Einführung in die Heilpädagogik für ErzieherInnen - Stefanie Kuhlenkamp - E-Book

Einführung in die Heilpädagogik für ErzieherInnen E-Book

Stefanie Kuhlenkamp

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Beschreibung

"Wie gehe ich mit einem gehörlosen Kind um?", "Wie reagiere ich auf ein Kind mit ADHS?" und "Wie gelingt Inklusion in meiner Einrichtung?" Ob Wahrnehmungs- oder motorische Störung, soziale Auffälligkeit oder Behinderung: Betroffene Kinder brauchen besondere Aufmerksamkeit. Mit Informationen und Hilfen aus Psychologie, Pädagogik und Medizin werden Verhaltensweisen oder Behinderungen der Kinder verständlich und nachvollziehbar dargestellt. Die Handlungstipps und Fallbeispiele bieten Wege für den Alltag von ErzieherInnen, zeigen aber auch die Grenzen erzieherischer Arbeit auf.

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Stefanie Kuhlenkamp Beate U. M. Strobel

Einführung in die Heil­pädagogik für ErzieherInnen

Mit 7 Abbildungen und 3 Tabellen6., aktualisierte Auflage

Ernst Reinhardt Verlag München

Prof. Dr. Stefanie Kuhlenkamp, Dipl.-Päd., lehrt an der Fachhochschule Dortmund Soziale Teilhabe und Inklusion; langjährige praktische Tätigkeit in der psychomotorischen Entwicklungsförderung von Kindern und Jugend­lichen.

Beate U. M. Strobel, Dipl.-Psychologin, Zusatzausbildung in Klient­zentrierter Gesprächspsychotherapie, war viele Jahre Dozentin an einer der Fachakademien für Sozialpädagogik in München.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

ISBN 978-3-497-03253-2 (Print)

ISBN 978-3-497-61870-5 (PDF-E-Book)

ISBN 978-3-497-61871-2 (EPUB)

6., aktualisierte Auflage

© 2024 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Verlag Ernst Reinhardt GmbH & Co KG behält sich eine Nutzung seiner Inhalte für Text- und Data-Mining i.S.v. § 44b UrhG ausdrücklich vor.

Printed in EU

Cover: © JackF – fotolia.com

Satz: ew print & medien service gmbh, Würzburg

Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München

Net: www.reinhardt-verlag.de  E-Mail: [email protected]

Inhalt

Vorwort zur 6. Auflage

Einleitung: Der Beruf der Erzieherin – Herausforderung oder Überforderung?

1Heilpädagogische Grundannahmen

1.1Wozu dient Erzieherinnen heilpädagogisches Grundwissen?

1.2Was verstehen wir unter Heilpädagogik?

1.3Wann sprechen wir von Behinderung?

1.4Inklusion

2Zielgruppen heilpädagogischen Arbeitens

2.1Kinder und Jugendliche mit Verhaltensauffälligkeiten

2.1.1Externalisierende Verhaltensauffälligkeiten: Aggression, Hyperaktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung

2.1.2Internalisierende Verhaltensauffälligkeiten: Angst, Trauer, Depression, Essstörungen, Enuresis und Enkopresis

2.1.3Sozial unreife Verhaltensauffälligkeiten: Konzentrationsstörungen

2.1.4Sozialisiert-delinquente Verhaltensauffälligkeiten: Lügen, Stehlen, Weglaufen

2.1.5Es muss nicht immer gleich Therapie sein! – Heilpädagogisches Handeln bei Verhaltensauffälligkeiten

2.2Kinder- und Jugendliche mit sexuellen Missbrauchserfahrungen

2.3Kinder und Jugendliche mit motorischen und körperlichen Beeinträchtigungen

2.3.1Körperbehinderungen

2.3.2Chronische Erkrankungen

2.4Kinder und Jugendliche mit Förderbedarf im Bereich Lernen

2.5Kinder und Jugendliche mit kognitiven / geistigen Beeinträchtigungen

2.6Kinder und Jugendliche mit Wahrnehmungsstörungen

2.7Kinder mit einer Hochbegabung

2.8Kinder und Jugendliche im Autismus-Spektrum

2.9Kinder und Jugendliche mit Förderbedarf im Bereich Sprache, Sprechen und Kommunikation

2.10Kinder und Jugendliche mit Beeinträchtigungen der Sinne

2.10.1Kinder und Jugendliche mit einer Beeinträchtigung des Hörens

2.10.2Kinder und Jugendliche mit einer Beeinträchtigung des Sehens

3Hilfen für Kinder und Jugendliche mit Beeinträchtigungen sowie deren Familien

3.1Interdisziplinäre Frühförderung

3.2Erzieherische Hilfen

3.3Elternarbeit und Gesprächsführung

Auf ein letztes Wort: Der Ruf nach der idealen Erzieherin

Literatur

Sachregister

Vorwort zur 6. Auflage

Das große Interesse an heilpädagogischen Fragestellungen bei Erzieherinnen zeigt sich unter anderem daran, dass Sie gerade die sechste, aktualisierte Auflage dieses Buches in den Händen halten. Wie auch die ersten fünf Auflagen verfolgt das Buch zwei Ziele: Es möchte einerseits Erzieherinnen Einblick in heilpädagogisches Grundwissen gewähren und andererseits die Bedeutung dieses Wissens für die erzieherische Praxis verdeutlichen.

Dabei haben wir uns bei der Auswahl der Inhalte von alltäglichen Fragen der Erzieherinnen leiten lassen.

Das Buch möchte angehende und bereits praktisch tätige Erzieherinnen bei der Erweiterung ihres Wissens und ihrer Handlungskompetenzen unterstützen. Dies ist bedeutsam, da Sie als Erzieherin eine qualifizierte Beobachterin sind. Sie erleben die Kinder über viele Stunden in sehr unterschiedlichen Situationen. Auf der Basis von Fachwissen können Sie den Entwicklungsstand eines Kindes einschätzen und beschreiben. Sie beraten Angehörige entsprechend. Sie übernehmen die Funktion einer Lotsin. So empfehlen Sie Institutionen, die eine Diagnose stellen und weitere Fördermöglichkeiten aufzeigen können. Gleichzeitig sind Sie diejenige, die mit ihrem pädagogischen Handeln, der Gestaltung des pädagogischen Alltags und Angeboten (z. B. Bewegungs- und Sprachförderung) die Kinder begleitet, entlastet und alltagsintegriert fördert.

Gestatten Sie uns, im Folgenden durchgehend von „Erzieherinnen“ zu schreiben, da es doch zu einem sehr hohen Prozentsatz Frauen sind, die diesen Beruf ausüben. Männliche Erzieher sind natürlich ebenso angesprochen!

Dortmund und Nord-Holland, im Januar 2023

Stefanie Kuhlenkamp und Beate U. M. Strobel

Einleitung: Der Beruf der Erzieherin – Herausforderung oder Überforderung?

Inklusion, U-3-Betreuung, Qualitätsmanagement, Sprachstandserhebung, Dokumentation, Zertifizierungen … Diese Aufzählung könnte sicherlich noch um zahlreiche weitere Themen ergänzt werden, die in den vergangenen Jahren Einzug in das pädagogische Arbeitsfeld gehalten haben. Die Ansprüche, die gesellschaftlich, politisch und fachlich an die Betreuung und Bildung von Kindern gestellt werden, scheinen jährlich zu wachsen. Für Erzieherinnen bedeutet dies, sich permanent fachlich auf den aktuellen Stand bringen zu müssen, sich auf eine neue Klientel einzustellen und mit Aufgaben konfrontiert zu werden, die keine direkte Arbeit am Kind bedeuten. Fragen, die sich daher jede Erzieherin sicherlich schon einmal gestellt hat, sind: „Was sollen wir noch alles leisten?“ „Wie kann ich diesen Beruf ein Arbeitsleben lang stemmen?“ „Wie kann ich bei diesen ganzen Belastungen gesund bleiben?“ und „Wie kann ich den mir anvertrauten Kindern gerecht werden?“

Wir hoffen, dass wir Ihnen diesem Buch einige Antworten, vor allem auf die letztgenannte Frage, geben können.

Herausforderungen im Arbeitsfeld

Angehenden Erzieherinnen wird oft erst zum Zeitpunkt der Suche nach einer Praktikumsstelle bewusst, wie groß und vielfältig das Arbeitsfeld für Erzieherinnen inzwischen geworden ist. Viele Praktikantinnen zieht es zunächst in den Arbeitsbereich Kindergarten oder Kindertagesstätte – auch die Kinderkrippe und der Hort werden als attraktive Arbeitsbereiche angesehen. Jugendfreizeitbereiche, die stationäre Kinder- und Jugendhilfe sowie die stationäre und ambulante Behindertenhilfe werden in der Regel zunächst nur von wenigen Erzieherinnen als zukünftiges Arbeitsfeld wahrgenommen.

Auch diejenigen, die ihre Ausbildung nicht im heilpädagogischen Bereich oder in integrativen Einrichtungen absolvieren, realisieren schnell, dass auch in den sogenannten Regeleinrichtungen Kinder betreut werden, die vermehrte Unterstützung und Aufmerksamkeit durch die Fachkräfte erfahren. Neben Kindern mit diagnostizierten Behinderungen und chronischen Erkrankungen sind dies Kinder, die uns in ihrer Entwicklung und ihrem Verhalten auffallen, obwohl sie organisch gesund zu sein scheinen. So berichten Erzieherinnen von Kindern in ihren Gruppen, bei denen sie z. B. Folgendes beobachten:

■Kinder, die unruhig wirken.

■Kinder, die Dinge zerstören und andere hauen.

■Kinder, die sich sozial zurückziehen.

■Kinder, die noch nicht in der Lage sind, altersgemäß zu sprechen.

■Kinder, die in der motorischen Entwicklung eingeschränkt wirken.

■Kinder, die noch nicht altersgemäß ihre Handlungen planen können.

■Kinder, die vieles nicht essen oder anfassen dürfen, weil sie sonst allergisch reagieren.

Förderbedarfe bei Kindern erkennen und angemessen darauf reagieren

Die angehende Erzieherin wird in ihrer Ausbildung theoretisch und praktisch darauf vorbereitet, mit den vielfältigsten Herausforderungen des Kindes- und Jugendalters angemessen umgehen zu können. Sie soll in die Lage versetzt werden, Entwicklungsbeeinträchtigungen und Förderbedarfe rechtzeitig zu erkennen, einzuordnen und angemessen darauf reagieren zu können. Außerdem soll die angehende Erzieherin lernen, wie sie diesen Kindern, im Rahmen ihrer fachlichen Möglichkeiten, hilfreiche Unterstützung zukommen lassen kann. Des Weiteren soll sie Eltern beraten können oder sie ermutigen, zusätzliche, eventuell therapeutische und / oder medizinische Hilfe in Anspruch zu nehmen. In Gesprächen mit anderen Fachpersonen soll sie als Fachfrau ihre Beobachtungen kompetent darlegen und somit Anstöße für weitere diagnostische oder therapeutische Schritte geben können.

Die Erzieherin als wichtige Bezugsperson der Eltern

Erzieherinnen sind oftmals die erste Ansprechperson, wenn sich Eltern Sorgen um ihr Kind machen. Eltern tauschen ihre Beobachtungen mit der Erzieherin aus und erwarten Beratung. Die Erzieherin ist dann oftmals vermittelndes Bindeglied zwischen einem Kleinkind mit besonderen Bedürfnissen, dessen Familie und z. B. einer Frühförderstelle.

Die Vielfältigkeit der Fragestellungen, die auf die Erzieherin zukommt, stellt somit eine echte Herausforderung dar – sowohl an ihre fachliche als auch ihre menschliche Kompetenz. Die Erzieherin muss einerseits erkennen, wo sie mit ihrer Fachlichkeit ansetzen kann. Andererseits muss sie um die Grenzen ihrer Handlungsmöglichkeiten und ihrer Rolle in der Einrichtung wissen. Sie weiß, wann sie die Familien an Hilfesysteme weiterleiten sollte: „Dabei bringen beide Kooperationspartner, Kindertageseinrichtungen einerseits und spezifische Hilfesysteme andererseits, ihre jeweils besonderen Leistungen und Möglichkeiten in die Zusammenarbeit ein“ (Bayerisches Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen 2007, 154).

Insofern ist ihr Beruf zugleich bereichernd und spannend. In der Zusammenarbeit mit Ärztinnen, Psychologinnen, Physiotherapeutinnen, Ergotherapeutinnen, Motopädinnen, Heilpädagoginnen, Logopädinnen und anderen, bietet sich die Chance, täglich Neues zu lernen. Menschliches wird neu erfahren, will verstanden und integriert sein. Damit bleibt die Erzieherin in einem lebendigen Entwicklungsprozess. Diesen Prozess möchten wir mit diesem Buch unterstützen. Es soll die Vielfalt kindlicher Verhaltensformen und -weisen überschaubarer machen und im Sinne eines „Handlaufs“ Orientierung bieten.

Zur Aufteilung dieses Buches

In Kapitel 1 wird zunächst der Frage nachgegangen, warum ein Einblick in heilpädagogisches Grundwissen für jede Erzieherin sinnvoll sein kann. Grundlegende heilpädagogische Ideen und Begriffe werden hier erläutert und in ihrer Bedeutung für pädagogisches Handeln dargestellt.

Das zweite Kapitel vermittelt anhand von Fallbeispielen und grundlegenden Informationen Wissen zu verschiedenen Zielgruppen heilpädagogischer Förderung. Ausgehend von Verhaltensweisen, die uns herausfordern, werden psychische Erkrankungen des Kinder- und Jugendalters, verschiedene Formen der Behinderung sowie Erkrankungen vorgestellt.

Den Abschluss des Buches bildet ein Einblick in ausgewählte Hilfen für benachteiligte Kinder und ihre Familien.

Jedes Kapitel wird von Literaturempfehlungen ergänzt, die wir persönlich für geeignet halten, um die zuvor dargestellte Thematik zu vertiefen. Zudem nennen wir Bilderbücher, Kinder- und Jugendbücher, die nach unserer Erfahrung hilfreich sind, mit einem Kind oder einer ganzen Gruppe kindgemäß eine Problematik anzusprechen und Lösungen aufzuzeigen. Da es sich teilweise um Klassiker handelt oder weil sie besonders lesenswert erscheinen, werden sie auch genannt, wenn sie im Buchhandel bereits vergriffen sind.

1 Heilpädagogische Grundannahmen

In diesem Kapitel werden die wichtigsten Ideen und Begriffe der Heilpädagogik vorgestellt. Sie bilden die allgemeine Basis für die in Kapitel 2 vorgestellten Zielgruppen und die in Kapitel 3 vorgestellten Hilfen.

1.1Wozu dient Erzieherinnen heilpädagogisches Grundwissen?

Wir möchten eingangs betonen, dass Erzieherinnen keine Heilpädagoginnen ersetzen können und sollen. Ihre Rolle und ihr Auftrag in einer Einrichtung sind anders gelagert als die einer Heilpädagogin. Die Ausbildungsinhalte und die damit im späteren Beruf verbundenen Aufgaben unterscheiden sich von denen der Erzieherinnen. In vielen Einrichtungen arbeiten daher Erzieherinnen und Heilpädagoginnen – sich gegenseitig fachlich ergänzend – Hand in Hand. Ein Einblick in heilpädagogischen Grundlagen kann daher helfen, den Austausch untereinander zu vertiefen. Das Verständnis für die Arbeit der jeweiligen Profession kann dazu führen, eine gemeinsame Sprache z. B. in der Elternberatung oder in Berichten zu finden. Erzieherin und Heilpädagogin schauen mit unterschiedlichen Perspektiven auf das Kind. Sie nehmen jeweils andere Rollen für das Kind und seine Familie ein. Im Idealfall greifen die Rollen und Kompetenzen der beiden Fachkräfte ineinander, sodass erzieherischer Alltag und gezielte heilpädagogische Angebote vernetzt werden und in einem steten Austausch stehen.

Heilpädagogisches Grundwissen kann aber auch den Berufsalltag erleichtern, indem es hilft, Verhaltensweisen der Kinder zu verstehen, Beobachtungen gezielt zu beschreiben und entsprechende Elternberatung durchzuführen. Es hilft zu erkennen, wo die Möglichkeiten und Grenzen des eigenen pädagogischen Handelns liegen.

Eine Erzieherin ist also keine „Hilfsheilpädagogin“ oder eine „Heilpädagogin light“. Dieser Anspruch würde dem bereits sehr komplexen Arbeitsauftrag von Erzieherinnen nicht gerecht. Sie ist aber die pädagogische Fachkraft, die die Kinder über viele Stunden hinweg, in vielen unterschiedlichen Situationen eines Kinderalltages begleitet und erlebt. Auf der Basis ihrer gewonnenen Eindrücke sollte sie einschätzen können, welches Kind Förderbedarfe zeigt, um im Sinne einer Lotsin die Familien an weitere Institutionen weiterleiten können. Sie sollte auch erkennen, welche Veränderungen im eigenen Verhalten, der Organisation, Raumausstattung etc. für Kinder förderlich sind, um Entwicklungsprozesse positiv zu unterstützen. Hierzu berät sie sich auch mit Kolleginnen. Diese Aspekte sind außerdem bedeutsam, um die zunehmende Vielfalt in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe zu berücksichtigen. Das folgende Fallbeispiel skizziert diese Vielfältigkeit:

Beispiel

In einer Kindertagesstätte, am Rande einer Großstadt, treffen wir Kinder wie die fröhliche, selbstbewusste Lina oder die eher schüchterne, aber verschmitzte Christina. Christina hat eine beste Freundin, die immer wieder wegen ihres infektabhängigen Asthmas fehlt. Wenn diese wieder einmal krank ist, spielt Christina intensiver mit Ayshe, die vor drei Monaten mit ihrer Familie nach Deutschland gekommen ist. Marcel, ein Junge mit Down-Syndrom, kann sich noch nicht sprachlich mitteilen, versteht sich aber mit Ayshe trotzdem schon recht gut.

Lina spielt besonders gerne mit den Jungen, wobei Gregor, für ihren Geschmack, zu wild und unberechenbar ist. Schon so manches Mal hat sie Gregor gehauen, weil dieser sie zu grob angefasst hat. Da auch die anderen Kinder von seiner spürbaren inneren Anspannung abgeschreckt sind, ist die Erzieherin besonders gefordert, Gregor die notwendige Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, ohne dabei die anderen Kinder aus dem Blick zu verlieren oder Gregors Verhalten zu verstärken. Ihr ganz großes Anliegen ist, bei den Kindern Verständnis für Gregor zu wecken, indem sie ihnen hilft, ihn besser zu verstehen. Dabei ist ihr der Berufspraktikant Matthias eine wertvolle Hilfe. Gregor und andere Jungen haben Matthias nämlich längst als eine Art großen Bruder und Vorbild angenommen.

An diesem Beispiel wird deutlich, wie vielschichtig die Arbeitswelt und die Ansprüche von Erzieherinnen geworden sind. So werden z. B. durch die Idee der Inklusion zunehmend Kinder mit Behinderungen in Regeleinrichtungen betreut. Aber auch Kinder ohne Behinderung benötigen die zusätzliche Aufmerksamkeit der Erzieherin. Dies sind z. B.:

■Kinder, die mit chronischen Krankheiten leben.

■Kinder, die in zwei Kulturen aufwachsen.

■Kinder, die Krieg, Gewalt und Flucht erlebt haben.

■Kinder, die Verhaltensweisen zeigen, die ihre gesunde Entwicklung beeinträchtigen.

■Kinder, die in prekären Lebenslagen (Armut) aufwachsen.

Heilpädagogisches Grundwissen kann helfen, mit diesen komplexen Herausforderungen angemessen umgehen zu können. Sie unterstützt dabei, ein pädagogisches Setting zu gestalten, „das sich an den Bedürfnissen aller Kinder orientiert und entwicklungsangemessene Impulse zur Förderung gibt“ (Albers 2012, 12).

1.2Was verstehen wir unter Heilpädagogik?

„Heilpädagogik steht bei, hält aus und findet Wege“ (Timpe 2014, 3).

Die Heilpädagogik wendet sich an die Menschen, deren Entwicklung unter erschwerten Bedingungen erfolgt. Diese Beeinträchtigungen können hinsichtlich ihres Schweregrads und ihrer Ausprägung variieren. Beeinträchtigungen können sich auf den Körper, die Sinne, die Sprache / Kommunikation, Psyche, Kognition und / oder das Sozialverhalten beziehen.

Der Begriff der Heilpädagogik existiert bereits seit dem 19. Jahrhundert. Er wurde in seiner Bedeutung oftmals verändert und diskutiert. Sie haben sicherlich auch schon die Begriffe „Sonderpädagogik“, oder „Behindertenpädagogik“ gehört, die häufig gleichbedeutend verwendet wurden und werden (Fischer / Renner 2011). Der Begriff Heilpädagogik bezeichnet aktuell „eine vertiefte, intensivere oder verfeinerte Allgemeine Pädagogik“ (Fischer / Renner 2011, 19). Hier wird also deutlich, dass die Basis die Allgemeine Pädagogik bildet, wie sie auch Erzieherinnen anwenden. Heilpädagogik wendet sich an die Menschen, die aufgrund sozialer und / oder individueller Prozesse von Ausgrenzung bedroht sind. Ihr Ziel ist „die Herstellung oder Wiederherstellung der Bedingungen für eigene Selbstverwirklichung und Zugehörigkeit, für den Erwerb von Kompetenz und Lebenssinn, also um ein Ganz-Werden […], soweit es dazu spezielle Hilfe bedarf“ (Speck 1998, 61).

In diesem Zitat finden wir mit den Begriff „Ganz-Werden“ einen Hinweis auf eine der wichtigsten Haltungen der Heilpädagogik: Die Ganzheitlichkeit. Der Mensch wird in der Heilpädagogik in seiner Gesamtheit betrachtet. Leib, Seele, Geist und Entwicklungsumwelt beeinflussen sich gegenseitig und bilden eine Einheit. Wenn ein Kind durch sein Verhalten auffällt, müssen also alle Ebenen betrachtet werden, um Ursachen und mögliche Ansatzpunkte zu erkunden. Anhand eines Fallbeispiels wird dies nachfolgend verdeutlicht:

Beispiel

Marcels Eltern wird im Elterngespräch berichtet, dass ihr Kind immer wieder durch Schlagen anderer Kinder in der Gruppe auffalle. Inzwischen möchte kaum noch ein Kind mit ihm spielen. Die Eltern beobachten zu Hause Konflikte mit der zwei Jahre jüngeren Schwester, die ebenfalls häufig in körperlichen Auseinandersetzungen enden. Ansonsten wirke Marcel sehr ruhig, fast schon zurückgezogen. Er spricht insgesamt wenig. Er entschuldigt sich bei den anderen Kindern. Laut Aussage der Eltern weiß er auch, dass er andere Kinder nicht hauen darf und es tue ihm immer leid. Die Erzieherinnen sehen in Marcels Verhalten aggressive Tendenzen und raten dazu, ihn in einer heilpädagogischen Praxis vorzustellen. In der Eingangsdiagnostik wirkt Marcel sehr ruhig, er baut sich eine Höhle und arbeitet gut mit. In dieser Situation kann das beschriebene Verhalten aus der Kindertageseinrichtung nicht beobachtet werden. Bei einer Hospitation in der Kindertageseinrichtung beobachtet daher die Heilpädagogin einen Vormittag lang Marcels Verhalten in der Kindergruppe. Hier wird deutlich, dass er gerne mit einem verbal sehr starken Jungen spielt. Die beiden ziehen sich nach der Begrüßung auf den Bauteppich zurück. Jeder baut etwas für sich. Nach einer Zeit beginnt der andere Junge, Marcel Teile seines Baumaterials wegzunehmen. Marcel schaut hilflos auf. Er scheint nicht zu wissen, wie er jetzt angemessen reagieren soll. Als sich der Junge zum dritten Mal an Marcels Material bedient, schlägt Marcel nach ihm. Der Junge springt auf, ruft den Namen der Erzieherin und dass Marcel ihn wieder gehauen hätte. Sofort richtet sich alle Aufmerksamkeit auf Marcel, der scheinbar hilflos auf dem Teppich sitzt. Weitere Situationen dieser Art folgen im Laufe des Vormittags.

Im Austausch mit Erzieherin und Eltern kann herausgearbeitet werden, dass Marcel noch sprachliche Kompetenzen fehlen, um sich verbal gegen andere durchzusetzen (= kognitive Ebene / Geist). Er hat bereits aufgrund einer ausgeprägten Sprachentwicklungsverzögerung zwei Jahre Logopädie erhalten. Er hat jedoch ein ausgeprägtes Störungsbewusstsein entwickelt und sein Selbstwertgefühl scheint sehr negativ geprägt (= emotionale Ebene / Seele). Immer wieder erhält er negative Rückmeldungen. Er traut sich noch nicht, verbal stark aufzutreten. Gleichzeitig fällt es ihm noch scheinbar schwer, sich abzugrenzen. Er benötigt dringend Rückzugsmöglichkeiten und Erfolgserlebnisse. Da er sich gerne bewegt und spielt (= leibliche Ebene) sollte er über diese Stärke in seinem Selbstwertgefühl und seiner Ausdrucksfähigkeit, gefördert werden. Um zu Hause Entlastung zu schaffen, entwickeln die Eltern die Idee, den Dachboden zu einem eigenen Zimmer für Marcel auszubauen (= Umwelt). Die gezielten Beobachtungen zu Hause zeigen den Eltern, dass die Konflikte immer dann entstehen, wenn die jüngere Schwester Marcels Spielzeug benutzt und es dabei oftmals kaputt geht. Mit einem eignen Zimmer kann er sich von der Schwester abgrenzen und sich zurückziehen. In der Kindertageseinrichtung konnten die Erzieherinnen Marcels Verhalten besser verstehen und ihn stärker positiv in die Gruppe einbinden (= Umwelt). Um seine kommunikativen Kompetenzen und sein Selbstwertgefühl zu fördern, besucht Marcel zusätzlich eine heilpädagogische Spieltherapie.

Anhand dieses Fallbeispiels wird ersichtlich, dass die Heilpädagogik den Menschen in seiner gesamten Entwicklung ressourcenorientiert betrachtet und fördert. Die Heilpädagogik bezieht hierfür ihr Wissen aus mehreren Disziplinen, z. B. Pädagogik, Psychologie und Medizin. Pädagogik vermittelt Theorie und Praxis von Erziehung und Bildung im weiteren Sinne. Psychologie stellt Basiswissen über die menschliche Entwicklung und Wahrnehmung sowie das Verhalten und Lernen zur Verfügung. Die klinische Psychologie beschäftigt sich mit Verhaltensauffälligkeiten und seelischen Erkrankungen. Die Medizin steuert das Fachwissen z. B. über chronische Erkrankungen bei.

Wichtig zu wissen ist, dass es nicht Aufgabe und Zweck der Heilpädagogik ist, zu heilen im Sinn des medizinischen Gesund-Machens. Vielmehr geht um das Ermöglichen von Teilhabe und Selbstständigkeit.

Erzieherinnen sollte bewusst sein, wie sie durch ihr empathisches und kompetentes Handeln die vorhandenen Selbstheilungskräfte eines Kindes unterstützen können. In diesem Zusammenhang wird der sogenannte „Resilienzaspekt“ diskutiert: Dabei handelt es sich um die faszinierende Frage, warum es auch unter widrigsten Lebensbedingungen immer wieder Kinder gibt, die seelisch gesund und stabil bleiben. Eine Antwort scheint zu sein, dass schon eine verlässliche Bezugsperson – also möglicherweise auch die Erzieherin – stabilisierenden und stärkenden Einfluss auf die Persönlichkeitsentfaltung eines Kindes nehmen kann. In diesem Sinne heilpädagogisch zu handeln bedeutet für die Erzieherin und ihre Kolleginnen, immer wieder zu versuchen, die Stärken der Kinder zu entdecken und zu fördern. Erst wenn sie diese Stärken erkennen, kann es ihnen auch gelingen, diese für die anderen sichtbar zu machen.

Beispiel

Bezogen auf das Eingangsbeispiel, würde dies bedeuten: Erst, wenn Gregor wiederholt erlebt, dass die Erzieherinnen ihn wertschätzen und trotz seiner schwierigen Verhaltensweisen annehmen, weil sie auch seine positiven Seiten sehen, wird er offener für Angebote sein, die sein Verhalten beeinflussen oder verändern können. Gregor erhält so z. B. Aufmerksamkeit für Dinge, die ihm schon gut gelingen. Dies ändert auch den Blick der Kinder, die parallel erfahren, dass Gregor möglicherweise überhaupt nicht richtig spüren kann, wie er andere Menschen anfasst. Dies kann zu einem wachsenden Verständnis füreinander führen, das die Atmosphäre in der Gruppe positiv für alle beeinflusst.

Das heißt jedoch nicht, dass heilpädagogisches Handeln eine einseitige Sichtweise darstellt, indem für jedes Verhalten nur nach Gründen gesucht und Verständnis gezeigt wird: Verständnis ist die eine Seite. Orientierung geben durch klare Strukturen und deutlich erkennbare Grenzen, ist die andere unerlässliche Seite. Hier wird eine der vielen Schnittstellen von Heilpädagogik und Allgemeiner Pädagogik deutlich. Orientierung geben durch Grenzen, Rituale etc. sind Bestandteile jeder pädagogischen Praxis. Die Kinder erleben ihre Erzieherin als einfühlsam, warmherzig und als jemand, der über eine Panne auch lachen kann. Gleichzeitig jedoch nehmen die Kinder sie als stabil und zuverlässig wahr. Letzteres setzt voraus, dass die Erzieherin sich zutraut, Grenzen zu setzen und einzuhalten, um Kindern den nötigen psychischen Halt zu geben. Die erfahrene Erzieherin weiß, dass Grenzen einem Geländer gleichen können: Dieses lädt zum Festhalten ein, wenn Sicherheit erwünscht ist. Wo ein Geländer vorhanden ist, kann man sich auch einmal auf unbekanntes Gelände wagen.

Zusammengefasst wird festgehalten: Heilpädagogisch gearbeitet wird, wenn Menschen in ihrer Entwicklung und Teilhabe gefährdet sind oder Kinder bzw. Jugendliche durch ihr Verhalten auf sich aufmerksam machen. Heilpädagogisches Denken und Wirken sind auch in zunehmendem Maße dort erforderlich, wo Kinder, beispielsweise durch Bewegungsmangel und fehlende Anregung, in ihrer Wahrnehmung, Motorik und / oder sprachlichen Entwicklung Förderbedarfe entwickeln. Letzteres wird im zunehmenden Ausmaß auch in den sogenannten Regeleinrichtungen beobachtet.

Empfehlungen zum Weiterlesen:

Schmutzler, H.-J. (2006): Heilpädagogisches Grundwissen. Die frühe Bildung und Erziehung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder. 7. Aufl. Herder, Freiburg / Basel / Wien

Fischer, H., Renner, M. (2023): Heilpädagogik. Heilpädagogische Handlungskonzepte in der Praxis. 3. aktual. Aufl. Lambertus, Freiburg

Kinder- und Jugendbuch:

Cave, K., Riddell, C. (1994): Irgendwie anders. Oetinger, Hamburg Ab 4 Jahren. Thema: Ausgrenzung und Freundschaft

1.3Wann sprechen wir von Behinderung?

„Mein Kind ist doch nicht behindert!“, lautet möglicherweise die erste Reaktion von Eltern, wenn die Erzieherin zu einer Diagnostik und ggf. Therapie rät. Der Begriff Behinderung ist bei den meisten Menschen mit der Vorstellung von körperlichen und schweren geistigen Behinderungen verbunden. So bezeichnen sich beispielsweise die meisten Brillenträgerinnen nicht als (seh)behindert. Die Nutzung eines Rollstuhls wird hingegen fast automatisch mit dem Begriff Behinderung verbunden. In diesem Kapitel wird daher der Begriff Behinderung aus verschiedenen Perspektiven betrachtet. Verdeutlicht wird dabei, dass Behinderung keine Eigenschaft von Personen ist, sondern erst im Zusammenspiel von vielen Faktoren eine Person behindert wird.

Worin besteht also eine Behinderung? Warum wird immer häufiger von behindert werden statt wie früher von behindert sein gesprochen? Mit einer kurzen Darstellung des Begriffs Behinderung und dem damit unmittelbar verbundenen Teilhabebegriff werden zwei zentrale Ansatzpunkte heilpädagogischen Handelns skizziert. Die Diskussion zum Thema Behinderung und Teilhabe soll hierdurch verstanden und nachvollzogen werden können. Darüber hinaus bietet ein Verständnis des aktuellen Behinderungsbegriffs eine Systematik, die in zweierlei Hinsicht im pädagogischen Handeln bedeutsam ist. Zum einen unterstützt sie die Analyse der erschwerenden Entwicklungsbedingungen auf individueller und gesellschaftlicher Ebene. Zum anderen bietet die Systematik Ansatzpunkte für pädagogisches Handeln.

Von der medizinischen Sichtweise zum bio-psycho-sozialen Behinderungsmodell

Wie über Menschen mit Behinderung gedacht wird und wie sich deren Lebenswelt gestaltet, hat sich in einem langjährigen Prozess grundlegend verändert. Diese Veränderungen zeigen sich unter anderem darin, dass sich Gesetze (z. B. Bundesteilhabegesetz) und Lebensbereiche (wie z. B. Wohnen und Schulbesuch), aber auch Begriffe im Kontext von Menschen mit Behinderung verändert haben. Der Wandel des Behinderungsbegriffs zeigt sich unter anderem in einer Abkehr vom sogenannten medizinischen Modell. Diesem zufolge ist eine Behinderung in der Person selbst begründet. Aufgrund eines als abweichend definierten körperlichen oder geistigen Zustands wird, in der medizinischen Perspektive, die Person von gesellschaftlicher Teilhabe ausgeschlossen. Sie ist behindert. Behinderung wird hier zu einem Persönlichkeitsmerkmal, das in der Person selbst begründet liegt. Behinderung wird als ein medizinisches Problem verstanden. Somit können nur ausgebildete ExpertInnen in spezialisierten und gesonderten Einrichtungen mit diesen Menschen arbeiten. Infolge dieses Modells entstanden unter anderem die Sonder- bzw. Förderschule aber auch heilpädagogische Einrichtungen, die ausschließlich von Kindern mit Behinderungen besucht wurden.

Dieses Behinderungsverständnis, das lediglich individuelle Faktoren einbezieht, die zu einer Behinderung führen können, ist aus Sicht der Heilpädagogik problematisch. Die Auswirkungen dieses Modells werden beispielsweise im pädagogischen Alltag bei der Beantragung der Kostenübernahme für eine heilpädagogische Förderung deutlich. Die pädagogischen Fachkräfte müssen die betroffenen Kinder und Jugendlichen defizitorientiert, mit dem, was sie noch nicht können, beschreiben. Die Kinder werden mit Altersnormen verglichen, Abweichungen sind wichtiger als Ressourcen und Kompetenzen, an denen sich die Heilpädagogik orientiert. Die Ursachen der Behinderung sind laut des medizinischen Behinderungsbegriffs allein im Kind zu suchen. Hier würde daher von „behindert sein“ gesprochen. Ein typischer Satz wäre: „Das Kind hat eine geistige Behinderung und bedarf daher einer heilpädagogischen Förderung, um seine Teilhabe zu sichern.“

Dem medizinischen Modell wurde ein soziales Modell der Behinderung gegenübergestellt. Dieses beschreibt Behinderung immer als Wechselwirkung zwischen Mensch und seiner sozialen Umwelt: Der Mensch wird behindert.

Das aktuelle und international verbreitete bio-psycho-soziale Modell der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zur Erklärung der Entstehung von Behinderungen vereint das medizinische und soziale Modell und schreibt dem Einfluss von Kontextfaktoren einen zentralen Stellenwert zu (Bretländer 2015). Diesem Modell kommt im Kontext von Inklusion (Kapitel 1.4) eine hohe Bedeutung zu. Die WHO beschreibt ihr bio-psycho-soziales Modell in der „Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit“ (ICF). Diese kann online eingesehen werden (Link am Ende des Kapitels). Der große Unterschied zu den bisherigen Behinderungsmodellen ist die Abkehr von einer Defizitorientierung. Nicht der einzelne Mensch und seine Eigenschaften werden klassifiziert, sondern Komponenten von Gesundheit: Körperfunktionen, Körperstrukturen, Aktivitäten und Teilhabe sowie Umweltfaktoren (Abb. 1).

Abb. 1: Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) der WHO (Wansing 2005, 80)

Behinderung entsteht in diesem Verständnis immer aus dem negativen Zusammenspiel mehrerer Faktoren, wie z. B. individuellen, sozialen, kulturellen oder finanziellen Dimensionen. Diese Faktoren und deren wechselseitige Beeinflussung bestimmen mit, ob aus einem Gesundheitsproblem eine Behinderung entsteht. In diesem Modell würden wir davon sprechen, durch entsprechende Faktoren „behindert zu werden“. Ein typischer Satz wäre: „Aufgrund des belasteten familiären Kontextes, fehlender Unterstützung durch Bezugspersonen und der aktuellen Gruppengröße benötigt das Kind zu einer positiven Weiterentwicklung seiner Selbstständigkeit und Teilhabe eine zusätzliche heilpädagogische Förderung.“

Anhand dieses Modells wird deutlich, dass ein Gesundheitsproblem sich aufgrund verschiedener Bedingungen zu einer Behinderung entwickeln kann, aber nicht muss. Dies lässt sich am Beispiel der bereits oben erwähnten Brillenträger verdeutlichen. Hierzu ein Fallbeispiel mit zwei unterschiedlichen Ausgängen:

Beispiel

Ein Kind stolpert immer wieder, stößt sich, zeigt sich sehr vorsichtig in seinen Bewegungen, beim Betrachten von Bilderbüchern wird es sehr unruhig und steht auf. Es führt sich Materialien sehr nah an seine Augen heran, steckt viele Dinge in den Mund. Die Erzieherinnen beobachten dieses Verhalten und raten den Eltern, den Kinderarzt aufzusuchen. Dieser überweist das Kind an einen Augenarzt weiter. Dieser stellt eine Sehbeeinträchtigung mit einer Hornhautverkrümmung fest. Mit einer Brille und einem Sehtraining kann diese Beeinträchtigung kompensiert werden. Eine Optikerin passt die Brille an und empfiehlt eine Sehschule. Das Kind wird mit der passenden Brille versorgt, besucht die Sehschule und übt auch zu Hause. Regelmäßige Kontrollen beim Augenarzt stellen sicher, dass die Brille immer die korrekten Werte aufweist. Das Kind holt rasch in der Motorik auf, bewegt sich deutlich sicherer, betrachtet Bilderbücher usw. Durch die Umweltfaktoren gute medizinische Versorgung, Eltern, die sich kümmern, Erzieherinnen, die beobachten, wird sich die Sehbeeinträchtigung nicht negativ auf die Aktivitäten (wie z. B. Bilderbuch betrachten, Schreiben, Lesen) und die Teilhabe des Kindes z. B. an Bildungsprozessen auswirken. Die Umweltfaktoren wirken also positiv im Sinne der Verhinderung einer Behinderung.

Bei der gleichen gesundheitlichen Beeinträchtigung, aber unter anderen Umweltfaktoren, könnte sich aus der Sehbeeinträchtigung eine Behinderung entwickeln. Wüchse dieses Kind in einem Land ohne den Zugang zu einer kostenlosen, hochwertigen medizinischen Versorgung auf, würde es z. B. nicht mit einer Brille und entsprechendem Sehtraining versorgt. Fehlte den Eltern das entsprechende Einkommen, könnten Sie keine Brille finanzieren. Aufgrund seiner eingeschränkten Sehfunktion könnte das Kind viele Aktivitäten nicht ausführen und würde infolgedessen z. B. in seiner schulischen Teilhabe beeinträchtigt. Hierdurch könnte es keinen Schulabschluss erlangen und wäre dann im Erwerbsleben benachteiligt usw. Somit könnte also eine Behinderung in Form des Ausschlusses von Teilhabe entstehen.

Dieses Fallbeispiel soll noch einmal verdeutlichen, dass die ICF ressourcenorientiert vorgeht und bezüglich der Entstehung/Herkunft einer Behinderung einen neutralen Blickwinkel einnimmt. Anhand des Modells können auch Komponenten der Gesundheit beschrieben werden (Biewer 2017). Das Modell der ICF kann weltweit auf alle Menschen bezogen werden, nicht nur auf Menschen mit Behinderungen. Der wesentliche Kern einer Behinderung liegt nicht in der Person begründet, sondern besteht in der Störung der gesellschaftlichen Teilhabe dieser Person durch Barrieren. Für die Arbeit von Erzieherinnen bietet dieses Modell ein Gerüst zur Analyse der gesamten Lebenslage und der Entwicklungsfaktoren von Kindern und Jugendlichen. Es verweist darauf, dass pädagogische Kontexte für jede Person individuell so gestaltet werden müssen, dass sie Teilhabe ermöglichen, da Umweltfaktoren sowohl als Barrieren als auch als Förderfaktoren wirken können.

Sozialrechtliche Definition des Behinderungsbegriffs

Heilpädagogische Maßnahmen werden in Deutschland von den Kostenträgern finanziert, wenn eine Behinderung bereits eingetreten ist oder droht. Diese Ansprüche werden in Deutschland im neunten Sozialgesetzbuch (SGB IX) geregelt. An dieser sozialrechtlichen Definition zeigt sich, wie das bio-psycho-soziale Behinderungsmodell auch auf die Gesetzgebung wirkt. Die Definition des SGB IX wurde unter anderem aufgrund der UN-Behindertenrechtskovention und des daraus resultierenden Bundesteilhabegesetz (BTHG) im Jahr 2018 neu verfasst. Das in 2016 verabschiedete BTHG soll die Lebenssituation von Menschen mit Behinderungen durch mehr Möglichkeiten zur Selbstbestimmung und Teilhabe verbessern. Damit will der Gesetzgeber die Forderung der UN-Behindertenrechtskonvention erfüllen, die die Vertragsstaaten verpflichtet, wirksame Maßnahmen zu treffen, um Menschen mit Behinderungen ein Höchstmaß an Unabhängigkeit, umfassende körperliche, geistige, soziale und berufliche Fähigkeiten sowie die volle Einbeziehung und Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu ermöglichen.

Die Neufassung der sozialrechtlichen Definition von Behinderung lautet:

„Menschen mit Behinderungen sind Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können. Eine Beeinträchtigung nach Satz 1 liegt vor, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht. Menschen sind von Behinderung bedroht, wenn eine Beeinträchtigung nach Satz 1 zu erwarten ist“ (§ 2 Abs. 1 SGB IX).

Die Neufassung des § 2 des SGB IX betont im Sinne des bio-psycho-sozialen Modells, dass materielle Bedingungen und gesellschaftliche Haltungen/Einstellungen in Wechselwirkung mit körperlichen, seelischen oder geistigen Sinnesbeeinträchtigungen eine gleichberechtigte Teilhabe von Menschen verhindern können und Menschen dadurch behindert werden. Dieses Verständnis von Behinderung ist wichtig, um die Idee der Inklusion (Kapitel 1.4) nachvollziehen zu können.

Empfehlung zum Weiterlesen:

Bundesamt für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) (o.J.): Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit. In: www.bfarm.de/DE/Kodiersysteme/Klassifikationen/ICF/_node.html, 10.02.2023

1.4Inklusion

Der Begriff Inklusion stammt ab vom lateinischen Wort Inclusio, der Einschluss.

Definition

Inklusion „bedeutet Einschließung i. S. unbedingter Zugehörigkeit, die nicht an bestimmte Voraussetzungen geknüpft ist“ (Meinert 2022, 436).

Der Begriff Inklusion ist eng mit dem Begriff der Heterogenität verbunden.

Definition

Heterogenität meint die generelle Vielfältigkeit / Verschiedenheit aller Menschen.

Verschiedenheit wird dabei als gesellschaftlicher Gewinn betrachtet. Inklusion zielt also auf die volle gesellschaftliche Teilhabe aller Menschen unabhängig von Alter, Geschlecht, Herkunft, Behinderung etc. Diese Teilhabe muss durch die entsprechende Gestaltung der Gesellschaft geschaffen werden. In einer Ganztagsbetreuung würde sich also beispielsweise nicht die Frage stellen, ob ein Kind mit einer starken Beeinträchtigung des Sehsinns aufgenommen werden kann, sondern vielmehr, was getan werden muss, um diesem Kind eine Betreuung zu ermöglichen.

Der Begriff Inklusion wird vor allem im schulischen Bildungsbereich im Hinblick auf die gemeinsame Beschulung von Schülern und Schülerinnen mit und ohne Behinderung stark diskutiert.

Definition

„Inklusive Bildung bedeutet, dass allen Menschen – unabhängig von Geschlecht, Religion, ethnischer Zugehörigkeit, besonderen Lernbedürfnissen, sozialen oder ökonomischen Voraussetzungen – die gleichen Möglichkeiten offen stehen, an qualitativ hochwertiger Bildung teilzuhaben und ihre Potenziale zu entwickeln“ (Deutsche UNESCO-Kommission).

Leider wird oft vergessen, dass sich Inklusion auf alle Lebensbereiche (also z. B. auch auf Freizeit und Arbeit) und auf alle Formen von Heterogenität (wie z. B. Geschlecht, Herkunft, Alter) bezieht. Also nicht nur auf den schulischen Bildungsbereich und Behinderung als einer Dimension von Heterogenität. Inklusion führt also zu einem „pädagogischen Modell, das die Annahme aller Kinder in eine Einrichtung sowie uneingeschränkte Teilhabe und Gemeinsamkeit auch innerhalb der Einrichtung vorsieht“ (Prengel 2010, 19). Dabei wird von Experten und Expertinnen immer wieder darauf verwiesen, dass Inklusion nicht einfach durch die bloße Aufnahme von Menschen mit Behinderungen in das Regelsystem geschehen kann. Inklusion ist ein Prozess, der personeller, konzeptioneller und finanzieller Ressourcen bedarf. So fasst Speck zusammen: „[…] jeder Versuch gemeinsamer Erziehung und sonstiger gemeinsamer Aktivität [ist] auf sorgfältige Planung, Begleitung und Reflexion angewiesen. Bloßes Mischen und Geschehenlassen begünstigt die Stärkeren, benachteiligt die Schwächeren“ (Speck 1998, 456).

Empfehlung zum Weiterlesen:

Aktion Mensch (o. J.): Was ist Inklusion? In: www.aktion-mensch.de/dafuer-stehen-wir/was-ist-inklusion.htmlInklusion in 80 Sekunden erklärt. Videoclip der Aktion Mensch sowie Texte zur Inklusion auch in leichter Sprache.

Warum Inklusion und Integration nicht das Gleiche meinen

Beispiel

Lena wird dieses Jahr eingeschult. Seit ihrem ersten Lebensjahr ist sie an Diabetes mellitus (umgangssprachlich als Zuckerkrankheit bezeichnet) erkrankt. Seit ihrem dritten Lebensjahr besucht sie eine Kindertageseinrichtung. Hier stand ihr eine Integrationsfachkraft zur Seite, die – nach einer entsprechenden Schulung – regelmäßig Lenas Blutzucker kontrollierte und ihr das notwendige Insulin injizierte. Lena soll nun die wohnortnahe Regelschule besuchen, in die auch einige andere Kinder aus ihrer Gruppe wechseln. Die Schulleitung und die Klassenlehrerin sehen sich nicht in der Lage, Lena aufzunehmen, da sie die medizinische Betreuung während der Schulzeit nicht leisten können. Ein Pflegedienst, der Lena täglich mehrfach in der Schule aufsuchen würde, ist aufgrund des geringen Kostensatzes, den die Krankenkasse erstatten würde, nicht einsetzbar. Lena soll daher in die Förderschule für körperliche und motorische Entwicklung eingeschult werden. Hier wäre eine entsprechende medizinische Versorgung möglich. Diese liegt am anderen Ende der Stadt und würde daher z. B. Kontaktabbrüche sowie eine tägliche lange Fahrt mit dem Schulbus bedeuten. Lena würde durch den Besuch der Förderschule aus ihrem gewohnten Lebensumfeld gerissen.