Lehrbuch Psychomotorik - Stefanie Kuhlenkamp - E-Book

Lehrbuch Psychomotorik E-Book

Stefanie Kuhlenkamp

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Beschreibung

Das Lehrbuch vermittelt die Grundlagen der Psychomotorik und bietet eine Orientierung über Bezugstheorien und aktuelle Forschungserkenntnisse, die auf psychomotorische Theorie und Praxis wirken. Die psychomotorische Praxis über die Lebensspanne wird vorgestellt und Planung, Diagnostik und Kooperation mittels Fallbeispielen und Abbildungen anschaulich erklärt. Ein umfangreicher Serviceteil mit Institutionen der Psychomotorik rundet das Werk ab.

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Seitenzahl: 371

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Prof.in Dr. Stefanie Kuhlenkamp lehrt Inklusion und Soziale Teilhabe an der Fachhochschule Dortmund. Sie unterrichtete an einer Fachschule für Motopädie sowie im Lehrgebiet Bewegungserziehung und -therapie der TU Dortmund.

Sie leitet den Förderverein Bewegungsambulatorium an der Universität Dortmund e. V., in dem sie auch Kinder und Jugendliche psychomotorisch fördert.

Außerdem im Ernst Reinhardt Verlag erschienen:

Kuhlenkamp, Strobel: Einführung in die Heilpädagogik für ErzieherInnen (5. Aufl. 2021, ISBN 978-3-497-03039-2)

Schlesinger, Kuhlenkamp: Bewegungsförderung in Kindertageseinrichtungen

(2021, ISBN 978-3-497-03033-0)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

UTB-Band-Nr.: 8717

ISBN 978-3-8252-8820-4 (Print)

ISBN 978-3-8385-8820-9 (PDF-E-Book)

ISBN 978-3-8463-8820-4 (EPUB)

2., überarbeitete Auflage

© 2022 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

Dieses Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Verlag Ernst Reinhardt GmbH & Co KG behält sich eine Nutzung seiner Inhalte für Text- und Data-Mining i.S.v. § 44b UrhG ausdrücklich vor.

Printed in EU

Einbandgestaltung: siegel konzeption | gestaltung, Stuttgart

Cover unter Verwendung eines Ausschnitts aus „Kämpfende Formen“ von Franz Marc

Abbildung 46 im Innenteil wurde erstellt von Caterina Schäfer, Witten

Satz: Bernd Burkart; www.form-und-produktion.de

Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München

Net: www.reinhardt-verlag.de E-Mail: [email protected]

Inhalt

Hinweise zur Benutzung dieses Lehrbuchs

Vorwort

Teil I: Grundlagen psychomotorischen Handelns

1 Entwicklung, Definition und zentrale Begriffe der Psychomotorik

1.1 Begriffsklärung Psychomotorik

1.2 Entwicklungslinien und psychomotorische Perspektiven

1.2.1 Funktional-physiologische Perspektive

1.2.2 Kompetenztheoretische, erkenntnisstrukturierende, selbstkonzeptorientierte Perspektive

1.2.3 Sinnverstehende Perspektive

1.2.4 Ökologisch-systemische und systemisch-konstruktivistische Perspektive

1.3 Paradigmen der Psychomotorik

1.3.1 Therapie

1.3.2 Pädagogik / Erziehung / Bildung

1.3.3 Entwicklungsförderung

1.3.4 Gesundheitsförderung

1.4 Ziele und Inhalte der Psychomotorik

1.5 Psychomotorische Bezugsdisziplinen

1.6 Zentrale Begriffe und Konzepte der Psychomotorik

1.6.1 Humanistisches Menschenbild

1.6.2 Körper – Leib, Bewegung – Motorik

1.6.3 Ganzheitlichkeit

1.6.4 Bewegungshandlung

1.6.5 (Persönlichkeits-)Entwicklung

2 Bedeutung von Bewegung

2.1 Funktionen der Bewegung

2.2 Bedeutungsdimensionen von Bewegung

2.2.1 Bewegung als Lerngegenstand

2.2.2 Bewegung als Medium

3 Begründungszusammenhänge für die Wirkung von Psychomotorik

3.1 Wie wirkt Psychomotorik?

3.2 Selbstbildung

3.3 Kommunikation und Sprache

3.4 Exekutive Funktionen

3.5 Risikokompetenz

3.6 Resilienz

Zwischenfazit: Grundlagen psychomotorischen Handelns

Teil II: Praxis psychomotorischen Handelns

4 Grundlagen psychomotorischer Praxis

4.1 Professionelle Haltung als Basis der psychomotorischen Praxis

4.2 AdressatInnen, Setting, Auftragsklärung

4.3 Handlungsprinzipien psychomotorischer Praxis

4.3.1 Beziehungs- und Dialogorientierung

4.3.2 Spielorientierung

4.3.3 Gruppenorientierung

4.3.4 Ressourcenorientierung und Resilienzförderung

4.3.5 Entwicklungsorientierung

4.4 Material, Raum, Zeit

4.4.1 Dimension Raum

4.4.2 Dimension Zeit und Struktur

4.4.3 Dimension Material

4.5 Inklusion

5 Diagnostik und Dokumentation in der Psychomotorik

5.1 Bedeutung diagnostischen Handelns in der Psychomotorik

5.2 Handlungsprinzipien einer psychomotorischen Diagnostik

5.3 Diagnostische Methoden

5.3.1 Quantitative Verfahren

5.3.2 Qualitative Verfahren

5.4 Dokumentation und Berichte

5.5 Anforderungen an diagnostisches Arbeiten

6 Kooperationen mit Fachkräften /Institutionen und Eltern gestalten

6.1 Allgemeine Ziele von Kooperationen

6.2 Kooperation mit Fachkräften / Institutionen

6.2.1 Ziele der Kooperation mit Fachkräften /Institutionen

6.2.2 Formen der Kooperation mit Fachkräften /Institutionen

6.3 Kooperation mit Eltern

6.3.1 Ziele der Kooperation mit Eltern

6.3.2 Formen der Elternkooperation

6.4 Rahmenbedingungen für Kooperationen

6.5 Gespräche mit Eltern und Fachkräften

6.6 Schriftliche Berichte für Fachkräfte und Eltern

6.7 Netzwerke

7 Beispiele psychomotorischer Praxis über die Lebensspanne

7.1 Psychomotorik in der frühen Kindheit

7.2 Psychomotorik in Kindheit und Jugend

7.3 Psychomotorik im mittleren Erwachsenenalter

7.4 Psychomotorik im hohen Alter

Anhang

Serviceteil

Serviceteil Deutschland

Serviceteil Österreich

Serviceteil Schweiz

Literatur

Sachregister

Hinweise zur Benutzung dieses Lehrbuchs

Verwendung der Icons

Beispiel

Informationsquelle

Definition

Lernfragen

Vorwort

Kann ein Buch Psychomotorik lehren? Wie lehrbar ist ein Konzept, das sich aus der Praxis heraus entwickelt hat und zu einer vielfältigen und komplexen psychomotorischen Praxis geführt hat? Kann ein Buch lehren, wie in der Psychomotorik professionell gehandelt werden kann? Ist das Lesen eines Buches überhaupt die richtige Methode für ein Konzept, das sich durch einen erlebnisorientierten, leiblichen Zugang zum Menschen auszeichnet, das auch die Persönlichkeit der psychomotorischen Fachkraft mitdenkt? Diese (und noch mehr) Fragen stellten sich beim Verfassen des vorliegenden Buches.

Sie führten zu einer Auseinandersetzung mit der eigenen psychomotorischen Lern- und Lehrbiografie und zu weiteren Fragen: Wie habe ich selbst gelernt, psychomotorisch zu arbeiten? Von wem habe ich wann und wie gelernt? Wie und was habe ich selber in den vergangenen Jahren an Hochschulen, an einer Fachschule für Motopädie, in der Fortbildung über das Thema Psychomotorik vermittelt? Auf welcher Basis gestalte und reflektiere ich meine psychomotorische Praxis in einem Psychomotorikverein?

Bei der Reflexion dieser Fragen zeichnen sich zwei Aspekte ab. Erstens: Lernen, Lehren und psychomotorische Praxis erfolgen idealerweise in einer engen Verzahnung und Interaktion von Theorie und Praxis. Die Psychomotorik in Deutschland hat sich seit Mitte der 1950er Jahre zunehmend zu einem theoretisch und wissenschaftlich fundierten Praxiskonzept entwickelt. Aus der Praxis heraus entstand unter anderem die Notwendigkeit der Lehrbarmachung der Psychomotorik unabhängig von ihren BegründerInnen. Jürgen Seewald (1991, 3) hat diesen Prozess als Weg „von der Meisterlehre zur Wissenschaft“ beschrieben. Ein Lehrbuch Psychomotorik dokumentiert daher auch ein Stück des Weges, den die Psychomotorik genommen hat.

Der zweite Aspekt, der sich bei der Beschäftigung mit der eigenen psychomotorischen Lern- und Lehrgeschichte herauskristallisiert, ist der des Dialogs. Durch wechselseitigen Austausch mit bereits erfahrenen psychomotorischen PraktikerInnen, Lehrenden, Mitstudierenden, Kindern, Jugendlichen sowie ihren Eltern, konnten die in der Universität vermittelten theoretischen Grundlagen transferiert und reflektiert werden, ihren Sinn entfalten. Aus der Praxis entstanden Fragen an die Theorie und die Theorie wirkte auf die Praxis. Diese Dialoge kann ein Lehrbuch naturgemäß nicht bieten. Psychomotorik muss immer auch in der Praxis leiblich erlebt werden. In einer Praxis, die auf einem theoretischen Fundament basiert. Über dieses Fundament möchte dieses Buch einen Überblick geben.

Als Lehrbuch wendet es sich an diejenigen Personen, die sich gerade auf ihren Weg in die Psychomotorik begeben. Auch diese Wege sind im Laufe der Jahre vielfältiger geworden. Psychomotorik wird inzwischen in vielen verschiedenen Institutionen gelehrt, sodass eine Heterogenität in der Aus- und Weiterbildung im psychomotorischen Kontext besteht. In Deutschland existiert keine grundständige psychomotorische Ausbildung. Sie wird in der Regel immer aufbauend auf oder integriert in eine berufsqualifizierende Ausbildung (zum Beispiel zur Erzieherin / zum Erzieher) oder ein Studium (beispielsweise Sportwissenschaft, Erziehungswissenschaft, Soziale Arbeit) angeboten. Ausgehend von Studium und Ausbildung stehen aber auch weitere z. T. berufsqualifizierende Ausbildungs- und Hochschulstudiengänge zur Auswahl. Hier sind vor allem die staatliche anerkannten MotopädInnen sowie die Diplom- bzw. Master-MotologInnen zu nennen. Zu diesen etablierten und curricular verbindlich gestalteten Ausbildungs- und Studiengängen gesellt sich noch eine nahezu unüberschaubare Anzahl von Fort- und Weiterbildungsangeboten unterschiedlicher Institutionen und Qualitäten. Für diese vielfältige Leserschaft ein Lehrbuch Psychomotorik zu verfassen, ist eine Herausforderung, die zusammen mit einem limitierten Seitenumfang dazu führt, in die Breite der psychomotorischen Grundlagen zu gehen und für die Tiefe ergänzende Literaturhinweise zu geben.

Anmerkungen zu den verwendeten Begriffen

Aufgrund der in Deutschland fehlenden einheitlichen Bezeichnungen für die Personen, die in unterschiedlichen Settings, mit verschiedenster Klientel und Ausbildung psychomotorisch arbeiten, werden in diesem Lehrbuch alle Personen, die professionell in der psychomotorischen Praxis arbeiten, als psychomotorische Fachkräfte bezeichnet. Die unterschiedlichen psychomotorischen Formate, die von psychomotorischen Fachkräften durchgeführt werden, werden zusammengefasst als psychomotorische Angebote oder psychomotorische Praxis bezeichnet.

Um die Personen zu benennen, die an psychomotorischen Angeboten partizipieren, werden die Begriffe KlientInnen, AdressatInnen und Teilnehmende gewählt. Diese Bezeichnungen tragen der Entwicklung der psychomotorischen Praxis Rechnung. Diese hat sich, ausgehend von der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen im klinischen Umfeld, zu einer Praxis über die Lebensspanne in zahlreichen Settings mit unterschiedlichsten Personengruppen entwickelt. Abhängig vom Handlungsfeld und beruflicher Haltung werden diese Personenkreise auch unterschiedlich bezeichnet (zum Beispiel als PatientInnen, MandantInnen, Teilnehmende, NutzerInnen). Die Begriffe KlientIn, AdressatIn und Teilnehmende werden daher in diesem Buch im Sinne einer Vereinfachung genutzt, als allgemeine Bezeichnungen für Personen, die professionelle psychomotorische Angebote nachfragen.

Psychomotorik als Konzept

Abschließend sei darauf hingewiesen, dass Psychomotorik im vorliegenden Lehrbuch als ein Konzept verstanden wird. Konzepte verstehen sich als Modelle für das Handeln, indem sie allgemeine Grundsätze und Regeln (Handlungsleitlinien) des Handelns formulieren. Konzepte benennen grobe Inhalte, Ziele und Mittel, verdeutlichen deren Zusammenhang, ohne dabei direkte dezidierte Anweisungen, Pläne etc. zu geben. Dies wäre aufgrund der oben beschrieben Heterogenität in der Psychomotorik weder sinnvoll noch möglich. Konzept bedeutet für Lernende ein hohes Maß an Flexibilität, theoretischem und praktischem Grundlagenwissen sowie eine stete Reflexion darüber, wie die Handlungsleitlinien in die psychomotorische Praxis übertragen werden können. Dazu lädt dieses Buch ein und wünscht allen angehenden psychomotorischen Fachkräften ein bewegtes und bewegendes Lernen.

Dortmund, im September 2022

Stefanie Kuhlenkamp

Teil I: Grundlagen psychomotorischen Handelns

1 Entwicklung, Definition und zentrale Begriffe der Psychomotorik

Lernziele

◼ Einen Überblick über psychomotorische Wurzeln, Perspektiven, Definitionen und zentrale Begriffe im Kontext Psychomotorik gewinnen,

◼ Verstehen der Herausforderung hinsichtlich eines allgemeingültigen Psychomotorikbegriffs und -verständnisses,

◼ die Vielfalt der Psychomotorik anhand ihrer historischen Entwicklung und psychomotorischer Perspektiven verstehen und systematisieren können (Kap. 1.1, 1.2),

◼ anhand psychomotorischer Perspektiven und Paradigmen nachvollziehen können, dass psychomotorische Praxis in Abhängigkeit theoretischer Vorannahmen gestaltet wird (Kap. 1.2, 1.3),

◼ allgemeine Ziele und Inhalte psychomotorischer Arbeit benennen können (Kap. 1.4),

◼ nachvollziehen des Verhältnisses der Psychomotorik zu ihren Bezugsdisziplinen (Kap. 1.5) und

◼zentrale Begriffe der psychomotorischen Theorie und Praxis definieren und einordnen können (Kap. 1.6).

„Kannst Du mir vier Rollbretter, Sandsäckchen und Igelbälle ausleihen?“, wird die Vorsitzende eines Psychomotorikvereins von einer befreundeten Grundschullehrerin gefragt. „Ich möchte in meiner nächsten Sportstunde mal ein bisschen Psychomotorik machen.“ Die Antwort, die sie hierauf erhält, überrascht sie. „Warum brauchst du denn dafür besonderes Material? Das kannst du doch auch mit den Sachen aus der Turnhalle machen.“

Dieses kurze Beispiel wirft mehrere Fragen auf, wie zum Beispiel: Was ist unter Psychomotorik zu verstehen? Was unterscheidet sie vom Sportunterricht und einer allgemeinen Bewegungsförderung? Wer kann Psychomotorik anbieten? Wird spezielles Material für die Psychomotorik benötigt? Dieses Kapitel bildet den Einstieg in die Beantwortung dieser Fragen.

Der Begriff und die damit verbundene Idee der Psychomotorik konnte sich in Deutschland seit den 1950er Jahren in (heil-)pädagogischen, therapeutischen, sportwissenschaftlichen und gesundheitsbezogenen Kontexten zunehmend etablieren. Infolgedessen wurden und werden Konzeptentwicklung, Begriffs- und Theoriebildung sowie die praktische Ausgestaltung und Anwendung durch verschiedene Berufsgruppen und für unterschiedlichste AdressatInnen vorgenommen.

unterschiedliche Theorie- und Praxisansätze

Dies hat unter anderem dazu geführt, dass sich aktuell unter dem Begriff Psychomotorik sehr unterschiedliche Theorie- und Praxisansätze versammeln. Eine einheitliche Definition erscheint daher nicht möglich.

Psychomotorik als Etikett

Wie das Eingangsbeispiel zeigt, wird die Begriffsklärung zusätzlich dadurch erschwert, dass der Begriff Psychomotorik als Etikett für diejenigen Angebote verwendet wird, die Bewegungsangebote abweichend von regulären Sportangeboten gestalten bzw. Materialien verwenden, die als „typisch“ psychomotorisch gelten, wie zum Beispiel das Rollbrett. So resümiert Manfred Höhne bei einem Rückblick auf seinen Weg in der Psychomotorik (sicherlich mit einem Augenzwinkern): „Bewegungserziehung mit dem Rollbrett! Ja, das war doch der Inbegriff der Psychomotorik – oder?“ (Höhne 2001, 57).

Um die Entwicklungen in der Psychomotorik nachvollziehbar zu machen, werden zunächst historische Wurzeln und Entwicklungen skizziert. Dabei erfolgt eine Einschränkung auf die Darstellung der Entwicklung der Psychomotorik in Deutschland. In der Schweiz und Österreich etablierte sich die Psychomotorik seit den 1960er Jahren. Die österreichische Psychomotorik kann auf die Kiphardschen Wurzeln zurückgeführt werden, die schweizerische Psychomotorik auf Ansätze der französischen Psychomotorik nach DeAjuriaguerra (Krus 2015a, 30f.). Durch die Darstellung ihrer Entwicklung wird deutlich, dass Psychomotorik auch immer sowohl im Gesamtkontext gesellschaftlicher Phänomene, wie beispielsweise Individualisierung und Pluralisierung, als auch im Kontext der Entwicklung ihrer Bezugswissenschaften verstanden werden muss. So haben beispielsweise Erkenntnisse der Gesundheitsförderungs- und Resilienzforschung (Kap. 3.6) sowie eine systemische Perspektive (Kap. 1.2.4, 1.3.4) Einzug in das Theoriegebäude der Psychomotorik gehalten.

Wurzeln der Psychomotorik

Die erste Phase der deutschen Psychomotorik ist dadurch gekennzeichnet, dass sie sich aus vielen Wurzeln entwickelt hat. Sie wurde nach Irmischer (1989) maßgeblich durch die Gedanken der sinnesphysiologischen Erziehung (Jean Itard, Édouard Séguin), durch die Arbeit Maria Montessoris, die Rhythmische Gymnastik (unter anderem Mimi Scheiblauer, Charlotte Pfeffer) und die Heilpädagogik (Heinz Löwnau) geprägt.

Der Artist und Sportlehrer Ernst „Jonny“ Kiphard (1923–2010) fasste diese und weitere Ansätze (aus dem Turnen, der Gymnastik, der Leibeserziehung etc.) zusammen und entwickelte hieraus ab Mitte der 1950er Jahre im Rahmen seiner praktischen Tätigkeit in der Gütersloher Kinder- und Jugendpsychiatrie die „Psychomotorische Übungsbehandlung“ (Irmischer 1989). Er gilt damit als „Vater“ und Begründer der deutschen Psychomotorik.

Den Begriff Psychomotorik übernahm Kiphard von Charlotte Pfeffer (1881–1970). Diese absolvierte in den 1910er Jahren eine Rhythmikausbildung bei Émile Jaques-Dalcroze. In der Rhythmikausbildung wurde davon ausgegangen, „dass aus der Wechselwirkung zwischen musikalischem und körperlichem Rhythmus ein rhythmisches Bewusstsein erwacht, durch welches nicht nur die musikalischen Fähigkeiten der Musikstudenten wesentlich verbessert, sondern auch psychische und physische Körpervorgänge zu einem Ausgleich geführt werden“ (Klöppel / Vliex 2010, 10).

Auf dieser Basis entwickelte Charlotte Pfeffer in den 1930er und 1940er Jahren, im Exil in Italien lebend, einen heilpädagogischen Ansatz der rhythmischen Arbeit für Kinder mit Behinderungen, den sie als psychomotorische Heilerziehung, psychomotorische Erziehung und Psychomotorik bezeichnete (Berger 2003, 11).

Psychomotorische Übungsbehandlung

Aus einer Vielzahl von Grundgedanken und Ansätzen entwickelte Kiphard ein erstes psychomotorisches Konzept, die „Psychomotorische Übungsbehandlung“ (PMÜ). Dabei entwickelte sich die PMÜ zunächst in erster Linie aus Kiphards praktischen Erfahrungen heraus und weniger aus theoretischen Begründungszusammenhängen.

Auch wenn Kiphard als die zentrale Gründungsperson der deutschen Psychomotorik betrachtet werden kann, ist die Etablierung der Psychomotorik die Leistung vieler Menschen aus dem pädagogischen, sportwissenschaftlichen und medizinischen Bereich. So wurde die Entwicklung der PMÜ vor allem durch die damalige Direktorin der Westfälischen Kinder- und Jugendpsychiatrie, Dr. Elisabeth Hecker, und dem dort tätigen Psychiater Dr. Helmut Hünnekens überhaupt erst ermöglicht und begleitet. Seit 1963 gestaltete dann Ingrid Schäfer maßgeblich die PMÜ mit (Kiphard 2001, 9ff.).

Aus der praktischen Arbeit in der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Gütersloh, – nach einem Umzug – 1965 in Hamm (Westfalen), ergaben sich jedoch Fragestellungen zum Beispiel danach, auf welche Weise Psychomotorik wirke, für welche Klientel sie geeignet sei und wie sie gelehrt werden könne.

Verwissenschaftlichung

Eine Verwissenschaftlichung und Lehrbarmachung der Psychomotorik setzte infolgedessen ein. So verfasste Jonny Kiphard 1960 gemeinsam mit Helmut Hünnekens die erste Publikation über seine psychomotorische Arbeit mit dem Titel „Bewegung heilt!“.

Das Buch war das Ergebnis einer ersten Studie mit dem Ziel, die PMÜ darzustellen. Die hier dargestellten Übungsgruppen tragen deutlich die Handschrift der historischen Wurzeln der PMÜ:

◼ Sinnes- und Körperschema-Übungen

◼ Übungen der Behutsamkeit und Selbstbeherrschung

◼ rhythmisch-musikalische Übungen

◼ Übungen des Erfindens und Darstellens (Hünnekens / Kiphard 1971)

Hünnekens und Kiphard geht es um die „Anregung der Selbsttätigkeit des Kindes ohne Dressur, Drill oder von außen diktierter Disziplin“ (Hecker 1971, 5). So selbstverständlich diese Aussagen heute für psychomotorische Fachkräfte sind; im Hinblick auf das zu dieser Zeit vorherrschende Erziehungs- und Bewegungsverständnis sowie Bild vom Kind, bildete diese Sicht auf das Kind und die Art es zu fördern etwas Neues.

Kiphards erfolgreiche praktische Arbeit fand große Resonanz und zahlreiche an der PMÜ Interessierte hospitierten in der Klinik und besuchten Fortbildungen bei ihm (Kiphard 2001, 12).

„Meisterlehre“

In dieser Phase wurde die Psychomotorik also im Sinne einer „Meisterlehre“ gelehrt und verbreitet (Seewald 2002). In den folgenden Jahren entwickelte Kiphard unter anderem zusammen mit Friedhelm Schilling erste Motoriktests und es folgten weitere Studien.

Die Entwicklung in den sich anschließenden Jahren fasst Seewald (1991) als Weg „von der Psychomotorik zur Motologie“ zusammen und beschreibt sie als einen „Prozess der Verwissenschaftlichung einer Meisterlehre“.

Aktionskreis Psychomotorik

Maßgeblich an der Verbreitung und der Verwissenschaftlichung der Psychomotorik beteiligt war und ist seit 1975 der Aktionskreis Psychomotorik (akp). Dieser ging aus dem 1974 in Hamm (Westfalen) gegründeten „Arbeitskreis spezielle Bewegungspädagogik und psychomotorische Therapie“ hervor. Als eingetragener Verein fördert der akp die Verbreitung der psychomotorischen Idee in Deutschland. Im Jahr der Vereinsgründung wurde auch die erste Fachzeitschrift für Psychomotorik durch den akp herausgegeben.

Zeitschrift motorik

Diese trug zunächst den Titel „Psychomotorik“ – Offizielles Organ des Aktionskreises Psychomotorik e.V. 1978 wurde der Titel in „Motorik – Zeitschrift für Motopädagogik und Mototherapie“ umbenannt. Optisch änderte sich der Titel 1993 in „motorik“. Dieser Titel wird ohne Apostroph noch heute verwendet, seit 2013 mit dem Untertitel „Zeitschrift für Psychomotorik in Entwicklung, Bildung und Gesundheit“. Seit 2022 lautet der Untertitel Zeitschrift für Psychomotorik und Motologie in Entwicklung, Bildung und Gesundheit.

Fachschule Motopädie

Auf der Basis der Arbeit einer Grundlagenkommission des akp beginnt die Professionalisierung in der psychomotorischen Ausbildung. In Fachzeitschriften erscheinen Beiträge wie „Der Motodiagnostiker und Mototherapeut. Grundlegung einer neuen Fachdisziplin der Psychomotorik und Motologie“ (Kiphard et al. 1975). Mit der ersten Fachschule für Motopädie 1977 in Dortmund wird das Berufsbild des Motopäden / der Motopädin etabliert. In den nächsten Jahren folgen weitere Fachschulen für Motopädie (aktuelle Übersicht im Serviceteil).

Studiengang Motologie

Als wissenschaftliche Disziplin aus der Praxis der Psychomotorik entstand 1983 der Aufbau-Diplomstudiengang Motologie an der Philipps-Universität Marburg (seit 2007 ein Masterstudiengang). Diesem waren langjährige Verhandlungen, Überzeugungsarbeit und Vorbereitungen vorausgegangen (Schilling 2001, 23f.).

Parallel zu den fachschulischen und universitären Ausbildungsgängen wurden durch den akp psychomotorische Weiterbildungsangebote durchgeführt.

Deutsche Akademie für Psychomotorik

Dieser gründete 1990 die eigenständige Akademie für Motopädagogik und Mototherapie (ak’M), die seit 2008 unter dem Namen Deutsche Akademie für Psychomotorik (dakp) psychomotorische Weiterbildungen und Qualifikationen anbietet.

Wissenschaftlichen Vereinigung Psychomotorik und Motologie

Die Verwissenschaftlichung der Psychomotorik äußert sich auch in der in 2006 gegründeten Wissenschaftlichen Vereinigung Psychomotorik und Motologie e.V. (WVPM).

Ausgehend von der Psychomotorischen Übungsbehandlung für Kinder in einem klinisch-psychiatrischen Setting, entwickelten sich im Laufe der Jahrzehnte viele neue Anwendungsfelder und Vorgehensweisen psychomotorischen Arbeitens. Diese wurden wiederum beeinflusst durch neue Denk- und Forschungsansätze. Der Terminus Psychomotorik steht daher für unterschiedliche Ansätze, theoretische Begründungen sowie deren praktische Umsetzung. Daher ist es nicht möglich, von der einen Psychomotorik zu sprechen. Der Stand der Psychomotorik in Deutschland ist zusammengefasst dadurch gekennzeichnet, dass

◼ Psychomotorik sich in den Feldern Entwicklung, Bildung und Gesundheit etablieren konnte,

◼ Angebote sich, mit einem Schwerpunkt Kindheit / Jugend, über die gesamte Lebensspanne erstrecken,

◼unterschiedliche Modelle der Theorie und Praxis der Psychomotorik nebeneinander stehen,

◼ mehrere Aus- und Weiterbildungen sowie Ausbildungs- und Weiterbildungseinrichtungen parallel existieren und daher keine einheitliche Ausbildung bzw. kein einheitliches psychomotorisches Berufsbild existiert.

Pluralität in Theorie und Praxis

Anstelle des einen Modells existieren also Mehrdeutigkeiten, z. T. konkurrierende Theorien und eine Pluralität in der Vorgehensweise. Dies birgt sowohl Risiken als auch Chancen.

Zu den Risiken zählt die Gefahr einer weiteren Ausdifferenzierung und steigenden Unübersichtlichkeit psychomotorischer Angebote. Dies verunsichert vor allem BerufsanfängerInnen und LaiInnen, die aus einem Angebot von Theorie- und Praxismodellen auswählen müssen. Weiterhin besteht die Gefahr, dass für die PraktikerInnen die Modelle der Psychomotorik zu komplex werden und diesen keine Handlungsorientierung für die Praxis entnommen werden können. Darüber hinaus erscheint unter diesen Vorzeichen eine Etablierung, im Sinne der einen Psychomotorik, erschwert.

Chancen werden gesehen in einer breiten Auseinandersetzung und Diskussion unter anderem darüber, was denn den Kern psychomotorischen Arbeitens ausmacht.

Nachdem in den 1980er Jahren ein Theoriemangel der Psychomotorik beklagt wurde, besteht inzwischen eine sehr vielfältige Theorielandschaft. Hierdurch können PraktikerInnen aus einer Fülle von Möglichkeiten die für ihre Klientel, ihr Handlungsfeld, aber auch zu ihrer eigenen Persönlichkeit sowie Ausbildung passenden / sinnvollsten Vorgehensweisen individuell auswählen. Eine Aufgabe der TheoretikerInnen und PraktikerInnen der Psychomotorik besteht daher darin, Wege aufzuzeigen, auf denen mit der beschriebenen Vielfalt produktiv umgegangen werden kann.

Zusammenfassung

Die deutsche Psychomotorik basiert auf den Grundlagen der Leibeserziehung, der Gymnastik, der Rhythmik sowie der Sinnes- und Bewegungsschulung. Diese wurden von Ernst „Jonny“ Kiphard aufgegriffen, zusammengeführt und in seinem Konzept der Psychomotorischen Übungsbehandlung seit den 1950er Jahren neu systematisiert. Psychomotorische Praxis, Begriffs- und Theoriebildung werden seitdem durch unterschiedliche Berufsgruppen und für unterschiedliche AdressatInnen vorgenommen. Der Terminus Psychomotorik steht daher aktuell für eine Vielzahl an Ansätzen, theoretische Begründungen sowie deren praktische Umsetzung.

1. Beschreiben Sie den Weg der Psychomotorik von einer „Meisterlehre“ zu einer Wissenschaft (Seewald 2002).

2. Welche Organisationen und Institutionen vertreten die Psychomotorik in Deutschland?

Bücher, die aus einer persönlichen Sicht der Beteiligten Einblicke in die Anfänge und Weiterentwicklung der deutschen Psychomotorik geben:

Irmischer, T., Hammer, R. (2001) (Hrsg.): Psychomotorik in Geschichten. AKL, Lemgo

Roob, I. (Hrsg.) (2015): Spurensuche. Psychomotorische Schätze neu entdecken. WVPM-Verlag, Marburg

Eine Übersicht über die Entwicklungen der europäischen Psychomotorik findet sich bei:

Fischer, K. (2019): Einführung in die Psychomotorik. 4. überarb. u. erw. Aufl. Ernst Reinhardt, München

Krus, A. (2015a): Entwicklungslinien der Psychomotorik. In: Krus, A., Jasmund, C. (Hrsg.): Psychomotorik in sozialpädagogischen Arbeitsfelder. Kohlhammer, Stuttgart, 15–35

1.1 Begriffsklärung Psychomotorik

„Es gibt unter den PsychomotorikerInnen viel Einigkeit in der Sache und in grundlegenden Überzeugungen, aber wenig Einigkeit in der Sprache. Diese babylonische Sprachverwirrung ist zu einem großen Teil selbst gemacht. Sie entsteht wesentlich dadurch, daß (sic!) der Begriff Psychomotorik in unterschiedlicher Bedeutung benutzt wird“ (Seewald 1997b, 1).

Wie das vorhergehende Kapitel bereits thematisiert, stellt die deutsche Psychomotorik kein einheitliches Konzept dar. In ihrem Kontext sind darüber hinaus weitere Begriffe entstanden, die einleitend skizziert werden, um eine Einordnung vornehmen zu können.

Im Zuge der Verwissenschaftlichung und Lehrbarmachung der Psychomotorik entstanden interessanterweise Wortschöpfungen, die nicht den Begriff Psychomotorik enthalten. So wird die fachschulisch gelehrte Psychomotorik von MotopädInnen praktiziert und die universitäre Lehre und Forschung der Psychomotorik in der Motologie verortet. Motopädie und Motologie grenzen sich dabei nicht inhaltlich, sondern nur institutionell von dem international vorherrschenden Oberbegriff Psychomotorik ab (Fischer 2015, 263).

Motologie

Dabei bildet die Motologie ein „wissenschaftliches Fachgebiet mit eigener Fachsystematik und eigenem Berufsbild (Diplom-Motologe / Motologin bzw. Motologe/Motologin M.A.)“ (Fischer 2015, 263).

Die Fortbildungseinrichtung des akp trug zunächst (bis 2008) den Titel „Akademie für Motopädagogik und Mototherapie“. Motopädagogik und Mototherapie galten auch als Teilgebiete der Motologie.

Motopädagogik/Mototherapie

Die Motopädagogik legte dabei den Schwerpunkt des psychomotorischen Arbeitens auf Prävention und erzieherische Arbeit, in der Regel im Kindesalter. Die Mototherapie legte hingegen ihren Schwerpunkt auf die Rehabilitation im eher klinischen Bereich. Inzwischen haben sich aber auch Inhalte und Strukturen des Master-Studiengangs Motologie erweitert und verändert, sodass die Begriffe Motopädagogik und Mototherapie hier nicht mehr verwendet werden. Mittlerweile können Studienschwerpunkte im Bereich Förderung und Beratung im Arbeitsfeld Kinder und Jugendliche oder im Bereich Körperpsychotherapie gewählt werden. Der Einzug von Themen wie Organisationsberatung, Gesundheitsförderung, Evaluation verweist darauf, dass sich auch die Motologie in einem steten Prozess der Weiterentwicklung befindet, der wiederum in Interaktion mit der psychomotorischen Praxis steht.

Festzuhalten bleibt, dass sich bei aller (historischen) Begriffsvielfalt der Begriff Psychomotorik in Deutschland etablieren konnte, auch weil er international anschlussfähig ist:

„Unter internationalen Gesichtspunkten tritt der Begriff ‚Psychomotorik‘ immer mehr in den Vordergrund und findet in den verschiedenen Sprachen seine entsprechende Übersetzung (Psychomotricity, Psychomoticité, Psicomotricidad“ (Zimmer 2019, 19).

Europäisches Forum der Psychomotorik

Dies schlägt sich auch in der Bezeichnung des 1996 gegründeten „European Forum for Psychomotricity“ (Europäisches Forum für Psychomotorik) nieder, dem im Jahr 2017 15 europäische Staaten angehören (eine Übersicht über die europäische Psychomotorik findet sich bei Krus 2015a, 29ff.).

Letztendlich bildet der Begriff Psychomotorik eine gemeinsame Klammer aller psychomotorischer Fachkräfte, unabhängig ihres Aus- und Weiterbildungsweges.

Deutsche Akademie für Psychomotorik

So trägt auch die Akademie für Motopädagogik und Mototherapie seit 2008 den Namen „Deutsche Akademie für Psychomotorik“.

Deutsche Gesellschaft für Psychomotorik

Die „Deutsche Gesellschaft für Psychomotorik“ (DGfPM) bildet seit 2006 den Dachverband der Verbände und Vereine der deutschen Psychomotorik.

Der Begriff „Psychomotorik“ wird allerdings nicht einheitlich und in unterschiedlichen Sinnzusammenhängen benutzt. So können nach Seewald (1997a, 272) folgende vier Bedeutungen des Begriffs Psychomotorik unterschieden werden:

1.„Psychomotorik als Konzept der Entwicklungsförderung“ als Sammelbegriff und Eigenname für psychomotorische Konzepte in der Tradition der „Psychomotorischen Übungsbehandlung“, die sich an einem humanistischen Menschenbild, spezifischen Prinzipien und Zielen orientieren.

2.„Psychomotorik als Begriff, der die Einheit von körperlichen und seelischen Prozessen bezeichnet“, verweist auf die psychomotorische Überzeugung, der Ganzheitlichkeit und Unteilbarkeit körperlich-seelischer Prozesse. In diesem Verständnis wird also der enge Zusammenhang von Wahrnehmen, Erleben, Erfahren und Handeln betont (Fischer 2019, 9).

3.„Psychomotorik als Begriff der (Sport-)Motorikforschung“ im Sinne eines Oberbegriffs für Theorien, die sich mit psychisch gesteuerten motorischen Prozessen und Abläufen befassen (Pöhlmann et al. 2011, 85).

4.„Psychomotorik als Bezeichnung einer Entwicklungsphase“, die in der Reihenfolge „Neuromotorik“, „Sensomotorik“, „Psychomotorik“ und „Soziomotorik“ auftritt (Leyendecker 2005, 13ff.).

Vor allem die Begriffsbedeutung „Psychomotorik als Konzept der Entwicklungsförderung“ und „Psychomotorik als Begriff, der die Einheit von körperlichen und seelischen Prozessen bezeichnet“ sind dabei von Relevanz für die Theorie und Praxis der Psychomotorik. Im Einzelfall sollte jedoch immer geklärt werden, in welchem Sinne der Begriff „Psychomotorik“ benutzt wird. Dies illustriert auch das folgende Beispiel aus der psychomotorischen Praxis:

Fallbeispiel: psychomotorische Begriffsverwirrung

Im Rahmen des Sportunterrichts nutzt die Klasse von P. im Winterhalbjahr eine Eislaufhalle. Der dort unterrichtenden Lehrerin fällt auf, dass P. noch große Schwierigkeiten zeigt, das Gleichgewicht auf dem Eis zu halten und er es noch nicht schafft, sich die neuen Bewegungsabläufe anzueignen. Sie beobachtet insgesamt eine große motorische Unsicherheit und dass P. sich sehr ängstlich verhält. Für sie, als erfahrene Lehrerin, ist P. daher ein „typisches“ Kind für die psychomotorische Förderung. Dorthin hat sie schon öfter Kinder vermittelt, die ihr im Bewegungsverhalten aufgefallen sind. Sie informiert daher die Eltern darüber, dass ihr Kind eine „psychomotorische Störung“ habe und rät zur Förderung. Den Eltern ist der Begriff der psychomotorischen Störung nicht bekannt. Die Mutter, Gesundheits- und Krankenpflegerin in einer Klinik, spricht daher einen der Klinikärzte auf diese Störung an. Dieser zeigt sich äußert besorgt, spricht von neurologischen und psychischen Erkrankungen und rät unbedingt zu einer Magnetresonanztomographie (MRT) des Schädels. Diese wird ohne Befund durchgeführt. Die Eltern sind erleichtert und melden das Ergebnis der Untersuchung an die Lehrerin zurück. Diese versteht nicht, warum die Eltern anhand eines MRTs eine psychomotorische Störung ausschließen. Sie bittet die Eltern, sich P. beim Schlittschuhlaufen anzusehen, damit sie verstehen, was sie meint. Während die Eltern P. auf dem Eis beobachten, erklärt die Lehrerin, was sich aus ihrer Sicht hinter einer „psychomotorischen Störung“ verbirgt und warum eine psychomotorische Förderung helfen könnte. Die Eltern können nun nachvollziehen, warum die Lehrerin der Meinung ist, dass eine psychomotorische Förderung für P. sinnvoll sein könnte. Aber wird das Spielen und Toben in einer Gruppe in diesem Psychomotorikverein P. auch helfen?

notwendige Begriffsklärung in der Praxis

Vor allem im Austausch mit KooperationspartnerInnen (Kap. 6) sollte zu Beginn eine Begriffsklärung erfolgen. So könnten zum Beispiel NeurologInnen oder PsychologInnen den Begriff weniger als Eigenname oder als allgemeinen Begriff verstehen, sondern im Sinne der psychisch gesteuerten Motorik. Eltern kennen den Begriff möglicherweise gar nicht und zeigen sich auch irritiert aufgrund des Wortteils „Psycho“. Daher ist es notwendig, den Begriff Psychomotorik zu definieren, ihn erklären zu können und zu wissen, dass nicht alle Berufsgruppen das gleiche Begriffsverständnis haben.

Aber auch innerhalb der Psychomotorik existieren verschiedene Definitionen von Psychomotorik. Im Folgenden werden daher mehrere Definitionen vorgestellt, die auch noch einmal verdeutlichen, dass Psychomotorik zum einen als Begriff für ein Konzept der Entwicklungsförderung und zum anderen als ein Begriff zur Benennung der Einheit von körperlichen und seelischen Prozessen verwendet wird. Die gewählten Definitionen stehen darüber hinaus exemplarisch für die historische Entwicklung und die Standortbestimmung der deutschen Psychomotorik im 21. Jahrhundert.

Definition Ernst J. Kiphard

Ausgangspunkt bildet die Definition des Begründers der deutschen Psychomotorik, der Psychomotorik definiert als „eine ganzheitlich-humanistische, entwicklungs- und kindgemäße Art der Bewegungserziehung, in deren Mittelpunkt die Förderung der gesamten Persönlichkeit steht“ (Kiphard 1984, 49).

Diese Definition verweist auf das der Psychomotorik zugrunde liegende Menschenbild (Kap. 1.6.1), beschreibt die damaligen AdressatInnen der PMÜ (Kinder), benennt die Entwicklungsorientierung und den pädagogischen Anspruch des „Erziehens durch Bewegung“ als Methode und die Förderung der gesamten Persönlichkeit als Ziel. Dieser Ansatz steht damit dem Sport als „Erziehung zur Bewegung“ gegenüber.

Neuere Definitionen enthalten in der Regel immer auch Kernelemente dieser Definition. So wird durchgehend die Einheit von Bewegen, Wahrnehmen, Erleben sowie die Orientierung am Individuum und seiner Entwicklung betont, wie auch die folgenden Definitionen zeigen:

Definition Dietrich Eggert/Birgit Lütje-Klose

Dietrich Eggert und Birgit Lütje-Klose benennen als Klientel der Psychomotorik ebenfalls die Gruppe der Kinder und beschreiben Psychomotorik als „die Förderung der Entwicklung von Kindern durch das Zusammenspiel von Bewegen, Denken, Fühlen und Orientieren im Spiel oder einer anderen bedeutungsvollen Handlung zusammen mit anderen“ (Eggert / Lütje-Klose 2008, 22). Diese Definition bezieht sich noch ausschließlich auf Kinder. Ergänzend zur Kiphardschen Definition verweist sie auf die Bedeutung der Gruppe in der Psychomotorik. Statt Erziehung wird der Begriff der Förderung verwendet. Dieser wird in der Definition von Astrid Krus um therapeutische Aspekte ergänzt:

Definition Astrid Krus

„Das Konzept der Psychomotorik bezeichnet eine ganzheitliche, humanistische, pädagogische oder therapeutisch Methode der Entwicklungsförderung über die Lebensspanne durch Bewegung und Körperlichkeit. Die Einheit von Bewegen, Wahrnehmen und Erleben beschreibt das Grundkonzept der Psychomotorik“ (Krus 2015b, 53).

In dieser Definition werden psychomotorische Angebote auf die gesamte Lebensspanne bezogen. Entwicklungsförderung in pädagogischen oder therapeutischen Kontexten wird als Ziel definiert.

Definition Europäisches Forum

Den Bezug auf ein humanistisches Menschenbild sowie die Ganzheitlichkeit findet sich auch in der Definition des Europäischen Forums für Psychomotorik: „Aufgrund eines holistischen Menschenbildes, das von einer Einheit von Körper, Seele und Geist ausgeht, beschreibt der Begriff Psychomotorik die Wechselwirkung von Kognition, Emotion und Bewegung und deren Bedeutung für die Entwicklung der Handlungskompetenz des Individuums im psychosozialen Kontext“ (Passolt / Pinter-Theiss 2003, 11). Hier findet eine Erweiterung um den psychosozialen Kontext statt.

Definition Ingrid Olbrich

Ingrid Olbrich definiert nicht ein Konzept, sondern Psychomotorik als den emotionalen Ausdruck, der über den Leib im Spiel ermöglicht wird: „Unter Psychomotorik verstehe ich die in der Leiblichkeit und ihrer beweglichen Ausdruckskraft sichtbar werdenden Gefühlsqualitäten, neben den gesellschaftlich zugelassenen auch die unerwünschten, die sich beim Kind oft nur noch im Spiel zeigen können“ (Olbrich 1995, 47).

Definition Amara Eckert

Auch Amara Eckert versteht unter Psychomotorik „das menschliche Ausdrucksgeschehen mit seinen individuellen, dialogischen und gestalterischen Aspekten, den vielfältigen Möglichkeiten sinnhaft leiblich in dieser Welt zu sein“ (Eckert 2004, 70). Mit dem Begriff Leib weisen Ingrid Olbrich und Amara Eckert darauf hin, dass es in ihrem Verständnis um den subjektiv gespürten Leib geht (Kap. 1.6.2), also nicht um den naturwissenschaftlichen Blick auf einen mess- und beschreibbaren Körper. Ansatzpunkt sind die durch den Leib gewonnenen und mitgeteilten inneren Bewegungen.

Definition Gerd Hölter

Dies und die sozialen Faktoren betont auch Gerd Hölter, denn für ihn ist Psychomotorik „eine über eine biomechanische / physiologische Sichtweise hinausgehende Interpretation der menschlichen Leiblichkeit und Bewegung, bei der die Beachtung einer Wechselwirkung von physischen, psychischen und sozialen Faktoren bedeutsam ist“ (Hölter 1990, 94).

Definition Klaus Fischer

Klaus Fischers Definition weist darauf hin, dass sich die Psychomotorik von einem zunächst in der praktischen Arbeit entstandenen Konzept zu einer wissenschaftlichen Disziplin entwickelt hat. „Psychomotorik ist eine entwicklungstheoriegeleitete Handlungswissenschaft mit Ausrichtung auf die Erforschung der dynamischen Personen-Umwelt-Interaktion“ (Fischer 2011, 3). „Der Begriff Psychomotorik betont innerhalb der menschlichen Motorik den engen Zusammenhang von Wahrnehmen, Bewegen, Erleben, Erfahren und Handeln“ (Fischer 2015, 363).

Die einzelnen Definitionen weisen Überschneidungen und Ergänzungen auf. In allen Definitionen wird deutlich, dass Bewegung in der Psychomotorik nicht nur als motorische Funktion des Körpers betrachtet wird. Bewegungs- und Wahrnehmungsaktivitäten werden eine zentrale Rolle in der kindlichen Welterschließung und -aneignung zugesprochen: Über den Körper erfährt das Kind etwas über sich, seine materielle sowie personelle Umwelt. Gleichzeitig drückt es sich über seinen Körper aus und wirkt aktiv auf seine soziale und materielle Umwelt, die wiederum auf das Kind wirkt. Körper- und Bewegungserfahrungen gelten in der Psychomotorik als fundamentale Bausteine von Lernprozessen, Persönlichkeitsentwicklung, Identitätsbildung und Beziehungsgestaltung. Dabei hat sich der Fokus von der Lebensphase Kindheit auf die gesamte Lebensspanne geweitet.

Zusammenfassung

Verschiedene Definitionen von Psychomotorik weisen Gemeinsamkeiten, Akzentsetzungen und Erweiterungen auf. Als Kernelemente der Definitionen kann herausgearbeitet werden, dass der Einheit von Bewegung, Wahrnehmen und Erleben für die menschliche Entwicklung eine fundamentale Bedeutung zukommt. Neuere Definitionen beziehen Umweltfaktoren und die gesamte Lebensspanne mit ein.

1. Stellen Sie die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der vorgestellten Definitionen vor.

2. Welche Begriffe zeichnen sich in den Definitionen als zentral ab?

3. Welche der Definitionen nutzt den Begriff Psychomotorik im Sinne eines Konzepts der Entwicklungsförderung und welche, um Psychomotorik als Einheit von körperlichen und seelischen Prozessen zu bezeichnen?

4. Recherchieren Sie weitere Definitionen von Psychomotorik. Vergleichen Sie diese mit den hier aufgeführten Definitionen.

1.2 Entwicklungslinien und psychomotorische Perspektiven

Die in Kapitel 1.1vorgestellten Definitionen verweisen unter anderem bereits darauf, dass aus unterschiedlichen Perspektiven psychomotorisch gehandelt wird. Diese werden im folgenden Kapitel vorgestellt.

Als Ausgangspunkt einer allgemeinen Übersicht und einer ersten Einordnung der Psychomotorik wird Bezug auf die von Gerd Hölter beschriebenen „Entwicklungslinien der Psychomotorik im deutschsprachigen Raum“ (Hölter 1997) sowie die von Jürgen Seewald (1993) formulierten „Theoriebrillen“ genommen.

Entwicklungslinien

Gerd Hölter fasst die Entwicklungslinien der deutschen Psychomotorik wie folgt zusammen: „Betrachtet man die Arbeitskonzepte aus wissenschaftlicher Sicht, so lassen sich deutlich drei Richtungen mit unterschiedlichen Interessen und Arbeitsschwerpunkten voneinander unterscheiden, eine psychiatrische, eine bewegungsanalytische und eine praxeologische Richtung. Die praxeologische Richtung basiert und profitiert zum Teil von den anderen beiden Richtungen, hat aber ihre eigenen Akzente entwickelt, in denen Bewegung als Funktionsgeschehen, als Strukturierungsleistung und / oder Bedeutungsphänomen betrachtet wird“ (Hölter 1997, 20).

psychiatrische Entwicklungslinie

Die psychiatrische Entwicklungslinie befasste sich zunächst mit dem Zusammenhang von gezeigtem Bewegungsverhalten und dem psychischen Zustand der klinischen PatientInnen. Neuere Forschungen beschäftigen sich, die Perspektive umkehrend, mit dem möglichen Bedingungsgefüge psychomotorischer Störungen und psychischen Erkrankungen.

bewegungsanalytische Entwicklungslinie

Die bewegungsanalytische Entwicklungslinie interessiert sich hingegen weniger für Bewegungsverhalten als Ausdruck psychischer Prozesse, als vielmehr für Bewegung als Steuerungsvorgang (beispielsweise in der Biomechanik) oder aber als Ausdruck menschlicher Intelligenz.

praxeologische Entwicklungslinie

Die praxeologische Entwicklungslinie versteht sich als eine anwendungsorientierte Richtung der Psychomotorik, wie sie in diesem Lehrbuch vermittelt wird. Innerhalb der deutschen Psychomotorik haben sich ausgehend von der Psychomotorischen Übungsbehandlung unterschiedliche Richtungen und psychomotorische Ansätze entwickelt, die sich in erster Linie in ihren Grundannahmen über Entwicklungsprozesse, ihrem Störungsverständnis und dem davon abzuleitendem Förderprozess unterscheiden (Fischer 2019, 23; Krus 2015a, 19ff.).

Theoriebrillen

Jürgen Seewald (1993; 2009) stellt mit seinem Modell der „Theoriebrillen“ einen Systematisierungsversuch der Perspektiven der praxeologischen Entwicklungslinie der Psychomotorik vor.

erklärende und verstehende Ansätze

Dabei können zunächst zwei grundlegende Kategorien gebildet werden (Abb. 1): Erklärende Ansätze (mit einer funktional-physiologischen oder erkenntnisstrukturierenden Perspektive) sowie verstehende Ansätze (mit identitätsbildender / sinnverstehender oder ökologisch-systemischer Perspektive). Dabei gehören die erklärenden Ansätze chronologisch betrachtet zur älteren Generation der Psychomotorik und die Verstehenden zur jüngeren.

Abb. 1: Systematisierung psychomotorischer Ansätze (Eigene Darstellung nach Seewald 2009)

1.2.1 Funktional-physiologische Perspektive

biologistisches Menschenbild

Grundgedankebildet bei diesem Ansatz ein medizinisches / biologistisches Menschenbild, welches das Bewegungsgeschehen als ein Produkt neuraler Prozesse versteht und somit Bewegung als neurophysiologisches Steuerungsgeschehen betrachtet. Störungen werden, in der Tradition eines linear medizinisch orientierten Denkmodells, auf Defizite in der Wahrnehmung und Bewegung beziehungsweise auf sogenannte cerebrale Dysfunktionen, zurückgeführt.

Defizitorientierung

Ansatzpunkt sind damit diagnostizierte Defizite im motorischen und / oder sensorischen Bereich, die durch ein gezieltes Trainieren aufgehoben werden sollen (Seewald 1993, 189; Fischer 2019, 29 f). Das Therapieverständnis beschreibt Seewald (1993, 18) wie folgt: „Besteht ein Rückstand in der Körperkoordination, muß diese geübt werden, ist der Rückstand größer, muß entsprechend mehr oder öfter geübt werden.“ Den KlientInnen kommt dabei eine eher passive Rolle zu, denn nach einer Diagnostik werden das Förderziel, die Auswahl und die Durchführung geeigneter Übungen allein durch die psychomotorische Fachkraft bestimmt.

Neben einigen Vorteilen, die vor allem in der Handlungssicherheit der psychomotorischen Fachkraft, in klaren Rollenzuweisungen und in der Verhinderung von Überinterpretationen motorischer Abläufe liegen, bestehen auch Nachteile. Zunächst ist der diesem Konzept immanente Subjekt- und Normalitätsbegriff kritisch zu betrachten, denn es wird davon ausgegangen, dass sich Menschen mit einer „gesunden“ cerebralen Ausstattung adäquat an die Gegebenheiten (Stimuli) der Realität anpassen können. Von den Normalitätsvorstellungen abweichendes Verhalten wird im Umkehrschluss monokausal auf pathologische Veränderungen im menschlichen Gehirn zurückgeführt.

Beüben

Da das primäre Anliegen eine Verbesserung der Motorik und / oder der Wahrnehmungsleistung ist, erfolgt die Therapie auf der Basis eines reinen „Beübens“ des menschlichen Bewegungsapparates. Ziel des „Beübens“ ist das Erfüllen einer definierten Normalitätserwartung. Dabei wird der Gesamtproblematik ein monokausaler Erklärungsansatz zugrunde gelegt und mögliche psychosoziale Verursachungsfaktoren ausgeblendet. Durch dieses Vorgehen wird Störungsbildern als Symptomen keinerlei subjektiver Sinn zuerkannt, sodass die Biografie und die Lebenswelt der KlientInnen keine Berücksichtigung finden (Seewald 1993, 6f.).

In der aktuellen Psychomotorik wirkt diese Perspektive vielleicht befremdlich, aber die PMÜ wird dieser Perspektive zugeordnet. Die Anfänge der Psychomotorik liegen im Setting der Kinder- und Jugendpsychiatrie der 1950er Jahre. Daher verwundert es nicht, dass in Kiphards PMÜ funktionelle und medizinische Aspekte zu überwiegen scheinen. Das erste Kapitel von „Bewegung heilt“ trägt auch die Überschrift: „Medizinische Grundlagen“. Hier werden Kinder mit „frühkindlichem Hirnschaden“ und „neurotische Kinder“ als Zielgruppe der PMÜ beschrieben (Hünnekens / Kiphard 1971, 9).

Auch werden vier Funktionsstufen beschrieben, an die das Kind herangeführt werden solle: Zu Beginn steht die isolierte Erfahrung im Gebrauch der Sinne. Hierdurch sollte erlernt werden, bewusst zu hören, zu fühlen oder zu sehen. Diesen Erfahrungen schließen sich statische und dynamische Körpererfahrungen an, die die Basis für die folgenden Bewegungserfahrungen im Großraum sind, die die grobmotorische Koordination fördern sollten. Übungen im feinmotorischen Bereich bilden die vierte Funktionsstufe (Hünnekens / Kiphard 1971, 18). Die entwickelten Tests (zum Beispiel der Körperkoordinationstest oder der Trampolinkoordinationstest) sollten die motorischen Defizite der Kinder erheben, die dann entsprechend behandelt wurden.

Astrid Krus (2015a, 20) verweist darauf, dass sich Kiphard selbst nicht dieser Perspektive der Psychomotorik zuordnete, da er von Anfang an die Bedeutung der Bewegung für die gesamte Persönlichkeitsentwicklung betont habe und nicht symptom- und defizitorientiert vorgegangen sei.

Unter der Berücksichtigung aktueller Entwicklungstheorien sowie des ganzheitlichen, humanistischen Menschenbilds der Psychomotorik kann eine rein funktionale Perspektive nicht länger als einziges Begründungsmuster und Vorgehen in der Psychomotorik betrachtet werden.

1.2.2 Kompetenztheoretische, erkenntnisstrukturierende, selbstkonzeptorientierte Perspektive

Diese Perspektive, eingebracht durch Friedhelm Schilling, Gründungsprofessor des Motologiestudiengangs, stützt sich auf psychologische Theorien der Handlungsfähigkeit und lässt sich unter anderem auf die Entwicklungstheorie Jean Piagets zurückführen (Fischer 2019, 24). Grundgedanke ist, dass Wahrnehmung und Bewegung als Strukturierungsleistungen des Individuums gelten, die vom Individuum zu Mustern zusammenfügt werden.

Bewegungs- und Wahrnehmungsmuster

Diese Muster bilden dann die Basis der Handlungskompetenz. Je zahlreicher die erworbenen Bewegungs- und Wahrnehmungsmuster (= Körper-, Sozial-, Materialerfahrung) und je sicherer ihre Beherrschung (= Körper-, Sozial-, Materialkompetenz), desto flexibler (im Sinne einer Automatisierung) können sie auf neue Umweltbedingungen angewendet werden (= Handlungskompetenz).

Störungen basieren auf einem unzureichenden Erwerb von Handlungsmustern, die sich in einem zweiten Schritt negativ auf Verhalten und Emotion auswirken können (Seewald 1993, 190).

Sekundärstörungshypothese

Eine mangelnde Handlungskompetenz wirkt sich also negativ auf die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes aus (sog. Sekundärstörungshypothese).

Handlungskompetenz

Ziel ist neben einer Verbesserung der Handlungsfähigkeit/Handlungskompetenz (durch den Erwerb flexibler Wahrnehmungs- und Bewegungsmuster) die Stärkung des Selbstwertgefühls durch systematische Erfolgserlebnisse.

Stärkung des Selbstwertgefühls

„Durch die Stärkung des Selbstwertgefühls soll das Kind indirekt in die Lage versetzt werden, seine Schwächen zu überwinden oder adäquater damit umzugehen“ (Seewald 1993, 191). Renate Zimmer (2012, 22f; 2014, 24) nennt als Ziele der selbstkonzeptorientierten Psychomotorik:

◼ Förderung von Eigentätigkeit und selbstständigem Handeln

◼ Erweiterung von Handlungskompetenz und Kommunikationsfähigkeit

◼ Stärkung der Selbstwahrnehmung

◼ Erfahren eigener Ressourcen, Kompetenz und Selbstwirksamkeit

◼ Verbesserung motorischer Fähigkeiten

◼ Stärkung des Selbstbewusstseins

Ansatzpunkte bilden dabei die Stärken und Vorlieben des Kindes. Die Förderung besteht in der Bereitstellung anregungs- und variantenreicher Bewegungs- und Wahrnehmungssituationen, die zum Problemlösen sowie zur Eigentätigkeit auffordern. Hierdurch sollen neue Muster angewendet und automatisiert werden können. Durch ein Mehr an Wahrnehmungs- und Bewegungsmustern soll das Kind in seiner Handlungskompetenz gestärkt werden (= kompetenztheoretische Perspektive).

Als Vorteil ist die Abkehr vom Übungscharakter sowie von einer Symptom- und Defizitorientierung zu sehen.

nichtlineares Denkmodell

Problem und Lösung liegen nicht länger auf einer Ebene, sodass ein nichtlineares Denkmodell vertreten wird, wenngleich das Problem monokausal auf ein Verursachungsschema zurückgeführt wird. KlientInnen werden als AkteurInnen der Förderung angesehen und ihre Bedürfnisse und Gefühle erhalten Raum. Dennoch sind folgende Nachteile auszumachen: Das Lebensumfeld der KlientInnen wird nicht explizit einbezogen und das Problem wird allein an den KlientInnen festgemacht. Auch die Beziehung zwischen KlientIn und psychomotorischer Fachkraft wird nicht ausreichend mitreflektiert.

positives Selbstkonzept und Persönlichkeitsentwicklung

In Weiterentwicklungen dieser Perspektive wird vor allem der Aufbau eines positiven Selbstkonzepts als Beitrag zur Persönlichkeitsentwicklung und Identitätsbildung betont (Krus 2015a, 22). „Inhaltlich geht es in dieser Perspektive um die Stärkung des Selbstkonzepts durch Selbstwirksamkeitserfahrungen in Problemlösesituationen durch Handeln“ (Fischer 2019, 24 f). Vertreterinnen dieser Perspektive sind beispielsweise Renate Zimmer („Kindzentrierte psychomotorische Entwicklungsförderung“) und Astrid Krus („Psychomotorische Entwicklungstherapie“).

Theorie und Praxis kompetenztheoretischer, selbstkonzeptorientierter Psychomotorik:

Krus, A. (2004): Mut zur Entwicklung: Das Konzept der psychomotorischen Entwicklungstherapie. Hofmann, Schorndorf

Zimmer, R. (2019): Handbuch Psychomotorik. Theorie und Praxis der psychomotorischen Förderung von Kindern. Herder, Freiburg i. Br.

1.2.3 Sinnverstehende Perspektive

Bewegung als Bedeutungsphänomen

In der verstehenden Perspektive wird Bewegung als Bedeutungsphänomen betrachtet, „in dem sich das Kind ausdrückt und mitteilt. Die Bewegungsgeschichte ist Teil der Lebensgeschichte des Kindes und zeigt dominierende Lebensthemen“ (Seewald 1993, 191). Die Bedeutung der kindlichen Bewegung wird somit in einem biografischen Kontext betrachtet.

konflikthafte Lebens- und Beziehungsthemen

Grundgedanke ist, dass das (Bewegungs-)Verhalten Hinweise darauf bietet, dass bestimmte Lebens- und Beziehungsthemen konflikthaft und traumatisch besetzt sind und nicht adäquat verarbeitet werden konnten. Durch das gezeigte Symptom symbolisiert das Kind also eine Bedeutung, die es auf anderen Wegen nicht auszudrücken vermag.

„Verstehen und Verstanden werden sind zentrale menschliche Bedürfnisse, vielleicht die wichtigsten überhaupt. Sie stehen im Mittelpunkt des Verstehenden Ansatzes. Dabei wird Verstehen nicht nur sprachlich gesehen, Verstehen ergibt sich auch im gemeinsamen Handeln und im leiblichen Mitsein. Dies ist das eigentlich Neue des Verstehenden Ansatzes: das Verstehen auf die vor- und außersprachliche Sphäre der Kommunikation auszuweiten und es damit zur Sache der Psychomotorik zu machen“ (Seewald 2007, 9).

biografischer Zugang

Ansatzpunkte bilden Szenen und Spiele des Kindes. Diese werden von psychomotorischen Fachkräften als sinngeleitete Ausdrucksformen in Hinblick auf frühere Lebensthemen entschlüsselt. Die psychomotorische Fachkraft unterbreitet dem Kind dann Materialien und Situationen, die in ihrem symbolischen Appell zu den entschlüsselten Lebensthemen passen. Ziel ist das Nacherleben und Verarbeiten von konflikthaften Erlebnissen. Das Tempo des Prozesses wird vom Kind gesteuert (Seewald 1993, 193). Eine Verbesserung der Motorik steht dabei zunächst nicht im Vordergrund. Störungen werden keinem Krankheitsbild zugeordnet.

Selbstmitteilung

Sie werden als grundsätzlich sinnvolle Äußerung, als „Selbstmitteilung“ verstanden und sinnerschließend erfasst. Der wesentliche Vorteil dieser Sichtweise kann daher in der Vermeidung einer Pathologisierung des gezeigten Verhaltens bestehen, da das als Störung empfundene Verhalten in seinem subjektiven Sinn verstanden wird. Kritisch betrachtet werden muss, dass der Ansatz sich aber durchaus an einem medizinischen Gesundheitsbegriff orientiert, an den die Person durch Beseitigung ihrer Störungen wieder herangeführt werden soll. Die Rolle der psychomotorischen Fachkraft und der Störungsbegriff können daher auch kritisch gesehen werden, denn „auch der verstehende Ansatz mündet […] in eine individuumszentrierte therapeutische Verhaltensweise, mit dem Ziel, im besseren Wissen darüber, was das einzelne Kind braucht, die aufgespürten defizitären Aspekte frühkindlicher Beziehungen durch positive Erfahrungen nachholen, ausgleichen und somit die Störung beheben zu wollen“ (Balgo 1998, 4).

Als Nachteil erweist sich, dass sich diese Perspektive nur für die Anwendung in einer Einzeltherapie eignet. Sie ermöglicht daher z. B. nur die Beziehungsgestaltung zu einem Erwachsenen und nicht zu anderen Kindern. Seewald (1993, 193f.) sieht weiterhin die Gefahr der Missachtung möglicher organischer Ursachen eines als auffällig wahrgenommenen Bewegungsverhaltens und die Gefahr der Fehl- oder Überinterpretation des gezeigten Verhaltens. Darüber hinaus wird die gesellschaftliche Dimension des Kindes, aber auch die der Psychomotorik als „Reparaturkonzept“ nicht ausreichend reflektiert.

Jürgen Seewald gilt als Begründer des Verstehenden Ansatzes. Als sinnverstehend können auch die Arbeiten von Benajr Wolf, Amara Eckert und Ingrid Olbrich bezeichnet werden. Diese beziehen in ihrer Arbeit auch die Entwicklungskontexte mit ein.

Theorie und Praxis des Verstehenden Ansatzes:

Seewald, J. (2007): Der Verstehende Ansatz in Psychomotorik und Motologie. Ernst Reinhardt, München / Basel

1.2.4 Ökologisch-systemische und systemisch-konstruktivistische Perspektive

In dieser Perspektive wird die Individuumszentrierung der zuvor beschrieben Perspektiven um den Einbezug der Umwelt der Klientel erweitert.

Einbezug des Kontextes

Grundgedanke ist daher eine Erweiterung des Fokus über das Individuum hinaus, das nicht länger als losgelöstes Individuum, sondern im Kontext seiner Umwelt betrachtet wird. Diese wird von Uri Bronfenbrenner (1989) in einem ökologisch-systemischen Entwicklungsmodell in verschiedene Systeme aufgeteilt, die miteinander interagieren und auf Entwicklung wirken (ausführlich Kap. 1.6.5).

Zum einen werden unter dieser Perspektive die EntwicklungspartnerInnen des Kindes (Familie, Peergroup etc.), die Zeit und der Raum für gemeinsame Aktivitäten und die Stärken des Kindes in die Betrachtung miteinbezogen (Fischer 2019, 25), zum anderen aber auch die Anerkennung der Auswirkungen gesamtgesellschaftlicher Prozesse auf die (kindliche) (Bewegungs-)Entwicklung. So lassen sich die aktuellen sozialen und räumlichen Bedingungen für kindliche Entwicklung beschreiben mit einer Veränderung des Wohn- und Sozialraums („Autowelt“), weit auseinanderliegenden Erfahrungswelten („Verinselung“), einer frühe Partizipation und Konfrontation mit Themen der Erwachsenenwelt, einem hohen Leistungsdruck sowie einer Digitalisierung, die unter anderem zum Konsumieren und zu einer Körper- und Bewegungslosigkeit verleitet. Auch in der psychomotorischen Arbeit mit Erwachsenen werden deren Lebenskontexte (zum Beispiel Familie, Partnerschaft, Wohnen, Arbeiten) berücksichtigt.

systemisch-konstruktivistische Perspektive

Die Aufnahme von Systemtheorien und konstruktivistischer Erkenntnistheorie in die psychomotorische Theoriebildung geht vor allem auf Rolf Balgo zurück. Auf der Grundlage konstruktivistischer Philosophien gelten Störungen als Produkte einer / eines Beobachtenden, der / die ein gezeigtes Verhalten mit einem anderen beziehungsweise mit seinen / ihren Vorstellungen eines adäquaten Verhaltens vergleicht. Störungen existieren also nur dort, wo Vergleiche mit einer als „normal“ definierten Gruppe oder Handlungsweise vorgenommen werden und setzen BeobachterInnen voraus. Im Konstruktivismus existiert keine objektive Wahrheit, sondern nur subjektive Realitätskonstruktionen, sodass kein objektives Richtig oder Falsch existiert.

Bewegung als individuelles Ausdrucks- und Kommunikationsmittel