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Das Leben auf der Farm in Namibia ändert sich schlagartig durch einen Anruf, in dem Jule erfährt dass ihre Mutter gestorben ist. Sie muss sofort in das Flugzeug steigen und zurück zu ihrer Familie nach Deutschland fliegen. Jule erwartet, dass alles noch so ist wie, vor sieben Jahren, als sie ihren Mann Jonas nach Namibia gefolgt ist. Aber der Hass ihrer Schwester ist in dieser Zeit gewachsen und ihr Vater leidet an einer Demenzerkrankung und benötigt dringend einen Platz in einer Seniorenresidenz. Sie erfährt nach und nach, dass ihre geliebte Mutter nicht die Frau gewesen ist, die sie gedacht hat zu kennen und man ihr die letzten Jahre eine heile Welt über das Telefon vorgespielt hatte. Ein Buch über drei Generationen und über das Vergessen. Das Vergessen etwas zu erzählen oder das Vergessen durch eine Krankheit.
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Seitenzahl: 210
Veröffentlichungsjahr: 2022
Einfach nurvergessen
Ein Roman über das Vergessen einerFamiliengeschichte
Claudia Tülp
Wir vergessen, weil wir es wollen.
Wir vergessen, weil wir es müssen.
Wir vergessen, weil wir es nicht besser wissen.
© 2023 Claudia Tülp 2. Auflage
ISBN Softcover: 978-3-347-59179-0
ISBN E-Book: 978-3-347-59180-6
ISBN Großschrift: 978-3-347-59181-3
Druck und Distribution im Auftrag des Autors: tredition GmbH, An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Germany
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Deutschland
Cover
Titelblatt
Urheberrechte
Einleitung
Großer Stern
Weites Land
Flügel die wachsen
Träume die platzen
Leere Antworten
Traurige Wahrheit
Erinnerungen erlöschen
50 Jahre zuvor
Dunkles Land
Fehlendes Verständnis
50 Jahren zuvor
Erinnerung
Freies Land
Heller Blick
50 Jahren zuvor
Klarheit
50 Jahren zuvor
Wahrheit
Helles Land
Anderes Land
50 Jahren zuvor
Lichtblick
Glänzende Wahrheit
Abschied
Tränen die fließen
Vereint
Ganze Wahrheit
Heimat
Nach Hause
Danksagung
Cover
Titelblatt
Prologue
Urheberrechte
Introduction
Einleitung
Danksagung
Cover
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Einleitung
Das Leben auf der Farm in Namibia ändert sich schlagartig durch einen Anruf, in dem Jule erfährt, dass ihre Mutter gestorben ist. Sie fliegt zurück zu ihrer Familie nach Deutschland. Jule erwartet, dass alles noch so ist wie früher, als sie ihrem Mann Jonas nach Namibia gefolgt ist. Aber der Hass ihrer Schwester ist in dieser Zeit gewachsen und ihr Vater leidet an einer Demenzerkrankung. Sie erfährt nach und nach, dass ihre geliebte Mutter nicht die Frau war, die sie meinte zu kennen. Jule kann so schnell nicht wieder zu ihrer eigenen Familie zurück, da die Probleme in Deutschland sich als fast aussichtslos darstellen, bis ihre alte Freundin Hanna wieder in ihr Leben tritt und ihr eine neue Tür öffnet. Ihre Tante Irmgard ist ihr großer Halt in dieser verlogenen Zeit und durch sie erfährt Jule die wahre Geschichte ihrer Mutter in Südafrika und die der anderen Familie.
Großer Stern
Die Sonne strahlt hell am Himmel, so wie jeden Tag hier in diesem Land. Die Grillen zirpen und auf der Farm beginnt der morgendliche Alltag. „Moré Miss Jule“ höre ich unsere Farmangestellte Marta rufen, wie sie das Haus betritt. Wie jeden Morgen kommt sie, um uns im Haushalt zu helfen. Ich bin so froh, dass ich sie habe. Marta ist eine ältere lebenslustige Frau und wenn sie lacht, bebt ihr kräftiger Vorbau auf und ab. Sie erledigt ihre Aufgaben ohne jegliche Unterstützung und weiß genau, was wir hier auf der Farm benötigen. Sie gehört über all die Jahren mit zu unserem Team. So ist es hier auf unserer Farm. Wir haben überall helfende Hände, ob im Haus, im Garten oder bei den Nutztieren. Außerdem leben die Farmarbeiter mit auf der Farm und dadurch haben wir kaum einen Personalwechsel.
Ich nehme meine kleine Tochter aus ihrem Bettchen und sie strahlt mich über beide Bäckchen an. Ihre roten Locken stehen wie wild in alle Richtungen. Sie kommt äußerlich nach mir, nur sind meine roten Haare heute nicht mehr lockig. In den letzten Jahren sind meine Haare nachgedunkelt. Das Rot hatte sich in ein helles Braun verändert und die Locken gibt es schon lange nicht mehr. Die Probleme mit meiner hellen Haut hier im Land der Sonne hatte sich in den Jahren auf der Farm zum Vorteil verändert. Am Anfang meiner Zeit, hier in Namibia, gab es zu viele Sonnenbrände, aber ich lernte mit jedem neuen Sonnenbrand dazu. Die erste Zeit trug ich langarmige dünne Shirts, damit sich die helle Haut an die Sonne gewöhnte. Später zog ich T-Shirts an. Aber dennoch ist mein Gesicht mit Sommersprossen übersät und der Hut gehört zum morgendlichen Standard dazu, wie das tägliche Zähneputzen. Nach über 7 Jahren ist sogar meine Haut leicht gebräunt und ich kann auch mal kurz ohne eine Sonnencreme das Haus verlassen. Ich gehe mit meiner Tochter auf dem Arm in die Küche. Marta hat schon die Milch erwärmt für den Maisbrei. Der Grieß wird in die Milch eingerührt und zum Schluss wird etwas Butter untergerührt. Alina kennt es nur ohne Zucker und isst es so. Am Freitag mache ich immer einen Klecks Marmelade oben drauf und den kratzt sie vorsichtig ab und leckt den Löffel mit der Zunge ab. Das ist unser Ritual, um das Wochenende einzuläuten. Kaspar ist schon frühzeitig mit seinem Vater auf der Farm unterwegs. Es gibt jederzeit etwas zu tun, auch für so einen kleinen Burschen wie ihn. Zäune müssen repariert werden, wenn in der Nacht ein Wildschwein mal wieder versuchte, sich durchzugraben. Die Wasserstellen der Rinder werden täglich überprüft, falls ein Loch in der Trinkschale ist und die Tiere kein Wasser mehr zur Verfügung haben. Es muss Ausschau nach verletzten Tieren gehalten werden, da in der Nacht einiges passiert sein kann. Auf der Farm ist unendlich viel Arbeit und das sieben Tage die Woche lang. Das Autofahren ist sehr wichtig auch schon für unsere Kinder. Wenn ich mir vorstelle, dass Kaspar mit seinen 6 Jahren schon alleine Auto fährt. Er fährt im Stehen, da er gerade mal so durch das Lenkrad gucken kann. Hier auf dem Land, ist es wichtig, damit Kaspar zum Nachbarn fahren könnte, falls wir mal in Not wären, um Hilfe zu holen. So entzückend, wie man sich das Leben auf einer Farm vorstellt, hat es doch seine Gefahren. Wir haben Schlangen, auch im Haus. Die Zebraschlange schleicht sich gerne mal ins Haus und legt sich unter die Bettdecke und da der Biss dieser Schlangenart tödlich ist, halten wir unsere Türen geschlossen. Außerdem leben bei uns Hunde. Sie entdecken zuerst die Gefahren und wir können darauf reagieren. Letztens hatte sich eine Schlange auf die Terrasse gewagt und ich hatte sie mit Schlangenschrot erschossen. Auch das hatte ich hier gelernt. Ich musste mich und meine Kinder verteidigen. Das fiel mir hier im Land nicht schwer. Hier ging es um unser Leben und ein Biss, weit ab vom nächsten Krankenhaus, konnte mit dem Tod enden. Das hätte ich mir nicht im Traum vorgestellt, dass ich mal: „Am anderen Ende der Welt“ sitzen werde, wie meine Freunde es zu dem Zeitpunkt bezeichneten, als ich Deutschland verließ. Damals… Es war lange her und ich vermisse meine Familie schrecklich. Ich setze mich an den Tisch, in der Küche, zu meiner Tochter und sehe zu, wie Alina sich den Maisbrei mehr ins Gesicht, als in den Mund schmiert.
Ich bin jetzt 36 Jahre alt und lebe seit 7 Jahren hier in Namibia. Mit meinem Mann Jonas und unseren beiden Kindern bewirtschaften wir eine kleine Farm zur Selbstversorgung. Wir haben eine Rinderzucht und die letzten Jahre waren schwierige Dürrejahre. Das Geld ist knapp und wir hoffen jeden Tag auf den ersehnten Regen. Unser Ältester, der Kaspar kommt jetzt mit fast 7 Jahren in das Internat und unsere Prinzessin Alina hat mit ihren 2 Jahren dafür noch etwas Zeit. Das hiesige Internat ist 300 km weit weg von unserer Farm und für die Farmkinder gibt es keine Alternative, außer Homeschooling. Wir haben uns dagegen entschieden, weil Kaspar so aufwachsen soll, wie alle anderen Farmkinder hier im Land. Es wurde Zeit, dass er seine eigenen Freundschaften schließt, um sich zu sozialisieren. Das Leben auf der Farm ist für ein Kind eine Traumwelt, aber die Realität sieht nun mal anders aus. Sie werden erwachsen und müssen weiterziehen, um ihr eigenes Leben aufzubauen, und das ist ein weiterer Grund, warum unsere Kinder ins Internat kommen. Auch wenn mein Mutterherz daran zerbricht, dass ich erst Kaspar in die Hände anderer Menschen geben würde und später Alina, gab es für Jonas keine Diskussion. Auch er war im Internat und er meint, es hatte ihn selbst geprägt und ihn zu dem gemacht, was er heute ist. Somit würde ich erst ein Kind abgeben und vier Jahre später mein Zweites. Ich mochte mir gar nicht vorstellen, was im Anschluss mit meinem Herzen passiert.
Der Anruf kam völlig unerwartet. Ich nehme gerade den kleinen roten Plastiklöffel aus der Hand meiner Tochter und denke so an meinen nächsten Schritt auf der Farm, als das Telefon klingelt. Ich nehme den Hörer ab und höre ein Knistern und wusste sofort, dass es ein Gespräch aus Übersee ist. Das ist ziemlich ungewöhnlich und für den Anrufer sehr kostspielig. Es ist meine Schwester aus Deutschland, die mir mitteilt, dass unsere Mutter in der letzten Nacht verstorben ist. Der Hörer fällt mir aus der Hand und Tränen füllen meine Augen. „Das kann doch nicht wahr sein“, schreit es in meinem Kopf. Meine Mutter! Letzten Sonntag haben wir noch zusammen über das Internet telefoniert und sie sagte mir, dass es allen gut geht!
In meinem Kopf dreht sich alles. Ich muss sofort nach Deutschland! Aber wie sollen wir das bezahlen? Nehme ich meine kleine Prinzessin mit oder lasse ich sie für Wochen hier bei unserer Nanny? Ich denke an meinen Vater. Er sitzt wahrscheinlich hilflos in seinem Ohrensessel und starrt die Wand an. Was ist er ohne unsere Mutter nach 38 Ehejahren? Was soll aus ihm werden? Fragen über Fragen sprudeln in meinem Kopf hin und her. Ich stehe mechanisch auf und gehe hinaus und suche nach Jonas. Ich sehe meinen Mann aber nicht und fange hysterisch an zu weinen. Ich sehe wie sich kleine schwarze Punkte vor meinen Augen bewegen und sacke zusammen. Mein Zeitgefühl hat mich verlassen und als ich die Augen wieder öffne, steht unsere Marta neben mir. Sie hat mir ein Kissen unter den Kopf gelegt und reicht mir ein Glas Wasser. Unser Farmarbeiter Hanno ist los, um Jonas zu holen. Mir ist alles egal. Ich fühle mich wie in einer Wolke gefangen. Alles um mich herum ist vernebelt und verzehrt. Meine Mutter! Sie ist doch mein ein und alles! Sie hat es mir nie wirklich verziehen, dass ich einen Mann geheiratet habe, der tausende von Kilometern weit weg wohnt. Kaspar hat sie nur einmal gesehen und Alina noch gar nicht. Unsere Prinzessin kannte sie nur von Bildern, die ich ihr geschickt habe, wenn die Farm mal wieder über ausreichend Netz verfügt. Kaspar hatte da schon mehr Glück. Er hat seine Oma einmal gesehen. Leider reicht seine Erinnerung nicht mehr daran zurück. Nach der Geburt des ersten Kindes waren meine Mutter und mein Vater hier auf der Farm. Ich war erstaunt, wie schnell sich meine Mutter in kürzester Zeit hier einlebte, während mein Vater sich zurückzog. Die Wildnis faszinierte ihn, er verstand aber nicht, warum ich dieses Leben hier bevorzugte. „Du bist hier ganz alleine auf der Farm“, meinte er wieder und wieder. Ich war hier aber nicht alleine, denn ich habe meine Familie. Meine Mutter wollte gar nicht wieder weg. Sie liebte ihre neue Aufgabe als Oma und lief mit unserem ersten Baby jeden Abend auf die Veranda und erklärte Kaspar den Sternenhimmel mit phantasievollen Geschichten. Kaspar verstand zwar noch nichts, aber meine Mutter wirkte sehr glücklich. Ich hatte keine Ahnung, dass sie so viel über den Sternenhimmel hier im südlichen Afrika wusste. Auch war sie im Bilde, welche Arbeiten auf der Farm wichtig waren und worauf man achtgeben musste. Sie verdutzte mich jeden Tag aufs Neue. Nach acht Wochen flogen meine Eltern wieder zurück und in mir blieb Leere zurück. Hätte ich eine Ahnung gehabt, dass ich meine Mutter das letzte Mal in den Arm nahm, ihren Duft wahrnehme und mit ihr lachen würde!
Ich bin in den letzten Jahren, nach der Auswanderung, nicht mehr in meiner Heimat gewesen. Ich hatte Jonas in Deutschland kennen und lieben gelernt. Nach sehr kurzer Zeit haben wir geheiratet und ich bin mit ihm, in eine für mich unbekannte Welt gegangen. Das erste Jahr in dieser Einsamkeit war hart für mich. Ich vermisste meine Familie und meine beste Freundin, hier so weit weg. Ich plante einen Flug nach Hause und dann kam Corona. Der Flug wurde storniert und jeder nahm an, dass es nur von kurzer Dauer sein wird, aber daraus wurde nichts. Es gab auf einmal keine Flüge mehr aus und in unser Land. Ich betete täglich, dass meiner Familie nichts geschah in dieser schwierigen Zeit. Jeden Abend lief ich mit meinem Hund Dodo auf den kleinen Hügel hinter dem Farmhaus und empfand nur Hilflosigkeit. Jeden Abend weinte ich leise vor mich hin und Dodo kuschelte sich fest an mich. Das war der härteste Einstieg in mein neues Leben. Jonas und ich haben uns oft mit diesem Thema auseinandergesetzt, aber das half nicht über meinen innerlichen Schmerz hinweg. Der Gedanke daran macht mich noch heute wahnsinnig. Ich wurde schwanger und musste endlich lernen, dass mein Leben sich jetzt hier abspielt, weit weg von Deutschland. Nun ist alles hier alltäglich und ich hätte wieder fliegen können, aber wir haben kein Geld. Durch die Dürre sind unsere Rinder nicht kräftig genug und die Preise auf dem Fleischmarkt sind eingebrochen. Für ein so mageres Rind bekommen wir kaum Geld und das reicht mal gerade für unser Überleben und nicht für einen Flug nach Europa. Wir mussten schon für das Internat einen Kleinkredit aufnehmen. Damit sind die ersten vier Jahre abgesichert und bis dahin hoffen wir auf einen wirtschaftlichen Aufschwung.
Wie ich das nächste Mal die Augen erneut öffne, sehe ich ein vertrautes Gesicht direkt vor mir. „Sag einmal Julchen, ist es bequem hier so auf dem Boden liegend?“, lächelt Jonas mich an. „Ich weiß du liebst dieses Plätzchen auf der Veranda, aber ist es dir nicht etwas zu hart?“. Er nimmt mich in seine Arme und ich fange an zu weinen. „Du fliegst erst einmal nach Deutschland und kümmerst dich um deinen Vater und es muss vieles geregelt werden“, flüsterte er mir ins Ohr. Ich schaue ihn an. „Wie…“ fange ich an. Er legt mir seinen Finger auf den Mund. „Das schaffen wir schon“, und er lächelt weiterhin.
Fünf Tage später packe ich meinen Koffer. Ich weiß nicht, was ich mitnehmen soll. Jetzt ist es kalt in Deutschland und schwarze Kleidung habe ich gar nicht mehr. Somit hat mein Koffer nur lächerliche 9 kg. Ich starre auf den alten Koffer. Dieser grüne Hartschalenkoffer war hier noch modern und Jonas´ alter Lederkoffer erinnert mich an den von meinem Opa. Wahrscheinlich ist in Deutschland mein Koffer schon wieder ein Antiquariat. Früher war es mir wichtig, die neuesten Klamotten und aktuellsten Taschen zu tragen, aber das ist nun über 7 Jahre her. Hier auf der Farm war es unwichtig und was in Europa passiert, bekommen wir hier kaum mit. Unser Internet hat selten Empfang und ich habe es aufgegeben hinter den täglichen Nachrichten hinterherzurennen. Hin und wieder leuchtet abends das Internetsignal grün und wenn ich das mitbekomme und Zeit habe, gehe ich auf den Hügel und rufe bei meinen Eltern an. Wenn aber meine Mutter mir ein Foto geschickt hatte, brauchte es ewig, bis das heruntergeladen ist und somit kann ich sonst nichts anderes machen außer zu warten. Wir führen ein gemütliches Leben hier draußen, wenn die Menschen die man liebt, nicht so weit weg wären. Das ist der Nachteil und dieser Nachteil tut zeitweilig ganz schön weh.
Am nächsten Tag fahren Jonas und ich zum Flughafen. Er hat bei der Bank für das Flugticket und etwas Taschengeld einen zweiten Kleinkredit aufgenommen. Er ist überzeugt davon, dass es bald regnen wird, und dann würde das Gras wieder sprießen und unsere Rinder an Gewicht zulegen. Die Hoffnung stirbt zuletzt, denke ich mir still. Jonas hatte die letzten Tage unseren Arbeitern ihre Aufgaben zugeteilt, damit sie beschäftigt sind, wenn er nicht da ist. Seine Eltern haben eine Farm in der Umgebung und wir haben gestern schnell noch die Kinder zu Oma und Opa gebracht. Für Jonas´ Eltern eine Selbstverständlichkeit und für meine Eltern eine Seltenheit. So ungerecht sind manche Entscheidungen, die wir für uns treffen.
Um mich zum Flughafen zu begleiten, muss Jonas die Farm drei Tage alleine lassen. Wir brauchen alleine einen ganzen Tag um in die Hauptstadt nach Windhoek zu kommen, wovon 45 Kilometer entfernt der internationale Flughafen liegt. „Weißt du, was der Name Windhoek bedeutet?“, fragt mich Jonas auf einmal. „Nein, darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht.“ „Ach Jule, du musst dich schon mit unserer Geschichte hier im Land vertraut machen. Auch wenn du jetzt dafür keinen Kopf hast, aber das heißt in unserer Afrikaans Sprache windige Ecke.“ Es ist ja wirklich lieb von ihm, mich mit einem anderen Thema zu beschäftigen, aber ich bin mit den Gedanken schon in Deutschland. Nach 7 Jahren würde ich morgen wieder in meine Heimat fliegen.
Am nächsten Morgen steige ich schon um 6 Uhr, zum Tagesflug in das Flugzeug nach Deutschland ein. Jonas kann heute noch den großen Einkauf für die Farm erledigen, wenn er schon einmal in der Hauptstadt ist. Wir hatten bei Freunden übernachtet und dort verbringt er auch die nächste Nacht. Erst dann hat er Zeit genug, um am dritten Tag morgens zurückfahren. „Was für ein Aufwand!“, schießt es mir in den Kopf. Meine kleine Prinzessin habe ich nicht mitgenommen. Mein Vater würde sich wahrscheinlich sehr freuen, aber ich hätte nicht genug Zeit für sie. Alina hatte so schrecklich geweint, als wir in das Auto stiegen und von Oma und Opa wegfuhren. Ich hatte ihr vorher erklärt, dass Papa beide Kinder alleine abholen kommt, da Oma Elisabeth jetzt oben bei den Sternen ist und Mama einiges mit Opa Richard in Deutschland erledigen muss. Kaspar kam in zwei Wochen in das Internat und ich mutmaßte, dass ich bis dahin nicht zurück bin, und somit kann ich ihn nicht an seinem ersten großen Tag begleiten. Das macht mich erneut traurig. Ich werde sein Zimmer nicht sehen und nicht seinen neuen Freund kennenlernen, mit dem er sich das Zimmer teilt. Jonas versprach mir, viele Fotos zu knipsen und mich auf den neusten Stand zu halten, soweit das Internet auf der Farm funktioniert. Der Abschied von meiner Familie hier in Namibia ist genauso furchtbar, wie die Angst, was mich in Deutschland erwartet. Den Rückflug haben wir erst einmal offengelassen, weil ich noch keinen Einblick habe, welche Aufgaben auf mich warten. Ich hoffte zumindest, dass ich sofort nach der Beerdigung wieder in den Flieger steigen kann.
Nun sitze ich im Flugzeug und schaue aus dem Fenster. Trauer, Glück und Verzweiflung überwältigen mich und eine große Leere breitet sich aus. Tränen habe ich keine mehr und meine Augen sind rot angeschwollen. In nicht mal mehr 12 Stunden, wird meine Schwester mich vom Flughafen abholen. Was erwartet mich? Ich spüre, wie die Maschine anfängt zu rollen und ich denke an früher, als ich Jonas kennenlernte.
Wäre Jonas nicht, würde ich wahrscheinlich noch in unserem kleinen Städtchen leben. Ich war mit meiner besten Freundin Hanna auf ein Festival gefahren. Wir bauten gerade unser kleines Zwei-Mann-Zelt auf, als es heftig anfing zu regnen. Hanna und ich setzten uns erst einmal unter die Zeltplane und warteten auf das Ende des Regenschauers. Wir öffneten uns dabei ein Bier und stießen auf das Festival-Wochenende an. Auf einmal schaute ein junger Mann unter der Plane hindurch, komplett durchnässt und fragte, ob er uns helfen kann. Das war Jonas. Ich verliebte mich sofort in diese unglaublichen blauen Augen. Seitdem sind wir ein Paar. Ich konnte ja nicht ahnen, dass er mich eines Tages mitnimmt nach Afrika.
Weites Land
Er ist schon wieder von seinem Vater geschlagen worden! Das Blut tropft aus seiner Lippe in den heißen Sand vor seinen Füßen. Er hasst ihn so abgrundtief in seinem Inneren. Sein leiblicher Vater ist jeden Tag betrunken und er schuftet hier alleine ohne große Hilfe auf der Farm. Sein rotblondes Haar hatte er extra wachsen lassen, weil er wusste, wie sehr sein Vater das hasst. Er wäre doch kein Weib und müsste sich die Haare abschneiden, schrie sein Vater ihn regelmäßig an. Genau deshalb tut er es nicht. Einmal ging sein Vater auf ihn mit einer Schere los. Er wollte ihm den Zopf abschneiden, der ihm schon so lange ein Dorn im Auge ist. Aber er war viel zu betrunken und stolperte nur lallend hinter ihm her. Er hatte gehofft, er würde fallen… direkt in die Schere… Als Kind hoffte er jeden Tag, dass er über kurz oder lang, hier endlich wegkam. Einfach ab in die weite freie Welt, aber noch jetzt sitzt er hier fest auf dieser gottverdammten Farm im Nirgendwo. Das klägliche Einkommen reicht nicht aus. Auch wenn er abhauen würde, konnte er nicht einfach zu Fuß losgehen oder mit diesem alten Jeep wegfahren. Er hatte kein Einkommen, er hat einfach nichts! Er wusste nicht mehr weiter. Jetzt wo er erwachsen ist, sieht er abermals keine Möglichkeit hier wegzukommen. Als er gerade so seine Schule beendet hat, stand sein Vater unrasiert und nach Alkohol stinkend vor ihm. Direkt an dem Abschlussfest im Internat hat er ihn wieder auf die Farm zurückgeholt. Er wollte aber nicht mehr zurück auf die Farm. Sein Leben lang musste er helfen! Musste die ständig wechselnden fremden Frauen im Haus ertragen. Er hörte nachts das Gestöhne aus dem Schlafzimmer oder die Bewegungen aus dem Badezimmer. Er zog sich jedes Mal die Decke über den Kopf und fragte sich, wo seine Mutter war. Er kennt sie nicht. Er hat keine Erinnerung oder ein Foto von ihr. Sie war weggelaufen, als er noch ein kleines Kind gewesen ist. Einfach weg - ohne ihn mitzunehmen. Sie hat ihn hier, bei seinem prügelnden Vater gelassen – alleine. Er geht zum Brunnen und zieht sich einen Eimer kaltes Wasser aus der Tiefe und taucht ein in das kühle Nass. Als er seinen Kopf wieder aus dem Wasser zieht, bemerkt er, wie seine Lippe anschwillt. Beim nächsten Mal schlägt er zurück, schoss es durch seinen Kopf. Das nächste Mal….
Flügel die wachsen
Landeanflug. Wir sind durch die grauen dunklen Regenwolken hindurch und ich sehe das nasse kalte Flughafengebäude beim Landeanflug. Wie sehr hatte ich mir das hier gewünscht. All die Jahre, all die Tränen und die Sehnsucht. Jetzt fühle ich mich einsam. Es ist diesmal nicht dasselbe nach Hause zu kommen. Ich starre aus dem kleinen runden Fenster neben meinem Sitz. Die Maschine rollt langsam über das Gelände zur Parkposition. Die Anschnallzeichen erlöschen und ich stehe auf, nehme meine kleine Tasche und gehe zum Ausgang. Direkt beim Ausstieg aus dem Flugzeug fängt es an zu regnen. Kleine weiche Tropfen die