechseln. Er packte seine Sachen in die Kommode, legte ein Buch auf den Tisch und ordnete den Rest auf einem Regal an. Aber wo sollte er seine Waffe verstecken?

Er nahm das Zimmer genau in Augenschein. Kahl wie eine Mönchszelle. Nachdem er es gründlich untersucht hatte, wickelte er den Revolver in eines seiner Unterhemden und versteckte das Päckchen hinter einem der inneren Fensterläden. Er würde sie ohnehin nicht zumachen, er schlief nicht gern im Dunkeln. Dort würde bestimmt niemand nach der Waffe suchen, zumindest dachte er das.

Dann machte er sich an eine schwierigere Aufgabe. Er setzte sich an den kleinen Tisch in der Ecke, der nicht breiter war als eine Schulbank, und schlug das Buch auf, in dem sein Ausweis steckte. Es tat ihm weh, dieses Foto zu betrachten. Diese Sorglosigkeit, diese Offenheit. Sein Blick war mittlerweile ein anderer geworden. Er hatte sich verändert, es war nicht zu übersehen. Die Veränderung schien ihm unumkehrbar. Nur Ariane konnte die Zeit noch zurückdrehen und ihn daran erinnern, wer er wirklich war: Hadrien Darcourt, der nichts weiter wollte, als von ihr geliebt zu werden. Er war nur ganz er selbst, wenn ihr Blick auf ihm lag.

Im Bucheinband steckte ein weiterer Ausweis. Vom Foto blickte ihm ein schmächtiger junger Mann mit blonden Haaren und sehr hellen Augen entgegen. Seine Haut war beinahe durchscheinend. Ein Gesicht, das fast schon dazu bestimmt schien zu erlöschen. Und so bog Hadrien mit der Klinge seines Rasiermessers die goldfarbenen Klammern rund um das Bild auf, ohne sie zu beschädigen. Dann ersetzte er das Foto durch das seine.

Seit seiner Flucht gab Hadrien den Namen auf diesem Ausweis als den seinen an: Vincent Devailly. Ob nun in Hyères, Ramatuelle oder Saint-Tropez, überall, wo es zum Minenräumen ging, war das einfach. Er kannte dort niemanden. Aber es war trotzdem ein seltsames Gefühl, sich Vincent Devailly zu nennen: Hadrien hasste diesen Mann, der ihn bei seinem ersten Fluchtversuch verraten hatte.

Der Gedanke gefiel ihm, dass ausgerechnet dieser Name ihm nun die nahezu grenzenlose Freiheit gab, das zu tun, was er wollte. Wie weit er gehen würde, um Ariane zu finden, um die Leute, die sich weigerten, zum Sprechen zu bringen, oder sich an denen zu rächen, die ihr vielleicht etwas angetan hatten, wusste er noch nicht. Aber er wollte sich keine Zurückhaltung auferlegen müssen. Von nun an würde der verhasste Vincent Devailly für Hadrien dessen dunkelste Seiten ausleben.

Als die Minenräumer am Abend zusammenpackten, sah Fabien Vincent und lächelte, weil er so bald zurückkam. Am Morgen hatte er so seine Zweifel, ob er ihn wiedersehen würde. Viele Männer lockte die gute Bezahlung, die Prämien und Bezugsscheine für Benzin, Wein, Zigaretten und Brot. Aber wenn sie dann aus dem Büro des Rekrutierungsbeamten kamen, hörten sie vielleicht, wie in der Ferne eine Mine explodierte. Und die neuen Kameraden wurden schnell gesprächig, erzählten eine schreckliche Geschichte von einem Mann, den es ratzfatz weggeputzt hatte, dessen Körper zerstückelt über ein ganzes Feld verstreut wurde, und schon hungerten sie lieber.

»Hat dir der Rekrutierungsbeamte gesagt, dass du eine gewisse Bedenkzeit hast, um dir alles noch mal zu überlegen?«

»Wozu? Das wäre doch nur eine weitere amtliche Augenwischerei.«

»Stimmt schon. Sie wollen ja nur, dass du weißt, dass du die Wahl hast. Aber hier trifft das nicht auf viele Männer zu.«

Im Frühling fiel das Ende der Schicht nicht mit dem Ende des Tages zusammen. Die Sonne stand immer noch hoch, und das war für alle wie eine Befreiung. Die Männer streckten sich lang aus und glitten wieder zurück ins Leben. Ihre angespannten Gesichter glätteten sich. Nun zeichnete sich ein anderes Leben vor ihnen ab, eines, in dem sie den Kopf hochtragen konnten, mit einem Lächeln die weißen Zähne in dem schmutzigen, sonnverbrannten Gesicht leuchten lassen und Männern und Frauen gerade ins Gesicht schauen.

Um Vincent gleich in seinem Trupp willkommen zu heißen, lud Fabien ihn ein, mitzukommen und ein Glas mit ihnen zu trinken. Max, ein Energiebündel, in dessen Zügen immer etwas Spöttisches lag, erbot sich, sie alle mit seinem Jeep zu fahren. Er hatte ihn wer weiß woher und sein ganzes Geld ausgegeben, um ihn voller Begeisterung instand zu setzen. Wegen dieses Jeeps wurde es jedes Mal ein Fest, wenn sie ihren Einsatzort wieder verließen.

Fabien stieg vorne ein, und seine drei besten Freunde – Enzo, Georges und Manu – teilten sich den Platz auf der Rückbank mit Vincent. Es war ein bisschen eng.

Vincent fürchtete schon, er werde von sich erzählen müssen, aber eine Einladung ins Café konnte er schlecht ausschlagen. Außerdem kannte er das Geheimnis all derer, die etwas zu verbergen haben: Man lässt den anderen reden. Und damit rannte er überall offene Türen ein.

Was die Minen anging, kannte Enzo sich am besten aus. Georges ergänzte das ein oder andere Detail, damit Vincent auch wirklich über alles Bescheid wusste.

»Die Liste ist lang. Es gibt Anti-Personenminen und Anti-Panzerminen. Springminen wie die S.Mi.35 oder die S.Mi.40 und die Schü-Mine 42 mit zweieinhalb Kilo Auslöselast. Die A200 hat einen chemischen Zünder.«

Die Bezeichnungen schwirrten um Vincent herum: die Stockmine, die Tellermine, die Holzmine, die Panzer-Schnellmine, die Riegelmine, die Topfmine … und noch viele mehr, die der Straßenlärm schluckte oder Max’ Hupe. Es gab so ungeheuer viele …

»Nachdem ihnen das Metall für die Produktion ausgegangen ist, haben sie Holz genommen.«

»Und zuletzt Beton, Keramik und Glas.«

»Einfach und billig. Nicht aufzuspüren. Wie Plastik.«

»Und als sie wirklich gar nichts mehr hatten, haben sie Pappe genommen.«

»Kurz, sie haben aus allem, was du dir nur vorstellen kannst, Minen gebaut. Hauptsache, sie explodierten!

Der Vertrag von Versailles hatte den Deutschen jede Wiederbewaffnung verboten. Und trotzdem haben sie all diese Minen erfunden, sie millionenfach hergestellt und sie Jahr für Jahr verbessert. Die Vorgabe dabei war: Sie sollten nicht aufgespürt und entschärft werden können. Außerdem sollten ihre Sprengkraft und ihre Reichweite erhöht werden sowie die Leichtigkeit, mit der sie explodierten. Was Minen angeht, ist die Perfektion einfach zu definieren: Es ist der Tod.«

»Es heißt ja immer, man könne den Fortschritt nicht aufhalten, aber in diesem Fall hält der Fortschritt uns auf«, merkte Max an.

Sie hatten die Stadtgrenze noch nicht erreicht, als Fabien zu Max sagte, er solle langsamer fahren. Ein paar Männer und Kinder waren gerade dabei, mit Holzpflöcken notdürftig ein Stück des Weges abzusperren. Max hielt an und Fabien stieg aus. Er hatte richtig gesehen: Die Kinder hatten ein merkwürdiges Ding aus Blech entdeckt, das aus der Erde ragte und drei Metallantennen hatte. Vermutlich hatte der jüngste Regen das Ding ausgewaschen.

Die drei abstehenden Antennen sowie der kleine Metallzylinder von höchstens zehn Zentimeter Durchmesser ließen keinerlei Zweifel: Es war eine Schrapnellmine vom Typ S.Mi.35. Eine der gefürchtetsten. Wird sie ausgelöst, springt der Minenkörper mannshoch in die Luft und lässt in einem Umkreis von fünfundzwanzig Metern niemandem eine Chance. Bis zu einem Umkreis von einhundertfünfzig Metern erlitten die Menschen Verletzungen, von denen sie sich nie wieder erholten. Manche meinten sogar, die Splitter würden noch in einem Umkreis von zweihundert Metern Schäden anrichten. Zwei Zünder wurden durch Zug ausgelöst, der zentrale Zünder aber reagierte auf ein Gewicht von nur drei Kilo.

Fabien hasste diese Mine. Aber er hatte keine Wahl. Er würde sie mit den Mitteln entschärfen, die er im Moment zur Hand hatte. Zuerst forderte er alle Anwesenden auf, den Ort zu verlassen. Er holte sein Werkzeug aus dem Kofferraum von Max’ Wagen sowie eine Rolle dünnen Draht. Wegen der drei extrem empfindlichen Zünder ließ die Mine sich nicht einfach so entschärfen. Man würde sie zum Detonieren bringen müssen. Max setzte den Wagen zurück, um die Straße zu blockieren. Seine Kollegen sperrten die Straße weiter vorne ab. Vincent zog instinktiv die Kinder mit sich.

Nun war Fabien mit der Mine allein.

Er befestigte einen dünnen Draht am Zugzünder, rollte dann vorsichtig dreihundert Meter ab, wobei er sich millimeterweise zurückbewegte wie ein Seiltänzer. Als er schließlich bei seinen Freunden angekommen war, atmete er auf.

Mit einem Blick versicherte er sich, dass er die Mine ungestört zünden konnte. Dann streckte er den Arm in die Höhe, als wollte er das Startsignal für ein Autorennen geben, und ließ ihn wieder fallen, wobei er heftig am Draht zog, um die Mine zum Explodieren zu bringen.

In viereinhalb Sekunden hob sich die S.Mi.35 in die Luft und zerbarst mit der Kraft eines Geysirs. Dabei verteilte sie funkelnde Stahlsplitter in einem Umkreis von 360 Grad wie ein Feuerwehrhydrant, und das mit der Zielsicherheit eines Scharfschützen auf Methamphetaminen.

Die Springmine begann ihr Vernichtungswerk in einer Höhe von dreißig Zentimetern über dem Erdboden und stieg bis zu einer Höhe von 1,40 Meter auf. Es überlebte nur, wer sich augenblicklich auf die Erde warf und bewegungslos gegen den Boden presste. Doch in diesen viereinhalb Sekunden, in denen man ja erst einmal begreifen musste, was passiert war, gelang es für gewöhnlich so gut wie niemandem, sich in Sicherheit zu bringen.

Sie aus der Ferne zu beobachten war ebenso faszinierend wie erschreckend, als wäre man Zeuge, wie ein Teufel aus seinem Versteck springt. Die Explosion hatte alles, was Kinder für gewöhnlich so fasziniert: die Raffinesse eines Zaubertricks, das Kuriose eines seltenen Automaten und dahinter die Drohung eines gewaltsamen Todes.

Vincent hörte, wie hinter ihm jemand murmelte: »Bouncing Betty.« So nannten die Amerikaner die S.Mi.35. Wie Betty Boop. Um sich den Krieg ein wenig aufzusexen – oder um sich zu trösten –, klebten sie sich Pin-ups in ihre Flugzeuge und gaben den tödlichsten Waffen den Namen von Frauen. Vincent hatte schon mehrfach beobachten können, wie Männer sich in Kriegsmaschinen verwandelten. Nun würde er lernen, Minen beim Vornamen zu nennen. Denn mittlerweile gehörten alle, Männer, Frauen und Minen, zur selben Gattung: dem Menschengeschlecht.

Als sie schließlich im Café ankamen, war schon fast in Vergessenheit geraten, dass Vincent ein Neuer war. Bouncing Betty war seine Feuertaufe gewesen. Einen besseren Einstieg in die Materie gab es nicht.

Vincent blieb bei seiner Strategie und stellte einen Haufen Fragen, damit niemand auf die Idee kam, sich über sein Leben zu erkundigen. Und so verlief der Abend genau so, wie er sich das vorgestellt hatte: Jeden der Männer verlangte es ebenso heftig nach Pastis wie danach, von sich zu erzählen.

Die meisten waren ungebunden und stammten aus unterschiedlichen Milieus. Man hatte sie in den Südosten Frankreichs geschickt, weil man dort Leute brauchte, aber sie kamen aus dem Norden oder der Mitte des Landes, manche sogar aus entfernteren Regionen wie Spanien oder Italien. Und die sozialen und politischen Unterschiede?

Max war Kommunist. Er hatte vor dem Krieg in einer Autowerkstatt gearbeitet.

»Ich bin kein Intellektueller, aber du findest keinen besseren Mechaniker als mich!«

Fabien widersprach: Max habe durchaus Ahnung von Politik. Das sei für ein Parteimitglied auch ganz normal. Viele Résistancekämpfer waren Kommunisten. Das hielt sie aber nicht davon ab, Max wegen der Haltung der Kommunistischen Partei zu Beginn des Krieges und wegen des Paktes zwischen Sowjetrussland und den Deutschen aufzuziehen. Manu, der Jüngste von ihnen und von einer selbstvergessenen Schönheit, verzehrte sich förmlich nach Wissen und Kultur. Er hatte sein Studium aufgeben müssen und bedauerte dies jeden Tag. Er war noch nie Mitglied einer Partei gewesen, hatte aber vor dem Krieg für den Frieden demonstriert.

»Ich habe mich geirrt …«

Seitdem hörte er lieber zu, als dass er redete. Das war sicherer. Neben ihm saß Hubert, von seiner ganzen Art her traditionell. Er war schmächtig, aber durchtrainiert. Und obwohl er der Älteste von ihnen war – beinahe vierzig –, schaffte er viel Arbeit weg, ohne auch nur einen Anflug von Müdigkeit. Es gab Vermutungen, dass er ein Vermögen für eine Frau ausgegeben hatte. Wenn er nicht dem Feind zugearbeitet hatte? Aber es war vergebliche Liebesmüh, ihn zum Sprechen bringen zu wollen. Er ließ alle peinlichen Fragen an sich abperlen, indem er auf eine der Maximen von La Rochefoucauld, meist dieselbe, verwies.

»Wer am lautesten nach Moral schreit, ist gewöhnlich der, der am wenigsten davon hat.«

Dieser Satz war zum Motto der Minenräumer geworden, aber auch zum Bollwerk gegenüber allen verächtlichen Kommentaren, sozusagen ihre ultimative Waffe. Vor allem für Jean, den man »den Knastologen« nannte, aber auch den Dicken. Dabei war er eher stämmig als fett. Ex-Gangster und früherer Ringer, mittlerweile Geläuterter. Auch er bediente sich der Gedankengänge des berühmten Moralisten.

»Ich habe vielleicht Scheiße gebaut, aber ich habe meine Ehre bewahrt. Und es haben nicht alle Ganoven mit den Deutschen zusammengearbeitet, nur damit ihr es wisst.«

»Aber du hast immer noch nicht erzählt, warum du gesessen hast …«

»Weil ich das Recht habe zu vergessen. Tut mir leid, aber ich habe meine Schuld an der Gesellschaft abbezahlt.«

»In welcher Währung?«

»Mit Knastjahren, die nicht gerade schön waren.«

»Ja, aber du warst während dieser Zeit wenigstens nicht im Krieg.«

»Jetzt reicht es aber! Der Krieg hat schließlich nicht so lange gedauert, die aktiven Kämpfe meine ich.«

»Ja, aber nur für die, die nicht im Widerstand waren!«

Und dann war da noch Georges, der aus dem Südwesten stammte. Auch dort waren die Strände vermint. Die ganze Atlantikküste entlang. Aber er war trotzdem in den Südosten gegangen. Wovor er wohl weglief? Vor seiner Familie, vor bösen Erinnerungen oder noch Schlimmerem?

Was Enzo anging, der alle Minen mit Namen kannte: Er war verheiratet und betete seine Frau an. Er redete von nichts anderem. Er war bei den FTP-MOI, den Francs-tireurs et partisans – Main-d’œuvre immigrée, in die Résistance gegangen. Was er dort getan hatte? Er lachte und meinte, er könne nichts Besonderes. Fabien würde ihn nicht verraten und erzählen, warum er sich in Wahrheit der Résistance angeschlossen hatte. Enzo war mit fünf Jahren aus Italien nach Frankreich gekommen. Er hatte mitangesehen, wie Kinder seinem Vater und seiner Mutter Steine hinterherwarfen. Er war in einem Viertel von Marseille aufgewachsen, das man »Klein-Neapel« nannte. Als Italien mit Deutschland den Stahlpakt geschlossen hatte, wurden alle Italiener verdächtigt, mit dem Feind zusammenzuarbeiten. Nachdem die Deutschen in die freie Zone von Vichy-Frankreich einmarschiert waren, trieben sie dennoch mithilfe der französischen Polizei alle Italiener zusammen, die in Marseille lebten, steckten sie ins Lager in Fréjus und zerstörten ihre Wohnungen. Enzos Familie gehörte zu denen, die man nun »die Evakuierten« nannte. Sie hatten nicht gewagt, gegen diese Behandlung zu protestieren …

Enzo wünschte sich eine schöne Zukunft für seine drei Töchter. Und er wurde nie müde, Frankreich seine Loyalität zu beweisen. Zur FTP gehört zu haben genügte ihm nicht. Er verpflichtete sich weiter bei der Minenräumung. Italiener waren ja häufig gute Feuerwerker. Neben Fabien war Enzo der Einzige, der eine Mine korrekt entschärfen konnte. Außerdem besaß er – was selten war – ein beinahe enzyklopädisches Wissen über die Vielzahl der Zünder, die die Minen hochgehen ließen. Aber Fabien schätzte ihn nicht nur wegen seiner technischen Fähigkeiten. Die beiden verband das Engagement in der Résistance, dasselbe Ehrgefühl. Und doch begegneten sie den anderen mit ungebrochener Nachsicht.

Seitdem er bei der Minenräumung arbeitete, hatte Fabien die unterschiedlichsten Arten Mensch kennengelernt: De-Gaulle-Anhänger, Anti-De-Gaulle-Aktivisten, Résistancekämpfer, Zauderer, Sicherheitsbewusste, Katholiken, Atheisten, Kommunisten, Anti-Kommunisten, einen Aristokraten, Abgehängte, drei Italiener, zwei spanische Flüchtlinge und Menschen, die von nirgendwo kamen. In diesem Haufen von Versprengten, die sich eigentlich hassen oder ignorieren hätten müssen, herrschte eine erstaunliche Brüderlichkeit. Niemand außer den Mitgliedern dieses Trupps würde je begreifen, was sie Tag für Tag erlebten. Die Gefahr, der sie sich aussetzten, schweißte sie fest zusammen. Selbst mit ihren Toten.

Vincent war verblüfft von der Fröhlichkeit, die hier herrschte. Niemand an diesem Tisch versuchte, seinem Schicksal zu entkommen. Sie freuten sich, dass sie lebten, Spaß haben, miteinander essen und zusammen sein konnten. Sie sahen den Mädchen nach, die auf der Straße vorübergingen, und die Zukunft schien ihnen, wie allen anderen, ein Horizont voller Versprechen zu sein.

Minen zu entschärfen hieß, dass man nicht gerade eine gute Partie war. Aber das hielt sie nicht davon ab, alles zu versuchen, um möglichst gut anzukommen. Das Begehren kennt keine Regeln, nur ein paar Konstanten. Ihre Körper, ihre stolze Haltung waren diese geheimnisvollen Elemente, die die Funken fliegen ließen. Und was den Rest anging: Da war diese Gleichgültigkeit gegenüber der Gefahr, die Lässigkeit, sich nie zu beklagen, das Mysterium, das sie umgab, als wären sie keine gewöhnlichen Sterblichen, die sich auf einen ungleichen Kampf mit dem Tod einließen. Vielleicht hatten sie ja ein Geheimnis, eine besondere innere Kraft. Wie jene Indigenen, die an Amerikas Wolkenkratzern bauten und denen man nachsagte, vollkommen schwindelfrei zu sein, weil sie in mehreren Hundert Metern Höhe im leeren Raum schwebten. Dieser Tanz mit der Gefahr, am Rande des Abgrunds, das Wippen über den Grenzen der Hölle machte sie unwiderstehlich.

Sodass Léna, die Besitzerin des Cafés, ihnen sofort brachte, was immer sie bestellten. Und sie erhoben ihre Gläser auf jede Schönheit, die vorüberging. Und diese schauten auf ihre muskelbepackten, sonnengebräunten Arme und lächelten ihnen zu. Schließlich war hier, im Süden, der Krieg vorbei. Man konnte jeden Menschen anlächeln.

Léna aber merkte sofort, dass Vincent neu war.

»Fabien hat es geschafft, Sie anzuheuern?«

»Ich musste ihn nicht drängen, was glaubst du denn? Er ist von ganz allein gekommen, wie ein richtig Großer«, antwortete Fabien an Vincents Stelle.

»Ich glaube ja, dass du sie verhext. Sie würden dir überall hin folgen …«

»Ich dachte, du bist die Spezialistin für diese Art Zauber …«

Lächelnd wandte Léna sich ab, um weitere Getränke zu holen.

Es war Vincent nicht entgangen, dass sie schön war und dieses gewisse Etwas hatte, das sofort Aufmerksamkeit erregte. Aber sein einziges Ziel war ja, das Gespräch auf die Deutschen zu lenken. Und so warf er so lässig wie nur möglich ein:

»Und die Deutschen? Holen die jetzt den ganzen Dreck aus der Erde, den sie uns hinterlassen haben? Sind sie immer noch überzeugt, dass ›Arbeit frei macht‹?«

An ihrem Lachen erkannte Vincent, dass die Minenräumer ihn akzeptierten. Doch die Antwort war nicht die, die er sich erhofft hatte.

»Ja, aber mach dir keine Sorgen, was die Deutschen angeht. Die bleiben nicht mehr lange.«

Was Vincent, der sich keineswegs Sorgen gemacht hatte, regelrecht niederschmetterte.

»Wir haben jetzt Ende April. Ich wette mit dir, dass Deutschland spätestens im Mai kapituliert. Und am Ende des Krieges kehren normalerweise ja alle nach Hause zurück. Mit den Bomben, die sie im Moment abbekommen, werden die ziemlich Augen machen, wenn sie nach Hause kommen!«

Vincent ließ sich seine Erregung nicht anmerken und wandte sich an Fabien.

»Was denkst du denn?«

»Ich fasse zusammen: Dreizehn Millionen Minen. Dreitausend Freiwillige. Wenn du mitrechnest, heißt das, dass wir fünfzigtausend Gefangene brauchen würden.«

»Also werden sie noch hierbleiben?«

»Aubrac hätte sogar gerne die doppelte Menge. Aber ob das was wird, weiß im Moment keiner. Das hängt alles von der Konferenz in San Francisco ab. Man müsste fünfzig Länder überzeugen, internationales Recht zu brechen.«

»Na ja, die Boches wird ja keiner so recht bedauern …«

»Ah ja! Natürlich ist alle Welt dafür, dass die Deutschen Widergutmachung leisten! Auf Knien. Oder sogar mit der Prügelstrafe! Und nicht nur bei uns. Also warum nicht auch bei der Minenräumung? Nur dass unsere lieben Diplomaten nicht möchten, dass das publik wird. Sie wollen es unter den Teppich kehren. Aubrac ist dagegen. Und er hat recht: Man wird es ohnehin schnell merken. Kriegsgefangene an Stränden oder Straßen arbeiten zu lassen ist ja nicht gerade unauffällig …«

»Aber die Deutschen entschärfen die Minen doch längst?«

»Nein, sie spüren sie nur auf«, korrigierte ihn Fabien. »Die Konferenz ist gerade losgegangen – wir nutzen sozusagen die noch bestehende Unklarheit.«

Léna brachte die übrigen Bestellungen.

»Mir wäre es lieber, wenn nur die Deutschen ihr Leben riskierten.«

»Keine Sorge, Léna. Wir kalkulieren die Risiken schon.«

»Aber Risiken lassen sich nicht kalkulieren. Das ist ja gerade ihre Natur!«

»Léna, wir sind hier, um uns zu entspannen! Und du weißt doch, dass wir unter einem guten Stern stehen …«

Natürlich. Sie würde nichts daran ändern können: Die Minensucher glaubten nicht, dass sie bei ihrer Arbeit ums Leben kommen würden. Die Regierung ging davon aus, dass man die Minen auch ohne Mitarbeit der Deutschen beseitigen konnte. Und diejenigen, die davon profitierten, dass andere sich opferten, dachten, dass sich die Minen schon von selbst erledigen würden.

Léna goss Vincent noch mal Weißwein nach und musterte kurz sein Gesicht. Vielleicht war er ja weniger sorglos als die anderen? Vielleicht würde sie ja wenigstens ihn retten können?

»Ganz ehrlich, ich verstehe nicht, warum ihr das tut. Habt ihr nichts Besseres zu tun, als Minen zu räumen?«

»Und wer würde es machen, wenn nicht wir?«

Auf diese Entgegnung Vincents hin erhoben alle ihr Glas. Als wäre das ihre Devise, ein Glaubensbekenntnis, der Schwur der Musketiere.

Léna hatte sich getäuscht. Er war wie die anderen. Er klammerte sich an seine Illusionen. Niemand konnte mehr leben, ohne Tatsachen zu verdrängen, das war die einzige universelle Religion geworden.

Zwei Tage zuvor war Vincent oben an der Freitreppe vor dem Saint-Charles-Bahnhof Audrey begegnet. Marseille war beherrscht von Lebensfreude und unbändigem Stolz, weil man gegen die Deutschen einen großartigen Sieg errungen hatte. Das war die Rache für die Massenverhaftungen im Januar 1943 und die Sprengung von eintausendfünfhundert Häusern im Viertel um den Alten Hafen. Die Deutschen hatten den Befehl dazu gegeben, aber ausgeführt hatten ihn Franzosen. Diese Verbrechen hatten ein tiefes Trauma verursacht, da René Bousquet, der oberste Polizeibeamte des Vichy-Regimes, aus freien Stücken deutlich weiter gegangen war, als die Besatzer sich erhofft hatten. So wie er das schon bei den massenhaften Verhaftungen von Juden gemacht hatte, die man im Vélodrome d’Hiver in Paris zusammengetrieben hatte.

Die Marseiller hatten nicht gewartet, dass man sie befreien würde. Wie in Paris hatten sich die Leute unmittelbar vor Eintreffen der französischen Truppen und der Alliierten gegen die Besatzer erhoben, und das Hochgefühl über die erfolgreiche Revolte, die unwiderstehliche und entscheidende Entschlossenheit der Aufständischen lag noch in der Luft und belebte die lächelnden Gesichter der Menschen.

Audrey strahlte. Wortgewandt berichtete sie von dem Elan, der die phokäische Metropole plötzlich ergriffen hatte: Die lärmende Menge auf den Straßen, die Frauen und Kinder, die Menschenmassen, wütend und glücklich zugleich, waren sich ihres Sieges sicher. Die Auflehnung hatte sich Bahn gebrochen in der betäubten Stadt mit den leeren Straßen und den vor Angst eingeschüchterten Bewohnern. Das war nun die Befreiung: Mit ihrem Feuer hatten die Aufständischen den schuldhaften Zynismus der Kollaborateure hinweggefegt und mit ihm die kranke Mentalität der Nazis.

Audrey schwärmte von dem neuen Leben, das sich ankündigte.

»Dieses Mal wird alles anders. Der Beweis dafür? Schon morgen gehe ich in die Stadtverwaltung zum Wählen! Kannst du dir das vorstellen? Die Stimmen der Frauen werden zählen. Es wurde auch langsam Zeit, oder?«

Natürlich fand auch Vincent das aufregend und nahm es sich ein wenig übel, dass der Jubel ihn nicht auf die gleiche Weise ergriff wie sie. Aber nachdem er sich ihre so enthusiastisch vorgetragenen Überzeugungen angehört hatte, wurde es ihm unmöglich, nicht nach Ariane zu fragen.

»Weißt du denn etwas von ihr?«

Er sah noch besser aus, als sie ihn in Erinnerung hatte. Sein scharfer, glühender Blick, der leider nicht für sie brannte, war noch intensiver und fiebriger geworden. Seine Augen, die aus der Ferne schwarz, aus der Nähe jedoch dunkelgrün schienen und Funken sprühten, würden sich nicht von ihr lösen, bis sie diese Frage beantwortet hätte, bevor sie ihm nicht alles gesagt hätte, was sie wusste, bevor sie nicht ausgespuckt hätte, was er hören wollte.

Doch was wusste sie denn schon groß? Bei Ariane wusste man ja nie, was los war. Man ahnte etwas oder man täuschte sich. Und er, Vincent, wollte er wirklich hören, was sie hätte sagen können, was sie erfahren hatte? Audrey atmete tief durch. Sie würde sich ganz vorsichtig auf dieses Gespräch einlassen, Raum gewinnen, und dann konnte man weitersehen.

»Zum letzten Mal habe ich sie gesehen, als sie mich besucht hat.«

»Wann?«

»Das ist fast eineinhalb Jahre her … im Juni, Juni 43.«