Einführung in die Geschichte des Christentums - Franz Xaver Bischof - E-Book

Einführung in die Geschichte des Christentums E-Book

Franz Xaver Bischof

4,3

Beschreibung

Die Einführung in die Geschichte des Christentums benutzt gegenüber chronolog. Darstellungen ein neues Konzept: In drei Themenblöcken werden kirchenhistorische Entwicklungen in ihrer regionalen Vielfalt behandelt: Ausgehend der Ausbreitungsgeschichte kommt das Verhältnis von Kirche und Welt/Staat im Lauf der Zeiten in den Blick, dann wird die innere Entwicklung des Christentums (Mönchtum, kirchl. Ämter, Lehrentwicklung) skizziert. Ein spannender Entwurf!

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Franz Xaver Bischof, Thomas Bremer, Giancarlo Collet und Alfons Fürst

Einführung in die Geschichte des Christentums

Impressum

Titel der Originalausgabe: Einführung in die Geschichte des Christentums

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2012

ISBN 978-3-451-30710-2

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2014

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Finken & Bumiller, Stuttgart

E-Book-Konvertierung: epublius GmbH, Berlin

ISBN (E-Book): 978-3-451-80302-4

ISBN (Buch): 978-3-451-30710-2

Vorwort

Einleitung

Kapitel 1 - Christentum in Raum und Zeit (Thomas Bremer)

1. Geschichtskonstruktion und Erinnerungskultur

2. Räume und Raumvorstellungen

3. Die Räume des Christentums

4. Raum und Grenze

5. Staat und Nation

6. Kirchengeschichte und Theologie (Alfons Fürst)

Erster Teil - Mission und Ausbreitung des Christentums

Räume – Epochen – Christentümer

Kapitel 2 - Das frühe Christentum im antiken Mittelmeerraum (Alfons Fürst)

1. Eigenheiten der frühchristlichen Ausbreitung

2. Rahmenbedingungen

3. Methoden der Ausbreitung

4. Bekehrungsmotive und Erfolgsgründe

Kapitel 3 - Die Ausbreitung des östlichen Christentums (Thomas Bremer)

1. Die ostkirchlichen Traditionen

2. Die Ausbreitung der ostkirchlichen Traditionen

Kapitel 4 - Das Ausbreitung des westlichen Christentums (Franz Xaver Bischof)

1. Die Völkerwanderung und ihre Folgen

2. Die Christianisierung der Franken

3. Die irische Kirche und ihre Festlandmission

4. Die angelsächsische Kirche und ihre Festlandmission

5. Die Christianisierung Nord- und Osteuropas

6. Die Expansion des Islam

Kapitel 5 - Die weltweite Expansion des Christentums in der Frühen Neuzeit (Giancarlo Collet)

1. Die Anfänge weltweiter christlicher Mission

2. Motive der europäischen Expansion

3. Die Missionierung der Neuen Welt

4. Methoden der Mission

5. Die Anfänge der christlichen Mission in Nordamerika

6. Die Anfänge der christlichen Mission in Afrika

7. Christliche Missionsversuche in Süd- und Ostasien

Kapitel 6 - Weltweites Christentum in der Neuzeit (Giancarlo Collet)

1. Lateinamerika

2. Nordamerika

3. Afrika

4. Asien

5. Das katholische Missionsverständnis der Gegenwart

Kapitel 7 - Christliche Einigungsbestrebungen (Thomas Bremer)

1. Unionsversuche

2. Die ökumenische Bewegung

Zweiter Teil - Die Christen in der Welt

Kirchen – Staaten – Gesellschaften

Kapitel 8 - Die Christen in Staat und Gesellschaft der Antike (Alfons Fürst)

1. Koexistenz und Konfrontation in vorkonstantinischer Zeit

2. Die Konstantinische Wende

3. Staat und Kirche in der Spätantike

Kapitel 9 - Christliche Gesellschaftsordnung im abendländischen Mittelalter (Franz Xaver Bischof)

1. Grundzüge der gesellschaftlichen und politischen Ordnung

2. Der Bund des Papsttums mit den Franken

3. Die karolingische Kirchenherrschaft

4. Das ottonische Königtum und die deutsche Reichskirche

5. Das gregorianische Papsttum und der Investiturstreit

6. Die Überordnung der geistlichen über die weltliche Gewalt

7. Die Kreuzzüge

Kapitel 10 - Kirche, Staat und Glaubenswelten in Reformation und Früher Neuzeit (Franz Xaver Bischof)

1. Die Ausgangslage im 15. Jahrhundert

2. Der reformatorische Auf bruch

3. Die Politisierung der Reformation und die einsetzende Konfessionsbildung

4. Das Konfessionelle Zeitalter

5. Staatskirchentum im Zeitalter der Auf klärung

Kapitel 11 - Kirche, Staat und Gesellschaft in der westlichen Moderne (Franz Xaver Bischof)

1. Revolutionärer Umbruch und Neuordnung der kirchlichen Verhältnisse

2. Christliche oder säkulare Gesellschaftsordnung?

3. Konkordatspolitik und die Herausforderung des Totalitarismus

4. Autonomie der Kirche gegenüber dem Staat

Kapitel 12 - Kirche und Staat im Osten (Thomas Bremer)

1. Das „byzantinische Jahrtausend“

2. Die östliche Kirche unter islamischer Herrschaft

3. Staat und Kirche in Russland

4. Die orthodoxen Kirchen in der Gegenwart

5. Kirche und Nation

Dritter Teil - Die innere Entwicklung des Christentums

Lebensformen – Kirchenstrukturen – Theologien

Kapitel 13 - Frühchristliche Lebensformen und christliches Mönchtum (Alfons Fürst)

1. Wandercharismatiker und Ortsgemeinden

2. Die Entstehung des Mönchtums in der Spätantike

3. Das Mönchtum in den östlichen Kirchen (Thomas Bremer)

Kapitel 14 - Abendländisches Mönchtum und Ordensleben in Mittelalter und Neuzeit (Franz Xaver Bischof)

1. Von der Vielzahl der Regeln zur Vorherrschaft der Benediktsregel

2. Das westliche Mönchtum als Träger der abendländischen Kultur

3. Die Frage nach der rechten Nachfolge Christi. Neue Orden unter veränderten Bedingungen

4. Krise und Erneuerung des Ordenslebens in Humanismus, Reformation und Früher Neuzeit

5. Kontinuitätsbruch, Krisen und Neuaufbrüche von der Aufklärung bis zur Gegenwart

Kapitel 15 - Die Entstehung der kirchlichen Ämter und Strukturen (Alfons Fürst)

1. Die kirchlichen Ämter

2. Die Communio-Struktur und Communio-Praxis der Alten Kirche

3. Die Entstehung der Metropolien und Patriarchate

4. Kirchenspaltungen (Thomas Bremer)

Kapitel 16 - Papsttum und Episkopat in der katholischen Kirche (Franz Xaver Bischof)

1. Die Entstehung des Papsttums (Alfons Fürst)

2. Päpstliche und episkopale Gewalt im Frühen Mittelalter

3. Machtfülle des Papsttums: Der Papst als Haupt der abendländischen Kirche und Christenheit

4. Papale und konziliare Ekklesiologie im Widerstreit

5. Römische Zentralisierung und gegenläufige Tendenzen: Papsttum und Episkopat in der Frühen Neuzeit

6. Die Durchsetzung des päpstlichen Absolutismus im 19. Jahrhundert

7. Päpstlicher Universalismus im 20. Jahrhundert

8. Neue Akzente des Zweiten Vatikanischen Konzils

Kapitel 17 - Die Ökumenischen Konzilien der Alten Kirche (Alfons Fürst)

1. Synodalpraxis und Ökumenische Konzilien

2. Trinität: Die Konzilien von Nizäa 325 und Konstantinopel 381

3. Christologie: Die Konzilien von Ephesus 431 und Chalzedon 451

4. Streit um Chalzedon: Die Konzilien von Konstantinopel 553 und 680/81

Kapitel 18 - Wachsende Entfremdung zwischen Ost und West: Der Bilderstreit und der Konflikt um den Patriarchen Photius (Thomas Bremer)

1. Der Ablauf der Ereignisse

2. Gründe, Hintergründe und Folgen des Bilderstreits

3. Der Konflikt um den Patriarchen Photius (Franz Xaver Bischof)

Kapitel 19 - Die Konzilien des abendländischen Mittelalters und der Neuzeit (Franz Xaver Bischof)

1. Von der synodalen Praxis in der westlichen Christenheit zu den päpstlichen Konzilien des Mittelalters

2. Das Vierte Laterankonzil 1215

3. Die päpstlichen Konzilien des späten Mittelalters

4. Das Konzil steht über dem Papst: Die Reformkonzilien des späten Mittelalters

5. Katholische Selbstbehauptung und konfessionelle Abgrenzung: Das Konzil von Trient 1545–1563

6. Die einseitige Ausrichtung der Kirche auf den Papst: Das Erste Vatikanische Konzil 1869/70

7. Innerkirchliche Erneuerung und Versöhnung mit der Moderne: Das Zweite Vatikanische Konzil 1962–1965

Kapitel 20 - Vielfalt der Weltkirche (Giancarlo Collet)

Anhang

Literatur

1. Gesamtdarstellungen

2. Epochen

3. Weltweites Christentum

4. Themen

5. Quellenwerke

6. Hilfsmittel

Quellen, Karten und Bilder

1. Quellen

2. Karten

3. Bilder

Die Autoren

Register

1. Personen

2. Orte

3. Begriffe und Sachen

Vorwort

Die vorliegende Einführung in die Geschichte des Christentums trägt der Veränderung der Studiengänge und der Lehrformen an den Universitäten im deutschsprachigen Raum im Zuge des Bologna-Prozesses Rechnung. Sie soll in der Anfangsphase des Studiums in die Kirchengeschichte einführen und aus historischer Perspektive einen Zugang zur Theologie eröffnen. Einerseits ist dafür das Grundwissen zu allen wichtigen Aspekten der Kirchengeschichte zur Verfügung zu stellen, andererseits sind die wesentlichen Zusammenhänge und Entwicklungslinien in der vielfältigen Geschichte der christlichen Kirchen aufzuzeigen; auch die weltweite Vielfalt des gegenwärtigen Christentums ist zu berücksichtigen. Die vorliegende Einführung verbindet daher elementare Informationen mit tieferen Einsichten in die kirchen- und theologiegeschichtlichen Entwicklungen in ihren jeweiligen historischen Bedingtheiten und vielfältigen Verzweigungen.

Um dieses Ziel zu erreichen, wurde für diese Einführung in die Geschichte des Christentums ein neuartiges Konzept entwickelt. Neben dem Faktor ‚Zeit‘, der naturgemäß historische Darstellungen gliedert, steht explizit die Größe ‚Raum‘ als Strukturprinzip von Geschichtsschreibung, die, wie in der Einleitung dargestellt, unsere Wahrnehmung und Beschreibung der Welt wohl noch stärker prägt als die Zeit (Kapitel 1). Als zweite Besonderheit ist die Darstellung nicht chronologisch, sondern nach Themen gegliedert. Die Hauptthemen der Entwicklung von Christentum und Kirche werden jeweils von ihren Anfängen bis in die Gegenwart in der Vielfalt ihrer Auffächerungen in verschiedenen christlichen Traditionen verfolgt: Im Ersten Teil werden die Mission und Ausbreitung des Christentums in seinen unterschiedlichen Räumen und Epochen bis hin zu seiner weltweiten Ausdifferenzierung in der Neuzeit dargestellt (Kapitel 2–7). Im Zweiten Teil geht es um die vielfältigen Verflechtungen des christlichen Glaubens und seiner kirchlichen Institutionen in die jeweiligen gesellschaftlichen und politischen Gegebenheiten (Kapitel 8–12). Der Dritte Teil behandelt die innere Geschichte des Christentums im Blick auf die Entwicklung von Lebensformen, Kirchenstrukturen und Theologien und mündet in einen Ausblick auf die gegenwärtige Vielfalt der Weltkirche (Kapitel 13–20).

Aus dieser Anlage sollen die wichtigsten Aspekte des Christentums in ihrer zeitlich wie räumlich kontingenten Gestaltwerdung sichtbar werden. Aus der immensen Fülle des historischen Materials werden regionale und epochale Zusammenhänge und Entwicklungslinien aufgezeigt und sowohl Kontinuitäten als auch Wandlungen und Brüche transparent gemacht, wobei zwangsläufig Schwerpunkte gesetzt werden müssen. Durch Querverweise sind alle Teile eng miteinander verzahnt. Wer will, kann auch die einer Epoche zugeordneten Kapitel nebeneinander lesen und sich so die einzelnen Facetten der Geschichte des Christentums im Altertum, im Mittelalter oder in der Neuzeit vor Augen führen.

Mit dieser Anlage dient das Buch einem dreifachen Zweck: Als Lehrbuch stellt es das Grundwissen in Kirchengeschichte zur Verfügung, das in allen theologischen Studiengängen erforderlich ist. Die Karten, Bilder und Quellentexte, auf die mit Siglen (K, B, Q) verwiesen wird, sollen es ermöglichen, das Buch auch als Studienbuch zu benützen und das Dargestellte einerseits an den Quellen zu vertiefen, andererseits von diesen her zu erschließen. Und schließlich kann es als Überblickswerk fungieren, dem die Autoren ein neues Muster für die Darstellung der Geschichte des Christentums zugrunde gelegt haben.

Im Register sind zu den Personennamen die Lebens- und Regierungsdaten (soweit vorhanden) notiert, um den Text von Zahlen zu entlasten. Sämtliche geographischen Namen und Bezeichnungen sind in ein Ortsregister aufgenommen, aus dem man sich Informationen zu einzelnen Orten und Regionen der Christentumsgeschichte beschaffen kann. Und schließlich ist das Buch mit einem ausführlichen und detaillierten Sachregister versehen, mit dessen Hilfe der Darstellung zahlreiche Einzelinformationen entnommen werden können. Das Literaturverzeichnis enthält nur einige wenige Titel zu einzelnen Aspekten, die zum Weiterlesen anregen sollen. Für die Erarbeitung dieser Einführung in die Geschichte des Christentums wurden natürlich die vielfachen Forschungen herangezogen, die es zu den unterschiedlichen Bereichen der Kirchengeschichte gibt, besonders die im Literaturverzeichnis vermerkten Bücher. Auf Einzelhinweise in Fußnoten haben wir bewusst verzichtet, weil das für ein Buch dieser Art nicht sinnvoll wäre, doch fühlen wir uns den Mühen und Ergebnissen der kirchenhistorischen Forschung dankbar verpflichtet.

Dem Verlag Herder, vertreten durch den Lektor im Programmbereich Theologie, Dr.Bruno Steimer, gebührt unser herzlicher Dank für die ausgezeichnete Betreuung der aufwändigen Drucklegung und die engagierte Zusammenarbeit. Besonders hervorzuheben ist die Bereitschaft des Verlags, Karten im Blick auf die Zwecke dieses Buches neu zeichnen zu lassen. Beim Korrekturlesen des Manuskripts und der Druckfahnen haben die Studentischen Hilfskräfte Anne Achternkamp, Christine Kerber und Christian Pelz tatkräftig mitgewirkt, und auch für die Erstellung der Register sei ihnen herzlich gedankt.

Franz Xaver Bischof

Thomas Bremer

Giancarlo Collet

Alfons Fürst

Einleitung

Kapitel 1

Christentum in Raum und Zeit

Wir kennen das Christentum heute als eine Weltreligion. Das bedeutet nicht nur, dass sich eine große Zahl von Frauen und Männern zum Christentum bekennt, sondern vor allem, dass es überall in der Welt Christen und Kirchen gibt, also Gruppen von Menschen, die sich auf Jesus von Nazaret berufen, der in den ersten drei Jahrzehnten unserer Zeitrechnung in Palästina gelebt und gewirkt hat. Wenn wir uns mit der Geschichte des Christentums beschäftigen, stehen wir also vor dem Phänomen seiner Ausbreitung: Eine sehr kleine, überschaubare Gruppe von Menschen hat begonnen, diesen Jesus nach seinem Tod als den auferstandenen Messias, den Gesandten Gottes zu glauben und zu verkündigen. Zugleich haben sich die Anhänger Jesu entschlossen, ihre Botschaft nicht nur an ihre jüdischen Glaubensgenossen, sondern an alle Menschen zu richten. In der Folge dieser Entscheidung breitete sich das Christentum rasch aus, zunächst im Mittelmeerraum und in den östlich davon liegenden Gebieten Asiens. Mit der wachsenden politischen Bedeutung (Mittel-)Europas am Übergang vom Altertum zum Mittelalter wurde dann dieser Kontinent christlich, in einer westlichen und in einer östlichen Variante. Gleichzeitig verloren andere Gebiete durch das Vordringen des Islam ihre christliche Prägung, insbesondere der Nahe Osten und Nordafrika, für einige Jahrhunderte auch die Iberische Halbinsel. Das vorderasiatische Christentum, das sich bis Zentralasien und sogar bis Indien und China ausgebreitet hatte, verlor an Bedeutung und verschwand weitgehend. Mit der weltweiten Expansion der europäischen Zivilisation in der Neuzeit gelangte auch das Christentum in alle Gebiete der Erde: Entdeckungsreisen und der damit zusammenhängende Kolonialismus waren immer mit christlicher Mission verknüpft. In der Folge ist das Christentum heute nicht nur in Europa, sondern auch in Nord- und Südamerika, in Australien, in weiten Teilen Afrikas sowie in manchen Gebieten Asiens die vorherrschende Religion. Doch auch dort, wo andere Religionen dominieren, gibt es christliche Gemeinden. Allerdings sollte nicht übersehen werden, dass auf der Erde auch etliche Regionen zu finden sind, in denen es kein Christentum gibt.

1.Geschichtskonstruktion und Erinnerungskultur

Perspektiven und DeutungDie Geschichte der Ausbreitung des Christentums lässt sich als ungeheure Erfolgsgeschichte lesen: Aus kleinen und bescheidenen Anfängen, die lokal begrenzt waren, ist rasch und nachhaltig eine Weltreligion und zugleich ein politisch und gesellschaftlich wichtiger Faktor geworden. Diese Ausbreitungsgeschichte lässt sich allerdings auch ganz anders interpretieren, etwa als Unterdrückungsgeschichte, und solche Interpretationen werden immer häufiger: Indigene Völker beklagen, dass mit dem Christentum nicht nur ihre alten Religionen, sondern auch gesellschaftliche Strukturen und Werte verändert und somit ihre Identität zerstört worden seien. Dem Christentum wird zudem vorgeworfen, durch die große Nähe zu Herrschaft und Macht wenigstens billigend an Ungerechtigkeit und Gewalt beteiligt gewesen zu sein. Die Intoleranz der christlichen Lehre gegenüber anderen Religionen hat diese häufig verdrängt. Die Unterdrückung aller anderen religiösen Phänomene gehörte oft zum Programm der Christianisierung, wie es von den Akteuren und den Zeitgenossen verstanden wurde. Mit dem europäischen Christentum wurden auch seine Spaltungen exportiert, so dass bis dahin homogene Gesellschaften durch die Christianisierung in Glaubensauseinandersetzungen hineingezogen wurden und diese zu bestehen hatten. Die Rhetorik nicht nur radikaler Islamisten, in der die westlichen, vor allem die amerikanischen Truppen bei den militärischen Auseinandersetzungen der letzten Jahre im Nahen Osten als Kreuzfahrer bezeichnet werden, macht deutlich, wie tief historische Erinnerungen sitzen und die Interpretation gegenwärtiger politischer Ereignisse steuern können.

Dieses Beispiel zeigt, dass sich historische Ereignisse und Prozesse immer auch aus anderen Perspektiven sehen und zeigen lassen. Es herrscht weitgehend Übereinstimmung darüber, dass Geschichte ein soziales Konstrukt ist, das zumeist eine praktische Absicht verfolgt. Es gibt nicht die Geschichte so, „wie es eigentlich gewesen“ ist (Leopold von Ranke), ‚objektiv‘, sondern es gibt viele Arten, die Quellen und Zeugnisse vergangener Ereignisse und Epochen zu interpretieren. Die Ausbreitung des Christentums als einzigartige Erfolgsgeschichte oder als Katastrophe für indigene Völker und jahrhundertealte Kulturen: Jede der beiden Interpretationen lässt sich mit guten Gründen und Argumenten vertreten, dazu viele weitere, auch differenziertere. Jede schriftlich fixierte Geschichte muss deshalb kritisch gelesen werden; das gilt selbstverständlich auch für die hier vorliegende.

Geschichte als Erinnerungskultur Allerdings versuchen Menschen und Gruppen immer wieder, die Geschichte in ihrem Sinne darzustellen und ihre Sichtweise zur einzig gültigen zu erklären. Ein Mittel, um das zu erreichen, ist die Erinnerungskultur: Man überlässt die Interpretation der Vergangenheit nicht einfach sich selber, sondern versucht sie zu steuern. Insbesondere Akte der kollektiven Erinnerung dienen hierzu, von denen das Christentum geradezu geprägt ist: Feiern, Gedenktage, Denkmäler sind ebenso wie Mythen, Legenden und Geschichten (im Sinne von Erzählungen) Instrumente der Erinnerungskultur. Auch hierfür ein Beispiel: Mit einiger historischer Wahrscheinlichkeit hat Martin Luther nie seine 95Thesen an das Portal der Schlosskirche von Wittenberg geschlagen (→Kap. 10.2). Doch gehört es zum festen Bestandteil christlicher, vor allem protestantischer Erinnerungskultur, dass dieses Ereignis so stattgefunden hat. Es gibt einen Tag, an dem die Erinnerung daran begangen wird (31.Oktober, Reformationstag), zahlreiche bildliche Darstellungen, an der Tür der Kirche befindet sich heute ein Bronzerelief mit der Abbildung der Thesen, und auch der 2003 entstandene Spielfilm Luther zeigt die Szene eindrucksvoll. Ob der Thesenanschlag historisch war oder nicht, ist ein relativ kleines und unwichtiges Detail, zumal die Thesen ohne jeden Zweifel von Luther stammen und von ihm verbreitet wurden. Doch lässt sich daran einfach nachvollziehen, wie auf ähnliche Weise auch bei anderen Ereignissen die Erinnerung kultiviert und damit in eine bestimmte Richtung gelenkt werden kann.

Geschichte als KonstruktionDas an diesem Beispiel Gezeigte lässt sich auch allgemein formulieren: Gewiss haftet Geschichte, auch die Geschichte des Christentums, an bestimmten Ereignissen der Vergangenheit, die real stattgefunden haben. Das Geschehene als solches ist allerdings nicht mehr unmittelbar zugänglich, sondern nur noch im Medium von Quellen unterschiedlichster Art (vor allem schriftliche und bildliche Erzeugnisse, aber auch monumentale Denkmäler u.a.). Diese Quellen sind nicht einfach Fakten oder Daten, sondern bereits erste Rezeption und Deutung des Geschehenen und bedürfen daher ihrerseits der Deutung. In diesem Prozess interpretierender Rezeption entsteht Geschichte durch Reflexion auf nie objektive Zeugnisse unwiederbringlich vergangener Ereignisse. Geschichtsdarstellungen sind dabei immer Konstruktionen mit Hilfe bestimmter Modelle, zum Beispiel von Fortschritt oder Dekadenz, von Periodisierungen oder Zyklen oder von Entwicklungsprozessen. Während Ereignisse und Zusammenhänge der Gegenwart als unübersichtlich wahrgenommen werden, funktioniert Geschichtsschreibung nach dem Prinzip der retrospektiven Vereinfachung durch Selektion und Ordnung der Fülle der zur Verfügung stehenden Zeugnisse (die in verschiedenen Räumen und Epochen sehr unterschiedlich zahlreich sind). Auf diese Weise wird Geschichte konstruiert und gibt es Geschichte nur im Modus solcher Konstruktionen. Moderne Geschichtsdarstellungen sind zwar bemüht, ihre Konstruktionen möglichst eng an den verfügbaren Quellen zu kontrollieren und hermeneutisch auf ihre Voraussetzungen und die leitenden Interessen der Historiker hin zu befragen. Gleichwohl sind sie – bewusst oder unbewusst–, verglichen mit dem nicht mehr direkt zugänglichen historischen Ereignis, eine Konstruktion, mit der die Identität gegenwärtiger Kollektive (zum Beispiel der christlichen Kirchen) hergestellt und gesichert und grundlegende Überzeugungen formuliert und vermittelt werden sollen.

2.Räume und Raumvorstellungen

Spatial turnBetrachtet man die Geschichte des Christentums unter den genannten Voraussetzungen, so erscheinen manche Probleme und Phänomene in neuem Licht. Doch ist nicht nur Geschichte Konstruktion, sondern auch die konkreten (geographischen) Räume, in denen Geschichte, also historische Ereignisse und Abläufe, stattfand, sind Konstruktionen. Die Geschichte einer Religion, die sich von einem konkreten Ort, nämlich Jerusalem, über die ganze Erde ausbreitet, kann daher nicht nur in Epochen eingeteilt, sondern muss auch unter dem Aspekt des Raumes betrachtet werden. Deswegen gehört es zu einer Geschichte des Christentums, etwas über die Räume zu sagen. In den Sozialwissenschaften spricht man vom spatial turn, also von der Hinwendung zu diesem räumlichen Aspekt, die in den letzten Jahren stattgefunden hat. Tatsächlich widmet man dem Phänomen ‚Raum‘ heute bei der Betrachtung historischer Vorgänge mehr Aufmerksamkeit als je zuvor. Bei der Geschichte des Christentums ist das jedoch in besonderem Maße zu beachten, weil es sich aus einer ursprünglich lokalen Richtung des palästinischen Judentums zu einer Weltreligion entwickelt hat. An verschiedenen Orten kann es zur selben Zeit unterschiedliche Entwicklungsstufen des Christentums gegeben haben, und die Gegebenheiten eines Raumes wirkten auf die Ausbreitung des christlichen Glaubens zurück. Der Raum ist einerseits vorgegeben, doch wird er auch wahrgenommen und gestaltet.

Raum, Kultur, InkulturationIn diesem Zusammenhang ist die Frage der Inkulturation zu beachten, also die Frage danach, wie das Christentum mit Kulturen umgegangen ist, die es vorgefunden hat, und wie es sich zu ihnen verhalten hat. Schließlich ist das Christentum keine unveränderliche Größe, die von außen in Räume eingedrungen ist, sondern es hat sich in diesen Räumen und unter den dort vorgefundenen Bedingungen und Gegebenheiten entwickelt, und es hat diese Räume auch seinerseits gestaltet. Damit ist nicht in erster Linie Kultivierung und landschaftliche Veränderung gemeint, wie sie etwa in christlichen Gebieten durch den Kirchenbau geschieht, sondern die Charakterisierung von geographischen Gebieten in religiöser Terminologie (etwa Bamberg als das ‚fränkische Rom‘, die USA als ‚God’s own country‘, die Kennzeichnung verschiedener Orte mit traditionellem Katholizismus als ‚schwärzeste Stadt Deutschlands‘). Im Falle der Inkulturation ist vor allem in der Neuzeit zu beachten, dass das Christentum in einer bestimmten Prägung auf andere Kulturen und Religionen gestoßen ist. Nicht zuletzt das Christentum römisch-katholischer Tradition hat sich als europäische Religion verstanden, war zumeist bereits von den Auseinandersetzungen mit der Reformation geprägt (gegenreformatorisch, oder nachtridentinisch, benannt nach dem Konzil von Trient im 16.Jahrhundert) und betrachtete sich als überlegene, weil einzig wahre Religion. Die Frage nach Dialog oder gegenseitigem Respekt stellte sich also wegen der Intoleranz der christlichen Lehre gegenüber anderen Religionen nicht.

Tatsächlich ist das Christentum in dieser europäischen Prägung in andere Kulturen eingedrungen, hat sich an sie anzupassen versucht oder hat sie verdrängt. Doch dieser Prozess hatte auch seine Konsequenzen für das Christentum. Man bedenke nur die Folgen, wenn man die Grundlagen des christlichen Glaubens in eine Sprache übersetzen möchte, die kein Wort für ‚Gott‘ kennt, wie das etwa im Japanischen der Fall ist. Es ist völlig unmöglich, dass es davon unberührt bleibt: Durch den Kontakt mit den anderen Kulturen musste sich auch das Christentum notwendigerweise entwickeln und verändern. Die Redeweise vom Christentum als einer europäischen Religion muss dann modifiziert werden: Heute gibt es regional geprägte ‚Christentümer‘. In unseren Tagen leben die meisten Christen in Lateinamerika. Das Christentum wird mehr und mehr zu einer Religionsgemeinschaft, die die große Mehrheit ihrer Mitglieder in der südlichen, und das heißt: in der ärmeren und religiös vielfältigeren Hemisphäre der Erde hat. All das hat Auswirkungen auf die konkrete Gestalt des Christentums und ebenso auf seine Selbstbeschreibung und Selbstdarstellung.

Räume als KonstruktionenAuch die Raumvorstellungen, die wir in unseren Köpfen haben, sind Konstruktionen. Wie wir Räume sehen, ist nicht objektiv gegeben und unveränderlich, sondern wird durch unsere Wahrnehmung bestimmt. Das lässt sich anschaulich an einer Karte zeigen, die 1541 von einem zu seiner Zeit bekannten Kartenmaler aus Genua namens Maggiolo erstellt wurde. K01Sie zeigt eine Sicht auf das Mittelmeer aus einer sehr ungewohnten Perspektive. Es ist deutlich, dass die Karte von einem Seefahrer stammt: Alle Küstenorte sind benannt, die See ist im Mittelpunkt, und an den entfernteren Landgebieten hat der Maler kein großes Interesse; die mitteleuropäischen Städte sind als Burgen stilisiert, die afrikanischen Orte als Zelte. Lediglich seine Heimatstadt Genua ist deutlich hervorgehoben.

Wir nehmen heute das Mittelmeer als die Grenze zwischen Europa und Afrika wahr. Wir zählen Portugal, Spanien, Italien und Griechenland zu Europa, ebenso Malta, während Marokko, Algerien, Tunesien und Libyen als afrikanische Staaten betrachtet werden. Besonders deutlich wird das an der Straße von Gibraltar, wo eine Meerenge von wenigen Kilometern die beiden Kontinente trennt. Doch ließe sich das Mittelmeerbecken auch als ein gemeinsamer Raum sehen, der durch das Meer und die anliegenden Küstengebiete gebildet wird, so wie es auf der Karte von Maggiolo dargestellt ist. Das Meer verbindet die Menschen, die an seinen verschiedenen Küsten leben, sie leben in ähnlichen klimatischen Umständen, betreiben auf die gleiche Art Fischfang, bauen die gleichen Früchte an und gehören insofern zu einer Kultur, an den Nordrändern des Mittelmeeres ebenso wie an seinen Südküsten. Tatsächlich war das die Wahrnehmung, die über viele Jahrhunderte vorherrschte: In der Antike, als das Christentum entstand, waren Africa und Europa die Bezeichnungen für die südliche und die nördliche Küste des Mittelmeeres, das als ein Raum, nämlich der des Imperium Romanum gesehen wurde. Aus dieser Sicht, also wenn wir den Mittelmeerraum anders wahrnehmen würden, ließe sich mit ebenso großer Berechtigung von folgenden drei ‚Kontinenten‘ sprechen: einem europäischen Raum nördlich der Alpen, einem afrikanischen südlich der Sahara und eben dem Mittelmeerraum. Das zeigt uns die Karte aus dem 16.Jahrhundert, und sie zeigt, dass unsere heutige Sichtweise von der Grenze zwischen den Kontinenten nur eine von mehreren möglichen ist. Übrigens spricht vieles dafür, dass wir eine solche Sichtweise hätten, wenn das nördliche Afrika christlich geblieben und nicht islamisch geworden wäre.

Dieses Beispiel soll verdeutlichen, dass Räume immer Vorstellungen in unseren Köpfen sind, also Konstruktionen. Wir erkennen Dinge in der Wirklichkeit wieder, weil wir sie wiederzuerkennen erwarten, weil man sie uns gesagt hat bzw. weil wir sie uns vorher zurechtgedacht haben. Aber mit ebenso großer Berechtigung könnte man sie auch anders sehen – es gibt keinen objektiven Grund für die eine oder die andere Wahrnehmung.

3.Die Räume des Christentums

Die eine Welt des antiken ChristentumsWie angedeutet, hat das Christentum seine Anfänge in Palästina. Es hat sich dann sehr bald im Mittelmeerraum ausgebreitet, zunächst vor allem in den Städten. Dazu gehörten auch solche Gebiete, die heute nicht mehr christlich geprägt sind, etwa Nordafrika oder der arabische Raum. Wichtig ist, dass die Verbreitung an Verkehrswege, und zwar vor allem an Wasserwege gebunden war. Meere und Flüsse prägten also Räume, in denen sich das Christentum ausbreitete. Es konzentrierte sich über Jahrhunderte – von einigen Ausnahmen abgesehen – auf das Gebiet südlich der Alpen. Auch als es in unseren Breiten die ersten Christen gab, blieb sowohl im Bewusstsein als auch in der theologischen Diskussion das Mittelmeerbecken der Raum des Christentums schlechthin. Lange Zeit war sein Bereich daher auch weitgehend faktisch (nicht programmatisch) mit dem Römischen Reich identisch, in dem es allmählich zur größten und wichtigsten Religion wurde. Als das Imperium Romanum im 4.Jahrhundert geteilt wurde, hatte das auch Auswirkungen auf die Kirche: Es entstand ein westlicher Reichsteil, in dem Latein gesprochen wurde, dessen wichtigster Ort Rom war und in dem lange Zeit instabile politische Verhältnisse herrschten, bis er schließlich im späten 5.Jahrhundert zerfiel. Und es gab das Oströmische (oder: Byzantinische) Reich mit der neu errichteten Hauptstadt Konstantinopel und relativ stabilen politischen Verhältnissen; immerhin existierte es mehr als tausend Jahre, bis zur Eroberung der Stadt durch die Osmanen 1453.Hier wurde vor allem Griechisch gesprochen, aber auch Syrisch und andere Sprachen. Dennoch war man sich bewusst, dass die Kirche in beiden Reichshälften ein und dieselbe war. Sie wurde vor allem durch die Einheit im Glauben zusammengehalten, um den oft hart gerungen wurde, und durch die kirchliche Gemeinschaft, die sich primär als Eucharistiegemeinschaft äußerte: Mit wem man gemeinsam die Eucharistie feiern konnte, mit dem gehörte man zur einen Kirche Jesu Christi. Das konnte sich in einer konkreten gemeinsamen Feier manifestieren, in der Regel aber durch die Nennung von Bischöfen im eucharistischen Gebet, wie es ja heute noch der Fall ist, wenn etwa in der römischen Messe der Bischof von Rom und der Ortsbischof genannt werden.

Es muss hinzugefügt werden, dass sich das Christentum von seinen Anfängen an auch nach Osten, nach Asien ausgebreitet hat. Die syrische Kirche verbreitete sich bis nach Indien und China. Der vordringende Islam und später die Mongolenangriffe löschten dieses Christentum jedoch fast vollständig aus. In der Wahrnehmung der Reichskirche, also innerhalb des Römischen Imperiums, spielte dieses Christentum aber keine besondere Rolle, weil es sich östlich der Reichsgrenzen befand, im Perserreich und anderen, weit entfernten Gebieten, so dass man von Rom und Konstantinopel aus keinen Zugriff und keine Einflussmöglichkeiten auf die Kirchen dort hatte. Die christliche Kirche war schon so stark Reichskirche geworden, dass man Christentum außerhalb der Grenzen nicht im gleichen Maße als dazugehörig wahrnehmen konnte. Theologische Entwicklungen, in deren Verlauf die syrische Kirche in den Verdacht der Häresie geriet, unterstützten das Phänomen noch, dass man sie nicht als Teil der einen Kirche betrachtete.

Die zwei Welten des mittelalterlichen ChristentumsDieses Bewusstsein von Zusammengehörigkeit der westlichen und der östlichen Kirche im Reich änderte sich entscheidend durch die Allianz, die die römischen Bischöfe mit den Franken schlossen und die durch die Kaiserkrönung Karls des Großen im Jahre 800 deutlich wurde. Jetzt entstand nördlich der Alpen ein bislang kaum beachteter Machtfaktor, ein christliches Reich, das beanspruchte – und zwar mit Erfolg–, auf Kirchenangelegenheiten Einfluss zu nehmen. Gleichzeitig drang aus dem arabischen Raum der Islam vor und verbreitete sich in den südlichen Mittelmeerraum und von dort nach Südwesteuropa. So entstanden zwei neue Räume: ein westchristlicher, der sich auf das westliche Europa südlich und nördlich der Alpen erstreckte, aber nicht mehr auf Nordafrika, das islamisch geworden war. Es war das Gebiet der Latinitas, also dort, wo unter den Gebildeten Latein gesprochen wurde, das auch die Sprache der Liturgie war und blieb. Zugleich entstand ein ostchristlicher Raum, der sich ebenfalls nach Norden verschob: Das südöstliche Mittelmeergebiet wurde islamisch, dafür wurden die Gebiete um das Schwarze Meer und nördlich davon, heute die Ukraine und Russland, christlich, und zwar in der ostchristlichen, griechischen Tradition, weil sie von Byzanz (Konstantinopel) aus missioniert wurden. Hier gab es keine einheitliche Sprache wie im Westen, da sich in Kirche und Liturgie von Anfang an das Prinzip der Volkssprache durchsetzte. Das Mittelmeerbecken als der erste Raum des Christentums wurde durch ‚Europa‘ abgelöst, allerdings in einer sprachlichen, kulturellen und kirchlichen Zweiteilung. Diese Teilung bleibt bis heute bestimmend. Die meisten Gymnasiasten können im schulischen Geschichtsunterricht etwas von den Auseinandersetzungen zwischen Papst und Kaiser und von der Reformation hören, aber in der Regel nichts davon, was gleichzeitig im Byzantinischen Reich oder in Russland geschehen ist. Die politische Trennung im 20.Jahrhundert hat das eher noch verstärkt: Wir nehmen bis heute nicht oder nur sehr eingeschränkt wahr, was östlich (oder südlich) von uns geschieht, im kirchlichen Bereich ebensowenig wie im profanen.

Die vielfältige Welt des neuzeitlichen ChristentumsÜber Jahrhunderte blieb das Christentum zu seinem größten Teil auf den europäischen Raum beschränkt und entwickelte sich hier. Auch fand im 16.Jahrhundert die Reformation hier statt, in deren Folge sich das westliche Christentum in mehrere Konfessionen spaltete. Eine Öffnung dieses christlichen Raumes geschah erst mit den Entdeckungsreisen, vor allem mit der Entdeckung Amerikas und der Missionierung des Kontinents. In den neuen Erdteilen entstand ein außereuropäisches Christentum, das anfangs noch lange Zeit von Europa abhängig war, dann jedoch eigene Strukturen und Schwerpunkte entwickelte. Hier lässt sich nur in Stichworten andeuten, welche Folgen das hatte: Veränderungen in der Liturgie; die Problematik der Mission im Zusammenhang mit dem Kolonialismus; das Abrücken vom Eurozentrismus; das Entstehen einer weltweiten ökumenischen Bewegung; das Entstehen von regionalen ‚Christentümern‘. Das Christentum wurde bunter und vielfältiger, als es jemals war. Gesellschaftliche Entwicklungen trugen dazu bei: die Erfindung des Buchdrucks, die es ganz einfach machte, neue Gedanken schnell und in großer Anzahl zu verbreiten; neue Medien, die Kommunikation davon unabhängig machen, dass die Gesprächspartner am gleichen Ort sind; einfachere Möglichkeiten, auch große Entfernungen in kürzester Zeit zu überwinden. All das sind Faktoren, die das Christentum in der Neuzeit stark veränderten. Auch innerhalb der katholischen Kirche, die ja oft als monolithischer Block erscheint, wurde deutlich, dass es regionale Spezifika gibt, die sich etwa in theologischen Entwicklungen, der Bedeutung von nationalen und regionalen Bischofskonferenzen oder Veränderungen in der Liturgie zeigten. Bei allem Blick für lokale Besonderheiten und je eigene Traditionen nimmt das Christentum heute aber die Welt als seinen Raum wahr, es sieht sich nicht mehr auf ein bestimmtes Gebiet beschränkt. Die Kirchen sind insofern ein global player, ja sie haben sogar durch ihre historische Entwicklung die Globalisierung in gewisser Weise vorweggenommen.

Es sei nochmals festgehalten: Geschichte geschieht immer in konkreten Räumen, die von den Akteuren wahrgenommen werden und umgekehrt wieder auf die historischen Abläufe und deren Wahrnehmung einwirken. Wichtig ist zu verdeutlichen, dass alle Räume wie auch alle Geschichte Konstruktionen sind; sie sind veränderlich und unterliegen der Interpretation. Wir brauchen sie, um unsere Wahrnehmung der Welt zu gliedern und um auf diese Weise die Welt verstehen zu können.

4.Raum und Grenze

Grenzen als KonstruktionenRäume werden gemeinhin durch Grenzen definiert. Das können Staatsgrenzen oder andere politische Grenzen im modernen Sinne sein, aber auch etwa natürliche Grenzen wie Flüsse, Küsten und Gebirge, oder Sprach- und Kulturgrenzen. Doch auch Grenzen sind in aller Regel Konstruktionen, die uns helfen, die Welt einzuteilen und damit zu erfassen. In fast allen Fällen ließen sich Grenzen mit guten Gründen auch anders setzen. Wie das Beispiel der Mittelmeerkarte gezeigt hat, K01gilt das sogar für, natürliche‘ Grenzen: Das Mittelmeer lässt sich als gemeinsamer Raum oder als Kontinente trennende Grenze konstruieren. Ein Fluss etwa kann Städte, Regionen und Länder teilen, er kann sie aber auch miteinander verbinden. Die Alpen als der große europäische Gebirgszug haben natürlich Grenzcharakter, doch finden sich etwa nördlich und südlich von ihnen ähnliche Siedlungs- und Bewirtschaftungsformen; sie haben also auch verbindenden Charakter.

Bei politischen und natürlichen Grenzen scheint ihr Verlauf in der Regel klar. Doch zeigt sich, dass wir auch hier zu Konstruktionen greifen müssen. Über lange Jahrhunderte, bis in die Neuzeit hinein, waren feste Staatsgrenzen unbekannt. Die Linien, mit denen heute in Atlanten zur Geschichte die Grenzen des Römischen Reiches, des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation und anderer Imperien eingezeichnet sind oder die die Verbreitung des Christentums illustrieren sollen, entsprechen nur in den wenigsten Fällen einer Realität. Staatliche Macht erstreckte sich bis in die Neuzeit nur auf die Gebiete, in denen man Militärposten unterhalten und Steuern einziehen konnte. Historisch lässt sich hier in den meisten Fällen kaum von festen Grenzen sprechen, sondern eher von Grenzräumen, die mal dem einen, dann wieder dem anderen Herrschaftssystem zuneigten oder zugehörten.

Ganz ähnlich verhält es sich etwa bei kulturellen oder religiösen Grenzen. In diesen Fällen werden eigentlich nicht die Räume durch Grenzen festgelegt, sondern umgekehrt die Grenzen durch die Räume bestimmt. Bei den Grenzen des deutschen Sprachgebiets muss man zuerst den Raum bestimmen, also die Gebiete, in denen deutsch gesprochen wird, und kann dann die Grenzen dieses Raumes festlegen. Ähnliches gilt für Konfessionsgrenzen. In solchen Fällen werden die Grenzen von den Inhalten oder den Besonderheiten des Raumes bestimmt. Es kann also je nachdem, ob man vom Raum oder von dessen Charakteristika ausgeht, ein Perspektivenwechsel stattfinden. Steht der Raum im Vordergrund, lautet die Frage, die durch die Bestimmung einer Grenze beantwortet werden soll: Wie?, also etwa: Wie wird in diesem Gebiet gesprochen? Geht es um die Sache, antwortet die Grenze auf die Frage: Wo?, in unserem Beispiel also: Wo wird deutsch gesprochen?

GrenzräumeNun zeigt es sich allerdings, dass es bei solchen Grenzen zahlreiche Überschneidungen gibt, also Gebiete, in denen deutsch und noch eine andere Sprache gesprochen wird, oder in denen Katholiken und Orthodoxe leben. Die Funktion einer Grenze, einen Raum von einem anderen abzugrenzen, ihn zu bestimmen, funktioniert in solchen Fällen offensichtlich nicht. Man muss hier ebenfalls von Grenzräumen oder Grenzbereichen sprechen.

K01Maggiolo, Portolan-Karte (1541)

Grenzen können also sehr häufig einen bestimmten Raum gar nicht abgrenzen, und sie stellen auch sehr oft keine Trennung dar, sondern haben immer auch eine verbindende Funktion. Die Grenze ist ja der Ort der Berührung. Wenn etwa ein Fluss eine Grenze bildet, so ist doch dieses Gewässer zugleich der Ort, an dem Schiffe landen und es Kontakt mit der anderen Seite geben kann. Das gilt auch und gerade für kulturelle und religiöse Grenzen. Vor allem an den Rändern religiöser Grenzräume gab es stets Phänomene, die die Durchgängigkeit der Grenzen verdeutlichten. Einige Beispiele: Katholiken und Protestanten in Deutschland teilten sich Kirchengebäude und lernten in verschiedenen Gebieten, insbesondere in den konfessionell nicht eindeutig geprägten Städten, miteinander zu leben; orthodoxe Theologen übernahmen – häufig nach Studienaufenthalten im Westen – katholische oder evangelische Denkmodelle, um die Lehre ihrer eigenen Kirche zu systematisieren; bei den Muslimen in Südosteuropa lassen sich manche Spuren der christlichen Volksfrömmigkeit finden, bis hin zu Elementen einer Marienverehrung bei bosnischen Muslimen. Das heißt nicht, dass die Konfessionen oder gar die Religionen problemlos miteinander leben konnten; wir wissen schließlich ja auch von vielen Konflikten und Beispielen für Intoleranz und Gegensatz. Aber es zeigt, dass die religiösen Grenzen in Europa keineswegs undurchlässig und unüberwindbar waren. Das wurden sie zumeist erst dann, wenn sie mit anderen Grenzen, insbesondere – in der Neuzeit – mit nationalen Grenzen, zusammenfielen. In diesen Fällen wurde das religiöse Bewusstsein instrumentalisiert, zum Teil auch erst geweckt, um eine Homogenisierung zu erreichen.

5.Staat und Nation

Staat und Herrschaftsbereich Wenn man geschichtliche Abläufe auch in ihrer räumlichen Dimension betrachtet, muss der Staat eine zentrale Rolle spielen. Doch hat sich der Begriff des Staates im Laufe der Geschichte erheblich gewandelt. Historische Gebilde, die wir mit diesem Wort bezeichnen, haben wenig mit dem modernen Staat zu tun. Daher ist es oft angemessen, etwa von Herrschaftssystemen oder Herrschaftsformen zu sprechen. Die Elemente, mit denen wir in der Moderne einen Staat definieren – etwa festes Territorium, Staatsvolk, funktionierende Ausübung von Macht, Verwaltung–, lassen sich bei den historischen Staatsgebilden nur selten finden. Die Frage nach dem Territorium ist schon erläutert worden. Für Staaten in der Geschichte ist es zudem typisch, dass sich das Territorium häufig ändert. Das lässt sich auch in der Gegenwart sehen, wenn man etwa bedenkt, welche Grenzen Deutschland allein im 20.Jahrhundert hatte, und sich Karten mit den Grenzen von 1914, 1918, 1937, 1949 und 1990 betrachtet. Vormoderne Staaten verfügten aber in der Regel nicht über ein festes Staatsgebiet. Die Peripherien von Staatsgebieten hatten immer ausgefranste und unklare Ränder. Auch bedeutete etwa die (militärische) Kontrolle über eine Stadt noch nicht, dass diese Stadt und ihr Einzugsgebiet zum festen Herrschaftsgebiet gehörten. Bei den Römern etwa wurde eine Militäreinheit dorthin verlegt, und eine kleine Schicht von Beamten regelte die finanziellen Angelegenheiten, die sich vor allem auf das Einziehen von Steuern beschränkten. Für die betroffene Bevölkerung änderte sich meist nicht viel, zumal es letzten Endes keine Rolle spielte, an wen man die Abgaben zu leisten oder für wen man in den Krieg zu ziehen hatte. Nationale Empfindungen, die hier von Bedeutung hätten werden können, sind eine moderne Erscheinung; sie spielten über viele Jahrhunderte keine Rolle.

Nationen als KonstruktDas ist ein weiterer Punkt, der den modernen Staat von historischen Phänomenen unterscheidet. Das nationale Bewusstsein ist in den letzten Jahrzehnten Gegenstand umfangreicher historischer Forschungen gewesen. Heute ist unumstritten, dass nationale Zugehörigkeit ebenfalls ein soziales Konstrukt ist: Wir sind Deutsche (oder Franzosen, Schweden etc.), weil wir alle denken, dass wir Deutsche (Franzosen, Schweden etc.) sind, weil man es uns gesagt hat, weil wir so erzogen worden sind. Es gibt aber kein objektives Kriterium hierfür, wie etwa Abstammung. Die Angehörigen einer Nation sind untereinander nicht mehr oder weniger miteinander verwandt als mit den Angehörigen von Nachbarnationen; es gibt keine ‚Gemeinschaft des Blutes‘. Gerade in Mitteleuropa, wo von den Völkerwanderungen bis zu den Vertreibungen nach dem Zweiten Weltkrieg immer wieder Menschen ihre angestammten Wohnorte verlassen mussten, ist jede Vorstellung der gemeinsamen Abstammung einer Nation fiktiv.

Das Bewusstsein von einer Zugehörigkeit aller zu einer Nation ist im 19.Jahrhundert entstanden und hat sich seither sehr wirkmächtig entfaltet. Nunmehr war der Gedanke möglich, dass es zwischen Herrschern und Beherrschten eine elementare Gemeinsamkeit gibt, nämlich die Zugehörigkeit zur selben Nation. Dieses Band wurde jetzt als stärker gedacht als etwa soziale oder politische Unterschiede (der deutsche Kaiser WilhelmII. beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs: „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche“). In der Vormoderne wäre das ein absurder Gedanke gewesen. Ein Herrscher konnte Seinesgleichen in den Herrschern anderer Staaten sehen, nicht aber in den von ihm beherrschten Untertanen, mit denen ihn nichts verband. Daher war es auch etwa völlig unnötig, mit ihnen eine gemeinsame Sprache zu haben; es gibt zahlreiche Beispiele dafür, dass die Eliten und die beherrschten Menschen unterschiedliche Sprachen verwendeten. Die Erweiterung von Herrschaftsgebieten durch Eroberungen brachte mehr Macht, mehr Ausdehnung und mehr Einnahmen; die neu hinzugewonnenen Untertanen aber wurden gleichsam als zu diesem Territorium gehörig betrachtet; sie waren damit auch nicht mehr Fremde. Erst mit dem Nationalgedanken, der danach strebte, alle Angehörigen einer Nation in einem Staat (dem Nationalstaat) zu vereinen, wurde es möglich, die Angehörigen der eigenen Nation in anderen Staaten zu ‚befreien‘, um mit ihnen in einem Staat zu leben. Jetzt konnte man Eroberungszüge und Machtwillen national kaschieren, um ein edles und allgemein akzeptiertes Motiv für Krieg und Gewalt zu haben. In der Moderne lassen sich die Folgen dieser Entwicklung betrachten: Völkermord und ‚ethnische Säuberung‘ sind die logische Konsequenz aus Machtwillen in der Kombination mit nationalem Bewusstsein. Auch ist die Mobilisierung der Bevölkerung für eine nationale Idee in der Vormoderne nicht denkbar, und Freiwilligenarmeen tauchten im großen Maße erst dann auf, als es die Vorstellung von einem Vaterland gab, das man verteidigen muss. Jedenfalls ist der Nationalismus eine relativ junge Erscheinung und damit auch die Idee, dass es eine enge, irrationale Verbindung zwischen den Bewohnern eines Staates und diesem Staat gibt.

Herrschaftssysteme Schließlich unterscheidet sich der moderne Staat vom staatlichen Gebilde der Vormoderne dadurch, dass Machtausübung und Verwaltung anders funktionieren. Ein Staat, der überall auf seinem Staatsgebiet und unter allen seinen Bürgern Recht durchsetzen kann und will, ist relativ neu. Schon in antiken Staaten funktionierten manche Elemente der Verwaltung erstaunlich gut (so etwa bei den Römern die Militärverwaltung), doch lässt sich nicht von einem durchorganisierten und verwalteten Staat sprechen. Er funktionierte immer nur in mehr oder weniger großen Bereichen; an anderen hingegen war er nicht interessiert. In ähnlicher Weise war auch ein Herrscher häufig nicht einfach an der Spitze eines Herrschaftssystems, einer Regierung, sondern er stand einem Personenverband vor, den er sich durch verschiedene Privilegien loyal zu halten versuchte. Diese Gruppe, aus der sich häufig die soziale Schicht ‚Adel‘ entwickelte, garantierte dem Herrscher einerseits, dass seine Herrschaft von einer Gruppe getragen wurde, auf die er sich (in der Regel wenigstens) verlassen konnte, und ermöglichte zugleich den Mitgliedern dieser Gruppe eine privilegierte Position in unmittelbarer Nähe zur Macht, mit der Möglichkeit, auch Zugang zu ökonomischen Ressourcen zu erhalten. Auch in den modernen Staaten lässt sich diese Nähe zwischen politischer Macht und wirtschaftlichen Interessen beobachten, doch gibt es zumeist Kontrollmechanismen, die wenigstens groben Missbrauch verhindern oder erschweren, und die soziale Mobilität ist heute wesentlich größer; es ist also einfacher (wenn auch nicht einfach), aus machtferneren Positionen in den Bereich der Machtausübung zu gelangen.

Es wird deutlich, dass die Bevölkerung bei der vormodernen Struktur keine besondere Bedeutung hat, jedenfalls keine aktive. Hier sind deutliche Unterschiede zwischen den verschiedenen Regionen zu sehen, und in Europa vor allem zwischen Stadt und Land. In den Städten entwickelte sich ein Bürgertum, das selbstständig auftreten, eigene Rechte einfordern und politisch agieren konnte. Es kam zur Herausbildung einer Gesellschaft, also dazu, dass sich die Bevölkerung nach sozialen Merkmalen strukturierte. Das war auf dem Land nicht so, denn dort lebte die Bevölkerung in Subsistenzwirtschaft, musste also ihre Arbeitskraft für das eigene physische Überleben investieren. Insgesamt kann jedoch auf die Vormoderne die Vorstellung von einem Staatsvolk im Sinne eines politisch agierenden Subjekts nicht angewendet werden.

Es zeigt sich also, dass der Staatsbegriff nicht ideal ist, wenn wir damit Realitäten früherer Epochen umschreiben wollen. Doch ist er für ein historisches Denken, das geographische Räume berücksichtigen will, ebenso notwendig wie die Vorstellung von festen Grenzen; sie müssen eben beide kritisch reflektiert werden.

Christliche Kirchen und staatliche HerrschaftFür die Kirchengeschichte haben diese Erkenntnisse große Bedeutung. Üblicherweise wird von der Beziehung zwischen Kirche und Staat gesprochen. Wenden wir aber einen modernen Staatsbegriff an, dann werden wir kaum adäquat erfassen, dass es historisch in der Regel um die Beteiligung kirchlicher Würdenträger an profaner Herrschaft ging, dass wir also viel mehr an Personenbeziehungen als an Strukturen zwischen Institutionen denken müssen. Das zeigt sich etwa, wenn die Bischöfe ab dem 4.Jahrhundert das Privileg erhalten, sich an den Instanzen des Römischen Reiches vorbei direkt an den Kaiser zu wenden. Im Investiturstreit kämpften Papst und Kaiser um das Recht, die Bischöfe einzusetzen. Der Erfolg der Reformation war in vielem davon abhängig, dass die Reformatoren das Ungleichgewicht zwischen dem Kaiser und den Landesfürsten ausnutzen konnten; viele Fürsten unterstützten nicht so sehr aus Glaubensgründen die eine oder die andere Seite, sondern wegen der politischen Konstellation. Diese Beispiele machen deutlich, dass die Beziehungen der Kirchen zu Herrschaftsformen nicht in den Kategorien eines neuzeitlichen Staates gedacht werden dürfen.

In ähnlicher Weise lässt sich das auch über die Bedeutung der Nation für die Kirchengeschichte sagen. Seit der Entstehung des modernen Nationsgedankens haben sich Kirchen oft sehr eng an Nationen angelehnt (und umgekehrt). Nationale und religiöse Konflikte sind häufig miteinander verbunden; es mag hier genügen, auf Nordirland, das frühere Jugoslawien oder die Konflikte im Nahen Osten zu verweisen, um das zu zeigen. Die Frage der Nation hat also auch weitreichende Implikationen für die Kirchengeschichte.

6.Kirchengeschichte und Theologie

Viele der oben dargestellten Erkenntnisse stammen aus der allgemeinen historischen Forschung. Daher ist zu fragen, ob es denn ein Spezifikum der Kirchengeschichte gibt, das sie als theologische Disziplin qualifiziert und von historischer Beschäftigung mit kirchlichen Phänomenen unterscheidet. Anders ausgedrückt: Unterscheiden sich die Ergebnisse eines Profanhistorikers von denen eines Kirchengeschichtlers, wenn sie dasselbe historische Phänomen untersuchen?

Kirchengeschichte als historische DisziplinKirchengeschichte versteht sich als historische Disziplin innerhalb der Theologie: Sie ist eine historische Disziplin, gehört damit also in den Bereich der Geschichtswissenschaft, und sie ist dies in der Theologie, zu der sie auch zu zählen ist. Damit hat die Kirchengeschichte eine doppelte Anbindung. Als historisches Fach wird sie die Methoden, Erkenntnisse und Standards der Geschichtswissenschaft beachten. Viele Einsichten hat die Kirchengeschichte von der allgemeinen Geschichtswissenschaft übernommen. Dazu gehört auch, dass die Konzentration auf Institutionengeschichte als veraltet betrachtet werden kann. Zwar sind die Quellen, derer sich historische Forschung bedienen kann, zumeist von, für und über Herrscher und deren Institutionen, aber sie bieten auch Material für eine Sozialgeschichte, in der besondere Gruppen der Bevölkerung in das Erkenntnisinteresse rücken. Die Frauenforschung hat gerade auch in der Kirchengeschichte die Aufmerksamkeit auf die Geschichte von Frauen gelenkt; in diesem Kontext sind Arbeiten zu mittelalterlichen Frauenklöstern, zur Frauenmystik und zu anderen frauenspezifischen Themen entstanden. Ein weiterer sozialgeschichtlicher Aspekt ist die Frömmigkeitsgeschichte: Wie hat zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten das kirchliche und religiöse Leben konkret ausgesehen? Welche Formen haben Menschen entwickelt, um alleine oder in Gemeinschaften ihren christlichen Glauben zu leben? Welche Aspekte standen hierbei im Vordergrund, und wie verhalten sie sich zur Theologie der entsprechenden Zeit? Ein weiterer Themenbereich ist die Untersuchung der Geistlichkeit als sozialer Gruppe: Aus welcher sozialen Schicht kamen die Geistlichen der Kirchen? Wie wurden sie ausgesucht, wie ausgebildet? Welche Karrierechancen gab es, wie wurden sie genutzt? Es ließen sich zahlreiche weitere Themen nennen, die sozialgeschichtlichem Interesse entspringen. Doch nicht nur die Sozialgeschichte gibt neue Impulse, auch Mentalitätsgeschichte, Religionsgeschichte (im religionswissenschaftlichen Sinn), Regionalgeschichte, Kulturgeschichte (des Todes, der Kindheit u.a.) beeinflussen die Kirchengeschichte. Und wie diese Impulse aus der allgemeinen Geschichte empfängt, kann sie ihrerseits Erkenntnisse und Einsichten an diese weitergeben. Es ist klar, dass im vorliegenden Buch diese Aspekte nicht alle bearbeitet und dargestellt werden können, doch müssen sie wenigstens genannt werden. Sie bilden den weiteren Horizont einer Einführung in die Geschichte des Christentums, die sich nicht auf die Darstellung rein binnenkirchlicher Phänomene beschränkt.

Kirchengeschichte als theologische DisziplinDoch unterscheidet sich die Kirchengeschichte nicht nur durch ihre Inhalte von der Allgemeingeschichte. Sie ist eben auch theologische Disziplin und bringt in die kritische Reflexion des eigenen Glaubens die historische Dimension ein. Insofern hat sie also durchaus auch ein praktisches Interesse: Durch die Erkenntnis historischer Prozesse und Abläufe wird die Theologie in einen geschichtlichen Kontext gestellt. Es wird deutlich gemacht, dass sich viele Erscheinungsformen in der Kirche historisch entwickelt haben, dass es sie früher nicht gegeben hat und dass sie sich ebenso gut anders hätten entwickeln können. Vergessene und verdrängte Alternativen, verpasste und verspielte Chancen werden dadurch sichtbar gemacht. Wie, Christentümer‘ und Kirchen sich heute darstellen, sind sie historisch geworden. Das war nicht immer so selbstverständlich, wie wir das heute sagen. In den letzten beiden Jahrhunderten hat sich allerdings die Erkenntnis durchgesetzt, dass die theologische Einsicht beeinträchtigt und Entscheidendes am Christentum nicht wahrgenommen wird, wenn das Wissen um geschichtliche Entwicklungen und Bedingtheiten vernachlässigt wird. Nur so kann klar werden, was zwar historischer Entwicklung unterliegt, aber immer Teil des christlichen Glaubens gewesen ist und bleibend zu ihm gehört.

Erster Teil

Mission und Ausbreitung des Christentums

Räume

Epochen

Christentümer