Einführung Psychotraumatologie - Christiane Eichenberg - E-Book

Einführung Psychotraumatologie E-Book

Christiane Eichenberg

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Beschreibung

Die Bedeutung der Psychotraumatologie verzeichnet einen rasanten Zuwachs in Klinik, Forschung und Lehre. Psychische Traumata zu erkennen und zu behandeln wird in psychosozialen Berufen immer wichtiger. Dieses Buch gibt einen kompakten Einblick in Ätiologie, Diagnostik und Behandlung psychischer Traumata. Fallbeispiele und Interventionsstrategien bereiten auf den Umgang mit traumatisierten Menschen vor. Berücksichtigt wird insbesondere die Rolle von Ressourcen und Resilienz sowie digitaler Medien. Das Spektrum der Interventionen reicht von Prävention, Akutintervention und Psychoedukation bis hin zu diversen psychotherapeutischen Verfahren und Strategien der Psychohygiene für Helfer. Ein Überblick über die Begutachtung von Traumafolgestörungen, Fragen zu den Kapiteln und Internetlinks runden das Lehrbuch ab. Didaktisiert mit Marginalienspalte, Definitionen, Kästen, Glossar etc.

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Seitenzahl: 259

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UTB 4762

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PsychoMed compact – Band 10

Die Reihe wurde begründet von Prof. Dr. Hans Peter Rosemeier (†) und Prof. Dr. Nicole von Steinbüchel; sie wird herausgegeben von Prof. Dr. Elmar Brähler und Prof. Dr. Nicole von Steinbüchel.

Univ.-Prof. Dr. phil. habil. Christiane Eichenberg, Dipl.-Psych., Psychotherapeutin (Psychoanalyse), Leiterin des Instituts für Psychosomatik an der Fakultät für Medizin der Sigmund Freud PrivatUniversität Wien, lehrt und forscht zu Psychotraumatologie, E-Mental Health und Psychotherapie.

PD Dr. med. Peter Zimmermann, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, leitet das Psychotraumazentrum der Bundeswehr im Bundeswehrkrankenhaus Berlin.

Hinweis: Soweit in diesem Werk eine Dosierung, Applikation oder Behandlungsweise erwähnt wird, darf der Leser zwar darauf vertrauen, dass die Autoren große Sorgfalt darauf verwandt haben, dass diese Angabe dem Wissensstand bei Fertigstellung des Werkes entspricht. Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen oder sonstige Behandlungsempfehlungen kann vom Verlag jedoch keine Gewähr übernommen werden. – Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnungen nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

UTB-Band-Nr.: 4762

ISBN 978-3-825-24762-1 (Print)

ISBN 978-3-838-54762-6 (PDF)

ISBN 978-3-846-34762-1 (EPUB)

© 2017 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

Dieses Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Printed in Germany

Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart

Covermotiv: © antonsov85 / Fotolia

Satz: Rist Satz & Druck GmbH, 85304 Ilmmünster

Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München

Net: www.reinhardt-verlag.de E-Mail: [email protected]

Für meine Kinder (CE)

Für meine Frau in Dankbarkeit für ihre Unterstützung (PZ)

Inhalt

Hinweise zur Benutzung dieses Lehrbuches

1      Einführung – Epidemiologie, Prävention und Pathogenese

1.1   Allgemeines zur Psychotraumatologie

1.2   Definitionen und Begriffsbestimmungen

1.3   Wissenschaftsgeschichte und Konzepte der Psychotraumatologie

Der traumazentrierte Ansatz Janets

Psychoanalyse

Stressforschung

1.4   Epidemiologische Daten

1.5   Prävention psychischer Erkrankungen nach Traumatisierungen

Allgemeine Grundsätze der Primärprävention von Traumafolgestörungen

Spezielle Inhalte und Bewertung präventiver Ansätze

1.6   Pathogenese und Verlauf trauma-induzierter Störungsbilder

1.7   Psychobiologie trauma-induzierter Störungsbilder

(Neuro-)hormonale Veränderungen

Veränderungen im fMRT und PET

(Epi-)genetische Dispositionen und Veränderungen

1.8   Fragen zu Kapitel 1

2      Diagnostik im Spektrum der Traumafolgestörungen

2.1   Diagnostik und Differenzialdiagnostik

2.2   Testdiagnostische Verfahren

Allgemeine Trauma-Skalen

Skalen für spezielle psychotraumatische Syndrome

Skalen zur Erfassung von allgemeiner psychischer Symptombelastung und Komorbidität

2.3   Traumatisierung im spezifischen Kontext: Situationstypologie

Holocaust

Folter und Exil

Flüchtlinge

Traumatisierungen im militärischen Kontext und bei Einsatzkräften

Traumatisierung in der Kindheit

Traumatisierung im höheren Lebensalter

Vergewaltigung

Lebensbedrohliche Erkrankung als Faktor psychischer Traumatisierung

Mobbing

2.4   Spektrum der Traumafolgestörungen

2.5   Diagnostische Konzepte im Rahmen der Frühintervention und zielgruppenspezifische Intervention (ZGI)

2.6   Fragen zu Kapitel 2

3      Ressourcen und Stabilisierung in der Psychotraumatologie

3.1   Was sind Ressourcen?

3.2   Ressourcen in der Stabilisierung traumatisierter Patienten

Ziele von Stabilisierung

Therapeutische Grenzen

3.3   Fragen zu Kapitel 3

4      Behandlung: Allgemeine Grundsätze

4.1   Was wirkt in der Traumatherapie?

4.2   Hinweise zur Gesprächsführung mit traumatisierten Menschen

Allgemeine Grundsätze

Therapeutische Grundhaltung in der Psychotraumatologie – Parteiliche Abstinenz

Umgang mit Grenzen in der Psychotraumatologie

4.3   Regeln für die Traumatherapie

Aufbau eines hilfreichen Arbeitsbündnisses und Umgang mit typischen Übertragungs- und Gegenübertragungsreaktionen in der Traumatherapie

4.4   Psychohygiene der Traumahelfer

4.5   Fragen zu Kapitel 4

5      Behandlung: Spezifische Konzepte

5.1   Akutinterventionen nach Traumatisierung

5.2   Psychodynamische Verfahren

Psychodynamische Kurztherapie nach Horowitz

Mehrdimensionale Psychodynamische Traumatherapie (MPTT)

Psychodynamisch Imaginative Traumatherapie (PITT) nach Reddemann

5.3   Verfahren der Verhaltenstherapie

PTBS-Therapie nach Scrignar

Kognitive Verhaltenstherapie

5.4   Eye Movement Desensitization and Reprocessing (EMDR)

5.5   Narrative Expositionstherapie (NET)

5.6   Trauma und Spiritualität

Umgang mit Wertorientierungen, Schuld und Scham in der Traumatherapie

Therapeutische Ansätze

5.7   Komplementäre Verfahren

Kreativ-künstlerische Verfahren

Körperorientierte und alternativ-therapeutische Verfahren

5.8   Medikamentöse Unterstützung des therapeutischen Prozesses

5.9   Weitere Traumafolgestörungen, komorbide Erkrankungen und ihre Behandlung

5.10 Interventionen mit modernen Medien

Internet

Virtuelle Realitäten

Serious Games und Apps

5.11 Risiken und Nebenwirkungen von Traumatherapie

5.12 Zusammenfassendes Fallbeispiel

5.13 Fragen zu Kapitel 5

6      Begutachtung von Traumafolgestörungen

6.1   Allgemeine Grundsätze der Begutachtung von Traumafolgestörungen

6.2   Spezielle gutachterliche Fragestellungen

Entschädigungsrecht

Strafrecht

Dienst- und Erwerbsfähigkeit

Ausländerrecht

6.3   Fragen zu Kapitel 6

Anhang

Weiterführende Internetadressen

Literatur

Sachregister

Hinweise zur Benutzung dieses Lehrbuches

Zur schnelleren Orientierung werden in den Randspalten Piktogramme benutzt, die folgende Bedeutung haben:

Begriffserklärung, Definition

(Fall-)Beispiel

Literaturempfehlung

Informationsquelle

Forschungen, Studien

Fragen zur Wiederholung am Ende des Kapitels

1 Einführung – Epidemiologie, Prävention und Pathogenese

Wie die verschiedenen somatischen Systeme des Menschen in ihrer Widerstandskraft überfordert werden können, so kann auch das seelische System durch punktuelle oder dauerhafte Belastungen in seinen Bewältigungsmöglichkeiten überfordert und schließlich traumatisiert, d. h. verletzt werden. Von dem was geschieht, wenn eine solche Verletzung eingetreten ist, oder was zur Heilung geschehen sollte, handelt eine psychologische und psychosomatische Traumatologie als Lehre von Struktur, Verlauf und Behandlungsmöglichkeiten seelischer Verletzungen und ihrer Folgen.

1.1 Allgemeines zur Psychotraumatologie

Die Beobachtung, dass extreme Ereignisse ebenso extreme Reaktionen verursachen, ist bereits sehr alt. Gleiches gilt für die ersten systematischen Beschreibungen der Symptome, die nach traumatischen Erlebnissen auftreten, wie sie beispielsweise noch aus dem Ende des 19. und Anfängen des 20. Jahrhunderts von Beteiligten schwerer Unglücke, Soldaten der beiden Weltkriege und Überlebenden des Holocausts vorliegen. Es gab eine Reihe von Bezeichnungen wie Kriegs- oder Gefechtsneurose, Granatenschock („Shell Shock“) oder Kampfesmüdigkeit. Aber auch Opfer von sexuellen Übergriffen wiesen ein vergleichbares psychisches Störungsbild auf (Herman, 1993), und in ihren Beschreibungen finden sich die typischen Symptome, die noch heute als charakteristisch für Reaktionen auf traumatische Erlebnisse betrachtet werden:

ungewolltes Wiedererleben von Aspekten des Traumas, z. B. in Form von „Flashbacks“ (auch „Nachhallerinnerungen“; das plötzliche und häufig intensive Wiedererleben früherer Erlebnisse und der damit verbundenen Emotionen) oder Albträumen;

Anzeichen einer erhöhten Erregung, z. B. Schreckhaftigkeit und Schlafstörungen;

Vermeidung von Situationen, Gesprächen und anderen Reizen, die an das Trauma erinnern.

Hinzu kommt emotionale Taubheit, die sich in Interessenlosigkeit oder Entfremdung von anderen Menschen ausdrücken kann.

Im Jahr 1980 hat die Amerikanische Psychiatrische Gesellschaft die posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) in ihr Krankheitsklassifikationssystem (DSM-III) aufgenommen. Seit den frühen 1990er Jahren ist die Diagnose auch im Internationalen Krankheitsklassifikationssystem (ICD-10) der Weltgesundheitsorganisation vertreten. Inzwischen hat sich die Psychotraumatologie zu einer eigenen wissenschaftlichen Disziplin entwickelt.

Psychotraumatologie kann definiert werden als die „[…] Erforschung seelischer Verletzungen in Entstehungsbedingungen, aktuellem Verlauf sowie ihren unmittelbaren und Langzeitfolgen“ (Fischer & Riedesser, 2009, S. 392).

Zu den Meilensteinen neuer Disziplinen gehört die Gründung wissenschaftlicher Fachgesellschaften (im deutschsprachigen Raum z. B. das Deutsche Institut für Psychotraumatologie (www.psychotrauma tologie.de) sowie die Deutschsprachige Gesellschaft für Psychotraumatologie (www.degpt.de), für internationale Fachgesellschaften siehe z.B. International Society for Trauma Stress Studies (www.istss.org), European Society for Trauma Stress Studies (www.estss.org) und Fachzeitschriften (z.B. Trauma (www.asanger.de/zeitschriftzppm/), Trauma & Gewalt (www.klett-cotta.de/zeitschrift/Trauma_Gewalt/7821), Journal of Traumatic Stress (http://www.istss.org/education-research/journal-of-traumatic-stress.aspx).

1.2 Definitionen und Begriffsbestimmungen

Die Psychotraumatologie hat sich inzwischen ausdifferenziert in die Allgemeine und Differenzielle Psychotraumatologie sowie die Spezielle Psychotraumatologie.

Die Allgemeine Psychotraumatologie behandelt allgemeine Gesetzmäßigkeiten traumatischen Erlebens und dadurch bedingten Verhaltens, die Differenzielle Psychotraumatologie befasst sich mit interindividuellen und intersituativen Unterschieden und Dispositionen von Traumaerleben und -verarbeitung. Die Spezielle Psychotraumatologie ist auf typische Situationen ausgerichtet wie Gewaltkriminalität, sexueller Kindesmissbrauch etc.

Traumaspektrum

Durch die intensive Beschäftigung mit psychischer Traumatisierung seit einigen Jahrzehnten hat sich das Wissen inzwischen sehr vergrößert. So weiß man beispielsweise heute, dass es nicht lediglich die sog. Posttraumatische Belastungsstörung als Folgeerkrankung nach einem potenziell traumatischen Erlebnis gibt. Vielmehr kann man von einem „Traumaspektrum“ aus Störungsbildern sprechen, bei denen eine psychotraumatische Verursachung diskutiert wird oder bereits nachgewiesen ist (Kap. 2.4). Ihnen gemeinsam ist eine psychische Traumatisierung, die sich nach Fischer und Riedesser (2009, S. 395) wie folgt definieren lässt:

„Psychische Traumatisierung ist ein vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, das mit Gefühlen von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis bewirkt“.

Situationstypen

Heute zählen nach den Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachverbände (Flatten et al., 2011) zu den traumatischen Ereignissen:

erlebte körperliche und sexualisierte Gewalt, auch in der Kindheit (sog. sexueller Missbrauch),

Vergewaltigung,

gewalttätige Angriffe auf die eigene Person,

Entführung,

Geiselnahme,

Terroranschlag,

Krieg,

Kriegsgefangenschaft,

politische Haft,

Folterung,

Gefangenschaft in einem Konzentrationslager,

Natur- oder durch Menschen verursachte Katastrophen,

Unfälle oder

die Diagnose einer lebensbedrohlichen Krankheit.

Diese verschiedenen traumatischen Situationstypen werden grob in sog. man-made-disaster und natural-disaster unterteilt.

Man-made-disaster bezeichnen menschlich verursachte Traumatisierungen (z.B. Vergewaltigung, Folter, Mobbing) während unter Natural-disaster Naturkatastrophen (wie Erdbeben) oder auch Unfälle gefasst werden.

Arten traumatischer Erfahrungen

Eine weitere Unterscheidung betrifft den Aspekt der Art der traumatischen Erfahrung.

So ist ein Monotrauma (Typ-I-Trauma) ein einmaliges belastendes Ereignis, z.B. eine sexuelle Gewalttat oder ein Verkehrsunfall. Komplexe Traumatisierungen (Typ-II-Trauma) sind fortgesetzte seelische und evtl. auch körperliche Verletzungen, die oft bereits in frühen Lebensjahren beginnen, wie Misshandlungen oder Vernachlässigung durch eine Person, die auch aus dem familiären Umfeld stammen kann.

Beziehungstraumata

Solche Traumatisierungen werden auch als Beziehungstraumata bezeichnet. Diese werden paradoxerweise durch die engen Bindungsfiguren hervorgerufen, die eigentlich Sicherheit und Schutz gegen Traumatisierung gewährleisten sollen.

Unter kumulativer Traumatisierung versteht man „eine Traumatisierung in einzelnen Schritten, deren jeder für sich subtraumatisch verbleiben würde. In der einsetzenden Erholungsphase wird jedoch jedes Mal die Restitutionstätigkeit der Person durch erneute Ereignisse gestört und somit auf Dauer das psychische System zum Zusammenbruch gebracht“ (Fischer & Riedesser 2009, S. 397).

1.3 Wissenschaftsgeschichte und Konzepte der Psychotraumatologie

Unter den wissenschaftlichen Pionierleistungen, die in der Psychotraumatologie zusammenfließen, sind u. a. der sehr eigenständige Ansatz von Pierre Janet zu nennen, die Psychoanalyse und die auf den ungarischen Internisten und Biochemiker Hans Selye zurückgehende Stress- und Copingforschung (ausführlich bei Fischer & Riedesser, 2009).

Der traumazentrierte Ansatz Janets

Pierre Janet (1859 – 1947) und Sigmund Freud (1856 – 1939) waren Zeitgenossen. Janet, französischer Philosoph, Psychiater und Psychotherapeut, hatte seinerzeit ebenso wie zeitweilig auch Freud mit dem berühmten Hypnosearzt Jean-Martin Charcot an der Pariser Salpêtrière zusammengearbeitet. Aus den Hypnoseexperimenten und den therapeutischen Ansätzen Charcots ging hervor, dass zahlreiche psychopathologische Auffälligkeiten und Symptombildungen, unter denen die psychiatrischen Patienten litten, mit verdrängten Erinnerungen an traumatische Erlebnisse zusammenhingen.

Dissoziation

Janet zog als erster den Begriff der Dissoziation als Erklärungskonzept heran. Dissoziationen ergeben sich nach Janet als Folge einer Überforderung des Bewusstseins bei der Verarbeitung traumatischer, überwältigender Erlebnissituationen. Er führte aus, dass die Erinnerung an eine traumatische Erfahrung oft nicht angemessen verarbeitet werden kann: Sie wird daher vom Bewusstsein abgespalten, dissoziiert, um zu einem späteren Zeitpunkt wieder aufzuleben, entweder als emotionaler Erlebniszustand, als körperliches Zustandsbild, in Form von Vorstellungen und Bildern oder von Reinszenierungen im Verhalten. Die nicht integrierbaren Erlebniszustände können im Extremfall zur Ausbildung unterschiedlicher Teilpersönlichkeiten führen, was der dissoziativen Identitätsstörung (siehe z. B. Putnam, 2013) entspricht. Janet hat als erster Gedächtnisstörungen beschrieben, die mit Traumatisierung einhergehen (Veränderungen des Gehirns, Kap. 1.7).

Bedeutsam auch heute noch für die Psychotraumatologie ist zum einen Janets Entdeckung, dass traumatische Erfahrungen, die nicht mit Worten beschrieben werden können, sich in Bildern, körperlichen Reaktionen und im Verhalten manifestieren (der „unaussprechliche Schrecken“). Zum anderen hat seine Konzeption des 3-Phasen-Modells der Traumabehandlung heute noch große Bedeutung (Janet, 1889).

Psychoanalyse

Trauma und Hysterie

Freuds Traumakonzeption stellt den Beginn der psychoanalytisch orientierten Psychotraumatologie dar. In seiner Beschäftigung mit dem psychischen Trauma hat Freud sehr unterschiedliche Epochen durchlaufen. In einer frühen Phase, wie sie sich z. B. in den Studien zur Hysterie (Freud & Breuer, 1875) widerspiegelt, war er davon überzeugt, dass eine reale traumatische Erfahrung, insbesondere sexuelle Verführung von Kindern, jeder späteren hysterischen Störung zugrunde liege. In einer späteren Forschungsperiode (etwa ab 1905) relativierte er diese Auffassung. Heute wissen wir, dass sexueller Missbrauch in der Kindheit zwar auch zu einer hysterischen Störung führen kann, ebenso gut aber auch zu anderen Störungsbildern wie der Borderline-Störung oder dissoziativen Störungen (Kap. 2.4).

Trauma und Triebimpulse

In einer späteren Epoche entwickelt Freud einen zweiten Traumabegriff. Neben unerträglichen Situationsfaktoren werden inakzeptable und unerträglich intensive Triebwünsche und -impulse als Traumafaktoren untersucht. Wenn somit auch nach Freud der traumabezogene Standpunkt nicht verlassen wird, so wird er doch in eine breitere ätiologische Konzeption einbezogen, die „innere“ Faktoren wie die physische Konstitution und den Verlauf der Kindheit berücksichtigt. Trauma wird jetzt Bestandteil einer Geschichte als Lebensgeschichte und als Geschichte der Entwicklung von Triebwünschen und Lebenszielen. In dieser weiten Konzeption der Neuroseentstehung ist das Trauma ein ätiologisches Moment unter anderen, das sich in einem Ergänzungsverhältnis mit Erbfaktoren und Triebschicksal befindet, wobei sich diese pathogenetischen Faktoren aufsummieren und damit aufschaukeln können.

Unter den psychoanalytischen Autoren, die das Traumakonzept weiter entwickelt haben, sind u. a. folgende zu nennen: Abram Kardiner, Masud M. Khan, John Bowlby und Donald Winnicott (Übersicht bei Brett, 1993).

Trauma und Krieg

Der Amerikaner Abram Kardiner (1891 – 1981) verfasste sein Werk „The Traumatic Neuroses of War“ während des Zweiten Weltkrieges im Jahre 1941 (Kardiner, 1941). Seine klinische Erfahrung ging zurück auf die psychotherapeutische Arbeit mit amerikanischen Soldaten, die im Krieg gegen Nazi-Deutschland und Japan kämpften. Er war der erste, der die massiven physiologischen Begleiterscheinungen traumatischer Reaktionen schon in der Namensgebung berücksichtigte, indem er von der traumatischen Neurose als einer „Physioneurose“ sprach. Kardiner formulierte ein Syndrom von Folgeerscheinungen, das in Vielem bereits als Vorläufer der heutigen Psychotraumatischen Belastungsstörung (PTBS) gelten kann.

Bindungstrauma

Masud Khan (1924 – 1989) erweiterte Freuds Traumabegriff mit seinem Begriff des kumulativen Traumas (Khan, 1963) (Kap. 1.2). Er war Schüler von Donald Winnicott (1896–1971), englischer Kinderarzt und Psychoanalytiker, der die Auswirkungen von frühen Bindungstraumata in einflussreichen Werken beschrieb.

frühkindliche Deprivation

Der Brite John Bowlby (1907 – 1990) war einer der ersten Psychoanalytiker, die empirische Forschung mit psychoanalytischer Theorie und Praxis verbanden. So entstand das auch heute noch bedeutendste Standardwerk zum Deprivationstrauma, in dem die Auswirkungen von frühkindlicher Deprivation wie z. B. früher Elternverlust, häufig wechselnde Beziehungserfahrungen und Trennungstraumata zusammengefasst sind (Bowlby, 1976, 1987). Seine Forschungen waren der Beginn der heute sehr etablierten Bindungsforschung (Strauß, Buchheim & Kächele, 2002).

Stressforschung

belastende Umweltfaktoren

Eine dritte Forschungsrichtung, die wesentlich zur Entstehung der Psychotraumatologie beigetragen hat, ist die Stressforschung mit den Pionierarbeiten des Mediziners Hans Selye (1907 – 1982). Selye näherte sich der Frage belastender Umweltfaktoren als Internist unter dem Gesichtspunkt der körperlichen Reaktionen und der Krankheiten, die durch kurz- oder langfristige Belastung hervorgerufen werden können.

Modell der Stressreaktion

Im Jahre 1936 formulierte er sein Modell der Stressreaktion mit den drei Phasen des Alarms, des Widerstandsstadiums und schließlich des Erschöpfungsstadiums. Die Alarmreaktion ist gekennzeichnet durch einen erhöhten Sympathicotonus und eine sympathicoton gesteuerte „Bereitstellungsreaktion“. Im Widerstandsstadium werden alle Reserven des Körpers mobilisiert, um die massive Belastung kompensieren zu können. So kommt es physiologisch etwa zur Produktionssteigerung von Nebennierenhormonen wie Cortisol und zur Erhöhung des Blutzuckerstoffwechsels (Kapitel 1.7).

Dekompensation wichtiger Funktionen

Dauert der pathogene Umweltreiz, der „Stressor“, wie Selye ihn nannte, weiter an, so treten massive und zum Teil irreversible Folgen wie Dekompensation der Reproduktionsfunktionen und Sexualfunktionen, der Wachstumsvorgänge und der Immunkompetenz (Erschöpfungsstadium) auf.

Stressreaktion

Eine 28-jährige verheiratete Frau arbeitet als Chefsekretärin in einem großen Konzern. Sie begibt sich zu ihrem Hausarzt, da sie seit einigen Monaten unter Symptomen leidet, die ihr zunehmend Besorgnis bereiten. So ist sie häufig, insbesondere vor großen Besprechungen, sehr angespannt und nervös, leidet unter Herzklopfen und schwitzt stark. Zusätzlich sieht sie dann verschwommen und empfindet ein schwankendes Schwindelgefühl, das meist noch einige Stunden danach andauert Nach einer organischen Ausschlussdiagnostik berät der Arzt sie dahingehend, ihre Arbeitsprozesse klarer zu strukturieren und Aufträge, für die sie nicht zuständig ist, konsequent abzulehnen. Zudem soll sie sich mehr bewegen und ein Entspannungstraining erlernen.

Nach sechs Monaten stellt sie sich erneut vor. Sie habe die Hinweise „aus Zeitmangel“ nicht umsetzen können. Sie sei nun täglich schon während der Arbeit erschöpft, fühle sich ständig unter Druck, sie schlafe nicht mehr richtig, sei immer wieder erkältet und auch die Sexualität mit ihrem Partner habe deutlich nachgelassen. Der Hausarzt empfiehlt nun die Durchführung einer Kur.

Die Untersuchungen Selyes haben sich auf die Erforschung der Psychosomatik innerer Krankheiten sehr fruchtbar ausgewirkt. Da Selye auch schon psychologische Symptome beschrieben hat, die dem physiologischen Stressverlauf entsprechen, hat diese Forschungsrichtung insgesamt einen wichtigen Beitrag zu einer psychologischen und psychosomatischen Traumatologie geleistet.

Für die Traumaforschung wertvoll regte das Modell zur Analyse von Umweltfaktoren an, allerdings wurden erst sehr viel später, z. B. im sog. „transaktionalen Stressmodell“ nach Lazarus und Folkman (1984), subjektive „Vermittlungsgrößen“ wie z. B. Abwehr- und Copingprozesse berücksichtigt. Es entstand eine Forschungsrichtung, die sog. „Stress- und Coping-Forschung“, in der sich kognitiv-behaviorale Ansätze mit Konzepten der Anpassungs- und Bewältigungsmechanismen aus der psychoanalytischen Ich-Psychologie verbinden.

1.4 Epidemiologische Daten

Prävalenz der PTBS

Die Angaben zur Prävalenz der PTBS schwanken in der Literatur zwischen 1,3 % bis 7,8 % der Allgemeinbevölkerung (Kessler et al., 1995), wobei bei Frauen von einer doppelt so hohen Inzidenzrate wie bei Männern ausgegangen wird (10 % vs. 5 %). Der aktuelle Deutsche Gesundheitssurvey beziffert die 12-Monats-Prävalenz für PTBS mit 2,4 %, wobei Frauen (3,8 %) deutlich häufiger betroffen sind als Männer (0,95 %) (Wittchen & Jacobi, 2012). Dieser geschlechtsspezifische Befund wurde in einer Reihe von Studien belegt. Die höhere Prävalenzrate bei Frauen begründen Kessler et al. (1995) damit, dass diese mehr schwerwiegende traumatische Ereignisse erleben (z. B. Kindesmisshandlung, Vergewaltigungen). Eine ebenfalls höhere Prävalenz des weiblichen Geschlechts konnte von Giaconia et al. (1995) unter Kindern und Jugendlichen festgestellt werden. Die Lebenszeitprävalenz bei 14- bis 18-jährigen Jugendlichen liegt zwischen 5 % und 10 % (Elklit, 2002). Bei 2- bis 5-jährigen Kindern wurde eine Prävalenzrate von 0,1 % ermittelt (Lavigne et al., 1996). Diese niedrige Rate spricht für eine mangelnde Adaptation der PTBS-Kriterien an das Kleinkindund Vorschulalter.

Die generellen Schwankungen in den Studien hängen mit der unterschiedlichen Verwendung der Diagnosekriterien und den verschiedenen Erhebungsbedingungen zusammen. In einer israelischen Untersuchung wurde die Diagnose bei Erwachsenen z. B. nur bei 3 % der Betroffenen vom Hausarzt gestellt (Taubman-Ben-Ari et al., 2001).

Abhängigkeit vom Situationstyp

Die PTBS entwickelt sich nach traumatischen Erfahrungen also unterschiedlich häufig (Flatten et al., 2011), wobei die Wahrscheinlichkeit hierfür auch von der Art des traumatischen Situationstyps abhängt. Exemplarisch zeigt die folgende Aufstellung die mögliche Spannbreite (Flatten et al., 2011):

ca. 50 % Prävalenz nach Vergewaltigung;

ca. 25 % Prävalenz nach anderen Gewaltverbrechen;

ca. 50 % bei Kriegs-, Vertreibungs- und Folteropfern;

ca. 10 % bei Verkehrsunfallopfern;

ca. 10 % bei schweren Organerkrankungen (Herzinfarkt, Malignome).

Eine mögliche genetische Ätiologie des Störungsbildes wurde explizit kontrolliert in einer Untersuchung von Goldberg et al. (1990) an eineiigen Zwillingen, von denen jeweils einer am Vietnamkrieg teilgenommen hatte. Die Autoren fanden eine Prävalenzrate von ca. 17 % unter den Kriegsteilnehmern im Verhältnis zu 5 % in der Vergleichsgruppe. Wurden nur diejenigen Zwillinge in den Vergleich einbezogen, die einem hohen Niveau von Einsatzstress ausgesetzt waren, so stieg die PTBS-Rate in der Untersuchungsgruppe auf das Neunfache der Kontrollgruppe an.

Grundsätzlich muss mit einer relativ breiten interindividuellen Variation bei der Verarbeitung potenziell traumatischer Situationen gerechnet werden. Wie die Zwillingsstudie nahelegt, bewegt sich der erbgenetisch determinierte Varianzanteil dabei innerhalb enger Grenzen. Umso wichtiger erscheint es auch unter präventiven Gesichtspunkten, dem differenziellen Verlauf der traumatischen Reaktion und den Bedingungen für ihren Übergang in chronische Verläufe, d. h. in den sog. traumatischen Prozess, verstärkte Aufmerksamkeit zu widmen (Kap. 1.5 und 1.6).

1.5 Prävention psychischer Erkrankungen nach Traumatisierungen

Traumatische Ereignisse werden von bis zu 84 % der Bevölkerung zumindest einmal erlebt (Lebenszeitprävalenz) (de Vries & Olff, 2009). Zu psychischen Folgeerkrankungen kommt es allerdings nur bei einer Minderzahl der Betroffenen. Selbst bei schweren Traumatisierungen wie Bürgerkriegen oder Vergewaltigungen, bleiben 50 % und mehr psychisch gesund (S3-Leitlinie PTBS; Flatten et al., 2011) (Kap. 1.6).

Die Frage nach gesund oder krank hängt wesentlich mit der individuellen Konstellation vielfältiger Schutz- und Risikofaktoren zusammen, angefangen bei den Kontextfaktoren der traumatischen Situation (Bedrohlichkeit, individuelle Bedeutung etc.), biografischen Dispositionen, aber auch der Ressourcenlage der Traumaopfer (zur Bedeutung von Ressourcen siehe auch Kap. 3).

Gut ausgebildete Ressourcen können die Entstehung psychischer Erkrankungen nach Belastungen verhindern oder deren Folgen zumindest abmildern. Sie umfassen beispielsweise Kompetenzen wie die Aufmerksamkeits- und Impulskontrolle sowie Stressbewältigungs-(Coping-)Strategien, die Wahrnehmung und den Umgang mit Emotionen und Körperfunktionen, die Fähigkeit zum Umgang mit Anspannung (zum Beispiel durch Anwendung aktiver Entspannungstechniken) oder auch soziale Kontakte und Kompetenzen.

Insbesondere bei Einsatzkräften wie Polizei, Feuerwehr oder Bundeswehr, aber auch in bestimmten Berufszweigen (z. B. Lokführer) sind traumatische Erlebnisse ein mehr oder weniger vorhersehbarer Teil des Berufsbildes. Für die Ausbildung und Versorgungsplanung dieser Professionen ist daher die Berücksichtigung von Ansätzen für eine gezielte Prävention von Traumafolgestörungen eine besondere Chance. Die häufig vertretene Ansicht, dass eine wiederholte Exposition mit traumatischen Situationen zu einer Prävention im Sinne einer „Gewöhnung“ führt, hat sich nicht halten lassen. Eher muss dann mit einem Symptomanstieg als Ausdruck eines Kumulativeffektes gerechnet werden.

In den letzten Jahren wurde eine Reihe von Techniken aus ressourcenorientierten psychotherapeutischen Verfahren oder Methoden abgeleitet und für präventive Zwecke adaptiert.

Zudem wurden Wirksamkeitsstudien durchgeführt, deren Zahl allerdings im Vergleich zu Therapiestudien eher begrenzt und die Qualität zum Teil sehr wechselhaft ist, so dass auf diesem Gebiet nach wie vor ein erheblicher Forschungsbedarf besteht.

Im Mittelpunkt der durchgeführten Studien stand vor allem der Effekt von Vorbereitungs- und Ausbildungsmaßnahmen vor dem Eintritt einer Belastung (Primärprävention) sowie von Frühinterventionen zeitnah nach einem Ereignis (Sekundärprävention).

Auf das Thema Frühintervention wird im Kapitel 5.1 detailliert eingegangen.

Allgemeine Grundsätze der Primärprävention von Traumafolgestörungen

In den vergangenen Jahren wurde eine Reihe von psychosozialen Interventionen im Hinblick auf ihre Eignung für die Prävention von Traumafolgestörungen nach traumatischen Ereignissen untersucht (Zusammenfassung bei Skeffington et al., 2013); dazu gehörten:

Psychoedukation zum Thema Stress und Stressfolgen;

Stress- und Angstmanagement;

Entspannungstechniken;

Verbesserung von Coping-Strategien;

Wahrnehmung von Körperfunktionen, Emotionen und Gedanken;

Verbesserung von Aufmerksamkeits- und Emotionsregulation.

Im Regelfall werden diese Elemente insbesondere bei Einsatzkräften im Rahmen ihrer Ausbildung oder vor Beginn potenziell belastender Einsätze im Rahmen von Kleingruppen-Veranstaltungen vermittelt, um auch die positive Wirkung des Gruppenzusammenhalts (Kohäsion) zu nutzen und einen gegenseitigen Austausch der Teilnehmer zu fördern. Eine weitere Variante ist die Einbindung von Stressprävention in virtuelle, multimedia-basierte Simulationen von Einsatzgeschehen. Dabei werden einsatznahe Trainingssituationen eingespielt und die Anwendung von Präventionstechniken während der Situation geübt und nachbesprochen.

Spezielle Inhalte und Bewertung präventiver Ansätze

Psychoedukation ist ein verbreiteter Ansatz in der Primärprävention psychischer Belastungen. Sie beinhaltet die Vermittlung von Informationen zu möglichen Stressoren vor, während oder nach den antizipierten Ereignissen. Kernbestandteil ist dabei die Besprechung der individuellen Bedeutung von potenziell kritischen, einschließlich auch traumatischen Ereignissen für die betroffene Person, sowie von möglichen psychischen und körperlichen Reaktionen (Früherkennung) Ergänzend können auch die Erarbeitung von Bewältigungsstrategien und die Vorstellung professioneller Hilfsangebote im Falle von Belastungen oder Erkrankungen hilfreich sein.

Meist wird Primärprävention dieser Art in Vortrags- oder Seminarveranstaltungen durch einsatzerfahrenes, geschultes Personal angeboten. Zusätzlich empfiehlt sich aber auch die Anwendung von Broschüren oder Internet-Angeboten.

Beispielsweise hat die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung verfügbare Materialien in einer „Mediensammlung zum Thema Psychotrauma“ zusammengefasst, die im Internet unter www.dguv.de kostenfrei abrufbar ist.

Die Bundeswehr verfügt mit www.PTBS-Hilfe.de und www.angriffauf-die-seele.de über zwei online-basierte Portale, die eine Vielzahl an Materialien bereitstellen, unter anderem auch einen Online-Selbsttest und einen Lehrfilm zum Thema PTBS Seit 2016 ist zudem eine App zu diesen Themen kostenfrei erhältlich („Coach PTBS“) (Zu den Einzelheiten siehe auch Kapitel 5.10).

Auf der Website der Deutschsprachigen Gesellschaft für Psychotaumatologie (www.DeGPT.de) steht ein anschaulicher Lehrfilm zu Traumafolgen und ihrer Behandlung zur Verfügung.

Studien zum präventiven Effekt von Psychoedukation wurden bislang nur im Kontext von Sicherheitskräften durchgeführt, hatten allerdings methodische Schwächen, sodass noch keine gesicherte Aussage zu ihrer Wirksamkeit möglich ist (Skeffington et al., 2013).

Psychoedukation wurde in mehreren Ansätzen mit einer Vermittlung von Stressbewältigungskompetenzen kombiniert. Dazu gehören Wahrnehmungstrainings für Körperfunktionen und -reaktionen, zum Beispiel über Biofeedback, für Emotionen und gedankliche Bewertungen (Kognitionen). Diese sollen dabei als integraler Teil der Stressverarbeitung erkannt werden, um in einem zweiten Schritt Mechanismen der Gegenregulation zu erlernen, z. B. ein aktives Entspannungsverfahren. Bewährt haben sich bei traumabezogenem Stress Techniken zur Atementspannung sowie auch imaginative Verfahren, die Entspannung über die Entwicklung von Fantasiebildern zur inneren Sicherheit, Naturbezogenheit etc. ermöglichen (z. B. der „Sichere Ort“, Kap. 3.2).

Ergänzend sind Verfahren des Stress- und Angstmanagements und der Aufmerksamkeits- und Emotionsregulation in der Prävention erprobt worden, daneben auch Kommunikationstrainings und die Erarbeitung von Coping-Strategien. Diese Techniken können in diesem Rahmen nicht detailliert wiedergegeben werden, es wird auf die einschlägigen Lehrbücher der Verhaltenstherapie (z. B. Margraf & Schneider, 2008) verwiesen.

Schutzfaktor soziale Unterstützung

Exemplarisch sei aber auf die Bedeutung sozialer Kontakte für die Prognose nach Traumatisierungen hingewiesen. Eine gute soziale Unterstützung hat sich in zahlreichen Studien als sehr wichtiger Schutzfaktor erwiesen. Maßnahmen, die zu einer Verbesserung dieser Unterstützung beitragen, wie beispielsweise die Entwicklung von Copingund Konfliktbewältigungs-Strategien durch soziales Kompetenztraining, können daher stress-präventiv wirksam sein. An gleicher Stelle setzen auch Angebote an, die die Aufklärung von Angehörigen Traumatisierter verbessern, wie etwa Angehörigen-Hotlines, Angehörigengruppen oder Aufklärungsbroschüren, wie z. B. die der Bundeswehr „Wenn der Einsatz noch nachwirkt“ für Angehörige traumatisierter Soldaten (www.angriff-auf-die-seele.de/cms/informationen/tipps/401-broschuerewenn-der-einsatz-noch-nachwirkt.html, 17. 2. 2017).

Die Kombination aus Psychoedukation und Stressbewältigungsstrategien wurde an einer Stichprobe von 20 Polizeibeamten in Sarajewo untersucht, von denen die Hälfte ein derartiges Training erhielten, die andere Hälfte als Kontrollgruppe dagegen nur eine Routine-Polizeiausbildung. Die Trainingsgruppe zeigte im Vergleich zur Kontrolle eine signifikante Reduktion von Angst und somatischen Reaktionen auf Stress (Sijaric-Voloder & Capin, 2008).

In zwei weiteren Studien an Polizeikräften wurden Psychoedukation und Stressbewältigungstraining in Kombination mit einer virtuellen Stressexposition durchgeführt und erprobt. Dabei wurden zunächst Informationen vermittelt und Techniken, z. B. Entspannungsverfahren, eingeübt. Anschließend wurden die Teilnehmer einer Computer-basierten Stresssituation ausgesetzt, die dem polizeilichen Berufsbild entsprach. Die trainierten Teilnehmer reagierten im Vergleich zu nicht Trainierten professioneller und mit weniger negativer Stimmung und Stress (Arnetz et al., 2009).

Um die verschiedenen Elemente von Stress- und Traumaprävention in einer standardisierten Form unter Nutzung von Multimedia-Elementen vermitteln zu können, wurde vom psychologischen Dienst der Bundeswehr das Computer-basierte Lern- und Übungsprogramm CHARLY (Chaos Driven Situations Management Retrieval System) entwickelt.

Computer-basierte Primärprävention CHARLY

CHARLY ist für Gruppen von 10 – 30 Soldaten zur Anwendung vor Beginn eines Auslandseinsatzes konzipiert. Jeder Teilnehmer arbeitet an einem eigenen Computer auf einer Plattform, die mit den anderen Anlagen vernetzt ist und auch Vergleiche der Ergebnisse zulässt. Die Bearbeitung dauert anderthalb Tage und wird von einem Psychologen begleitet, der für etwaige Fragen oder Probleme als Ansprechpartner zur Verfügung steht. Dabei führt ein strukturierter Algorithmus durch verschiedene Themen bereiche, zunächst Psychoedukation zu Stress und Trauma, einschließlich verschiedener Stress-Spiele (Serious Gaming), wobei das erzeugte Anspannungsniveau über eine vegetative Messung (Hautleitfähigkeit, Herzfrequenzvariabilität) angezeigt wird. Im Verlauf kommen ergänzend Informationen und Übungen zu einsatzbezogenen Stressoren und deren Auswirkung dazu (ebenfalls als Stress-Spiele), die Vorstellung verschiedener Entspannungsverfahren sowie soziales Kompetenztraining.

Zwischen 2012 und 2014 wurde eine Studie zur Wirksamkeit von CHARLY bei Bundeswehrsoldaten im Zusammenhang mit einem Auslandseinsatz durchgeführt (Wesemann et al., 2016). Dabei wurden 67 Teilnehmer vor und nach einem Einsatz mit verschiedenen psychometrischen Testverfahren untersucht, unter anderem der Symptom-Checklist-90 (revised) sowie der Posttraumatic Stress Diagnostic Scale (PDS). Konkret erhielten 36 Probanden randomisiert über anderthalb Tage CHARLY, 31 wurden als Kontrolle durch eine Psychologin über den gleichen Zeitraum zum Thema Stress und Stressbewältigung informiert. Bei vergleichbarer Art und Anzahl einsatzbezogener Belastungen waren die Probanden, die CHARLY erhalten hatten, nach dem Einsatz auf den beiden Skalen signifikant weniger belastet als die Kontrollgruppe.

Die gezielte psychologische Prävention von Traumafolgestörungen hat in den psychosozialen Versorgungssystemen noch nicht den Stellenwert der Therapie nach Traumatisierungen erreicht, obwohl in den letzten Jahren eine Reihe von Ansätzen entwickelt und evaluiert wurde. Die bisherigen Forschungsergebnisse sind aufgrund kleiner Fallzahlen und verbesserungswürdiger methodischer Designs eher noch als vorläufig zu bewerten. Es ergaben sich aber vielversprechende Hinweise, dass die Kombination von Psychoedukation und Trainingselementen einen positiven Einfluss auf die Verarbeitungsfähigkeit und Prognose stressexponierter Personengruppen haben könnte, insbesondere, wenn sie standardisiert und multimedia-basiert vermittelt werden.

1.6 Pathogenese und Verlauf trauma-induzierter Störungsbilder

Bei einer psychischen Traumatisierung wird die Entstehung von Beschwerden und Symptomen aus einem prozesshaften Geschehen, d. h. einem Entwicklungsverlauf heraus verstanden.

Das Verlaufsmodell der psychischen Traumatisierung nach Fischer und Riedesser (2009) umfasst einen dreiphasigen Ablauf: Am Anfang steht die „Traumatische Situation“, gefolgt von der „Traumatischen Reaktion“, welche in die Erholungsphase oder aber in den „Traumatischen Prozess“ übergeht.

In diesem Modell werden zudem subjektive und objektive Aspekte der traumatischen Situation systematisch aufeinander bezogen; Symptombilder werden prozesshaft und umwelttheoretisch betrachtet statt überwiegend aus internen Eigenschaften des Symptomträgers heraus.

traumatische Situation

Die traumatische Situation umfasst das traumatische Ereignis selbst sowie die unmittelbar darauf folgende „Schockphase“. Ob ein Ereignis einen traumatischen Charakter annimmt, hängt dabei nicht nur von objektiven Situationsfaktoren, wie beispielsweise der Dauer des Ereignisses, dem Bekanntheitsgrad des Täters oder der mittelbaren vs. unmittelbaren Betroffenheit ab. Auch personengebundene Merkmale wie die aktuelle und überdauernde psychische Disposition, protektive Faktoren (z. B. ein hilfreiches soziales Umfeld, für eine Übersicht biografischer Schutzfaktoren siehe z. B. Egle et al., 1997, siehe Kasten), Risikofaktoren (z. B. Vortraumatisierungen wie z. B. Verlust einer Bindungsperson in der Kindheit, siehe ebenso Egle ebd. und Kasten) sowie der physiologischen Disposition (vgl. Fischer & Riedesser, 2009) spielen eine Rolle (siehe auch Bender & Lösel, 2015).

Schutzfaktoren nach Egle et al. (1996, S. 19)

eine dauerhaft gute Beziehung zu mindestens einer primären Bezugsperson;

Aufwachsen in einer Großfamilie mit kompensatorischen Beziehungen zu den Großeltern und entsprechender Entlastung der Mutter;

ein gutes Ersatzmilieu nach frühem Mutterverlust;

überdurchschnittliche Intelligenz;

ein robustes, aktives und kontaktfreudiges Temperament;

sicheres Bindungsverhalten;

soziale Förderung, z. B. durch Jugendgruppen, Schule oder Kirche;

verlässlich unterstützende Bezugspersonen im Erwachsenenalter, vor allem Ehe- oder sonstige konstante Beziehungspartner;

lebenszeitlich späteres Eingehen „schwer lösbarer Bindungen“;

eine geringe Risiko-Gesamtbelastung.

Risikofaktoren nach Egle et al. (1996, S. 19)

niedriger sozioökonomischer Status der Herkunftsfamilie

mütterliche Berufstätigkeit im ersten Lebensjahr;

schlechte Schulbildung der Eltern;

große Familien und sehr wenig Wohnraum;

Kontakte mit Einrichtungen der „sozialen Kontrolle“;

Kriminalität oder Dissozialität eines Elternteils;

chronische Disharmonie;

unsicheres Bindungsverhalten nach dem 12. / 18. Lebensmonat;

psychische Störungen der Mutter oder des Vaters;

alleinerziehende Mutter;

autoritäres väterliches Verhalten;

Verlust der Mutter;

häufig wechselnde frühe Beziehungen;

sexueller und / oder aggressiver Missbrauch;

schlechte Kontakte zu Gleichaltrigen;

ein Altersabstand zum nächsten Geschwister von unter 18 Monaten;

uneheliche Geburt.

In der traumatischen Situation ist Handeln dringend erforderlich, kann aber aufgrund der situativen Gegebenheiten nicht erfolgen; eine subjektiv angemessene Reaktion ist unmöglich. In bedrohlichen Stresssituationen versetzt das vegetative Nervensystem den Körper in einen Aktivierungszustand und bereitet ihn auf Reaktionen, die dem Selbstschutz dienen sollen, vor (Fischer & Riedesser, 2009; Herman, 2003). Diese Bereitstellungsreaktionen können als Triade von Kampf, Flucht oder Totstellreflex zusammengefasst werden (Bering, 2011). In der traumatischen Situation kann keine dieser akuten Reaktionstendenzen sinnvoll umgesetzt werden, es entsteht eine Diskrepanz zwischen Wahrnehmung und Handlung(-smöglichkeit); es kommt zu einer „unterbrochenen Handlung“.

traumatische Reaktion

Postexpositorisch stehen die Betroffenen dann vor der paradoxen Aufgabe, eine Erfahrung verarbeiten zu müssen, die ihre Verarbeitungskapazität überschreitet. Mit der traumatischen Reaktion