Einen Wunsch frei - Kamy Wicoff - E-Book

Einen Wunsch frei E-Book

Kamy Wicoff

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Beschreibung

Ein ganz normaler Morgen, der ganz normale Wahnsinn für Jennifer Sharpe. Während sie ihre Söhne antreibt, sich endlich fertig zu machen, will sie nur schnell die Termine des Tages checken – aber ihr Smartphone ist verschwunden! Doch aus der Katastrophe wird ein Glücksfall, als Jennifer das Handy vor ihrer Wohnungstür findet, ausgestattet mit einer wundersamen neuen App, die es ihr ermöglicht, an zwei Orten zugleich zu sein. So wird aus der dauergestressten alleinerziehenden Mutter Superwoman, die bis spätabends im Büro sitzt und trotzdem ihre Söhne pünktlich von der Schule abholt. Als jedoch ein attraktiver Mann in ihr Leben tritt, stößt selbst Superwoman Jennifer an ihre Grenzen ... Vielleicht ist „alles auf einmal“ doch nicht die Lösung?

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Seitenzahl: 575

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Buch

Als alleinerziehende Mutter ist Jennifer Sharpe eine ausgewiesene Expertin in Sachen »gelebter Wahnsinn«, und doch würde sie sich manchmal am liebsten zweiteilen können: Da ist zum einen ihr Chef, der vollen Einsatz von ihr verlangt, und zum anderen sind da ihre beiden Söhne Jack und Julien, die ihr regelmäßig zu verstehen geben, dass sie am liebsten eine Vollzeitmama hätten. Jennifers Rettungsanker in dem ganzen Chaos ist ihr Smartphone: ausgelagertes Gedächtnis, Terminkalender und mobile Kinder-Notfall-Bespaßung in einem. Doch dann tritt eines Morgens der Organisations-Super-GAU ein: Jennifers Handy ist verschwunden! Nach fieberhafter Suche findet sie schließlich einen Umschlag vor ihrer Wohnungstür und darin das Smartphone – unbeschadet, aber mit einem ganz besonderen Extra: eine App mit dem vielversprechenden Namen EINEN WUNSCH FREI. Tatsächlich scheint diese App die Lösung ihrer Probleme zu bieten, denn sie ermöglicht es Jennifer, an zwei Orten zur gleichen Zeit zu sein. Mit einem Mal wird aus der dauergestressten Working MumSuperwoman, die problemlos bis spätabends im Büro sitzt und trotzdem ihre Söhne pünktlich von der Schule abholt. Doch als dann auch noch ein attraktiver Mann in ihr Leben tritt, stößt selbst Superwoman an ihre Grenzen – und Jennifer ertappt sich immer öfter bei der Frage, ob ihr der ganz normale Wahnsinn nicht lieber war …

Autorin

Kamy Wicoff hat sich in ihrer Heimat bereits als Autorin eines Sachbuchbestsellers einen Namen gemacht, bevor sie mit »Einen Wunsch frei« ihr Romandebüt vorlegte, das von Publikum und Presse begeistert aufgenommen wurde. Kamy Wicoff lebt mit ihren beiden Söhnen in New York.

KAMY WICOFF

Einen Wunsch

frei

Roman

Deutsch

von Sina Hoffmann

Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel

»Wishful Thinking« bei She Writes Press, Berkeley, CA

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

1. Auflage

Taschenbuchausgabe Juli 2016

Copyright © der Originalausgabe 2015 by Kamy Wicoff

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2016

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

All rights reserved

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagillustration: Copyright © FinePic®, München

Redaktion: Gabriele Zigldrum

An ∙ Herstellung: Str.

Satz: IBV Satz- und Datentechnik GmbH, Berlin

ISBN: 978-3-641-17899-4V002

www.goldmann-verlag.de

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Für Max und Jed

– das hättet ihr jetzt nicht gedacht, was?!

1 Ein geheimnisvoller Umschlag

Jennifer Sharpe hatte schon immer davon geträumt, zwei Personen zugleich zu sein. Schon als kleines Mädchen war dies so gewesen, als sie sowohl eine Vollzeitmami als auch Präsidentin der Vereinigten Staaten werden wollte, wenn sie einmal groß war. Auf der Junior High hatte sie dann in der Mittelstufe tatsächlich das Gefühl gehabt, zwei Personen in einem Körper zu vereinen, als die Hormone eines jungen Mädchens in der Pubertät dafür gesorgt hatten, dass sie im einen Moment noch himmelhoch gejauchzt hatte und keine zehn Sekunden später zu Tode betrübt gewesen war. Aber nie hätte sie es dringender gebraucht, zwei (oder drei) Personen in einem zu sein, als zu dem Zeitpunkt, als sie eines Tages aufwachte (zumindest kam es ihr so vor) und sich als neununddreißigjährige geschiedene Mutter zweier Kinder mit gleich mehreren Problemen herumschlagen musste: mit Unterhaltszahlungen, die geradezu lachhaft waren, mit einem höchst stressigen Vollzeitjob, der nicht genug Geld für die nötige Kinderbetreuung einbrachte, und obendrein mit einer Katze, die sich ständig auf dem Sofa übergab.

Wie hatte es so weit kommen können?

Darüber dachte Jennifer nach, während sie das Abendessen zusammenschusterte (es wäre wohl ein wenig übertrieben gewesen, das Kochen von Nudeln sowie das Aufwärmen von Hähnchen-Nuggets als Kochen zu bezeichnen …) und gleichzeitig ihrem älteren Sohn, Julien, bei den Mathehausaufgaben half, während sein kleiner Bruder Jack ihm so lange mit einem aufblasbaren Hammer auf den Kopf schlug, bis sie den Hammer packte, ihn auf das oberste Brett im Bücherregal legte und den heulenden Jack auf sein Zimmer schickte. Sie dachte darüber nach, nachdem die Jungs endlich eingeschlafen waren – was manchmal auch erst um zweiundzwanzig Uhr war, wenn die beiden sich besonders sträubten, den Tag zu beenden, und sie selbst in Wahrheit auch gar nicht wollte, dass sie ins Bett gingen, weil die allabendliche Zeit mit ihnen so kostbar war –, wenn sie sich ein Glas Wein eingeschenkt, das Erbrochene der Katze weggewischt und E-Mails beantwortet hatte, bis sie endlich ins Bett ging, um dann noch zehn Minuten lang ganz für sich allein zu lesen. Sie dachte darüber nach, wenn sie ihre Jungs jeden Samstag für eine Nacht bei ihrem arbeitslosen Schauspieler-Ex-Ehemann absetzte – eine Nacht, die er in ihren Augen auch nach einem Jahr immer noch nicht verdiente, schließlich hatte er die Kinder in den ersten zwei Jahren nach der Scheidung oft monatelang nicht gesehen – und bemerkte, dass er sich ganz offensichtlich die Augenlider hatte straffen lassen, was ihm wohl wichtiger gewesen war, als etwas zu Juliens Gitarrenunterricht beizusteuern. Und sie dachte darüber nach, wenn sie jeden Morgen als stellvertretende Leiterin der Behörde für öffentliche Wohnprogramme und Stadtentwicklung bei der New York City Housing Authority, einer städtischen Wohnungsgesellschaft, an ihren Arbeitsplatz kam und dort mit einem Berg von Schriftstücken überhäuft wurde, die nur ein achtzehnarmiger Superheld mit mehreren Gehirnen jemals abarbeiten könnte. Vor vierzehn Jahren war sie einmal eine attraktive, fähige, jugendlich-frische BWL-Absolventin mit einem heißen Freund gewesen, der in einem Pilotfilm im Fernsehen mitspielte. Jetzt dagegen hatte sie Schwierigkeiten, ihre Badewanne in einem halbwegs sauberen Zustand zu halten.

Irgendwo gibt es diese Frau, hatte Jennifer kürzlich in einer E-Mail an ihre beste Freundin Vinita geschrieben, die ebenfalls eine arbeitende – wenn auch halbwegs glücklich verheiratete – Mutter von drei Kindern war. Irgendwo gibt es diese Frau, die mit neununddreißig Jahren mehrere Kinder hat, die mehrere Instrumente spielen, mehrere Sportarten betreiben und in mehreren Schulfächern glänzen. Irgendwo gibt es diese Frau, die mehrere Geschäfte führt, im Vorstand mehrerer caritativer Einrichtungen und Gremien sitzt und mehrere Sit-ups hintereinander machen kann. Wie viele Bücher und Artikel hatte sie schon gelesen, in denen Frauen, die alles hatten, unter dem Deckmantel der Bescheidenheit kräftig damit angaben, mit welchen Schwierigkeiten man zu kämpfen hatte, wenn man wirklich alles hatte. Kläglich hatte sie weitergeschrieben: Ich dagegen bin nach nur einem Sit-up schon am Ende und schaffe es gerade mal, einem einzigen Job nachzugehen (und das auch nur mit Ach und Krach). Gestern habe ich versucht, Jack, der bislang überhaupt keinen Sport treibt, für den Winter in einem Fußballverein anzumelden – nur, damit man mir dann sagt, dafür sei ich mehrere Monate zu spät. Vinita, die Jennifer schon seit Collegetagen kannte, hatte sofort zurückgeschrieben: Zeig mir, wo sich diese Frau versteckt,und ich werde ihr mehrere Tritte in den Allerwertesten verpassen!

Jennifer hatte diese geschwisterliche Unterstützung durchaus zu schätzen gewusst. Doch einem Teil von ihr war es schwergefallen, darüber zu lachen. Denn diese Frau war tatsächlich irgendwo da draußen. Woher Jennifer das so genau wusste? Na, jeden Tag, an dem Jennifer vergeblich versuchte, mit jener Frau mitzuhalten, war sie sich ziemlich sicher, dass in Wahrheit sie selbst diejenige war, die einen Tritt in den Allerwertesten erhielt.

Dienstag, der 24. September, begann wie jeder andere Tag in Jennifers Leben, seitdem Norman und sie sich getrennt hatten. Um Punkt 6:45 Uhr fing Mr Coffee, der programmierbare Kaffeeautomat und die einzige langanhaltende Liebe ihres Lebens, an zu blubbern. Ein pikanter Kaffeeduft schwebte von seinem Platz aus durch die kleine Wohnung – er stand auf einem Barhocker neben dem Schlafsofa, auf dem Jennifer schlief und das, wenn es vollständig ausgezogen war, gut drei Viertel der Wohnzimmerfläche ihres Apartments in Beschlag nahm. Mit einem Stöhnen reckte und streckte sich Jennifer, setzte sich mühsam auf, erhob sich und machte sich auf den Weg den Flur hinunter zum Bad. Dort zog sie ihr Lieblingsshirt, das Revolver-Shirt von den Beatles, sowie die Schlafanzughose aus und sprang unter die Dusche. Der Wasserdruck war wieder zu niedrig, und das Shampoo im Haar lief ihr wie Schlamm ins Gesicht, während sie unter dem Rinnsal stand, das schwach aus der Brause über ihr heruntertropfte. Gerade als ihre Lebensgeister allmählich geweckt wurden, hörte sie draußen das Getrappel kleiner Jungenfüße und musste lächeln. Julien.

»Hey, Mom«, rief er draußen vor dem Duschvorhang mit seiner für einen Achtjährigen recht frühreif klingenden, von Natur aus coolen Art. Was ist eigentlich aus »Mommy« geworden?, fragte sie sich. »Kann ich auf deinem Handy ein Spiel spielen?«

»Julien«, rief sie, zog den Duschvorhang mit einem Ruck beiseite und steckte den Kopf aus der Dusche. Shampooschaum klebte ihr immer noch an der Nase. »Es geht nicht, dass das jetzt jeden Morgen so läuft! Wenn Du damit spielst, will dein Bruder auch damit spielen, und du weißt doch genau, dass es so schon fast unmöglich ist, ihn aus dem Haus zu bekommen …«

»Aber Mom, ich habe schon zwanzig Minuten lang Gitarre geübt, und Jack schläft noch. Außerdem hast du gestern gesagt, ich darf mit deinem Handy spielen, wenn ich Gitarre geübt und meine Hausaufgaben gemacht habe. Aber dann bist du schon wieder erst so spät nach Hause gekommen, sodass ich jetzt schon seit mindestens zwei ganzen Tagen nicht mehr mit deinem Handy gespielt habe! Bitte! Bitte, ja?« Juliens Stimme hatte fast augenblicklich jenen quengeligen Tonfall angenommen, der Jennifer vor Ärger spontan Zahnschmerzen verursachte. Doch sie verspürte unweigerlich diesen Druck in der Brust, als sie hörte, dass Julien extra früher aufgestanden war, um zu üben. Sie sorgte sich angesichts seiner Leistungen und seiner Unfähigkeit, einfach mal zu entspannen und sich eine Pause zu gönnen. Als kleines Mädchen war Jennifer genauso gewesen, und daran hatte sich auch jetzt nichts geändert.

»Ich habe gestern eine halbe Stunde lang Gitarre geübt«, fuhr Julien fort und schaltete seinen Tonfall von flehentlich zu vorwurfsvoll um. »Bist du ganz sicher, dass du nicht zu meinem Auftritt kommen kannst?«

Traurig schüttelte Jennifer den Kopf. Juliens Gitarrenvorspiel fand um vier Uhr an diesem Nachmittag statt. Um sechzehn Uhr an einem Wochentag. Wie bitteschön sollte man das als arbeitendes Elternteil schaffen? Sie wollte gerade Julien etwas Ähnliches antworten, doch er hätte nur protestiert, da sie zwar schon immer eine arbeitende Mutter gewesen war, bis vor ein paar Monaten jedoch noch eine, die nachmittägliche Gitarrenvorspiele hatte besuchen können. Tatsächlich hatte ihr alter Chef von der New York City Housing Authority – kurz NYCHA genannt – sie von einer weitaus lukrativeren Karriere in der Unternehmensberatung abgeworben – in erster Linie, weil er ihr exakt jene Flexibilität fest zugesagt hatte. Doch die NYCHA war kürzlich von einem neuen Vorstandsvorsitzenden übernommen worden, der sorgfältig vom Bürgermeister ausgesucht worden war als Teil seines Vorhabens, jedem Zweig der Stadtverwaltung eine »privatwirtschaftliche Arbeitsmoral« aufzuzwingen. Was bedeutete, dass es nun seit mehreren Monaten nahezu unmöglich geworden war, für Dinge wie Vorspiel in der Musikschule oder sogar Jacks Sprachtherapie den Arbeitsplatz früher zu verlassen.

»Kann ich bitte mit deinem Handy spielen, Mommy?«, wiederholte Julien seine Frage und lächelte sie hoffnungsvoll an. Mommy. Damit hatte er sie.

»Okay«, willigte sie ein. »Aber nur zehn Minuten lang!«, rief sie ihm hinterher, als seine schmale, shirtlose Kindergestalt aus dem Badezimmer zischte.

Wieder allein unter der wenig berauschenden Dusche, starrte Jennifer ein wenig sehnsüchtig auf die Stelle, an der er gestanden hatte. Dann schloss sie den Vorhang und machte sich an die Arbeit, die verbliebenen Schaumreste aus dem Haar zu waschen. Es wurde höchste Zeit, endlich die letzte Müdigkeit abzuschütteln und den Tag in Angriff zu nehmen.

Jeden Morgen, wenn Jennifer unter der Dusche stand, erstellte sie in Gedanken zwei To-do-Listen, eine für die Arbeit und eine für zu Hause. Diese Listen entsprachen ihren zwei Jobs, dem ersten als städtische Angestellte und dem zweiten als persönliche Assistentin, Kreuzfahrtmanagerin und Bedienung (wie ihr das Muttersein manchmal vorkam) für ihre beiden jungen Herren, Julien und Jack Bideau. Tief in ihrem Inneren regte sich zwar das Gefühl, dass die Abfolge falsch war – sollten nicht ihre To-do’s als Mutter an erster Stelle stehen und ihre Arbeitsliste an zweiter? Doch in Wahrheit sah es so aus, dass die Arbeit ihre volle und ganze Aufmerksamkeit einforderte, damit sie auch weiterhin angestellt blieb. Sie bemühte sich nach Kräften, Verabredungen zum Spielen, Schulausflüge und Pizzatage zu berücksichtigen, verbockte es aber trotzdem regelmäßig – schließlich gab es zu Hause keinen Chef, der ihr deswegen eine Abmahnung erteilt hätte. Jennifer wünschte sich inständig, dass ihre langjährige Babysitterin Melissa selbst einmal die To-do-Liste für zu Hause erstellen würde. Damit würde Melissa dann Jennifers traumhafte Wunschvorstellung von einer Babysitterin wahrwerden lassen, die ihr selbständig den Haushalt mit der militärischen Präzision einer resoluten Haushälterin führte. Doch Melissa war gerade einmal knapp über zwanzig, meinte es gut und arbeitete für Jennifer, weil sie überhaupt noch nicht wusste, welche Richtung sie für ihr Leben einschlagen sollte. Kurz gesagt: Melissa erledigte nicht einmal den Abwasch.

Als Jennifer ihre Liste zusammenstellte, ratterten ihre grauen Zellen. Waren die Jungs heute zum Spielen verabredet? Musste Melissa heute früher weg? Was war heute das erste Meeting in der Arbeit? Wen musste sie zurückrufen, was sollte sie online bestellen (ein neues Paar Stollen für die Fußballschuhe, Material für ein Schulprojekt, Lebensmittel?), mit wem war sie zum Mittagessen verabredet, um wie viel Uhr fing der Spinning-Kurs an, bei dem sie zumindest so tun wollte, als habe sie wirklich vor, diesen zu besuchen? Jennifer stellte das Wasser ab und trat auf den Duschvorleger. Es gab allein ein Mittel gegen die nur allzu vertraute Angst, die sie jeden Morgen überkam: Ihr Handy. Oder, genauer gesagt, der Terminplaner auf ihrem Handy, der mit seinen gewissenhaft geführten Listen und farbig markierten Einträgen das Grundgerüst bildete für das zerbrechliche, absurd komplexe und sich meistens dem Zusammenbruch nähernde Gebilde, das ihr Leben war.

»Julien!«, rief sie und erweiterte in Gedanken die zu Hause-Liste um den Punkt Handtücher waschen, als sie ein feuchtes, leicht übelriechendes Handtuch vom Handtuchständer zog. »Ich brauche mein Handy!«

»Ich kann es nicht finden!«, schrie Julien zurück.

Jennifer erstarrte, tropfnass und mit einem Handtuch um den Kopf. Ihre Gedanken rasten. Julien konnte ihr Handy nicht finden? Julien fand immer ihr Handy! Sie legte es stets auf den Beistelltisch neben der Couch und warf vor dem Schlafengehen immer noch einmal einen Blick darauf. Doch letzte Nacht war sie bei laufendem Fernseher eingeschlafen, nachdem sie eine halbe Weinflasche gekillt hatte – okay, zugegeben, es waren zwei Drittel der Flasche gewesen. (Sie hatte beschlossen, sich ein wenig mehr Zeit für sich zu gönnen, ganz so, als würde sie sich damit etwas Gutes tun, immer besinnungsloser zu werden, während sie sich die Gilmore Girls über Netflix anschaute.) Ihr Handy war ihr Leben. Ihr komplettes Leben befand sich auf diesem Handy. Wie konnte sie da nicht wissen, ob es da war?

Rasch zog Jennifer sich an und lief ins Wohnzimmer. Dort suchte Julien schon entschlossen alles zwischen den Spalten des ächzenden Schlafsofas ab. Sie schloss sich der Suche an und begann mit ihrer Aktentasche, bevor sie dann mit jedem Tisch, jedem Vorsprung und jeder Oberfläche weitermachte – doch jedes Mal ohne Erfolg. Bald schon bestätigte sich, dass sich das Handy weder an einem der gewohnten Orte im Zimmer der Jungs befand (unter dem Stockbett oder neben Juliens Radiowecker), noch im Badezimmer (auf dem WC-Spülkasten, neben ihrer Zahnbürste). Als sie mit leeren Händen wieder ins Wohnzimmer zurückkehrte, wurde ihr ganz bange ums Herz. Wann hatte sie das Handy zum letzten Mal in der Hand gehabt? Gestern Abend war sie recht spät nach Hause gekommen und hatte die Abendrituale mit den Jungs schnell hinter sich gebracht, sodass sie nicht mehr auf ihr Handy geachtet hatte. Vinita hatte sie übers Festnetz angerufen. Und nach dem Auflegen waren da der Wein, der Fernseher und der Schlaf gewesen. Sie hatte ihr Handy aber auch nicht in der Arbeit vergessen, das wusste Jennifer mit absoluter Sicherheit, weil sie im Taxi, das sie sich nach Feierabend genommen hatte, um schnell nach Hause zu kommen, Melissa eine SMS geschickt hatte.

Es war weg. Ganz sicher. Jennifer hatte schon einmal ihr Handy verloren – was so ziemlich der teuerste Fehler gewesen war, den man machen konnte, mal abgesehen davon, einen Diamantring durch ein Bodengitter fallen zu lassen –, und selbst mit dem kostenlosen Upgrade, das ihr angeboten worden war, hatte es sie 300 Dollar gekostet, das Handy zu ersetzen. Jennifer wollte lieber nicht darüber nachdenken, wie viel es sie dieses Mal kosten würde, sich ein neues Handy zu beschaffen.

Julien zupfte sie am Ärmel. Jennifer ging in die Hocke, legte die Hände auf seine Schultern und sah ihm in die Augen. »Ich muss es irgendwo verloren haben«, erklärte sie ihm. Julien stieß einen Schrei aus. »Es ist nur ein Handy«, sagte sie in dem Versuch, sich erwachsen zu verhalten, konnte aber nicht anders, als fortzufahren: »Und der Verlust des Handys ist für mich viel schlimmer als für dich.«

Argwöhnisch zog Julien die Augenbrauen hoch, als wolle er sagen: Ernsthaft? Nun zog auch Jennifer die Augenbrauen hoch. Ernsthaft. »Tut mir leid, Mom«, erwiderte Julien. »Darf ich auf dem Weg zur Schule Kaugummi kauen?«

»Nein«, antwortete sie. Jennifer hockte sich auf ihre Fersen. Der Akku ihres billigen kabellosen Festnetztelefons war leer (natürlich hatte sie den Hörer nach dem Gespräch mit Vinita nicht wieder auf die Ladestation zurückgestellt), weshalb sie nicht einmal ihr Handy anrufen konnte, bis sie bei der Arbeit war. Jennifer seufzte. Doch ein Teil von ihr fragte sich leise, ob denn ein Morgen ohne Handy wirklich so schlimm war? Das Handy verkörperte das Herzstück ihres Lebens, es hielt alles beisammen. Doch manchmal kamen ihr das Klingeln, die Benachrichtigungen und die niemals enden wollenden E-Mail-Eingänge wie eine Sträflingskugel vor.

Plötzlich deutete Julien auf den Laptop, der auf dem Küchentisch stand. »Hast du das schon versucht?«, fragte er.

»Was denn?«

»Na, dieses Programm, das wir letztens installiert haben. Finde dein Handy.«

Finde dein Handy! Wie hatte sie das bloß vergessen können? Jennifer sprang auf und versuchte dabei, sich keine allzu großen Hoffnungen zu machen. Sie lief zum Tisch hinüber, setzte sich und fuhr den Laptop hoch.

Sie gab die entsprechende Internetseite ein und loggte sich ein. Gespannt trat Julien neben sie. Ein großer grüner Button tauchte auf dem Bildschirm auf: FINDEDEINHANDY. Aller Wahrscheinlichkeit nach befand sich ihr Handy irgendwo in Queens, wo es zum Weiterverkauf auf der Canal Street vorbereitet wurde, wie sie vermutete, nachdem es von ihrem gewissenlosen Taxifahrer (Mistkerl!) versetzt worden war. Einen Versuch war es jedoch wert. Sie klickte den Button an und beobachtete, wie sich das Rad drehte. LOKALISIEREN …

Eine Karte baute sich auf, auf der ein blauer Punkt zu sehen war. Jennifer musste zweimal hinschauen. Der Punkt befand sich genau auf 270 West Eleventh Street. »Das ist unsere Adresse!«, rief Julien überrascht. »Das Handy ist hier!«

War das denn möglich? Sie hatte doch überall gesucht, und sie konnte wirklich den Kopf eines Legomännchens in einer Kiste Playmobil ausfindig machen. Vielleicht hatte sie das Handy unten in der Lobby fallengelassen?

In diesem Augenblick kam Jack ziemlich weinerlich hereingestolpert. »Mama«, rief er, kletterte auf ihren Schoß und rieb sich die Augen. »Muss ich heute in den Kindergarten?« Jack fragte sie das jeden Morgen. Im Gegensatz zu seinem älteren Bruder, der das erste Mal »echte Hausaufgaben« geradezu gefeiert hatte (obwohl seine Faszination mittlerweile deutlich nachgelassen hatte), kuschelte Jack lieber, wollte ausschlafen und dann im Schlafanzug in den Park.

»Ja, mein Süßer«, erwiderte Jennifer. Als sie einen Blick auf die Uhrzeit auf ihrem Laptop geworfen hatte, sah sie, dass es schon Viertel nach sieben war. Damit die Jungs beide pünktlich im Kindergarten sowie in der Schule waren und sie noch rechtzeitig zur Arbeit kam, mussten sie um Punkt sieben Uhr vierzig die Wohnung verlassen – eine Uhrzeit, die rasend schnell aus dem Bereich des Machbaren entschwand.

»Klick den Ton an«, wies Julien sie an, beugte sich vor, tippte auf das Touchpad und klickte den Button TONABSPIELEN. »Hörst du was?«, fragte er. Sie schüttelte den Kopf.

»Wollen wir ein Spiel spielen?«, fragte Jennifer Jack und stupste ihn auf ihrem Schoß an. »Wir müssen auf einen Ton hören, der aus Mommys Handy kommt, damit wir es finden!«

»Du haft schon wieder dein Handy verloren!«, schrie Jack.

»Hast«, korrigierte Jennifer ihn und betonte besonders das »s«. Seine Sprache zu korrigieren, über die sich seine Sprachtherapeutin, seine Kindergärtnerinnen und sie selbst große Sorgen machten, geschah fast schon automatisch. Wahrscheinlich hätte sie ihn sogar noch verbessert, wenn er gerufen hätte: »Paff auf!«, während ihr ein Stahlträger auf den Kopf fiel.

»Hasssst«, wiederholte Jack und drückte pflichtbewusst die Zungenspitze vorne an den Gaumen.

»Pssst!«, rief Julien ungeduldig. »Sei still!« Julien nahm das Wohnzimmer unter die Lupe und lief auf Zehenspitzen umher wie ein Indianer auf dem Kriegspfad. Jack folgte ihm auf dem Fuße. Jennifer lief den Flur entlang ins Zimmer der Jungs, doch sie hörte nichts außer dem Gezänk ihrer Kinder, die sich im Wohnzimmer darum stritten, wer als Erstes mit dem Handy spielen durfte, wenn es gefunden war. Die beiden machten einen solchen Lärm, dass sie nicht einmal einen klaren Gedanken fassen, geschweige denn ihr Handy hören konnte, wenn es um Hilfe jammerte.

»Es reicht jetzt!«, bellte Jennifer und kehrte ins Wohnzimmer zurück. »Jack, geh dich anziehen! Julien, pack deine Hausaufgaben zusammen!«

Die Jungs nahmen die Beine in die Hand. Endlich kehrte im Wohnzimmer Stille ein. Jennifer hielt die Luft an und lauschte. Dieses Mal hörte sie etwas! Zwar nur ganz entfernt, aber da war etwas, ein wiederkehrendes Klingeln, das ein wenig wie unter Wasser klang. Als sie dem Ton folgte, hockte sie plötzlich vor ihrer Wohnungstür. Das gedämpfte Klingeln kam von der anderen Seite der Tür.

Hektisch fummelte Jennifer an den Schlössern herum, riss die Tür schließlich auf und sah zu Boden. Zu ihrer großen Überraschung lag ein schwerer, cremefarbener Umschlag vor ihren Füßen. ANMRSJENNIFERSHARPE, 270 West 11th STREET, APP. 19A, New York, New York, 10014.Auf dem Umschlag klebte weder eine Briefmarke, noch war eine Absenderadresse vermerkt. Jennifer bückte sich und hob den Umschlag auf. Die Schrift war fast extravagant, wie bei einer Hochzeitseinladung, obwohl Jennifer bei genauerer Betrachtung entdeckte, dass dies keine Handschrift, sondern aufgedruckt war. Sie drehte den Umschlag um und öffnete ihn vorsichtig, damit das elegante Material nicht zerriss. Der Umschlag war mit einem Seidenfutter ausgekleidet, das wie Blattgold aussah. Ihr Handy, das immer noch ein Signalklingeln aussandte, steckte darin.

Jennifer konnte sich gerade noch bremsen, es abzuknutschen. Mit dem Daumen strich sie über die glatte Oberfläche des Handys, stellte das Klingeln ab und genoss den göttlichen Moment der Erleichterung. Sie wurde jedoch sofort von den Jungs unterbrochen, die das Klingeln gehört hatten und den Flur entlanggerast kamen, um sich auf das Handy zu stürzen. Jennifer wollte gerade mit ihnen schimpfen, doch bitteschön leise zu sein und sich die Schuhe anzuziehen (wenn auch mit deutlicheren Worten), als ihr etwas Seltsames auf dem Handydisplay auffiel: Auch darauf war ein Umschlag zu sehen, der ebenso cremefarben war wie der, in dem ihr Handy vor wenigen Minuten noch gesteckt hatte; adressiert mit der gleichen geschwungenen Schrift an sie.

Mittlerweile versuchten die Jungs, an Jennifers Beinen hochzuklettern. »Ruhe!«, befahl sie. Es war, wie gegen den Wind zu rufen. »Ruhe!«, brüllte sie schließlich. Überrascht warfen sich die Jungs einen Blick zu.

»Was ist, Mama?«, erkundigte sich Jack, der in seinem Bemühen, sich anzukleiden, noch nicht weitergekommen war, als sich gestreifte Socken und ein T-Shirt anzuziehen.

Jennifer antwortete nicht, sondern tippte mit dem Daumen einmal auf den Umschlag. Dieser öffnete sich daraufhin, und ein Briefpapierbogen glitt heraus. Jennifer war gerade aufgefallen, dass eine Nachricht auf der Seite stand, als mit einer Lautstärke, die Jennifer bei ihrem Handy nicht für möglich gehalten hätte, eine klare und sehr eindringliche Frauenstimme durch den Raum dröhnte.

»Sehr geehrte Mrs Sharpe«, hob diese an. Die Jungs machten große Augen. »Wie Sie zweifellos kombiniert haben werden, ergab es sich, dass Ihr Handy gestern Nacht in meine Hände geriet. Es tut mir sehr leid, dass ich es Ihnen nicht unverzüglich zurückgeben konnte, doch es war schon sehr spät.« Jennifer drehte und wendete ihr Handy, als könne ihr die Außenhülle einen Hinweis darauf geben, was es in der vergangenen Nacht erlebt hatte. Auch die beiden Jungs starrten es mit weit aufgerissenen Augen an. Die laute, klare Stimme klang in ihrem kleinen Wohnzimmer schon recht eindrucksvoll.

»Ich habe mir die Freiheit genommen, an Ihrem Handy eine kleine Veränderung vorzunehmen«, fuhr die Stimme fort. »Ich bin eine Art Erfinderin, und ich habe an einer App gearbeitet, die, wie mir inzwischen klar ist, für Menschen wie Sie entwickelt wurde. Nach einem Geistesblitz gestern Nacht habe ich diese App auf Ihrem Handy installiert.« Als sie dies hörte, hielt Jennifer das Handy weiter von sich weg. Auch die Jungs traten mehrere Schritte zurück.

»Es handelt sich um eine wunderbare App; ich bin sicher, Sie werden mir in diesem Punkt zustimmen. Ich möchte jedoch noch eine Warnung hinzufügen. Sollten Sie sich entscheiden, die App zu nutzen, so setzen Sie sich bitte zuvor mit mir in Verbindung. Wir sprechen hier über eine gewaltige Technologie, die eine vorherige Einweisung benötigt, um sicher angewendet werden zu können. Ich möchte mich noch einmal für alle Unannehmlichkeiten entschuldigen, die mein Vorgehen ausgelöst haben mag. Dennoch hoffe ich, bald von Ihnen zu hören. So viel für den Moment. Na dann tschüss Dr. Diane Sexton.« Die Nachricht hörte auf, automatisch weiter zu scrollen, schob sich in den Umschlag zurück und verschwand.

»Oha«, urteilte Julien.

»Aber sowas von oha«, stimmte Jennifer ihm zu. Dann warf sie einen Blick auf die Uhr: 7:29 Uhr. Sieben Uhr neunundzwanzig!

Sie riss sich von dem Zauber los, der sie zwischenzeitlich eingefangen hatte, und kniete sich hin, um ihre zwei immer noch wie gelähmten Söhne anzutreiben. »Sieben Uhr neunundzwanzig!«, rief sie. »Julien, zieh dir die Schuhe an! Jack, Hose an, sofort!«

Die Jungs stoben bereitwillig auseinander, obwohl Jennifer genau wusste, dass sie gleich wieder in Jacks Zimmer musste, um wirklich sicherzustellen, dass er auch seine Hose anzog. Schnell lief sie in die Küche und packte Jack ein paar Scheiben Truthahnfleisch, Apfelmus und einen Trinkjoghurt in seine Butterbrotdose (Julien aß in der Schule zu Mittag), und schnappte sich dann für die Zugfahrt zwei Müsliriegel für die Jungs. Während sie ihre eigenen Sachen einsammelte, ging sie in Gedanken ihre Checkliste durch und packte alles ein, was ihr einfiel: Laptop, Notizbuch, Lippenstift, Portemonnaie, Schlüssel, Handy. Handy.

Jennifer lächelte. Wie gut, dass ich es wiederhabe, dachte sie, als sie sich das flache Gerät in die Manteltasche schob. Das Gefühl, es in der Hand zu haben, war so befriedigend wie die Ausschüttung einer Riesenportion Glückshormone. Die Umstände seiner Wiederkehr hätten zwar nicht seltsamer sein können, aber sie hatte es zurück, und das war alles, was im Augenblick zählte.

2 Arbeit

Die Jungs kamen noch rechtzeitig im Vorschulkindergarten und in der Schule an, jedoch leider nicht so früh, dass Jennifer pünktlich bei der Arbeit erscheinen konnte, was unter der neuen Verwaltung mit einer öffentlichen Erniedrigung während einer Mitarbeiterbesprechung bestraft wurde. Darum rannte sie durch den feinen, herbstlichen Nieselregen, wobei ihre Laptoptasche ihr andauernd gegen die linke Hüfte schlug und das Haarband, das ihr dickes, schulterlanges braunes Haar zurückhalten sollte, immer weiter bis zur Spitze ihres Pferdeschwanzes herunterrutschte, während sie mit ihren schweren, dicken Absätzen über den Beton stampfte.

Dies geschah öfter, als ihr lieb war: Den Terminen, der Arbeit oder den Einrichtungen der Jungs nicht nur im metaphorischen Sinne hinterherzurennen, sondern im wahrsten Sinne des Wortes tatsächlich zu rennen, ohne auch nur eine Minute verschnaufen zu können. In ihrem früheren Leben, das noch gar nicht so lange her war, war Jennifer nur ein einziges Mal wirklich gerannt, nämlich als sie für einen Marathon trainiert hatte. (War das tatsächlich sie selbst gewesen, in einem Leben vor Baby und vor Scheidung, in dem sie mit einem Sport-BH und dem Hauch eines Sixpacks durch den Central Park gelaufen war?). Als Jennifer an den Büros der New York City Housing Authority, 250 Broadway, ankam, blieb sie kurz stehen, um wenigstens zu Atem zu kommen und sich mit einem Taschentuch die Schweißtropfen, die über ihre Stirn perlten, abzutupfen. Als sie sich in das hektische Treiben in der weitläufigen Eingangshalle des Gebäudes stürzte und ihren Platz in der Schar der akkurat gekleideten Erwachsenen einnahm, die Kaffeebecher in den Händen hielten und ihre ID-Karten einer nach dem anderen am Drehkreuz neben der langen Reihe der Fahrstühle durchzogen, und dabei weder ein Kleinkind noch eine Trinklernflasche in Sicht war, wich die verzweifelte Hetze dem Gefühl einer entschiedenen Gelassenheit. Morgens erwies sich die Arbeit als ein Ort der Zuflucht. Abends dagegen sehnte sie sich nach ihrem Zuhause.

Während der Fahrstuhlfahrt hinauf in den zwanzigsten Stock lenkte Jennifer die gesamte Aufmerksamkeit auf ihre Arbeit, die sie trotz des neuen Chefs und all der Kopfschmerzen, die ihr die Arbeit manchmal bereitete, liebte. Zwar hatte sie erschreckend viel zu tun, doch der Tag hatte gerade erst angefangen, wie sie sich immer wieder in Erinnerung rief. Alles war möglich.

Dann öffneten sich die Fahrstuhltüren, und Jennifers Blick fiel auf ihren eifrigen, leicht nervösen und überaus jungen Assistenten, Tim, der dort stand und offensichtlich schon auf sie wartete. Das war noch nie vorgekommen. Immerhin war sie eine städtische Angestellte und nicht etwa Anna Wintour, Chefredakteurin der US-Vogue. Doch dort stand Tim, mit seinem Handy in der Hand, und sah sie vorwurfsvoll an.

»Hast du dein Handy eingeschaltet?«, fragte er.

»Natürlich habe ich mein …«, Jennifer kramte ihr Handy hervor. »Oh, Fahrvergnügen!«, rief sie, verzog das Gesicht und knurrte entnervt. Tim verzog nun auch das Gesicht, obwohl es mehr einem Augenverdrehen gleichkam; er hatte sich nie mit der Reihe von Ersatzschimpfworten anfreunden können, die sie sich wegen der Kinder angewöhnt hatte. In der letzten halben Stunde waren mindestens sechs Nachrichten von Tim eingegangen, die sich wie kleine grüne Balken auf dem Display türmten. Jennifer war auf dem Weg so in Eile gewesen, dass sie die Anrufe überhört haben musste.

»Bill wartet schon auf dich«, erklärte Tim, als sie gemeinsam zu ihrem Büro liefen. »Er meinte, er hätte dir gestern Abend eine Mail geschickt? Jemand möchte dich persönlich sprechen; die Frau ist schon seit halb neun da.«

»Wer ist es denn?«, wollte Jennifer wissen.

Tim rief auf seinem Handy eine E-Mail auf. »Alicia Richardson?«

»Alicia Richardson? Was hat die denn hier zu suchen?« Jennifer hatte Alicia Richardson schon seit Jahren nicht mehr gesehen. Sie war eine ehemalige Schulrektorin, die bei einer der schlechtesten Schulen in Brooklyn eine Wende geschafft hatte. Alicia hatte als Dezernentin des städtischen Fachbereichs Erziehungsprogramme geplant und eingeführt, als Jennifer dazugestoßen war. Sie hatten nur kurz zusammengearbeitet, doch das war schon vollkommen ausreichend gewesen. Alicia hatte sogleich klargestellt, wie wenig sie von Jennifers Qualifikationen und Referenzen hielt. »Dieser Masterabschluss«, hatte Alicia Jennifer einmal angegiftet, »hat mit unserer Arbeit hier so viel zu tun wie ein Astronautenanzug.« Kurz danach hatte Alicia die Behörde verlassen, um Leiterin der Schulaufsichtsbehörde in Brooklyn zu werden.

Nachdem sie Jennifers bescheidenes Büro betreten hatten, in dem gerade einmal Platz genug für ihren Schreibtisch und einen einzelnen Stuhl für Besucher war, der zwischen der Wand und einem Regal eingequetscht stand, schaffte es Tim, sich schräg gegenüber von Jennifer hinzusetzen. Seine Knie schrammten dabei an der Ecke ihres Schreibtisches vorbei. Jennifer fuhr den Computer hoch und fing an, ihr Postfach nach Bills E-Mail abzusuchen.

»Vergiss nicht einzustempeln«, leierte Tim sarkastisch.

»Oh Mann!«, rief Jennifer, klickte den E-Mail-Eingang weg und öffnete die Stempeluhr, die Bill gleich in seiner ersten Woche als Fachbereichsleiter eingeführt hatte. Ein Fenster öffnete sich. Sie sind zu spät, stand dort. »Ich weiß«, murmelte Jennifer. Dann öffnete sich eine weitere Mitteilung. Eine Chatnachricht: Bitte kommen Sie in mein Büro. Treffen mit Alicia Richardson, wie in meiner Mail von gestern Abend angekündigt.

Jennifer konnte ihr Stöhnen kaum unterdrücken, schnappte sich Notizblock und Stift und stand auf. Auch Tim erhob sich. »Erinnerst du dich noch daran, wie es früher einmal war?«, fragte er sie. Er ließ die breiten, knochigen Schultern hängen und folgte ihr auf den Flur. »Als es nur dich und mich gab und ich für niemanden Kleidung aus der Reinigung abholen musste?«

Trotz ihrer Eile hielt Jennifer inne und legte eine Hand auf Tims Arm. Sie wusste, dass er in vielerlei Hinsicht sehr ungerecht behandelt wurde, seitdem Bill das Ruder übernommen hatte. Denn war er zuvor noch allein Jennifers Assistent gewesen – der viele Routinearbeiten zu erledigen gehabt hatte, natürlich, aber auch sehr viele sinnvolle, wichtige Aufgaben verrichtet hatte –, so war er nun sowohl Jennifer als auch Bill zugeteilt. In Wahrheit war er nun hauptsächlich Assistent von Bill, dessen »privatwirtschaftliche Arbeitsethik« voll und ganz mit der Erwartung einherging, dass seine Untergebenen ihm auf die Art und Weise zu Diensten standen, wie er es gewohnt war.

»Irgendwann wird es wieder besser werden«, versicherte Jennifer Tim, drückte seinen Arm und hatte wieder einmal, wie so oft, das Gefühl, als sei auch er einer ihrer Jungs. Als sie dann jedoch im Laufschritt durch den Flur hechtete, weil sie zu einem Meeting zu spät kam, von dem sie bis vor zehn Minuten nicht einmal etwas gewusst hatte, war Jennifer klar, dass Tim ihr nicht glaubte.

Warum sollte er auch, wenn nicht einmal sie es tat?

Bill Truitt hatte seine Position noch nicht lange inne, doch sein Büro erinnerte mit dem großen Teppich in kühlem Grau, dem großen gläsernen Schreibtisch und den duftenden Lilien in einer Straußgröße, wie man sie nur in Hotels gefunden hätte, eher an die Büros der mächtigen Männer, die Jennifer während ihrer Zeit als Unternehmensberaterin kennengelernt hatte, als an die leicht schmuddeligen Büros der Stadtverwaltung, an die sie sich hatte gewöhnen müssen. (Zudem konnte sie sich nicht vorstellen, wie er so schnell den unangenehmen Geruch alter Verwaltungsbürogebäude hatte vertreiben können. Vielleicht lag es an den Lilien.) An den Wänden hingen Bilder, die Jennifer und Tim insgeheim als »Bill’s Wall of Fame« bezeichneten: Fotos von Bill mit dem Who’s who der Reichen und Schönen New Yorks. Auf auffallend vielen Bildern war er mit Oberbürgermeister Fitch zu sehen, wobei die beiden ein seltsames Pärchen abgaben – Bill, der afroamerikanische, ehemalige Footballspieler und New Yorker Immobilien-Erbe, und Oberbürgermeister Fitch, der hellhäutige, schmallippige Zahlenfreak und Managertyp, der niemals braun wurde und nur deshalb Golf spielte, weil er es musste. Da sie beide zu den 0,01 Prozent der Bevölkerung gehörten, die mehrere Häuser besaßen und Ehefrauen mit Personal sowie Kinder auf Eliteuniversitäten hatten, schien dies offenbar einige der Gräben geschlossen zu haben, die zwischen ihnen zweifellos immer noch bestanden.

Nachdem sie leise angeklopft hatte, öffnete Jennifer die Tür. Alicia Richardson erhob sich, um sie zu begrüßen. Jennifer hatte fast schon vergessen, wie elegant und eindrucksvoll Alicia war. Ihre hellbraunen Locken waren kurzgeschnitten und saßen perfekt wie bei einem Superstar anlässlich der Oscar-Verleihung, und sie trug einen ihrer charakteristischen cremefarbenen Hosenanzüge, dessen Elfenbeinschimmer sich von ihrem dunklen Teint abhob. Alicia hatte Jennifer stets das Gefühl gegeben, als würde sie mit einer Karottenjeans bei einer Cocktailparty auftauchen. Ihre Blicke trafen sich, und gegen ihren Willen merkte Jennifer, wie sie sich versteifte. Alicia jedenfalls zuckte mit keiner Wimper. Vielmehr wirkte sie selbstgefällig und arrogant wie eh und je. Was ein beunruhigendes Zeichen war.

»Jennifer«, rief Alicia und streckte lächelnd die Hand aus. »Schön, Sie wiederzusehen.«

Die drei tauschten die nötigen Höflichkeitsfloskeln aus und nahmen dann Platz. Draußen vor dem Fenster dominierte das 110-stöckige Hochhaus, das Bills Unternehmen, die Bill Truitt Enterprises, fertiggestellt hatte, bevor er zum Leiter der NYCHA ernannt worden war, den Horizont. Stolz hatte Bill es Jennifer bei ihrer ersten Begegnung in seinem Büro gezeigt, doch trotz der Machopose (was gab es Besseres als ein 110-stöckiges Phallussymbol direkt vor dem Fenster, um bei den neuen Mitarbeitern gleich mal klarzustellen, wie der Hase lief?) war es ein wirklich gutes Gespräch gewesen. Die ersten Wochen nach seiner Ernennung hatte Jennifer Bill tatsächlich für das Beste gehalten, was ihr je passiert war. Mittlerweile versuchte sie fast jeden Tag, sich an diese Tatsache zu erinnern: Dass nämlich Bill Truitt – zusammen mit einem Anteil der 300 Millionen Dollar Fördergelder im Rahmen von Konjunkturprogrammen, die der neue Oberbürgermeister vom Republikaner-kontrollierten Kongress für die NYCHA mit Hilfe seiner Wirtschaftskontakte an Land gezogen hatte – dafür verantwortlich war, dass das Projekt, das ihr wirklich am Herzen lag, für das sie so viel investiert hatte, dass es sich für Jennifer fast wie ein drittes Baby angefühlt hatte, wiederbelebt wurde: Eine neue Art von Gemeindezentrum, das sie »Dorfgemeinschaft« getauft hatte.

Das Konzept für die Dorfgemeinschaft war simpel: Als sie damals bei der NYCHA angefangen hatte, war Jennifer wie so vielen anderen vor ihr aufgefallen, dass für Mieter von Sozialwohnungen eines der größten Probleme bei dem Versuch, vorwärtszukommen oder auch nur ihr Leben in den Griff zu bekommen, die viele vergeudete Zeit war. Es gab keine zentrale Stelle, wo man ein Bewerbungstraining bekommen oder die Miete zahlen konnte; wo man die Sozialhilfeschecks und Kindergeld abholen konnte; wo man mit den nötigen nicht-kommerziellen Hilfsmitteln, die auf die individuellen Bedürfnisse abgestimmt waren, versorgt wurde und sich auch mit dem Sozialarbeiter treffen konnte. Alles war weit verstreut, und jeder einzelne Gang dauerte eine halbe Ewigkeit. Aus dieser Problematik heraus war die Idee zur Dorfgemeinschaft entstanden: Ein Gemeindezentrum, in dem sich Außenstellen aller Behörden, Dienste und Ämter befanden, die die Bewohner benötigten, staatliche wie nicht-staatliche. Nach jahrelanger Arbeit, bei der sie sowohl das Zentrum konzipiert als auch die nötige Unterstützung von Privatstiftungen und staatlichen Behörden organisiert hatte, war es Jennifer schließlich gelungen, eine Ausschreibung für Bauunternehmer anzufertigen, damit diese Angebote für den Bau des Vorzeigezentrums einreichen konnten. Just, als die Ausschreibung veröffentlicht werden sollte, war die Wirtschaft zusammengebrochen. Jennifer erinnerte sich noch gut daran, wie sie in ihrem Büro gestanden und die Nachricht erhalten hatte, dass in der gesamten Stadt alle geplanten Projekte auf Eis gelegt werden sollten, und wie ihr dies das Herz gebrochen hatte. Die folgende finanzielle Dürreperiode war so schwer gewesen, dass Jennifer aufhörte daran zu glauben, dass ihr Traum von ihrer Dorfgemeinschaft nur zeitlich aufgeschoben war. Stattdessen war ein Traum daraus geworden, den sie begraben konnte.

Jedenfalls bis Bill Truitt an Bord gekommen war, der den Ruf eines Machers besaß, der nicht kleckerte, sondern klotzte. Jennifer hatte beschlossen, die Gelegenheit beim Schopf zu packen und ihm die alte Ausschreibung zu zeigen. Zu ihrer großen Begeisterung fand er das Projekt toll. Die Dorfgemeinschaft mit ihren geplanten Partnerschaften zwischen staatlichen Behörden und Privatstiftungen sowie der künstlerischen Darstellung dessen, wie das Zentrum aussehen könnte, verband seine beiden Vorlieben sowohl für das Bauen als auch für das soziale Unternehmertum. Dies könnte, wie er es nannte, sein Vermächtnis werden. Bills guter Draht zum Oberbürgermeister erleichterte es, einen Anteil der Fördergelder im Rahmen der Konjunkturprogramme zu sichern, obwohl Bill gleich klargestellt hatte, dass dies auch das Einzige sei, was so leicht zu schaffen war. »Die Fördergelder sollten niemanden dazu animieren zu glauben, dass jetzt alles locker-leicht von der Bühne gehen wird«, hatte Bill Tim und sie streng ermahnt, als seien sie begriffsstutzige Kleinkinder. »Die Stadt ist immer noch pleite, und wir alle müssen mehr leisten und dabei mit weniger auskommen. Das bedeutet Überstunden, mehr Leistungsfähigkeit und Verantwortung für Ihre Zeit in dieser Behörde. Da Sie bereits in der Privatwirtschaft tätig waren, Jennifer, wissen Sie, was ich damit meine.«

Das wusste sie. Doch es war eine Sache, eine achtzig-Stunden-Woche zu leisten für einen Job, der besser bezahlt war als die meisten anderen; es war jedoch etwas ganz anderes, dies für einen Job zu tun, bei dem deutlich weniger gezahlt wurde. Die Aussicht, dass ihr Zentrum nach so vielen Jahren des Wartens endlich gebaut werden könnte, hatte sie weitermachen lassen, doch sie hatte immer noch nicht die Unmengen an Arbeitsstunden abgeleistet, die Bill eigentlich erwartete, was die verräterische Stechuhr sie niemals vergessen ließ.

Als Jennifer sich setzte, fiel ihr auf, dass Alicia eine Kopie des Originalplans der »Dorfgemeinschaft« in den Händen hielt. Jennifers Magen verkrampfte sich. Sie wollte gerade fragen, wie sie zu dieser Ehre kam, als sich Bill umdrehte, ein Bild von der Wand nahm, Alicia zuzwinkerte, das Foto zu Jennifer hinüberschob und ihr andeutete, es sich anzusehen. Darauf war eine sehr junge Alicia bei der Schulabschlussfeier zu sehen; sie stand neben einem sehr alten Bill mit graumeliertem Haar.

»Mein Vater, Bill Senior«, erklärte Bill. »Mit einer der ersten Absolventinnen des Good Foundation Stipendiums für sozial benachteiligte Familien, Alicia L. Richardson.« Jennifer starrte mit so viel fröhlichem Interesse auf das Foto, wie sie aufbringen konnte. »Sie beide kennen sich bereits, nicht wahr?«, erkundigte sich Bill, als er das Bild wieder an die Wand hängte.

»Ja«, nickte Jennifer. »Alicia arbeitete hier, als ich vor sieben Jahren hier anfing. Eine schöne Geschichte mit Ihrem Vater, Bill, und auch die Sache mit dem Stipendium. Wow.«

Bill lächelte. Alicia lächelte. Jennifer lächelte. Sie wünschte sich inständig, sie hätte die Zeit gehabt, diese E-Mail zu lesen. »Also, Jennifer«, fuhr Bill fort, lehnte sich in seinem schwarzen thronähnlichen Eames-Bürostuhl zurück, gegen den er den nicht ganz so bequemen, von der Stadt bereitgestellten Sessel ausgetauscht hatte. »Sie wissen, wie sehr ich Sie schätze. Die Dorfgemeinschaft ist das spannendste Projekt, das die NYCHA derzeit verfolgt, und wir sind Ihnen zu Dank verpflichtet. Doch offen gestanden geht das Projekt nicht schnell genug voran.«

»Wir liegen voll im Zeitplan«, protestierte Jennifer, »den Sie und ich zusammen erstellt haben, als …«

Bill winkte ab und brachte sie so zum Schweigen. »Ich möchte das erste Zentrum in genau einem Jahr eröffnen. Zwei Jahre sind zu lang. Wir sollten bald mit dem Bau beginnen und nicht schon wieder so eine verdammte Besprechung mit den künftigen Bewohnern ansetzen.« Jennifer wollte gerade widersprechen, als Bill sich aufrichtete, sich mit beiden Ellbogen auf dem Schreibtisch abstützte und die Hände faltete. »Ich habe schon ganze Einkaufszentren in weniger Zeit gebaut, als wir diesem Zentrum beigemessen haben. Ich behaupte ja gar nicht, dass das Ihr Fehler war. Aber ich denke, Sie brauchen Unterstützung bei diesem Projekt. Und das ist der Grund, warum Alicia hier ist. Alicia war mehrere Jahre lang im 13. Distrikt als Superintendentin tätig, was exakt der Bezirk ist, in dem das Zentrum gebaut werden soll. Sie ist in den Marcy Houses aufgewachsen, dem ersten öffentlichen Sozialwohnungsprojekt. Sie ist dort aufgewachsen und hat es dennoch geschafft! Sie kennt also unsere Klientel dort und ist zudem eine Führungspersönlichkeit.«

Jennifer gab sich Mühe, nicht blass zu werden. Wovon redete Bill da? Wollte er etwa Alicia die Verantwortung für die Dorfgemeinschaft übertragen? So, wie Alicia gerade nickte, lächelte und bescheiden gluckste, als Bill ein Loblied auf sie sang, hatte es ganz den Anschein, als wollte er genau das tun.

»Bill will damit sagen, Jennifer«, ergriff Alicia das Wort, drehte sich zu ihr um und sprach mit dem freundlichen, aber bestimmten Tonfall der High-School-Direktorin, die sie einmal gewesen war, »dass seit dem Fortgang von Binnie Freeman in dieser Abteilung niemand mehr arbeitet, der diesen Bezirk wie seine Westentasche kennt – was ich jedoch hier einbringen kann als jemand, der dieses Bauvorhaben nach außen hin verkörpert.« Es stimmte, dass Jennifer eine Außenstehende war, da sie in einem weißen Vorstadtbezirk aufgewachsen war und zuvor nur in großen etablierten Unternehmen gearbeitet hatte. Binnie, ihr früherer Chef und Mentor, war derjenige gewesen, der in diesem Bezirk aufgewachsen war. Doch Jennifer arbeitete nun seit sieben Jahren in dieser Abteilung, und die Dorfgemeinschaft gehörte allein ihr, vom Scheitel bis zur Sohle. Die Vorstellung, dazu degradiert zu werden, nur noch über den Zahlen zu hocken und Tabellenkalkulationen anzufertigen, während keine andere als Alicia Richardson den ganzen Ruhm für ihre, Jennifers, Arbeit einheimste, war geradezu niederschmetternd. »Als Allererstes – und Bill stimmt mir in dieser Sache voll und ganz zu –, müssen wir den Namen ändern. Ich stelle mir den Namen ›One Stop‹ vor.«

»Aber nimmt das dem Ganzen denn nicht die Poesie?«, hakte Jennifer nach.

»Es hilft den künftigen Bewohnern aber zu verstehen, um was es sich bei diesem Zentrum tatsächlich handelt«, entgegnete Alicia. Jennifer brachte mühsam ein schmallippiges Lächeln zustande, bevor sie sich wieder an Bill wandte. In diesem Moment jedoch war sie überrascht zu sehen, dass er Alicia mit genau jenem nüchtern-sachlichen, knallharten, aber freundlichen Lächeln bedachte, wie er es eben vor wenigen Sekunden noch bei Jennifer getan hatte.

»Als wir vor ein paar Wochen zum ersten Mal über dieses Projekt gesprochen haben, Alicia, haben wir darüber diskutiert, Sie als dessen Leiterin zu installieren.« Alicia nickte. »Doch seitdem«, fuhr er fort, »habe ich mir das noch einmal durch den Kopf gehen lassen.« Jennifer kam nun in den Genuss, dabei zusehen zu können, wie alle Selbstgefälligkeit aus Alicias Gesicht wich. »Nach reiflicher Überlegung bin ich zu dem Schluss gekommen, dass es das Beste ist, wenn Sie und Jennifer als Doppelspitze von One Stop fungieren würden. Sie werden sich um die Bewohner und die Partnerschaften in der Gemeinde kümmern, während Jennifer den Bereich der Planung übernimmt und ressortübergreifend arbeiten wird.«

Es folgte eine Pause, in die man ein ganzes Auto hätte hineinparken können. Dann ergriffen Alicia und Jennifer beide gleichzeitig das Wort.

»Einen Augenblick!«, rief Bill. »Sie kennen ja noch gar nicht das ganze Angebot!« Er öffnete eine Schreibtischschublade und holte zwei Arbeitsverträge mit blauem Einband hervor. »Ich dachte mir, dass Ihnen die zweigeteilte Leitung nicht gefallen würde, Alicia. Und um ehrlich zu sein, Jennifer, macht mir der Grad Ihres Engagements ein wenig Sorge. Deswegen habe ich beschlossen, ein paar Neuerungen vorzunehmen. Um den Anreiz für Sie beide noch weiter zu steigern.« Bill reichte ihnen beiden einen Vertrag.

»Weil dies ein partnerschaftliches Projekt auf privat-öffentlicher Ebene ist«, fuhr er fort, »ist es mir möglich, von der privatwirtschaftlichen Seite her noch zusätzliche Geldmittel für Personalkosten zu vergeben. Wenn Sie während der nächsten zwölf Monate die Meilensteine erreichen, die hierin festgelegt sind«, erklärte er, »erhalten Sie eine Barvergütung über 5.000 Dollar pro Quartal, die das BTE bereitstellt.« Bill lehnte sich zurück und genoss es sichtlich, sich mit einem Hechtsprung vom Grinch in Santa Claus verwandelt zu haben.

Jennifer wollte ihren Ohren nicht trauen. Ein Bonus von 20 000 Dollar in einem einzigen Jahr? Davon könnte sie einiges für das College für die Jungs beiseitelegen. Sie könnte endlich ihre Kreditkartenabrechnungen bezahlen. Sie könnte sogar, ging ihr kurz durch den Kopf, mit den Jungs tatsächlich in Urlaub fahren (oder vielleicht einfach nur ihre Kreditkartenabrechnungen bezahlen). Mit 20.000 Dollar mehr in der Tasche hätte sie zum ersten Mal, seit Norman und sie sich getrennt hatten, finanziell gesehen ein wenig mehr Luft.

»Das hier ist allerdings kein Wohlfahrtsverein«, fuhr Bill fort. »Wenn Sie die vierteljährlichen Meilensteine verfehlen, werden Sie entlassen. So einfach ist das.«

Mit gerunzelter Stirn überflog Alicia den Vertrag. Auch Jennifer warf nun einen Blick darauf. 20.000 Dollar waren viel Geld, doch gleich auf den ersten Blick sah Jennifer, dass sie, sollte sie diese Bedingungen akzeptieren, für jeden Cent teuer bezahlen würde.

»Das ist ziemlich viel auf einmal«, stellte Jennifer fest und sah zu Bill auf. »Ich bin sicher, dass auch Alicia ein wenig Zeit braucht, um das alles zu überdenken.«

Alicia nickte und erhob sich.

»Natürlich«, nickte Bill und stand ebenfalls auf. »Aber ich denke, Sie werden das Angebot sehr attraktiv finden. Das ist ein Angebot, das man nicht ablehnen kann, wie man so schön sagt.« Wer sagt das?, hätte Jennifer am liebsten entgegnet. Gangsterbosse? Bill umrundete seinen Schreibtisch, gesellte sich zu ihnen und nahm die Ausschreibungskopie der Dorfgemeinschaft zur Hand – oder des One Stop, wie es nun offenbar hieß –, die er auf seinem Schreibtisch liegen hatte.

»Wissen Sie, Jennifer«, ergriff Bill wieder das Wort, »wir haben nie darüber gesprochen, warum ich diesen Job hier angenommen habe. Warum ich mir eine Auszeit nehme von Bauvorhaben wie diesem dort« – wieder deutete er auf den verdammten Wolkenkratzer –, »um an Projekten wie diesem hier zu arbeiten.« Bill tippte auf das Deckblatt des Antrags. »Alicia weiß es.« Er nickte ihr zu. Dann schlug er den Antrag auf und blätterte zu einer mit Eselsohren versehenen Seite vor. Dort befand sich ein Foto von Coco, einer jungen alleinerziehenden Mutter aus den Whitman Houses, auf einer Treppenstufe, zusammen mit ihren drei Kindern. Jennifer mochte Coco. Bills Gesichtsausdruck nach zu urteilen ging es ihm ähnlich.

»Ich mache das für sie«, erklärte Bill. »Kein Mann ist auf dem Bild zu sehen. Nur eine alleinerziehende afroamerikanische Mom, die in Papierkram und staatlicher Bürokratie untergeht, sobald sie versucht, ihr Leben zu verändern oder nur das zu bekommen, was ihr zusteht – verhaftet in einem System, das keine Chance ist, sondern eine Falle.« Als Jennifer zu Bill aufsah, trafen sich ihre Blicke. Jennifer erkannte darin echte Gefühle, doch es blitzte auch kurz der Politiker auf, zu dem Bill aufstreben wollte, wie Jennifer vermutete. »Das hier könnte meine Großmutter sein, wie sie 1950 vor einer Sozialwohnung in Chicago saß. Und das hier«, er deutete auf einen der kleinen Jungs, »könnte mein Dad sein.«

Bei diesen Worten schaffte es Alicia, Bill mit einem Blick anzusehen, in dem wieder ein Teil ihrer vorherigen Wärme lag. »Ihr Vater war ein großartiger Mann«, stellte sie fest. Jennifer murmelte zustimmend, obwohl sie über Bill Truitt Sr. nur wusste, dass er das Immobilienunternehmen gegründet hatte, welches Bill Jr. geerbt hatte, und dass Bill, der damit aufgewachsen war, jeden Sommer in den Hamptons zu verbringen, in Wahrheit etwa genauso wenig über das Leben in einer sozial prekären Gegend wusste wie Jennifer. Bill jedenfalls, der augenscheinlich sehr zufrieden war mit seinem kleinen Auftritt, legte die Ausschreibung wieder auf seinen Schreibtisch, dankte ihnen beiden feierlich und begleitete sie zur Tür.

Sein Angebot war eindeutig, fand Jennifer. So viel stand fest. Wenn sie die Bedingungen erfüllte, würde sie zusätzliche 20.000 Dollar auf ihr Konto packen können. Gelang es ihr nicht, würde man sie feuern. Hohes Risiko, hohe Belohnung: ein Grundsatz, der ihr aus der Geschäftswelt durchaus bekannt war. Als sie jedoch Bill die Hand schüttelte, fiel ihr Blick auf die fette, diamantbesetzte Uhr, die schwer an seinem Handgelenk hing – eine Uhr, die mehr kostete, als sie in einem Jahr verdienen würde, selbst wenn sie sich zu Tode arbeitete. Während einige von uns ihre Rente aufs Spiel setzen, riskieren andere von uns nicht einmal ihre Rolex, dachte sie unwillkürlich.

3 Einen Wunsch frei

Nachdem sie wieder in ihr Büro zurückgekehrt war, schloss Jennifer die Tür, setzte sich hin und fühlte sich schon erschöpft. Ihr blieben nun noch zwei Stunden, um ein Meeting vorzubereiten, für das sie eigentlich die doppelte Zeit hätte aufbringen müssen. Sie würde den ganzen Tag brauchen, um alle E-Mails zu beantworten, die allein seit der vergangenen Nacht eingegangen waren. Sie legte Bills Vertrag auf den Schreibtisch und seufzte. Melissa, ihre Babysitterin und seit vielen Jahren schon ihre große Stütze, hatte kürzlich etwas gegen ihre Unentschlossenheit getan, wie es weitergehen sollte, und sich in einer Abendschule angemeldet. Daraufhin hatte sie Jennifer gebeten, ihre Stunden zu reduzieren – eine Bitte, die zu erfüllen sich Jennifer ohnehin schon nicht hatte vorstellen können. Wie sollte sie noch mehr arbeiten, als sie es ohnehin schon tat? Sie konnte sich nicht darauf verlassen, dass Norman mehr übernahm als seinen einen Tag pro Woche. Und sie hatte keine Familie, auf die sie zählen konnte – nicht mehr.

Vor etwas mehr als einem Jahr hatte Jennifer ihre Mutter verloren, die einem Krebsleiden erlegen war. Das war ein Schlag gewesen, den sie immer noch nicht verkraftet hatte; die schmerzende Trauer und Angst ließen sie nachts aufwachen. Sie hatte das niemals für möglich gehalten. Als Norman und sie sich getrennt hatten, war ihre Mutter jedes Wochenende vom Rockland County aus, wo Jennifer aufgewachsen war, in die Stadt gereist, um Jennifer mit den Jungs zu helfen. Für ihre Mutter, die ihr Leben lang mit Depressionen zu kämpfen gehabt hatte und deren Ehe mit Jennifers Vater nie mehr als gerade noch erträglich gewesen war, waren die Jungs die richtige Medizin gewesen. Jennifer hatte die Hilfe und Unterstützung ihrer Mutter wie den Unterschied zwischen Untergehen und Schwimmen empfunden. Insbesondere während der ersten zwei Jahre nach der Scheidung, als Norman wie gewohnt von jetzt auf gleich verschwunden war, um zweitklassigen Schauspielauftritten nachzugehen oder bei Meditationen für Singles mitzumachen, die ihm beim »Heilen« helfen sollten. Ihre Mutter bei sich zu haben bedeutete für Jennifer, dass die Jungs, wenn sie wieder einmal zu einer Arbeitskonferenz musste oder auch nur ein paar Tage Wellnessurlaub mit Vinita machte, nicht einfach nur versorgt waren, sondern genauso glücklich waren wie dann, wenn sie selbst bei ihnen war. Ihre Mutter bei sich zu haben hatte bedeutet, dass es da jemanden auf der Welt gab, den sie nicht bezahlen musste, um auf die Kinder aufzupassen. Und es bedeutete, dass Jennifer selbst nicht allein war. Nach dem Tod ihrer Mutter war es wirklich schwer gewesen, sich nicht allein zu fühlen, und Normans Wiedererscheinen vor einem Jahr als Samstagabend-Dad hatte auch nicht gerade dazu beigetragen, sich weniger allein zu fühlen. Zu allem Unglück war Jennifers Vater nur wenige Monate nach dem Tod ihrer Mutter mit der Hospizschwester, die sich um ihre Mutter gekümmert hatte, als Jennifer die Pflege nicht mehr geschafft hatte, nach Arizona gezogen. Jennifers Bindung zu ihrem Vater war nie wirklich eng gewesen, doch sie hatte gehofft, dass nach dem Tod der Mutter ihr Vater nicht nur in ihrer, sondern auch der Nähe ihrer Söhne bleiben würde. Stattdessen war er in den Westen gezogen und hatte sie mit dem Gefühl zurückgelassen, dass sie nicht nur einen Elternteil verloren hatte, sondern beide.

Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind großzuziehen, dachte Jennifer. Ihr Dorf würde problemlos in eine Telefonzelle passen. Vor ihrem geistigen Auge tauchte Juliens Miene auf, als sie ihm am Morgen erklärt hatte, dass sie nicht zu seinem Gitarrenvorspiel kommen könnte. Sie hatte es gehasst, ihm wieder einmal sagen zu müssen, dass sie es nicht schaffen würde. Sie hasste es zu sagen, dass Mommy nicht kommen würde, dass Mommy arbeiten müsse. Dass sie gerne kommen würde, aber einfach nicht konnte.

Jennifer schüttelte den Kopf und kniff sich. »Hör auf!«, sagte sie laut. Sie brauchte eine Ablenkung, etwas zu lachen. Also fing sie an, eine E-Mail an Vinita zu schreiben. Jeden Tag aufs Neue dankte sie ihrem Glücksstern, dass sie beide in der gleichen Nachbarschaft in New York lebten (ihre Kinder besuchten sogar die gleiche Schule), und da auch Vinita drei Töchter unter zehn Jahren allein großzog und dazu noch eine Kinderarztpraxis in West Village betrieb, leisteten die beiden Frauen einander vor allem moralische Unterstützung.

Irgendwo gibt es eine Frau, tippte Jennifer ein, die heute Morgen vor ihren Kindern aufgewacht ist, Ashtanga Yoga praktiziert hat, während sie in einer Schwitzhütte auf dem Kopf stand, die geduscht und ihre Beine rasiert hat, glutenfreie Kürbis-Pancakes zubereitet hat, um den Herbst einzuläuten, die ihre Kinder rechtzeitig zur Schule gebracht hat und selbst pünktlich bei der Arbeit war. Ich dagegen bin auf einem Schlafsofa aufgewacht, unter dem eine leere Weißweinflasche hin und her rollte, habe meinen Kindern in der U-Bahn zum Frühstück einen Müsliriegel in die Hand gedrückt und war so spät bei der Arbeit, dass ich beinahe ein Meeting verpasst hätte, von dem ich nicht mal wusste.

Das hatte an diesem Morgen natürlich nur den kleinsten Teil des Dramas ausgemacht. Jennifer dachte daran, wie sie ihr Handy verloren und auf welch bizarre Art und Weise sie es zurückerhalten hatte. Auch die Nachricht der Frau, die ihr das Handy zurückgegeben hatte, war denkwürdig. Zusätzlich zu den gewohnten Misserfolgen, tippte sie, zu denen auch gehört, dass ich Juliens Gitarrenvorspiel heute (mal wieder) verpasse, habe ich gestern Abend mein Handy verloren und es mit einer merkwürdigen Nachricht und einer seltsamen App darauf wieder zurückbekommen. Jennifer hielt inne und sah zu ihrem Handy auf dem Schreibtisch hinüber. Rufst du mich mal an?

Sie klickte auf SENDEN. Dann nahm sie ihr Handy zur Hand. Eine App, hatte die Stimme gesagt. Sie sollte danach suchen. Das war zumindest eine gute Möglichkeit, die Arbeit aufzuschieben. Jennifer hatte gerade begonnen, die Apps auf ihrem Handy durchzusehen, als es an der Tür klopfte. Tim.

»Wie ist es gelaufen?«, fragte er und steckte den Kopf zur Tür herein.

»Wahrscheinlich wird Alicia Richardson hier bald arbeiten«, erwiderte Jennifer. »Obwohl das noch nicht ganz sicher ist.«

»Werde ich dann auch ihr Assistent sein?«, fragte Tim und wurde immer lauter. »Erinnerst du dich noch daran, was Bill gesagt hat, als er hier angefangen hat? Dass ich mich strecken müsse, um euch beiden zu assistieren? Ich kann mich nicht immer weiter strecken! Ich bin ein Mensch und kein Gummiband!«

Jennifer beschloss, lieber nichts darauf zu antworten, und Tim, jetzt geläutert, kehrte wieder zum geschäftlichen Ton zurück. »Ich würde gern deinen heutigen Terminplan mit dir besprechen. Was liegt den Tag über bei dir an?«

»Lass mich mal sehen«, erwiderte Jennifer. Sie rief den Kalender auf ihrem Handy auf. Ein ihr unbekannter Hintergrund erschien auf dem Display, ein dunkelblauer, samtiger, mit Sternen übersäter Himmel. Jennifer blinzelte ungläubig und musste zweimal hinsehen. War das die neue App? Sie war es gewohnt, neue Apps zu installieren, und so geübt wie ein Hamster im Laufrad darin, sie zu bedienen, und wollte gerade auf das Display tippen, als vor dem mitternachtsblauen Hintergrund ein glitzernder Zauberstab auftauchte. Er war leuchtend weiß und sah aus wie der Zauberstab, den die pummelige, großmütterliche gute Fee aus Disneys Cinderella schwang. Wie gebannt starrte Jennifer auf ihr Display, als sich der Zauberstab zu bewegen begann. Anmutig und mit einem fast bedächtigen Tempo buchstabierte er die Worte EINENWUNSCHFREI. Darunter wurde der verlockendste Slogan sichtbar, den Jennifer je in ihrem Leben gesehen hatte: Eine App für Frauen, die an mehreren Orten zugleich sein müssen.

Das war sie! EINENWUNSCHFREI war die wundersame App, die Dr. Diane Sexton sich erlaubt hatte, auf ihrem Handy zu installieren.

Sie wollte sich schon umdrehen, Tim das Display zeigen und ihm die ganze Geschichte berichten, doch irgendetwas hielt sie zurück.

»Einen Augenblick, ja?«, bat sie und sah zu ihm auf. Tim nickte und ging. Als Jennifer wieder allein war, kaute sie auf ihrer Unterlippe herum und tippte vorsichtig auf den Zauberstab, der auf dem samtblauen Display schwebte. Wie ein Pistolenschuss hallte die durchdringende Stimme, die sie schon früher an diesem Morgen gehört hatte, durch das winzige Büro.

»Müssten Sie manchmal an mehreren Orten zur gleichen Zeit sein?«, fragte die Stimme. Natürlich!, dachte Jennifer, als sie die Lautstärke herunterregelte in der Hoffnung, dass Tim nichts gehört hatte. »Mit dieser App ist dies nun möglich. Geben Sie einfach nur die Uhrzeit, das Datum, den Ort und die Koordinaten von Google Maps für den zweiten Termin ein – von dem sie sich wünschten, ihn wahrnehmen zu können –, und schon können Sie durch die Magie dieser App an zwei Orten zugleich sein.« Dann tauchte auf dem Display das Wort WARNUNG auf. »Diese App bedient sich einer machtvollen Technologie«, fuhr die Stimme streng fort. »Bevor Sie sie nutzen, nehmen Sie für weitere Anweisungen bitte Kontakt zu mir, Dr. Diane Sexton, auf.«

Dr. Diane Sextons Name war verlinkt. Jennifers Finger verharrte über dem Link. Sollte sie diese Frau kontaktieren? Oder sollte sie die ganze App von ihrem Handy löschen? Das alles war eindeutig Wahnsinn. Dr. Diane Sexton war eindeutig verrückt. Dies war eindeutig (sie ertappte sich dabei, das Wort »eindeutig« so oft wie möglich zu benutzen) eine Lifestyle-App, ein Spiel für hoffnungslos übermüdete und leichtgläubige Frauen wie sie. Sobald sie »Gitarrenvorspiel«, »West End School for Music and Art« und »16 Uhr« eingegeben haben würde, würde sie zu Werbeseiten für Gitarrenunterricht für Kinder und zum neusten Album von Dan Zanes weitergeleitet sowie dazu eingeladen werden, ihren »Wunsch«-Kalender mit ihren Freunden auf Facebook zu teilen, wo sie sich alle zusammen »wünschen« konnten, sich in einem virtuellen Café zu treffen, um dort ihre Kreditkarten zu überziehen, indem sie imaginäre Latte Macchiatos kauften.

Weshalb es Jennifer nicht einleuchten wollte, warum um alles in der Welt sie eine absolut fremde Person kontaktieren sollte, um »weitere Anweisungen« zu bekommen. Sie hatte keine Ahnung, wer diese Frau war oder worauf sie es abgesehen hatte. Jedenfalls war es ziemlich verführerisch, einen Termin in den EINENWUNSCHFREI-Kalender einzugeben. Eine App, mit deren Hilfe sich eine Frau zugleich an zwei Orten befinden konnte? Das war auf jeden Fall völlig abgefahren. Aber es konnte ja nicht schaden, ein wenig davon zu träumen.

Im unteren rechten Eck des Displays blinkte ein kleiner weißer Pfeil. Jennifer wischte darüber.

Ein Fenster öffnete sich: EREIGNISEINGEBEN.

Gitarrenvorspiel, tippte Jennifer. West End School for Music and Art, 55 Bethune Street, Dienstag, 22.September,16 bis 17 Uhr. Nachdem sie die Anfrage der App, ihren derzeitigen Aufenthaltsort zu benutzen, bejaht hatte und die Google-Koordinaten für die West End School bestätigt hatte, drückte sie auf ENTER