Eingereist über Wladiwostok - Axel Rudolph - E-Book

Eingereist über Wladiwostok E-Book

Axel Rudolph

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  • Herausgeber: SAGA Egmont
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2015
Beschreibung

Ein bleichgesichtiger, hagerer Mann empfängt Heinz und Helle Beier im Vorzimmer des russischen Passamtes in Tokio und verschwindet mit ihrem Reisepass hinter einer von unzähligen Türen. Den beiden ist mulmig, doch Helles Entschluss steht fest. Sie hat sich aus einem ganz bestimmten Grund der Weltreise des Chors ihres Bruders angeschlossen – und diesem geht nach und nach erst auf, was seine Schwester da eigentlich vor hat... Der bleiche Russe betrachtet Helle scharf unter gesenkten Lidern, setzt dann aber ein freundliches Gesicht auf: "Wir haben nichts dagegen, dass Ausländer die Sowjetunion besuchen. Im Gegenteil, wir freuen uns darüber und tun, was wir können, zur Hebung des Fremdenverkehrs. Hätten Sie gesagt, dass Sie als Touristin Russland bereisen wollen, so hätte ich Ihnen ohne weiteres das Visum erteilen können. Nun, Ihre Wahrheitsliebe macht Ihnen alle Ehre. Aber ich bin unter den obwaltenden Umständen verpflichtet, Sie zu ersuchen, mir irgendwelche Unterlagen über den Zweck Ihrer Reise vorzulegen!". Helle will allein nach Russland einreisen, zu ihrem Verlobten, Kola, mit dem Helle von einer Glücklichen Zukunft träumt. Und damit nimmt der Schlamassel seinen Lauf, das Abenteuer beginnt.-

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Axel Rudolph

Eingereist über Wladiwostok

Abenteuerroman

Saga

1. Kapitel

„Bitte, warten Sie einen Augenblick!“ Der bleichgesichtige, hagere junge Mann, der Helle Beier im Vorzimmer des russischen Paßamtes in Tokio empfangen hat, verschwindet mit ihrem Reisepaß hinter einer der Türen. Heinz Beier, neben seiner Schwester sitzend, sieht sich mit einem gewissen Unbehagen in dem nur wenig möblierten, großen Raum um, an dessen Wänden allerlei Plakate und Ankündigungen in russischer und japanischer Sprache hängen.

„Überleg es dir doch noch mal, Helle! Willst du wirklich ...?“

„Ja!“ zerschneidet eine helle, klare Mädchenstimme den Satz. „Zum Vergnügen habe ich nicht das viele Geld ausgegeben und mich an eurer Weltreise beteiligt!“

„Wenn ich gewußt hätte, was du vorhast, Mädel, hätt’ ich dich nicht mitgenommen!“ brummt Heinz Beier. „Na, wahrscheinlich werden sie dir gar kein Visum geben!“

„Warum sollten sie nicht? Ich habe nichts mit Politik zu tun.“

„Trotzdem! Du bist — Gott sei Dank — eine Deutsche, und für uns haben die Herren Moskowiter bekanntlich nicht viel übrig.“

Helle Beier zuckt die Achseln und schweigt. ‚Sie werden ihr die Einreise nicht gestatten,‘ tröstet ihr Bruder sich selber im stillen. Aber da kommt der Sekretär, oder was er sonst ist, schon zurück. Ohne Helles Paß.

„Bitte, kommen Sie mit mir!“

Die Geschwister Beier folgen dem Hageren durch einen langen, schmalen Korridor bis zu einer Tür, die er vor ihnen öffnet. In einem kleineren Zimmer mit kahlen Wänden sitzt hinter einem schmucklosen Schreibtisch ein korpulenter Herr mit einem blaurasierten, etwas feisten Gesicht. Trostlos nüchtern und kahl sieht der ganze Raum aus. Nicht einmal ein Bild Lenins hängt an der Wand.

Der russische Beamte weist auf zwei einfache Stühle, die vor dem Schreibtisch stehen, und blättert in Helles Paßheft.

„Sie wollen nach USSR.? Zu welchem Zwecke?“

„Um meinen Verlobten aufzusuchen.“ Helle netzt die etwas trockenen Lippen mit der Zunge. „Mein Verlobter war lange Jahre Mitglied des Oreg-Kosaken-Chors und wohnt seit einem Jahr in Irkutsk. Er ist russischer Staatsangehöriger.“

„Orenburg-Kosaken-Chor?“ Der Russe rümpft ein wenig die Nase. „Dieser sogenannte Chor besteht zumeist aus Ehemaligen, Emigranten, die im Ausland gegen ihre russische Heimat hetzen. Ihr Verlobter war einstiger Offizier?“

„Kola ist heute fünfundzwanzig Jahre alt. Er kann also unmöglich der zaristischen Armee angehört haben. Und da er jetzt seit Jahresfrist in der Sowjetunion wohnt und dort künstlerisch tätig ist, kann doch wohl politisch nichts gegen ihn vorliegen!“

„Allerdings nicht!“ Der Russe betrachtet unter gesenkten Lidern hervor scharf das junge Mädchen und setzt ein freundliches Gesicht auf. „Wir haben nichts dagegen, daß Ausländer die Sowjetunion besuchen. Im Gegenteil, wir freuen uns darüber und tun, was wir können, zur Hebung des Fremdenverkehrs. Hätten Sie gesagt, daß Sie als Touristin Rußland bereisen wollen, so hätte ich Ihnen ohne weiteres das Visum erteilen können. Nun, Ihre Wahrheitsliebe macht Ihnen alle Ehre. Aber ich bin unter den obwaltenden Umständen verpflichtet, Sie zu ersuchen, mir irgendwelche Unterlagen über den Zweck Ihrer Reise vorzulegen!“

„Ich habe nur diesen Brief.“ Helle nestelt aus ihrem Täschchen einen Briefumschlag und reicht ihn über den Tisch. „Wie Sie sehen, ist er an mich gerichtet und in Irkutsk abgestempelt.“

Der Beamte zieht das Schreiben hervor und vertieft sich darin. „Der unterzeichnete Kola Dobkin ist Ihr Verlobter?“

„Jawohl. Er war vor etwa anderthalb Jahren ebenfalls auf einer Tournee hier in Japan und ist von hier aus nach Irkutsk gereist.“

„Ich war damals noch nicht auf diesem Posten,“ bemerkt der Beamte beiläufig. „Aber das läßt sich aus unseren Akten feststellen. Ihr Verlobter schreibt, daß er jetzt in Irkutsk tätig ist und daß es ihm gut geht.“

„Sehr gut sogar. Wie Sie sehen, fühlt er sich in seiner alten Heimat sehr glücklich.“

„Ich sehe.“ Unauffällig prüft der Beamte mit den Fingerkuppen das Papier, bis er am linken Rand des Bogens die winzige Erhöhung eines Nadelstiches verspürt. „Sie haben diesen Brief in Berlin erhalten? Warum sind Sie nicht auf dem direkten Weg von dort nach Irkutsk gereist?“

„Ich scheute mich vor der Reise durch ganz Rußland, die ich hätte allein antreten müssen. Da mein Bruder grade mit seiner Kapelle eine Weltreise machte, die auch hier nach Japan führte, schloß ich mich lieber ihm an.“

„Sie sind der Bruder der Dame?“

„Heinz Beier,“ nickt der junge Mann und reicht unaufgefordert dem ihn fixierenden Beamten auch seinen Paß hin. „Ich bin Mitglied der Kapelle Silvester Begas.“

„Die zurzeit hier im Tokio-Hotel spielt,“ nickt der Russe zurück. „Sehr gute Musik. Temperamentvoll. Ich hörte sie vorigen Mittwoch beim Tee im Tokio-Hotel. Und Sie wollen Ihre Schwester nach Irkutsk begleiten?“

„Das ist mir leider nicht möglich. Mein Vertrag hindert mich daran. Helle hat sich nun mal in den Kopf gesetzt, nach Irkutsk zu reisen. Wenn es nach mir ginge ...“

„Warum nicht?“ Der Russe lächelt spöttisch. „Sie haben als Deutscher natürlich eine nette Vorstellung von den Verhältnissen in der Sowjetunion. Kann ich mir denken. Beruhigen Sie sich, Herr Beier! Ihre Schwester kann ebenso sicher und bequem nach Irkutsk reisen wie nach ... nach Schmargendorf.“

Wider Willen muß Heinz Beier lächeln. „Sie scheinen Deutschland ja gut zu kennen!“

„Ich war vor Jahren an der russischen Handelsdelegation in Berlin. Daher spreche ich auch fließend Deutsch,“ bemerkt der Beamte ruhig und reicht den Paß zurück. „Lassen Sie mir den Brief und auch Ihren Paß hier, Fräulein Beier! Sobald wir an Hand der Ausreiselisten die Personalien Ihres Verlobten festgestellt haben, wird Ihrer Reise nichts im Wege stehen.“

„Danke,“ sagt Helle Beier, sich erhebend. „Ich darf also morgen wieder vorsprechen?“

„Nicht nötig! Sie wohnen im Tokio-Hotel? Choroscho! Sie erhalten im Laufe des Nachmittags dorthin Bescheid.“

*

Unter den Mitgliedern der Kapelle Begas herrscht ziemliche Aufregung. Die gesamten neun Musiker, einschließlich des Kapellmeisters, des schlanken, eleganten Silvester Begas, umdrängen in einer Ecke der „Halle“ die blonde Helle Beier.

„Also doch! Sie wollen wirklich allein nach Rußland reisen?“

Helle Beier hält das mit dem russischen Einreisevisum versehene Paßheft, das vor zehn Minuten ein Bote des Paßamts gebracht hat, krampfhaft fest, als fürchte sie, die Freunde könnten es ihr entreißen. „Natürlich will ich! War ja der Zweck der ganzen Übung! Kola ist nun schon über ein Jahr drüben. Da werdet ihr mir wohl nachfühlen können ...“

„Beier,“ sagt der lange Silvester Begas bedauernd zu seinem Cellisten, „wenn ich eine Ahnung hätte ... wenn ich bloß einen Schatten von einer Idee hätte, wo ich einen Ersatz für Sie hernehmen sollte, weiß Gott, ich gäbe Ihnen auf der Stelle Urlaub. Denn daß Fräulein Helle mutterseelenallein nach Rußland fährt, das ist ... das ist einfach verrückt!“

„Habt euch doch nicht!“ wehrt Helle sich ärgerlich. „Ihr tut alle, als ob ich eine Expedition ins Innere Afrikas unternehmen wollte.“

„Noch schlimmer, Helle! Sie wollen nach Rußland!“

„Dummes Zeug! Erinnert euch mal gefälligst: Damals, als Kola ganz plötzlich aus Wladiwostok schrieb, habt ihr auch alle möglichen Räuberpistolen aufgetischt. Kola sei von Sowjetagenten verschleppt worden. In eine Falle gelockt! Ganz ramdösig habt ihr mich damals gemacht mit eurem Gerede, daß ich im Traum schon den armen Kola als Erschossenen oder zum mindesten als Eingekerkerten sah!“

„Ist auch unverständlich, wie Kola Dobkin sein gutes Engagement bei den Orenburg-Kosaken aufgeben und nach Sowjetrußland gehen konnte! Wenn er auch noch ein Kind war, als er Rußland verließ, er stammt doch immerhin von einer alten Beamtenfamilie ab, die bei der Bolschewisten-Revolution fliehen mußte!“

„Und als er so lange schwieg, habt ihr wieder geunkt,“ fährt Helle fort, ohne den Einwurf zu beachten. „Bis dann der Brief aus Irkutsk kam! Daß Kola selbst ihn geschrieben hat, daran gibt’s nichts zu deuteln. Ich kenne doch wahrhaftig seine Handschrift und Heinz kennt sie auch! Es geht ihm gut drüben! Er hat in Irkutsk ein bedeutend besseres Engagement als im Kosakenchor! Na also! Bangemachen gilt nicht! Schließlich werden die Verhältnisse oben in Sibirien wohl auch etwas anders sein als in Moskau.“

„Fernost gehört auch zum Gebiet der Sowjetunion!“

„Wenn schon. Ihr seht doch, daß alles ganz einfach in Ordnung geht. Man hat mir das Visum anstandslos gegeben. Ging sogar über Erwarten fix. Da möcht’ ich wissen, warum ich nicht reisen soll!“

„Helle,“ sagt ihr Bruder mit besorgtem Kopfschütteln, „ich hätte nichts dagegen, wenn du wirklich nur Kola Dobkin in Irkutsk besuchen wolltest. Aber die Hauptsache hast du dem Sowjetbeamten ja doch verschwiegen: nämlich, daß du Kola überreden willst, wieder mit dir nach Deutschland zurückzukehren.“

„Was denn sonst, mein Junge? Wir wollen doch heiraten. Oder glaubst du, ich hätte Lust, russische Staatsangehörige zu werden? Ist nicht! Vielleicht bleibe ich bei Kola, bis sein jetziges Engagement abgelaufen ist, aber dann kommt er mit mir nach Deutschland zurück. Er wird ja nicht auf zehn Jahre drüben verpflichtet sein.“

„Das ist es eben, Helle, was uns besorgt macht. Die Sache kriegt ein ganz anderes Gesicht, wenn sie drüben erfahren, daß du Kola wieder nach Deutschland zurückholen willst.“

„Macht euch doch nicht lächerlich! Der Sowjetunion wird ausgerechnet an Kola Dobkin riesig viel gelegen sein!“

„Den deutschen Wolgabauern verbietet man auch, Rußland zu verlassen!“

„Sie haben Angst vor jedem, der erzählen kann, wie’s im Sowjetparadies aussieht!“

„Sie werden bestimmt Schwierigkeiten haben, Helle!“

Helle Beier läßt die aufgeregten Einwände unbeachtet und wirft trotzig den Kopf in den Nacken. „Man kann auch den Teufel schwarz malen, Jungs. Wenn die Verhältnisse in Rußland so furchtbar wären, wie ihr sie immer darstellt, dann wäre Kola gewiß nicht hinübergegangen, oder er wäre längst zurückgekommen. Und auch sonst übertreibt ihr gräßlich. Du warst ja dabei, Heinz, und kannst es bezeugen: Nicht mal nach meiner politischen Einstellung oder dergleichen hat mich der Herr auf dem Paßamt gefragt!“

„Das eben macht mich stutzig,“ sagt Heinz Beier nachdenklich. „Ich weiß es doch von dem Kollegen Schreiner, der voriges Jahr nach Moskau wollte. Den haben sie auf Herz und Nieren nach allem möglichen ausgefragt: Militärverhältnisse, Zugehörigkeit zu Parteigliederungen und was weiß ich alles. Obwohl der gute Schreiner mindestens ebenso unpolitisch war wie du.“

Die Debatte muß vorläufig abgebrochen werden. Silvester Begas mahnt, die Uhr in der Hand. In zehn Minuten beginnt das Nachmittagskonzert.

Öfter als sonst gleiten während des Spiels die Augen der Musiker hinüber zu dem jungen blonden Mädchen, das bescheiden in einer Ecke des großen Saales bei einer Tasse Tee sitzt. Helle kümmert sich wenig um die besorgten Blicke ihres Bruders und seiner Freunde. Sie hat das Gefühl, heute ein sehr großes Stück weitergekommen zu sein auf dem Weg, der zu einer glücklichen Zukunft führt, und ihre Hand streichelt heimlich das Paßheftchen in ihrer Handtasche. Morgen schon geht der Dampfer nach Wladiwostok. Von dort bis Irkutsk sind — sie hat sich längst genau darüber erkundigt — zwei bis drei Tage Bahnfahrt. In spätestens einer Woche also wird sie bei Kola sein, dem lieben Jungen. Sie ist recht böse auf ihn gewesen, damals, als er ganz plötzlich den Einfall bekam, von Japan aus nach Wladiwostok zu gehen. Viele Nächte lang hat sie sich gegrämt und gebangt. Der Bruder, die Kollegen, ihre Freundinnen und Bekannten haben ihr den Kopf heiß gemacht mit Schauergeschichten von verschleppten Russen. Aber nun ist ja alles in Ordnung. Kola geht es gut. Er hat ein Engagement in Irkutsk angenommen. Was ist schon dabei? Ob in Irkutsk oder Tokio oder Konstantinopel — ein Musikus ist bald hier, bald dort, und Helle Beier ist viel zu sehr mit dem Musikantenleben verwachsen, um das nicht ganz natürlich zu finden. Nur daß Kola etwa ganz drüben bleibt, das geht natürlich nicht. Helle Beier ist zwar der Ansicht, daß die Verhältnisse in der Sowjetunion nicht ganz so schrecklich sind, wie man sie darstellt, aber selber dorthin überzusiedeln und Russin zu werden, das kann sie sich denn doch nicht denken. Das wird Kola ja auch nicht verlangen.

Morgen also. — Die Kapelle Begas spielt zwischen ihren Tangos und Foxtrots eben ein wehmütig-sehnsuchtsschweres deutsches Volkslied. Fast wie ein Abschiedslied klingt es, und die Japaner und Japanerinnen ringsum lauschen mit höflichem Lächeln.

Helle sieht sich im Saal um. Ein Teil des Publikums sind Europäer, meist Engländer und Amerikaner. Dazwischen aber sitzen die Bewohner des Landes, klein, zierlich, mit ihrem ausdruckslosen, ewigen Lächeln auf den Gesichtern, fremd und unbegreiflich trotz ihrer fast durchweg europäischen Kleidung. Ja, fremd ist hier alles. Manchmal sogar häßlich. Japan besteht nicht nur aus Kirschblüten und tanzenden Geishas. Und irgendwie fühlt man sich hier immer überwacht; die Paßkontrolle und die Fremdenkontrolle sind sehr scharf.

Wie wird es drüben in Rußland sein? Fremd natürlich, fremde Sitten und Gebräuche, die man als Westeuropäer nicht verstehen kann. Im übrigen will sich Helle Beier durch nichts entmutigen lassen, sondern unter allen Umständen, beinahe mit einem Trotz, ihren Entschluß durchsetzen.

Als das Konzert zu Ende ist, sieht Helle, wie ihr Bruder vorne am Podium sich mit einem kleinen japanischen Herrn unterhält, der an ihn herangetreten ist. Ein paar Minuten später kommen die beiden auf ihren Tisch zu.

„Herr Suru,“ stellt Heinz Beier den sich höflich verneigenden Japaner vor. „Er möchte mit dir über deine Reise sprechen.“

„Nicht amtlich,“ pariert Herr Suru den etwas ärgerlich abweisenden Blick der jungen Dame, „obwohl ich allerdings im Dienst der Fremdenpolizei stehe.“

„Woher wissen Sie denn überhaupt, daß ich nach Rußland reise, Herr Suru?“

Höfliches Lächeln. „Solche Dinge zu wissen, gehört zu den Pflichten meines Berufes. Gestatten Sie mir, einen Augenblick in Ihrer Nähe Platz zu nehmen?“

„Ich habe mir erlaubt, Miß Beier, um diese Unterredung zu bitten, weil ich das Bestreben habe, Ihnen behilflich zu sein,“ fährt Herr Suru fort, als Helle nicht sehr ermunternd den Kopf geneigt hat. „Sie sind im Begriff, zu Ihrem Herrn Bräutigam zu fahren, Herrn Dobkin, nicht wahr?“

Nun hebt Helle doch überrascht den Kopf. „Ja. Wissen Sie denn etwas über Kola Dobkin? Hat Ihnen der russische Beamte ...?“

„Die Herren Kollegen vom russischen Paßamt haben nicht die Gewohnheit, mit uns zusammen zu arbeiten,“ lächelt der Japaner. „Aber ich weiß, daß Herr Dobkin Ihr Verlobter ist und daß er am 7. März vorigen Jahres nach dreiwöchigem Aufenthalt Tokio verlassen hat.“

„Es scheint, daß ich hier unter polizeilicher Überwachung stehe!“

„Wie alle Fremden, verehrte Dame. Schelten Sie nicht über diese notwendige Maßnahme! Bestände sie nicht, so könnte ich Ihnen jetzt auch nichts über Herrn Dobkin erzählen, was Sie doch gewiß interessiert.“

„Was wissen Sie denn von Kola?“

„Nicht viel. Nur, daß Herr Nicolai Dobkin am 8. März vorigen Jahres von Yokohama aus Japan an Bord eines russischen Dampfers verlassen hat. Mit dem Ziel Wladiwostok.“

„So viel weiß ich auch. Er hat mir am Tage seiner Abreise aus Yokohama geschrieben.“

„Ich würde mich dieser Einzelheit schwerlich entsinnen,“ fährt Herr Suru fort, „wenn nicht damals der Verdacht bestanden hätte, daß Herr Dobkin unter Vorspiegelung falscher Tatsachen zu dieser Reise bewogen sein könnte. Einige Tage später suchte mich nämlich Herr Asanjew, der Kapellmeister der Orenburg-Kosaken, auf und sagte mir, er und seine Kameraden seien geradezu bestürzt über die Abreise Dobkins. Das könne nicht mit rechten Dingen zugehen, denn Herr Dobkin sei der Sohn eines geflüchteten russischen Beamten und werde schwerlich sich freiwillig den Sowjetbehörden ausliefern.“

„Siehst du, Helle!“ wirft Heinz Beier erregt ein. „Ich sagte dir ja gleich ...“

Mit einer unmutigen Handbewegung heißt Helle ihn schweigen. „Bitte, fahren Sie fort, Herr Suru!“

„Ich habe nicht mehr viel zu sagen.“ Der Japaner macht eine höflich bedauernde Handbewegung. „Es war sehr schade, daß Herr Asanjew uns erst nach der erfolgten Abreise aufmerksam machte. Wir haben Recherchen eingezogen, aber nichts feststellen können, was die Vermutung des Herrn Asanjew bekräftigen könnte. Herr Dobkin ist allein und anscheinend ohne jeden äußeren Zwang nach Rußland gereist.“

Helle hat ein spöttisches Lächeln um ihre Lippen. „Nun also, Herr Suru. Dann besteht für mich doch wirklich kein Grund, ihn nicht zu besuchen. Oder wird die japanische Polizei mich vielleicht daran hindern?“

„Aber durchaus nicht, meine Dame!“ verwahrt sich der Japaner lebhaft. „Sie können reisen, wann und wohin es Ihnen beliebt. Ich möchte Ihnen für diese Reise nur einen bescheidenen freundschaftlichen Rat geben. Sie sind Deutsche. Seien Sie vorsichtig, sehr vorsichtig in Ihren Äußerungen, sobald Sie auf russischem Boden stehen! Ich kenne die Methoden drüben. Selbst das harmloseste Wort kann genügen, Sie ins Gefängnis zu bringen.“

„Danke!“ sagt Helle kühl. „Ihr guter Rat ist überflüssig, Herr Suru. Ich reise zu meinem Verlobten, weiter nichts. Die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse Rußlands sind mir total gleichgültig. Ich habe keinerlei Veranlassung, mich darüber zu äußern, und also wird man auch mich nicht behelligen.“

Der Japaner empfindet die Ablehnung in ihren Worten und erhebt sich sofort. „Bitte, verzeihen Sie die Belästigung, meine Dame! Ich wünsche Ihnen eine gute Reise.“

„Wofür die sich alles interessieren!“ Helle sieht kopfschüttelnd dem kleinen Herrn Suru nach und hängt sich dann vergnügt in den Arm des Bruders. „Komm Heinz! Wir wollen uns von Begas und den anderen verabschieden. Bis Yokohama begleitest du mich doch?“

„Ja. Begas behilft sich heute abend ohne mich. Bis zum Nachmittagskonzert morgen kann ich ja zurück sein. Aber ...“

„Kein Aber, mein Junge! Ich reise! Natürlich schreib’ ich dir von Wladiwostok und von Irkutsk. Die Anschriften eurer Stationen auf der Tournee hab’ ich ja!“

2. Kapitel

Kalt weht der Wind über Wladiwostoks niedrigen Dächern. Dennoch wundert sich Helle Beier erheblich über die dicken Pelze und Mäntel, in denen die Russen bereits vermummt gehen. Es ist schließlich erst Ende September und noch keine „sibirische“ Kälte. Sie selber findet gar keinen Grund, einen Pelzmantel über ihr warmes, dickes Reisekostüm zu ziehen.

Das ist also Fernost, das Ausfalltor Rußlands gegen das Japanische Meer. Helle Beier findet ihre Annahmen im großen und ganzen bestätigt und ist guten Mutes. Zwar ist es etwas sonderbar und unangenehm, daß man im Bahnhofsrestaurant stundenlang auf das Essen warten muß, weil das Bedienungspersonal eben seine Freizeit hat, und unter den Gesichtern, die ihrem Blick begegnen, sind viele bedrückte, scheu und ängstlich dreinschauende Mienen. Aber — die Reise auf dem russischen Dampfer war ganz angenehm, und auch bei der Paßkontrolle hat man ihr keine besonderen Schwierigkeiten gemacht. Keine Leibesvisitation, keine mißtrauischen Verhöre. Die Zigaretten rauchenden Beamten haben nur ihr Visum genau geprüft, ihren Koffer einer Durchsicht unterzogen und ihr dann mit einem gleichgültigen „Choroscho!“ den Weg freigegeben.

Allerdings, von Soldaten und Polizisten wimmelt es hier. Auf der kurzen Fahrt vom Hafen zum Bahnhof sind ihr dauernd Militärpatrouillen begegnet, und an jeder Straßenecke steht ein bis an die Zähne bewaffneter Milizionär. Aber das ist in Japan auch nicht viel anders. Und schließlich ist Wladiwostok Festungsgebiet.

Nun, Helle Beier geniert das wenig. Sie hat kein Interesse an militärischen Anlagen und daher auch keinen Versuch gemacht, etwa abseits von der Hauptstraße in Wladiwostok auf Entdeckungsfahrten zu gehen.

In dem überheizten Wartesaal ist eine dumpfe, stickige Luft. Helle nimmt, gleich nachdem sie etwas gegessen hat, ihren Handkoffer und geht wieder auf den Bahnsteig hinaus. Im Speisesaal waren nur wenig Menschen, fast durchweg europäische Herren, die das alleinreisende hübsche Mädchen mit neugierigen und, wie ihr scheinen wollte, etwas mißtrauischen Blicken betrachteten. Es waren ein paar sehr nett und solide aussehende angelsächsische Gentlemen darunter, und Helle hat sich ein bißchen gewundert, daß keiner dieser Herren auch nur den leisesten Versuch machte, eine Unterhaltung mit ihr anzuknüpfen. Sonst hat ihre schlanke Erscheinung, ihr hübsches, eigenwilliges Gesicht oft genug mitreisende Herren bewogen, eifrig eine kleine Reisebekanntschaft anzuknüpfen. Und grade hier hätte Helle nichts dagegen gehabt, mit einem sympathischen Herrn ein paar Stunden der langen Fahrt zu verplaudern. Merkwürdig, daß die Gentlemen so übermäßig zurückhaltend sind!

Waren im Wartesaal nur verhältnismäßig wenige Reisende, so wimmelt es dafür hier auf dem Bahnsteig von Menschen. Russen, die ihre Betten und den halben Hausrat mit sich schleppen, ganze Klumpen von dürftig gekleideten Männern und Frauen, die sich, den unentbehrlichen Teekessel in der Hand, um den „Kipjatok“, den großen Warmwasserbehälter, drängen. Dazwischen armselige, in schmutzige, durchlöcherte Schafpelze gehüllte Gestalten, die gruppenweise mit stumpfem Gesichtsausdruck auf ihren Kisten und Ballen kauern, und schlitzäugige, schmutziggelbe Mongolengesichter: Burjäten, Tungusen, Tartaren. Natürlich auch eine Menge von Soldaten der fernöstlichen Armee, hohe Gestalten, die in ihren tadellosen Stiefeln und dicken, schönen Mänteln von den dürftig gekleideten Zivilisten stark abstechen.

„Stoi!!“

Helle wendet sich bei dem lauten Ruf um und sieht zu ihrer Verwunderung, wie ein schlanker, hochgewachsener Mann, der in ihrer Nähe gestanden hat, plötzlich in langen, wilden Sätzen den Bahnsteig entlang saust und sich wie ein Sturmbock gegen die Gruppen wirft, die ihm den Weg versperren. Ein paar Minuten gibt es hinter der rasch zusammengeströmten Menschenmasse ein wüstes Getobe und Geschimpfe. Helle kann nicht sehen, was dort vorgeht. Sie hört nur laute Stimmen und sieht über die Köpfe ein paar Polizeihelme ragen. Dann teilt sich die Menge, und der Mann, der vorhin davonjagte, kommt wieder zum Vorschein. Wahrhaftig, er kommt direkt auf sie zu!

„Hier ist Ihr Koffer, Genossin,“ sagt eine sympathisch warme Stimme. „Ich sah eben, wie der Kerl sich damit aus dem Staube machen wollte.“

„Mein Koffer?“ Helle sieht fassungslos auf das Gepäckstück in der Hand des Mannes und entdeckt erst jetzt zu ihrem Entsetzen, daß der Handkoffer, der dicht neben ihr gestanden hat, verschwunden ist. „Das ist doch ... Ich hab’ nicht einmal bemerkt, daß jemand ... Vielen Dank, mein Herr!“ Helle hat von Kola Dobkin im Laufe der Zeit genügend russisch gelernt, um sich in dieser Sprache einigermaßen verständlich machen zu können, aber in der Aufregung sprudelt sie unbewußt die Sätze auf deutsch heraus. Der unerwartete Helfer lächelt vergnügt.

„Ach, Sie sind eine Deutsche? Das ist ja sehr schön. Da können wir ebensogut deutsch reden.“

„Sind Sie denn etwa auch ...?“

„Pawel Karlowitsch Gentzer heiß’ ich.“ Der Mann lüftet ein wenig seine Lammfellmütze. „Bin zwar in Sibirien geboren, aber mein Vater war aus Deutschland.“

Eine Glocke schlägt gellend an. Prustend und fauchend schiebt sich die lange Wagenreihe des transsibirischen Expreß an den Bahnsteig. Ein Höllenlärm hebt an. Schreiend, rufend, scheltend drängen sich die Menschen mit ihren Koffern, Ballen und Kisten durcheinander. Soldaten fluchen und brechen sich mit rücksichtslosen Ellbogenstößen Bahn. Um die schmalen Türen der Wagen ist ein Drängen, Stoßen und Schreien, als sei eine Panik ausgebrochen.

Pawel Karlowitsch hat sich durch ein paar knappe Fragen über das Reiseziel Helles vergewissert und geleitet sie sachkundig und umsichtig zu einem Abteil der „Fremdenklasse“.

„Haben Sie nochmals recht herzlichen Dank!“ Dem Wirrwar auf dem Bahnsteig glücklich entronnen, sieht Helle sich aufatmend in dem sehr bequem und luxuriös eingerichteten breiten Abteil um und streckt ihrem Helfer die Hand entgegen. „Reisen Sie auch nach Irkutsk, Herr Gentzer?“

„Genosse Gentzer,“ verbessert Pawel Karlowitsch ruhig. „Nein, aber bis Werchni Udinsk habe ich das Vergnügen, mit Ihnen reisen zu können. Darf ich in Ihrem Abteil Platz nehmen?“

Dreimal inerhalb der ersten Stunden der Fahrt wird kontrolliert. Zweimal erscheinen im Abteil Soldaten, die nicht nur die Pässe, sondern auch das Gepäck revidieren. Das dritte Mal ist es ein zivilgekleideter Polizeibeamter.

„Man gewöhnt sich daran,“ sagt Pawel Karlowitsch achselzuckend, als Helle zum dritten Male ihren kostbaren Reisepaß eingesteckt hat. „Hier in Fernost lebt man seit Jahren sozusagen im Kriegszustand. Es ist kein reines Vergnügen, mit der transsibirischen Bahn zu reisen.“

Helle kuschelt sich behaglich in die Polster. „Aber sehr elegant sind die Wagen hier, das muß man gestehen. Ich hätte das kaum erwartet.“

Pawel Karlowitsch zieht ein etwas spöttisches Gesicht. „Nun, es gibt auch andere Wagen. Ich würde Ihnen nicht raten, in der dritten Klasse zu reisen. Aber das war schon früher so in Rußland. Hochelegante, bequeme Wagen für die wohlhabenden Fremden und schmutzige, vollgepfropfte „Maximkas“ für diejenigen, die nicht zahlen können. Darin hat sich bei uns nicht viel geändert.“

„Und Sie leben also immer hier in Sibirien, Herr — Verzeihung: Genosse Gentzer?“

Pawel Karlowitsch lächelt gutmütig. „Von mir aus können Sie mich nennen, wie Sie wollen. Aber ich rate Ihnen, sich ganz allgemein den amtlichen Ausdruck ‚Towarischtsch‘ im Gespräch mit jedermann anzugewöhnen, solange Sie in Rußland sind. Man macht sich sonst leicht verdächtig, ausgenommen, wenn man einen Kommissär oder Offizier versehentlich mit dem verpönten ‚Herr‘ anredet.“

„Danke. Ich werde es mir merken.“

„Ja, ich lebe in Fernost,“ fährt Pawel Karlowitsch fort, „und bedeutend lieber als in Moskau oder Leningrad. Hier sind die Lebensmittel billiger.“ Er wartet gar keine Frage seiner Reisegefährtin ab, sondern beginnt sofort, ausführlich seine Verhältnisse auseinanderzusetzen.

„Mein Vater war einer der deutschen Pioniere hier in Sibirien, schon im Anfang des Jahrhunderts eingewandert. Er betrieb ein Sägewerk am oberen Jenissei. Als der Krieg ausbrach, versuchte er, nach Hause zu gelangen, um seine Pflicht als Soldat zu erfüllen. Man holte ihn aus dem Zug und internierte ihn. Als er auch aus dem Internierungslager floh und verfolgt wurde, verbarg ihn eine junge deutschstämmige Frau auf ihrem Bauernhof. Sie wurde meine Mutter. Eines Tages war dann die Gefahr vorüber. In Rußland ging alles drunter und drüber. Aber — in Deutschland sah es nicht viel besser aus. Der Krieg war verloren, und als mein Vater von jenem Hexenreigen von Unwürdigkeit, Schmach und Schmutz erfuhr, der damals durch Deutschland tobte, blieb er, wo er war.“

„Ihre Eltern leben also auch hier in Sibirien?“

„Sie sind beide tot. Im großen Hungerjahr ... nun, reden wir nicht davon! Das ist vorbei. Mein