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Tagung Junger Prozessrechtswissenschaftler am 18./19. September 2015 in Köln
Das E-Book Einheit der Prozessrechtswissenschaft? wird angeboten von Richard Boorberg Verlag und wurde mit folgenden Begriffen kategorisiert:
Wiederaufnahmegründe, Prozesskostenlast, Prozessführung, Prozessführungspraxis, Prozesstaktik, Richtervorbehalte, Strafverfahrensrecht, Massenmedien, Beweiserleichterung, Verwaltungsprozess
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Seitenzahl: 794
Veröffentlichungsjahr: 2016
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Einheit der Prozessrechtswissenschaft?
Tagung Junger Prozessrechtswissenschaftler am 18./19. September 2015 in Köln
herausgegeben von
Daniel Effer-Uhe Elisa Hoven Simon Kempny Luna Rösinger
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek | Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
Print ISBN 978-3-415-05708-1 E-ISBN 978-3-415-05742-5
© 2016 Richard Boorberg Verlag
E-Book-Umsetzung: Datagroup int. SRL, Timisoara
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Friedrich Stein hatte in Halle einen Lehrstuhl für Zivil- und Strafprozessrecht inne; Ulrich Klug war in Köln Professor für Strafrecht, Zivil- und Strafprozessrecht und Rechtsphilosophie; Jürgen Baumann lehrte neben dem Strafrecht sowohl das Straf- als auch das Zivilprozessrecht und publizierte in allen drei Bereichen; Adolf Schönke und Horst Schröder, die man heute vor allem als Namensgeber eines StGB-Kommentars kennt, schrieben sowohl zum Zivil- als auch zum Strafprozessrecht; Gerhard Lüke wurde in Frankfurt die venia legendi für Bürgerliches Recht, Zivilprozessrecht und Verwaltungsprozessrecht erteilt: Noch vor wenigen Jahrzehnten war es nichts Ungewöhnliches, wenn derselbe Hochschullehrer das Prozessrecht unterschiedlicher Rechtsgebiete lehrt. Heutzutage ist das kaum noch vorstellbar, erscheinen das Zivilprozessrecht (einschließlich des familien- und arbeitsgerichtlichen Verfahrens), das Strafprozessrecht und das Prozessrecht des öffentlichen Rechts (Verfassungs-, Verwaltungs-, Finanzgerichts- und Sozialgerichtsprozess) doch als streng voneinander geschiedene Rechtsgebiete.
Gleichwohl gibt es nach wie vor Überschneidungen; viele Themen betreffen zwei der drei großen Bereiche des Prozessrechts, manche Themen gar alle drei Bereiche. Trotzdem arbeiten Praktiker und Wissenschaftler aus den einzelnen Prozessrechtssparten in aller Regel mit wenig Berührungspunkten zu Kollegen aus den anderen Bereichen. Vor diesem Hintergrund kam uns die Idee, eine Tagung mit dem Ziel durchzuführen, junge Prozessrechtswissenschaftler aus allen drei Teilbereichen zusammenzuführen und so den Dialog zwischen den verschiedenen Disziplinen zu fördern. Die Tagung stellten wir unter das Generalthema „Einheit der Prozessrechtswissenschaft?“, bewusst mit einem Fragezeichen versehen, da wir es als durchaus offene Frage betrachteten (und betrachten), wie weit die Einheit der verschiedenen Teilbereiche tatsächlich reicht. Im Call for Papers forderten wir dazu auf, Vortragsbewerbungen sowohl zu gebietsübergreifenden Themen als auch zu Themen nur aus einzelnen Teilbereichen einzureichen. Auf diese Weise hofften wir, ein für jeden Teilnehmer interessantes, abwechslungsreiches Programm zusammenstellen zu können, was uns – wie wir glauben und hoffen – gelungen ist.
Die Resonanz auf den Call for Papers war so überwältigend, dass wir uns aufgrund der Fülle hochkarätiger Bewerbungen letztendlich entschieden, bis auf wenige Vorträge im Plenum immer mehrere parallele Vorträge stattfinden zu lassen, um so mehr Referenten unterzubringen und die Auswahl zwischen den parallelen Vorträgen den Teilnehmern zu überlassen. Dem Ziel, den disziplinübergreifenden Austausch in den Vordergrund zu stellen, hätte es vielleicht eher entsprochen, mehr Plenarvorträge vorzusehen. Durch die Auswahl der Vorträge, unter denen viele einen fachübergreifenden Anspruch hatten, glauben wir aber, auch so jedem Teilnehmer die Möglichkeit zu fachübergreifendem Austausch bei einer Vielzahl an Vorträgen geboten zu haben.
Insgesamt fanden sich am 18. und 19. September etwa 90 Teilnehmer in Köln ein – für die erstmalige Veranstaltung einer solchen Tagung ein sehr erfreuliches Ergebnis, das uns hoffen lässt, eine Tradition von Tagungen junger Prozessrechtswissenschaftler begründet zu haben, die längerfristig fortgesetzt werden wird. Für eine Folgetagung im September 2016 haben sich Ausrichter an der Bucerius Law School und der Universität Hamburg gefunden, und auch für 2017 haben sich bereits potentielle Ausrichter gemeldet.
Daniel Effer-Uhe, Elisa Hoven, Simon Kempny und Luna Rösinger
Köln, im Oktober 2015
Der Schutz der Verfahrensgrundrechte in sog. Bagatellstreiten – prozessuale Einheit im Zivilverfahren und Impulse des französischen Rechts
Lars Bierschenk
Straftheoretisch fundierte (Medien-)Öffentlichkeit
Linda-Sue Blazko
Das Fehlurteil im Strafprozess – Zum Begriff und zur Häufigkeit
Toni Böhme
Die Unterschiede der Wiederaufnahmegründe in den verschiedenen Rechtsgebieten – Ausfluss divergierender Rechtskraftbegriffe?
André Bohn
Präventive Richtervorbehalte und deren nachträgliche Kontrolle
Dominik Brodowsk
Dispositions- und Verhandlungsgrundsatz im Spannungsverhältnis zum (europäisierten) materiellen Recht
Matthias Fervers
Informalisierte Entscheidungsfindung? Außergesetzliche Instrumente in Wirtschafts(straf)verfahren
Kiyomi von Frankenberg
Zur unterschiedlichen Bedeutung des Beweisrechts bei der richterlichen Tatsachenermittlung nach der VwGO und der StPO
Maria Geismann
Zur Anwendung ausländischen Rechts im Zivil- und Strafprozess
Susanne Lilian Gössl
Die Unterscheidung von Tat- und Rechtsfrage im Prozessrecht
Thomas Grosse-Wilde
Lassen sich die verschiedenen zivilrechtsprozessualen Figuren der Beweiserleichterung zu einem (lückenlosen) System der Beweiserleichterung zusammenfügen?
Verena Klappstein
Der Finanzgerichtsprozess als besondere Prozessart des öffentlichen Rechts
Jan Niklas Klein
Grenzen der Revisibilität? Zur Frage der Zulässigkeit richterlicher Beurteilungsspielräume im Strafrecht
Milan Kuhli
Die Suche nach der Wahrheit und das Ziel der Gerechtigkeit in den unterschiedlichen Prozessordnungen – rechtsphilosophische Überlegungen zum Prozessrecht
Jochen Link
Verfahren vor NS-Scheingerichten
Martin Luber
Die Prozesskostenlast des Unterliegenden – Einheit und Vielfalt des Prozess(kosten)rechts?
Olaf Muthorst
Das Recht auf rechtliches Gehör im Zivilprozess – ein Desiderat für das universitäre Curriculum
Jens Prütting
Einheit und Vielheit der Verfahrensrechtswissenschaft(en): Einsichten der Rechtswissenschaftstheorie
Philipp Reimer
Gesetzlichkeitsgrundsatz und ungleichartige Wahlfeststellung Zum verfassungsrechtlichen Gebot des eindeutigen Schuldspruchs
Frauke Rostalski
Normatives Vorverständnis im Verwaltungsprozess
David Salm
Das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung – Eckstein oder Stolperstein der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in der EU?
Nina Marlene Schallmoser
E pluribus unum – das private Verfahrensrecht der Fußballverbände als Schmelztiegel der staatlichen Prozessrechte
Björn Schiffbauer
Was ist gutes Strafverfahrensrecht? Bausteine einer Strafverfahrensrechtsetzungslehre
Anne Schneider
Einheit des Beweismaßes: Soll im Straf- und Zivilprozessrecht das gleiche Beweismaß gelten?
Mark Schweizer
Die Verfahrensstruktur des Strafprozesses als unüberwindbares Hindernis für ein inkorporiertes Abspracheverfahren
Jens Andreas Sickor
Die Prozessführungspraxis im Sog der Massenmedien – rechtlicher Rahmen und ethische Fragen prozessbegleitender Medien- und Öffentlichkeitsarbeit
Christian Trentmann
Die „funktionsdifferente Handhabung“ des Verfassungs- und Verfahrensrechts in Zivilprozess und sozialgerichtlichem Verfahren am Beispiel des § 227 ZPO
Daniel Ulber
Misstrauen im Raum der Sicherheit, der Freiheit und des Rechts – zum Haftgrund der Fluchtgefahr bei EU-Bürgern mit Wohnsitz im EU-Ausland
Kilian Wegner
Die Schiedsvereinbarung als unvollkommener Vertrag? Zum Rügeerfordernis des § 1032 Abs. 1 ZPO
Reinmar Wolff
Aktuelle Anfragen an medienbezogene Zeugnisverweigerungsrechte
Ralph Zimmermann
Verzeichnis der Autoren und Herausgeber
Lars Bierschenk*
A. Einführung
B. Die Verfahrensgrundrechte und ihr zivilprozessualer Schutz
I. Zum Bedeutungswandel der Verfahrensgrundrechte im Zivilprozess
II. Entwicklungslinien korrespondierender Rechtsbehelfe
III. Rechtsdogmatische und rechtstatsächliche Defizite der gegenwärtigen Situation
C. Fortentwicklung des Rechtsbehelfssystems zum Schutz der Verfahrensgrundrechte
I. Bestehende Ansätze: § 321a ZPO analog und § 579 Abs. 1 Nr. 4 ZPO analog
II. Historisch-vergleichender Blick auf das französische Zivilverfahrensrecht
III. Versuch einer Lösung innerhalb des Instanzenzuges: § 544 ZPO analog?
1. Der hinkende Vergleich von ZPO und ArbGG im Recht der Berufungszulassung
2. Strukturelle Entsprechung von VwGO, SGG und ZPO in Zulassungsfragen
3. Neuere Entwicklungen im Rahmen der ZPO und Anforderungen der Verfassung
D. Zusammenfassende Thesen und Ausblick
Eine Berufung ist im zivilgerichtlichen Verfahren nur zulässig, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 600 EUR übersteigt oder das Eingangsgericht die Berufung zugelassen hat, § 511 Abs. 2 ZPO. Dies gilt auch dann, wenn sich eine beschwerte Partei auf eine Verletzung ihrer Verfahrensgrundrechte stützt. In der Rechtspraxis wird bei fehlenden Berufungsvoraussetzungen häufig das Bundesverfassungsgericht zur Wahrung der Prozessgrundrechte in die Rolle einer „Superberufungsinstanz“1 gedrängt. Die Frage, inwiefern die ZPO die Möglichkeit einer effektiven fachgerichtlichen Kontrolle zur Wahrung der Prozessgrundrechte in sog. Bagatellstreiten bieten kann, ist Gegenstand des Beitrags.
In Form grundrechtsgleicher Rechte garantiert das Grundgesetz in Art. 101 Abs. 1 S. 2 und Art. 103 Abs. 1 ausdrücklich das Recht auf den gesetzlichen Richter und das Recht auf rechtliches Gehör.2 Der Parlamentarische Rat übernahm diese Verbürgungen noch eher beiläufig als Grundsätze, „die im Kern grundrechtsartigen Charakter tragen“ in die Verfassung.3 Während die subjektiv-rechtliche Qualität dieser Verfahrensgarantien mittlerweile anerkannt ist,4 stellt sich zunehmend die Frage nach der Legitimation und der Wahrung weiterer subjektiver Prozessgrundrechte.5
Bereits früh berücksichtigte das Bundesverfassungsgericht bei der Auslegung der ausdrücklich normierten Verfahrensgrundrechte auch die Grundrechte des ersten Teils des Grundgesetzes6 und entwickelte zunächst für das Strafverfahren das Recht auf ein faires Verfahren.7 Ab den 1970er Jahren begann das Bundesverfassungsgericht damit, das Gebot effektiven Rechtsschutzes als Annex materieller Grundrechtspositionen im Zivilprozess zu etablieren.8 Parallel hierzu verstärkte sich die wissenschaftliche Diskussion über allgemeine Prozessprinzipien und ungeschriebene Prozessgrundrechte aller Verfahrensordnungen,9 die in jüngerer Zeit zunehmend unter Berücksichtigung der EMRK und der GRCh geführt wird.10
Der allgemeine Justizgewähranspruch11, das Willkürverbot12 und das Recht auf ein faires Verfahren13 sind als ungeschriebene Verfahrensgrundrechte mittlerweile anerkannt. Im Rahmen seines Gutachtens anlässlich des 70. Deutschen Juristentages 2014 entwarf Calliess das Modell einer modernen Ziviljustiz vor dem Hintergrund sowohl der geschriebenen als auch der ungeschriebenen Prozessgrundrechte.14 In der praktisch orientierten Literatur werden die Verfahrensgrundrechte bisweilen als „Fundgrube“ anwaltlicher Gestaltungsmöglichkeiten bezeichnet.15 Vor allem der allgemeine Justizgewähranspruch hat in der Rechtspraxis den Charakter einer prozessualen „Bündelungsnorm“16 angenommen und wird vom Bundesverfassungsgericht unter ergänzender Berücksichtigung des Fairness- und des Effektivitätsgrundsatzes als „allgemeines Prozessgrundrecht“ gemäß Art. 2 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG bezeichnet;17 das Willkürverbot gemäß Art. 3 Abs. 1 GG tritt ergänzend hinzu.18 Die konkreten Einzelverbürgungen („Teilkonkretisierungen“19) der längst nicht mehr strikt voneinander zu trennenden Prozessgrundrechte sind Gegenstand einer stetig wachsenden Kasuistik und begleitenden wissenschaftlichen Systematisierung.20
Die dynamische Entwicklung und die stetig wachsende Bedeutung der Prozessgrundrechte finden auf der Ebene der Rechtsbehelfe vergleichsweise wenig Widerhall, obgleich das Bundesverfassungsgericht seit seinem grundlegenden Beschluss zur sog. „Pannenjudikatur“21 aus dem Jahr 1976 kontinuierlich die Einrichtung fachgerichtlicher Behelfe zum Schutz der Prozessgrundrechte fordert.22 Im Mittelpunkt der Diskussion stehen von Beginn an Urteile in sog. Bagatellverfahren, vorwiegend der Amtsgerichte, gegen die eine Berufung mangels Erreichung des erforderlichen Beschwerdewertes gemäß § 511 Abs. 2 Nr. 1 ZPO bzw. § 511a Abs. 1 S. 1 ZPO a. F.23 nicht gegeben ist.24 Während einige Land- und Oberlandesgerichte seit den 1980er Jahren in zunehmenden Fallkonstellationen eine „außerordentliche Berufung“ gegen Urteile zur Beseitigung von Verletzungen des rechtlichen Gehörs gewährten,25 beschränkten der Bundesgerichtshof und das Bundesverfassungsgericht derartige Ansätze auf das schriftliche (§ 128 Abs. 2 und 3 ZPO a. F.) und das vereinfachte amtsgerichtliche (§ 495a ZPO a. F.) Verfahren.26 Eine „außerordentliche Beschwerde“ zum Bundesgerichtshof wegen „greifbarer Gesetzwidrigkeit“ von Beschlüssen konnte sich bereits zuvor in der gerichtlichen Praxis etablieren, war jedoch nicht auf den Schutz prozessualer Grundrechte beschränkt.27
Unmittelbar nach dem Inkrafttreten des Zivilprozessreformgesetzes28 am 1. Januar 2002 entschied der Bundesgerichtshof, dass Rechtsbehelfe außerhalb der geschriebenen Rechtsordnung nicht mehr anzuerkennen seien. Zum Schutz des rechtlichen Gehörs gewähre die reformierte ZPO die Anhörungsrüge gemäß § 321a ZPO; darüber hinaus sei die Wahrung der Verfahrensgrundrechte im Revisionszulassungsgrund des § 543 Abs. 2 Nr. 1 ZPO („grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache“) angelegt.29 Auch das Bundesverfassungsgericht befand in einem Beschluss vom 30. April 2003, dass die von der Rechtsprechung entwickelten Behelfe nicht (mehr) den verfassungsrechtlichen Geboten der Rechtssicherheit und der Rechtsmittelklarheit genügten.30
Infolge eines Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte31 führte der Gesetzgeber im Jahr 2011 die Verzögerungsrüge gemäß § 198 GVG zur Kompensation von Verletzungen des Justizgewähranspruchs in Fällen unangemessen langer Verfahrensdauer ein.32 Außerhalb der Anwendungsbereiche der speziellen §§ 321a ZPO und 198 GVG können die Parteien eine Verletzung ihrer Verfahrensgrundrechte gegenwärtig nur mithilfe einer formlosen Gegenvorstellung zum iudex a quo und darüber hinaus im Wege der Verfassungsbeschwerde geltend machen.33
Die grundsätzliche Ablehnung ungeschriebener Rechtsbehelfe verband das Bundesverfassungsgericht mit der an den Gesetzgeber adressierten Forderung, fachgerichtliche Behelfe zum Schutz der Verfahrensgrundrechte in das Gesetz aufzunehmen.34 Zwar entwickelte das Verfassungsgericht seine Forderung vor dem Hintergrund des Anspruchs auf rechtliches Gehör; eine sachliche Einschränkung lässt sich daraus aber nicht ableiten.35 Dies ergibt sich zum einen aus dem argumentativen Rückgriff des Bundesverfassungsgerichts auf den allgemeinen Justizgewähranspruch, welcher „die Verfahrensgrundrechte, insbesondere die des Art. 101 Abs. 1 und 103 Abs. 1 GG“ prozessual absichere, sowie zum anderen aus dem generellen Hinweis, dass die Verfassungsbeschwerde aufgrund ihrer besonderen Annahme- und Prüfungsvoraussetzungen nicht zu den fachgerichtlichen Rechtsbehelfen zähle.36
Die nach wie vor anerkannte Gegenvorstellung ist aufgrund ihres unförmlichen Charakters nicht geeignet, das Fehlen einer allgemeinen gesetzlichen Grundrechtsrüge zu kompensieren. So steht eine Gegenvorstellung nicht nur im Konflikt mit der materiellen Rechtskraft eines anzufechtenden Urteils,37 sondern ist auch außerhalb des Rechtsweges angesiedelt und setzt deshalb die Frist einer Verfassungsbeschwerde nicht erneut in Gang.38 Parteien, die eine Verletzung ihrer Verfahrensgrundrechte mithilfe einer Gegenvorstellung rügen, riskieren seit einem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 25. November 2008 den Verlust einer möglichen Verfassungsbeschwerde durch Fristablauf.39
Zusätzliche Probleme ergeben sich aufgrund des gesondert geregelten Schutzes allein des rechtlichen Gehörs durch die Anhörungsrüge. Indem das Bundesverfassungsgericht § 321a ZPO als Bestandteil des für eine Verfassungsbeschwerde zu erschöpfenden Rechtsweges erachtet, ist eine Anhörungsrüge stets zu erheben, wenn eine Gehörsverletzung „auf der Hand“ oder zumindest „naheliegt“.40 Dies gilt auch dann, wenn sich eine betroffene Partei allein auf eine Verletzung sonstiger Prozessgrundrechte stützt.41 Eine „offensichtlich unzulässige“ Anhörungsrüge wahrt hingegen nicht die Frist der Verfassungsbeschwerde.42 Lässt sich ein behaupteter Grundrechtsverstoß im konkreten Fall nicht zweifelsfrei einem Prozessgrundrecht zuordnen, kann sich die betroffene Partei zu einem doppelten Vorgehen veranlasst sehen, was das Bundesverfassungsgericht jedoch selbst als unzumutbar bezeichnet.43
Angesichts des fortbestehenden Regelungsauftrages des Bundesverfassungsgerichts und aufgrund eines schlichten praktischen Bedürfnisses werden in der Rechtsprechung und der wissenschaftlichen Literatur verschiedene Ansätze diskutiert, um die vorhandene Schutzlücke auf der Grundlage des geltenden Rechts zu schließen.
Neben der Anerkennung einer Gegenvorstellung als ungeschriebenem und nur bedingt wirkungsvollem Rechtsbehelf konzentrieren sich die einzelnen Ansätze auf eine analoge Anwendung des § 321a ZPO44 sowie auf eine Kombination der Gegenvorstellung mit der Frist des § 321a Abs. 2 ZPO.45 Darüber hinaus findet sich der Vorschlag einer analogen Anwendung der Nichtigkeitsklage gemäß § 579 Abs. 1 Nr. 4 ZPO.46
Gegen einen analogen Rückgriff auf § 321a ZPO sprechen allerdings die eingeschränkte – wenngleich fragwürdige – Regelungsabsicht des Gesetzgebers47 und die Systematik dieses Rechtsbehelfs. Gemäß § 321a Abs. 4 ZPO entscheidet über eine Anhörungsrüge stets der iudex a quo. Im Rahmen eines Beschlusses vom 30. April 2003 bezeichnete das Bundesverfassungsgericht derartige Verfahrensrügen jedoch nur dann als ausreichend, „sofern auf diese Weise der Mangel effektiv beseitigt werden kann“.48 Bei der Formulierung des § 321a ZPO hatte der Gesetzgeber zuvorderst sog. „Pannenfälle“ versehentlicher Gehörverletzungen im Blick.49 Die Feststellung eines Verstoßes gegen das Recht auf ein faires Verfahren, den allgemeinen Justizgewähranspruch oder das Willkürverbot würde dem verletzenden Gericht hingegen ein bedeutend höheres Maß an Selbstkritik abverlangen.50
Im Rahmen der VwGO scheint der Gesetzgeber diese Ansicht zu teilen, indem er die Entscheidung über die Zulassung der Berufung gemäß §§ 124 Abs. 2, 124a Abs. 4 VwGO dem Oberverwaltungsgericht überträgt, wenn etwa ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils bestehen, die Rechtssache besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten aufweist oder ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird. Die genannten Zulassungsgründe, so die zugrunde liegende Gesetzesbegründung, eigneten sich nicht für eine Zulassungsentscheidung durch das Eingangsgericht.51
Auch eine analoge Anwendung der Nichtigkeitsklage erscheint mit Blick auf den Zweck des § 579 Abs. 1 ZPO fragwürdig. Der historische Gesetzgeber der Civilprozeßordnung (CPO) betrachtete die Nichtigkeitsklage als ein außerordentliches Rechtsmittel zur Rüge letztinstanzlicher Urteile.52 Gemeint waren hiermit Urteile des Berufungs- und des Revisionsgerichts; denn die Statthaftigkeit der Berufung unterlag in der ursprünglichen Fassung der CPO noch keiner wertmäßigen Einschränkung.53 Entsprechend korrespondierten die Nichtigkeitsgründe des § 579 Abs. 1 ZPO (§ 542 CPO) mit den absoluten Revisionsgründen des § 547 ZPO (§ 513 CPO).54 Jene Gründe seien zur Wahrung der Rechtssicherheit „scharf“ zu begrenzen.55 Verstöße gegen allgemeine Verfahrensprinzipien und -grundrechte waren und sind deshalb stets als sonstige Rechtsverletzungen außerhalb der absoluten Revisions- und der Nichtigkeitsgründe zu verorten.56
Indem die Berufung in der ursprünglichen Fassung der CPO gegen sämtliche erstinstanzlichen Urteile Anwendung fand, grenzte sie der historische Gesetzgeber bewusst vom französischen Verfahrensrecht ab. Dieses gewährt einen appel traditionell erst ab einem bestimmten Streitwert (taux de ressort) und sieht für das darunter liegende Wertsegment den pourvoi en cassation vor.57 Im Unterschied zum appel, der zu einer umfassenden tatsächlichen und rechtlichen Überprüfung eines Urteils führt (sog. double degré de juridiction), handelt es sich bei dem pourvoi en cassation um ein Rechtsmittel im öffentlichen Interesse, dessen Prüfungsumfang sich auf konkrete materielle und prozessuale Rechtsverletzung beschränkt.58 Der historische Gesetzgeber der CPO betrachtete diese Zweiteilung des Rechtszuges noch als „willkürlich“ und unvereinbar mit einer „höheren Ansprüchen entsprechenden Rechtspflege“.59 Eine am Wert der Beschwer orientierte Einschränkung der Berufung erfolgte erstmals im Jahr 1915 durch die sog. Entlastungsverordnung.60 Im Jahr 1924 führte der deutsche Gesetzgeber einen besonderen Wiederaufnahmegrund zugunsten vereinfachter amtsgerichtlicher Verfahren (sog. Schiedsverfahren) unterhalb der Berufungssumme ein, der sich auf Verletzungen des rechtlichen Gehörs bezog.61 Durch die Vereinfachungsnovelle62 wurde dieser Wiederaufnahmegrund im Jahr 1976 ersatzlos gestrichen.63
In Frankreich zeigte sich die gegenteilige Entwicklung, indem sich auf richterrechtlicher Grundlage ein appel-nullité zur Rüge grober Verfahrensmängel einschließlich Verletzungen von Verfahrensgrundrechten etablieren konnte.64 Die Entwicklung entsprach einem praktischen Bedürfnis, da der eigentlich vorgesehene pourvoi en cassation gerade in Bagatellstreiten als unverhältnismäßig schwerfällig galt und nach wie vor gilt.65
Aus deutscher Sicht ist der Ansatz der französischen Gerichte insofern bemerkenswert, als sich die Kritik gegenüber dem pourvoi en cassation gegenwärtig auf die deutsche Verfassungsbeschwerde übertragen lässt und ergänzende Sonderrechtsbehelfe auf französischer Seite innerhalb des regulären Instanzenzuges angesiedelt werden.
Vor ihrem historisch-rechtsvergleichenden Hintergrund kann die durch das Zivilprozessreformgesetz eingeführte Zulassungsberufung als ein Mittelweg zwischen dem lückenlosen Schutzkonzept des historischen Gesetzgebers und den Entlastungsbestrebungen des modernen Gesetzgebers betrachtet werden. Mit Blick auf das französische Recht und die Systematik der deutschen VwGO erscheint das Konzept der Zulassungsberufung jedoch immer dann als gestört, wenn das Eingangsgericht das Vorliegen eines Zulassungsgrundes verkennt. Zwar obliegen die Gewährung und die Ausgestaltung eines Instanzenzuges dem parlamentarischen Gesetzgeber;66 im Rahmen der Verletzung von Verfahrensgrundrechten kollidiert dessen Gestaltungsfreiheit aber mit dem verfassungsmäßigen Gebot effektiven Rechtsschutzes.67 Der hieraus erwachsende Konflikt ließe sich mithilfe einer bislang nur im Revisionsrecht vorgesehenen Nichtzulassungsbeschwerde (§ 544 ZPO) zum Berufungsgericht systemkonform lösen.
In der wissenschaftlichen Diskussion wurde die Möglichkeit einer berufungsrechtlichen Nichtzulassungsbeschwerde bislang kaum in Erwägung gezogen und im Übrigen mit Verweis auf das ArbGG abgelehnt.68 Vergleichbar der ZPO sieht auch das ArbGG eine Nichtzulassungsbeschwerde nur im Rahmen der Revision vor, § 72a ArbGG. Die Begründung des Regierungsentwurfs des Zivilprozessreformgesetzes verweist im Rahmen der revisionsrechtlichen Nichtzulassungsbeschwerde jedoch neben dem ArbGG auch auf das SGG und die VwGO.69 Bereits aus diesem Grund erscheint eine einseitige Fixierung auf das ArbGG fragwürdig. Darüber hinaus ist das praktische Bedürfnis einer berufungsrechtlichen Nichtzulassungsbeschwerde im arbeitsgerichtlichen Verfahren gering. Denn in Kündigungssachen ist die Berufung gemäß § 64 Abs. 2 lit. c) ArbGG immer statthaft;70 ferner werden in der arbeitsgerichtlichen Praxis nur sehr wenige Verfahren durch ein für die Berufung erforderliches streitiges Urteil entschieden.71
Die VwGO sieht demgegenüber in den oben genannten grundrechtsrelevanten Fällen stets eine Berufungszulassung durch das Berufungsgericht vor; eine Nichtzulassungsbeschwerde erübrigt sich damit. Das SGG enthält in § 145 ausdrücklich eine berufungsrechtliche Nichtzulassungsbeschwerde. Diese beruht auf dem Gesetz zur Entlastung der Rechtspflege vom 11. Januar 1993,72 dessen Begründung die systematische Parallelität der Berufungs- und der Revisionszulassung wie folgt rechtfertigt:
„§ 141 [betreffend die Zulassung der Berufung] stellt sicher, dass in grundsätzlich bedeutsamen und schwierigen Sachen die Berufung zur Verfügung steht. Ist sie nicht statthaft, kann auch die Revision nicht eingelegt werden.“73
Im besonderen Teil der Begründung heißt es:
„Die Nichtzulassung einer Berufung kann mit der Nichtzulassungsbeschwerde nach § 142 gerügt werden. Die Beteiligten haben es damit in der Hand, die zweite Instanz wenigstens im Beschwerdewege einzuschalten.“74
Konzeptionell entspricht der Entwurf an dieser Stelle der Verwaltungsgerichtsordnung vom 21. Januar 1960.75 Diese kannte in ihrer ursprünglichen Fassung allein eine Zulassungsrevision und sah zugleich eine Zulassungsberufung mit teilweise identischen Zulassungsgründen vor; darunter auch den Fall, dass „die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat“. Die Gesetzesmaterialien der Verwaltungsgerichtsordnung betonen das Ziel, die Berufung und die Revision hinsichtlich ihrer Zulassungssystematik einander anzugleichen. Die Nichtzulassungsbeschwerde erfülle sowohl im Fall der Berufung als auch im Fall der Revision den Zweck, eine „einheitliche Handhabung der Zulassung zu erreichen“.76
Im Gegensatz hierzu treten die geltende Zulassungsrevision und die Nichtzulassungsbeschwerde des arbeitsgerichtlichen Verfahrens historisch an die Stelle einer Divergenzrevision. Der Gesetzgeber empfand diese Regel mit der Zeit jedoch als zu weitreichend, da sie keine isolierte Prüfung einer Rechtsprechungsdivergenz erlaubte und regelmäßig zu Verfahrensverzögerungen führte.77 Die Zulassungsgründe der arbeitsgerichtlichen Revision schränken diese daher konzeptionell ein, während die Zulassungssysteme der VwGO und des SGG einen konzeptionell erweiternden Charakter haben.78 Die Zulassungsberufung gemäß § 511 Abs. 2 Nr. 2, Abs. 4 ZPO erfüllt nach dem Konzept des Reformgebers ebenfalls den Zweck, das bestehende System der beschwerdewertgebundenen Berufung zu ergänzen. Den Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 511 Abs. 4 S. 1 Nr. 1 ZPO und § 543 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 ZPO) definierte der Reformgeber ausdrücklich mit Verweis auf die Verfahrensgrundrechte:
„Hierher gehören vor allem die Fälle, in denen Verfahrensgrundrechte, namentlich die Grundrechte auf Gewährung des rechtlichen Gehörs und auf ein objektiv willkürfreies Verfahren, verletzt sind und deswegen Gegenvorstellung erhoben (BGH JZ 2000, 526) und Verfassungsbeschwerde eingelegt werden könnte.“79
Aufgrund des zwingenden Nacheinanders von Berufung und Revision dient die Zulassungsberufung zugleich als „Passierschein“80 zum Bundesgerichtshof. Es stellt sich damit zwangsläufig die Frage, wie die Zulassungsberufung ihren Zweck ohne das Korrektiv einer Nichtzulassungsbeschwerde umfassend erfüllen kann.
Der Gesetzgeber des Zivilprozessreformgesetzes sah die Antwort noch in der Statthaftigkeit außergerichtlicher Rechtsbehelfe.81 Angesichts der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Rechtssicherheit und zur Rechtsmittelklarheit wurde diesem Ansatz jedoch nachträglich die Grundlage entzogen. Die entstandene Schutzlücke steht im Widerspruch zum Konzept des Reformgebers. Unabhängig davon erachtet es das Bundesverfassungsgericht in seiner neueren Rechtsprechung als eigenständigen Verstoß gegen Prozessgrundrechte, wenn das erkennende Gericht ein Rechtsmittel trotz Vorliegens eines Zulassungsgrundes – etwa in Form einer vorangegangenen Verfahrensgrundrechtsverletzung – nicht zulässt.82 Die Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde knüpft das Bundesverfassungsgericht zudem an die Voraussetzung, dass die beschwerdeführende Partei die Zulassung der Berufung im Eingangsverfahren wenigstens angeregt hat.83
Auf diese Weise stärkt das Bundesverfassungsgericht zwar die fachgerichtlichen Rechtsschutzmechanismen und verdeutlicht, dass die Berufung ein geeignetes Rechtsmittel zur Behebung von Verfahrensgrundrechtsverstößen ist. Gleichzeitig überspannt das Gericht aber den gesetzlichen Umfang prozessualer Rügeobliegenheiten (§ 295 ZPO).84 Rechtssichere Abhilfe böte allein eine förmliche Institutionalisierung jener Rügeobliegenheit in Form einer berufungsrechtlichen Nichtzulassungsbeschwerde.
Während die Notwendigkeit und die systematischen Voraussetzungen einer berufungsrechtlichen Nichtzulassungsbeschwerde zum Schutz der Verfahrensgrundrechte außer Zweifel stehen dürften, ist fraglich, ob und auf welche Weise eine entsprechende Rechtsänderung erwartet werden kann. Ein Rechtsanwalt, der im Interesse seiner Mandanten den „sichersten Weg“ zu beschreiten hat, wird anstelle einer Analogie regelmäßig zur Verfassungsbeschwerde raten. Gemäß den Geboten der Rechtssicherheit und der Rechtsmittelklarheit bedürfen außerdem die konkreten Voraussetzungen und Folgen einer berufungsrechtlichen Nichtzulassungsbeschwerde einer näheren Klärung. Sollte sich jedoch die langfristige Diskussion über eine Anhebung des berufungsrechtlichen Beschwerdewertes verdichten,85 wird sich spätestens auch der Gesetzgeber diesen Fragen stellen müssen.
Die vorangegangenen Ausführungen führen zu den folgenden Thesen:
Der Schutz der Verfahrensgrundrechte in zivilprozessualen Bagatellstreiten entspricht gegenwärtig weder der verfassungsrechtlichen Gewährleistung fachgerichtlichen Rechtsschutzes noch den Geboten der Rechtssicherheit und der Rechtsmittelklarheit.
In Form ihres unvollkommenen Schutzsystems unterscheidet sich die ZPO von der VwGO, dem SGG und dem historisch prägenden französischen Recht.
Die in der Rechtsprechung und der wissenschaftlichen Literatur vertretenen Lösungsansätze auf Grundlage von § 321a ZPO analog und § 579 Abs. 1 Nr. 4 ZPO analog sind nicht geeignet, die bestehende Schutzlücke etwa im Hinblick auf den allgemeinen Justizgewähranspruch, den Grundsatz eines fairen Verfahrens oder das Willkürverbot effektiv zu schließen.
Als systemkonforme Lösung kommt eine Übertragung der bislang nur im Rahmen der zivilprozessualen Revision gesetzlich vorgesehenen Nichtzulassungsbeschwerde zum Schutz der Verfahrensgrundrechte in Betracht.
Die Vereinbarkeit der Nichtzulassungsbeschwerde mit der zivilprozessualen Berufung folgt aus einer historisch-vergleichenden Analyse der genannten Verfahrensordnungen und der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts; das Fehlen einer berufungsrechtlichen Nichtzulassungsbeschwerde im Rahmen des ArbGG führt zu keinem anderen Ergebnis.
* Der Beitrag gibt ausschließlich die private Ansicht des Verfassers wieder. — 1 So bereits Voßkuhle, Erosionserscheinungen des zivilprozessualen Rechtsmittelsystems, NJW 1995, 1377 (1378). — 2 Zur Terminologie siehe Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, III/1, München 1988, S. 359 f. — 3 Schriftlicher Bericht des Abgeordneten Zinn über den Abschnitt IX. Die Rechtsprechung, in: Schriftlicher Bericht zum Entwurf des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland (Drucksachen Nr. 850, 854), Anlage zum stenographischen Bericht der 9. Sitzung des Parlamentarischen Rates am 6. Mai 1949, S. 43 (49); hierzu Stern (Fn. 2), S. 1460 ff. — 4 Instruktiv BVerfG NJW 2003, 1924 (1924 f.). — 5 Hierzu Uhle, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Heidelberg 2013, § 129 (Rechtsstaatliche Prozessgrundrechte und -grundsätze), Rn. 8 u. 10. — 6 BVerfGE 9, 124 (130). — 7 BVerfGE 9, 89 (95); ausdrücklich BVerfGE 26, 66 (71). — 8 Grundlegend BVerfG NJW 1974, 1499 (1501); hierzu Lorenz, Grundrechte und Verfahrensordnungen, NJW 1977, 865 (870); siehe ferner die statistischen Nachweise bei Schumann, Die Wahrung des Grundsatzes des rechtlichen Gehörs – Dauerauftrag für das BVerfG?, NJW 1985, 1134 (1135). — 9 Siehe insbesondere Schumann, Bundesverfassungsgericht, Grundgesetz und Zivilprozeß, Köln u. a. 1983 passim. — 10Heinze, Zivilprozessrecht unter europäischem Einfluss, JZ 2011, 709 (713); Schulz-Arenstorff, Rechtsschutz gegen judikatives Unrecht in nicht mehr rechtsmittelfähigen Zivilgerichtsverfahren, Berlin 2013, S. 168. — 11Manssen, Staatsrecht II Grundrechte, 12. Aufl., München 2015, Rn. 787 ff. — 12Uhle, in: Merten/Papier (Fn. 5), § 129, Rn. 59 ff. — 13Löhr, Prozeßgrundrechte in Deutschland, Frankreich und England, Berlin 2012, S. 74 ff. — 14Calliess, Der Richter im Zivilprozess – Sind ZPO und GVG noch zeitgemäß?, Gutachten A zum 70. Deutschen Juristentag, München 2014, S. A 7 f. und A 43 ff. — 15Schneider, Die Grundrechte im Prozess, ZAP Fach 13 (22/2008), 1547 (1547). — 16Bäcker, Rechtsschutz gegen gerichtliche Verfahrensfehler als grundrechtliches Gebot, EuGRZ 2011, 222 (223). — 17 BVerfG NJW 2014, 205 (205) m. w. N.; zuvor bereits BVerfG NJW 1988, 2787 (2787) und BVerfG NJW 2005, 814 (815). — 18 Aus jüngerer Zeit etwa BVerfG NJW 2014, 3213 (3213) und BVerfG NJW 2014, 3147 (3147). Dass die Grenzen auch insofern fließend sein können, verdeutlicht BVerfG NJW 2014, 291 (291). — 19Uhle, in: Merten/Papier (Fn. 5), § 129, Rn. 54. — 20 Siehe Schellhammer, Zivilprozessrecht – Gesetz – Praxis – Fälle, 14. Aufl., Heidelberg 2014, Rn. 9 ff.; ferner Schneider, Die Kammerrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Verfahrensrecht, ZAP Fach 13 (9/2011), 1695 (1697); siehe außerdem Geisler, Der Zivilprozess lebt – die neueste Rechtsprechung des BGH, AnwBl. 2012, 854 (858 ff.). — 21 Vgl. BVerfG NJW 1976, 1837 (1838); zum Begriff siehe auch Voßkuhle (Fn. 1), NJW 1995, 1377 (1378) m. w. N. — 22 Während die Begründung des Bundesverfassungsgerichts zunächst von der Sorge einer Überlastung getragen war (vgl. BVerfG 1976, 1837 [1838]), traten grundrechtsdogmatische Aspekte zunehmend in den Vordergrund (vgl. BVerfG NJW 2003, 1924 [1926 f.] und BVerfG NJW 2003, 3687 [3688]). — 23 Zitiert nach Reuschle, Zivilprozessordnung 2002, 2. Aufl., München 2002. — 24 So bereits BVerfG NJW 1976, 1837 (1838) und Schumann (Fn. 8), NJW 1985, 1134 (1136) sowie Voßkuhle (Fn. 1), NJW 1995, 1377 (1381); siehe außerdem BVerfG 1993, 1635 (1635) sowie BVerfGK 6, 239 (239 f.) und BVerfG NJW 2014, 291 (291); speziell zum Verfahren nach § 495a ZPO siehe BVerfG AnwBl. 2009, 150 (151) und BVerfG NJW 2012, 2262 (2262). — 25 Ausführliche Rechtsprechungsnachweise bei Voßkuhle (Fn. 1), NJW 1995, 1377 (1379). — 26 Der Bundesgerichtshof und das Bundesverfassungsgericht stützten ihre Rechtsprechung auf eine analoge Anwendung von § 513 Abs. 2 ZPO a. F. (zitierte Norm nach Reuschle [Fn. 23]) und forderten hiernach eine der Säumnis vergleichbare Situation; siehe BGH NJW 1990, 838 (838) und BVerfG NJW 2001, 746 (746). — 27 Grundlegend BGH NJW 1959, 436 (436); zum Anwendungsbereich der „außerordentlichen Beschwerde“ siehe BGH NJW 1989, 2758 (2758) und BGH NJW 1999, 290 (290). Weitere Rechtsprechungsnachweise bei Voßkuhle (Fn. 1), NJW 1995, 1377 (1380). — 28 Gesetz zur Reform des Zivilprozesses (Zivilprozessreformgesetz – ZPO-RG) vom 27. Juli 2001, BGBl. 2001 I, S. 1887 ff. — 29 BGH NJW 2002, 1577 (1577); hierzu etwa Roth, Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Zivilprozeßrecht – Teil 2, JZ 2009, 237 (247). — 30 BVerfG NJW 2003, 1924 (1928); bestätigt durch BVerfG NJW 2003, 3687 (3687). Siehe auch BVerfG NJW 2007, 2538 (2539). — 31 EGMR, Urteil vom 2. September 2010 (Rumpf/Deutschland), NJW 2010, 3355 (3358); hierzu Magnus, Das neue Gesetz über Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren, ZZP 125 (2012), 75 (77 f.). — 32 Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren vom 24. November 2011, BGBl. 2011 I, S. 2302 ff.; siehe hierzu die Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung, BT-Drucks. 17/3802, S. 15 und 22 f. — 33 Grundlegend für die Rechtslage nach dem Inkrafttreten des Zivilprozessreformgesetzes BGH NJW 2002, 1577 (1577); siehe ferner BGH NJW 2004, 2529 (2529) und BGH NJW-RR 2007, 1295 (1295). Zur Anerkennung der Gegenvorstellung durch das Bundesverfassungsgericht siehe BVerfG NJW 2003, 1924 (1927) und BVerfG NJW 2009, 829 (830). — 34 BVerfG NJW 2003, 1924 (1926 f.). — 35 So auch Voßkuhle, Bruch mit einem Dogma: Die Verfassung garantiert Rechtsschutz gegen den Richter, NJW 2003, 2193 (2197); Nassall, Anhörungsrügengesetz – Nach der Reform ist vor der Reform, ZRP 2004, 164 (168); Raeschke-Kessler, Die Rechtsmittelreform im Zivilprozess von 2001 – ein Fortschritt?, AnwBl. 2004, 321 (323); Kettinger, Die Verletzung von Verfahrensgrundrechten – Die Flucht des Gesetzgebers vor seiner Verantwortung, ZRP 2006, 152 (153); anders die Begründung des Gesetzentwurfs (Parlamentsentwurf), Gesetz über die Rechtsbehelfe bei Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Anhörungsrügengesetz), BT-Drucks. 15/3706, S. 14. — 36 BVerfG NJW 2003, 3687 (3688). — 37 BVerwG NVwZ-RR 2011, 709 (709); anders wohl BGH NJW 2002, 1577 (1577). — 38 BVerfG NJW 2009, 829 (830 ff.). — 39 BVerfG a. a. O.; ferner Braun, Lehrbuch des Zivilprozeßrechts, Tübingen 2014, S. 1066. — 40 So BVerfG 2013, 3506 (3508). Stützt sich eine Partei im Rahmen einer Gegenvorstellung ausschließlich auf eine Gehörsverletzung, kommt im Rahmen der Verfassungsbeschwerde eine Interpretation des Behelfs als Anhörungsrüge in Betracht; siehe BVerfG NJW 2014, 991 (992). — 41 So bereits BVerfG NJW 2005, 3059 (3059); vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 17. Januar 2013 – 1 BvR 1578/12 (juris); kritisch Peters/Markus, Die Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde, JuS 2013, 887 (890). — 42 BVerfG NJW-RR 2008, 75 (75). — 43 BVerfG NJW 2003, 1924 (1928); BVerfG NJW 2009, 829 (830). — 44Jauernig/Hess, Zivilprozessrecht, 30. Aufl., München 2011, § 29, Rn. 12. — 45 Siehe BGH NJW 2002, 1577 (1577) und BGH NJW 2005, 143 (144): „(fristgebundene) Gegenvorstellung“; zum Ganzen Musielak, in: Musielak/Voit (Hrsg.), Zivilprozessordnung, 12. Aufl., München 2015, § 321a, Rn. 6. — 46 So Braun (Fn. 39), S. 1058 f. im Hinblick auf den Schutz des rechtlichen Gehörs. Bezüglich sonstiger Verfahrensgrundrechtsverletzungen siehe Warga, Die Verletzung von Verfahrensgrundrechten im Zivilprozess und ihre Korrektur nach Eintritt der Rechtskraft, Hamburg 2008, S. 109 f. — 47 BT-Drucks. 15/3706 (Fn. 35), S. 14. — 48 BVerfG NJW 2003, 1924 (1927). — 49 Gesetzentwurf der Bundesregierung, Gesetz zur Reform des Zivilprozesses, BT-Drucks. 14/4722, S. 85. — 50 Siehe Voßkuhle (Fn. 35), NJW 2003, 2193 (2197) und Zuck, Rechtsstaatswidrige Begründungsmängel in der Rechtsprechung des BGH, NJW 2008, 479 (480); Kettinger, Die Verfahrensgrundrechtsrüge, Hamburg 2007, S. 256 u. 284 f.; ferner Schreiner, Die Zulassungsberufung in Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO), Zivilprozessordnung (ZPO) und Arbeitsgerichtsgesetz (ArbGG), Hamburg 2010, S. 24. — 51 Gesetzentwurf der Bundesregierung, Gesetz zur Bereinigung des Rechtsmittelrechts im Verwaltungsprozess (RmBereinVpG), BT-Drucks. 14/6393, S. 12. — 52Hahn (Hrsg.), Die gesamten Materialien zur Civilprozeßordnung und dem Einführungsgesetz zu derselben vom 30. Januar 1877, Erste Abtheilung, Berlin 1880, S. 379. — 53 Vgl. § 472 CPO, anders die Statthaftigkeit der Revision gemäß § 508 CPO; zitierte Vorschriften nach von Kräwel, Die Deutsche Civilprozeßordnung unter Einschaltung der dahin gehörigen Vorschriften des Gerichtsverfassungsgesetzes, Leipzig 1877. — 54 Zitierte Vorschriften nach von Kräwel a. a. O. — 55Hahn (Fn. 52), S. 378. — 56 So zum Grundsatz des rechtlichen Gehörs bereits Rosenberg, Lehrbuch des Deutschen Zivilprozeßrechts, Berlin 1927, S. 447 f.; zum geltenden Recht siehe Ball, in: Musielak/Voit (Fn. 45), § 547, Rn. 19. — 57 Der erforderliche Streitwert liegt gegenwärtig bei über 4.000 EUR. — 58 So bereits Bioche, Dictionnaire de procédure civile et commerciale, Band I (A – C), 2. Auflage, Paris 1839, Cassation, Rn. 7; ferner Boucard, in: Labic (Begr.) / Perrot u. a. (Hrsg.), Juris-Classeur Procédure civile, Fasc. 755 (Stand: 2015), Rn. 1 – 56. — 59Hahn (Fn. 52), S. 141. — 60 Verordnung zur Entlastung der Gerichte vom 9. September 1915, RGBl. Nr. 121 vom 11. September 1915, S. 561 ff. — 61 Verordnung zur Beschleunigung des Verfahrens in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten vom 22. Dezember 1923, RGBl. Nr. 133, S. 1239 ff. Die Beschränkung des Wiederaufnahmegrundes auf Verletzungen des rechtlichen Gehörs kann rückblickend mit dem noch nicht sehr weit fortgeschrittenen Entwicklungsstand der Verfahrensgrundrechte begründet werden. Insbesondere der Grundsatz des rechtlichen Gehörs wurde im Zivilverfahrensrecht des frühen 20. Jahrhunderts in erster Linie als Voraussetzung eines kontradiktorischen Prozesses und weniger als individualschützend verstanden; vgl.Hellwig, System des deutschen Zivilprozeßrechts, Teil 1, Leipzig 1912 (Neudruck, Aalen 1968), S. 407 f.; zur nachfolgenden Gesetzesentwicklung siehe Braun (Fn. 39), S. 1059 m. w. N. — 62 Gesetz zur Vereinfachung und Beschleunigung gerichtlicher Verfahren (Vereinfachungsnovelle) vom 3. Dezember 1976, BGBl. 1976 I, S. 3281 ff. — 63Braun (Fn. 39), S. 1059 leitet für das geltende Recht aus § 579 Abs. 3 ZPO a. F. eine analoge Anwendung des § 579 Abs. 1 Nr. 4 ZPO auf (sonstige) Gehörsverletzungen ab; in überzeugender Weise dagegen Pickenpack, Rechtsschutz bei Verletzung von Verfahrensgrundrechten und bei Untätigkeit der Gerichte, Frankfurt a.M. u. a., S. 16 m. w. N. Ergänzend ist anzumerken, dass der Gesetzgeber im Zuge der Schaffung des § 495a ZPO, einer Nachfolgeregelung des vormaligen Schiedsverfahrens, ausdrücklich die Wahrung des rechtlichen Gehörs betonte, jedoch keinen gesonderten Rechtsbehelf zu dessen Wahrung einführte; siehe den Gesetzentwurf des Bundesrates, Gesetz zur Entlastung der Zivilgerichte, BT-Drucks. 11/4155, S. 11. — 64Bléry, Appel-nullité et appel pour excí¨s de pouvoir ou restauré : persistance de la confusion dans le vocabulaire … et les notions, Procédures 4/2012 (Focus), n° 12 m. w. N. auch zu den jüngeren Bestrebungen, den Anwendungsbereich des appel-nullité einzuschränken. — 65Bierschenk, Die zweite Instanz im deutschen und französischen Zivilverfahren – konzeptionelle Unterschiede und wechselseitige Schlussfolgerungen, Tübingen 2015 S. 186 ff., 200 ff. — 66 Grundlegend BVerfG NJW 1955, 17 (18 f.). — 67 BVerfG NJW 2003, 1924 (1924). — 68 So Meyer-Seitz, in: Hannich/Meyer-Seitz (Hrsg.), ZPO-Reform 2002 mit Zustellungsreformgesetz, München 2002, § 511, Rn. 22. — 69 BT-Drucks. 14/4722 (Fn. 49), S. 105. — 70 Gesetzentwurf des Bundesrates, Gesetz zur Vereinfachung und Beschleunigung des arbeitsgerichtlichen Verfahrens (Arbeitsgerichtsbeschleunigungsgesetz), BT-Drucks. 14/626, S. 10. — 71 Vgl. Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Fachserie 10, Reihe 2.8 (Rechtspflege – Arbeitsgerichte 2012), Wiesbaden 2013, Tabelle 2.1.1, Posten 48 f. und Fachserie 10, Reihe 2.1 (Rechtspflege – Zivilgerichte 2012), Wiesbaden 2013, Tabelle 2.1.2, Posten 25 u. 28. — 72 Gesetz zur Entlastung der Rechtspflege vom 11. Januar 1993, BGBl. 1993 I, S. 50 ff. — 73 Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung, Gesetz zur Entlastung der Rechtspflege, BT-Drucks. 12/1217, S. 51 f. mit Verweis auf den Gesetzentwurf der Bundesregierung einer Verwaltungsprozessordnung (VwPO), BT-Drucks. 10/3437, S. 66. — 74 BT-Drucks. 10/3437 (Fn. 73), S. 146. — 75 Verwaltungsgerichtsordnung vom 21. Januar 1960, BGBl. 1960 I, S. 17 ff. — 76 Siehe die Begründungen sämtlicher Regierungsentwürfe: BT-Drucks. 1/4278, S. 48, BT-Drucks. 2/462, S. 46 und BT-Drucks. 3/55, S. 46 u. 58 sowie den entsprechenden Bericht des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages, BT-Drucks. 3/1094, S. 12. — 77 Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung, Gesetz zur Beschleunigung und Bereinigung des arbeitsgerichtlichen Verfahrens, BT-Drucks. 8/1567, S. 35. — 78 Vgl. auch BSG, Beschluss vom 16.11.2000 – B 4 RA 122/99 B (juris). — 79 BT-Drucks. 14/4722 (Fn. 49), S. 104. — 80Rimmelspacher, in: Rauscher/Krüger (Hrsg.), Münchener Kommentar zur Zivilprozessordnung, Band 2 (§§ 355 – 1024), 4. Aufl., München 2012, § 511, Rn. 61 u. 67 f.; ferner BT-Drucks. 14/4722 (Fn. 49), S. 61 u. 93. — 81 Vgl. BT-Drucks 14/4722 (Fn. 49) a. a. O. — 82 Zur Berufung siehe BVerfG NJW 2004, 2584; NVwZ 2009, 515; NZI 2014, 975; WM 2014, 251; zur Beschlusszurückweisung der Berufung siehe BVerfG NJW 2005, 1931; NJW 2011, 2276; NJW 2012, 2869; NJW 2013, 2881; zu Revision und Nichtzulassungsbeschwerde siehe BVerfG NJW-RR 2008, 26; NJW 2011, 2276; WM 2013, 15. — 83 BVerfG, Beschluss vom 21.11.2012 – 2 BvR 2432/12 (juris); hierzu Peters/Markus (Fn. 41), JuS 2013, 887 (889). In eine ähnliche Richtung tendiert BVerfG NJW 2005, 1413 (1414): „alle Mittel des Prozessrechts“. — 84 Kritisch bereits Bender, Rügepflicht für Verfassungsverstöße vor den Fachgerichten? Zu einer angenommenen Vorwirkung des Verfassungsprozeßrechts, AöR 112 (1987), 169 passim. — 85 Vgl. den Gesetzentwurf des Bundesrates, Gesetz zur Änderung der Zivilprozessordnung und des Arbeitsgerichtsgesetzes, BR-Drucks. 439/07(B) und gleichlautend BR-Drucks. 261/10; siehe ferner aus jüngerer Zeit Hill, 40 Vorschläge für einen effektiveren Zivilprozess, DRiZ 2015, 46 (47) mit Verweis auf die offene Arbeitsgruppe „Verfahrenserleichterungen im Zivilprozessrecht“ der Justizministerien der Länder.
Linda-Sue Blazko
I. Einführung
II. Reformbedarf: geschichtliche Entwicklung
III. Verfahrensspezifisches Verständnis
1. Begriff der Öffentlichkeit
2. Verfahrensspezifisches Verständnis
IV. Straftheoretische Präzisierung
1. Straftheorie und Verfahren
2. Die Straftheorien und der Öffentlichkeitsgrundsatz
a) Spezial- und generalpräventive Ansätze
b) Retributive Theorien
c) Vereinigende Straftheorien
V. Konsequenz
1. Einheitliche Richtlinie zum Umgang der Justiz mit den Medien
2. Videoübertragung für Pressevertreter
3. Sonstiges
VI. Fazit
Die Tagung stand unter der Frage nach der Einheit des Prozessrechts. Diese Frage stellt sich generell sowie an speziellen Schnittmengen der Verfahrensordnungen. Im Folgenden wird sie bzgl. des Öffentlichkeitsgrundsatzes in den Blick genommen. Kaum ein anderes Verfahrensprinzip scheint derart übergreifende Bedeutung zu beanspruchen wie der Öffentlichkeitsgrundsatz. Diese Verfahrensmaxime hat Eingang in nahezu sämtliche Verfahrensordnungen, national wie international, gefunden. Auf den ersten Blick ist der Öffentlichkeitsgrundsatz mithin ein Paradebeispiel für die Einheit des Prozessrechts.
Hierbei ist jedoch bereits in der nahezu regelmäßig aufflammenden Diskussion um dieses Verfahrensprinzip zu erkennen, dass es im Strafverfahren besondere Relevanz haben könnte. Aktuell steht es aufgrund der Akkreditierungsschwierigkeiten im sog. „NSU-Prozess“ vor dem OLG München im Fokus. Aber ebenso durch Verfahren gegen bekannte Persönlichkeiten wie den ehemaligen Manager des FC Bayern Münchens Ulrich Hoeneß1 oder den Meteorologen Jörg Kachelmann2.
Ausgehend von der Feststellung des Reformbedarfs stellt sich die Frage, wie Öffentlichkeit eigentlich zu verstehen ist und ob der Öffentlichkeitsgrundsatz tatsächlich ein in allen Verfahren gleiche Geltung beanspruchendes Prinzip ist. Dies verneinend ist sodann zu klären, auf welcher Basis im Strafverfahren die Öffentlichkeit präzisiert werden kann. Der Vortrag zeigt, dass auf einer straftheoretischen Grundlage Platz für ein weitergehendes Verständnis von Öffentlichkeit ist, das sich als „regulierte Medienöffentlichkeit“ bezeichnen lässt.
Der auf die Zeit des römischen Rechts zurückführbare Öffentlichkeitsgrundsatz ist ein Beispiel für die Fortentwicklung des Rechts mit der Gesellschaft und der Kultur. Der Öffentlichkeitsgrundsatz muss sich wie das Recht im Gesamten mit der Gesellschaft fortbewegen.3
Im Laufe der Geschichte hat sich die Öffentlichkeit der Gerichtsverfahren von einem Extrem – der zwingend notwendigen, vollständigen Öffentlichkeit zur Zeit der germanischen Stämme4 – über das andere Extrem – dem vollständigen Ausschluss der Öffentlichkeit zur Zeiten der Inquisition5 – auf eine gemäßigte Öffentlichkeit eingependelt. Der heutzutage in § 169 GVG normierte Öffentlichkeitsgrundsatz kann hierbei als Reaktion auf die geheimen Inquisitionsverfahren und als Teil der Aufklärung gesehen werden.6 Auffällig bei der Betrachtung der historischen Entwicklung ist, dass seit der Normierung des Öffentlichkeitsgrundsatzes im Jahre 1879 eine fortschreitende Einschränkung der Maxime zu beobachten ist. Die letzte erhebliche und seither umstrittene Begrenzung datiert auf das Jahr 1964 zurück, als das Verbot von Ton- und Filmaufnahmen zum Zwecke öffentlicher Vorführung in § 169 S. 2 GVG eingeführt wurde.7 Ihr war eine intensive Debatte um die Öffentlichkeitsmaxime vorausgegangen, welche letztlich durch eine wortstarke Gruppe angesehener Juristen/Richter zum absoluten Ausschluss der Aufnahmen führte.8 Die Hitze der Diskussion erlosch und kam erst durch das nach dem Kriegsende bedeutendste politische Ereignis wieder in Gang: die Wiedervereinigung. Dies gründete auf dem erheblichen öffentlichen Interesse an den Strafverfahren gegen Erich Honecker und das Politbüro. Hierbei wird deutlich, dass die Debatte zumeist durch Verfahren von politischer Brisanz oder gesellschaftlich herausragender Bedeutung aufflammt. Dabei darf nicht außer Acht gelassen werden, dass derartige Verfahren kaum verallgemeinerungsfähig sind. Dennoch gaben diese den Impuls für eine grundlegende Diskussion. In diesem Zusammenhang beschäftigte sich auch das Bundesverfassungsgericht mit der Öffentlichkeitsmaxime, konkret mit der Verfassungsmäßigkeit des bedingungslosen Ausschlusses der Ton- und Bildübertragung. Trotz der liberalen Handhabung des Bundesverfassungsgerichts seit der 1970er Jahre, konstatierte es die Verfassungsmäßigkeit des § 169 S. 2 GVG.9 Dessen ungeachtet kam es für Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht legislativ zu einer Lockerung des absoluten Verbots. Mit der Einführung von § 17a BVerfGG im Jahre 1998 wurden Ton- und Bildaufnahmen teilweise zugelassen.10
Seit gut 50 Jahren ist bzgl. der Verfahrensöffentlichkeit ein nahezu völliges Erliegen bzw. ein Stillstand der Gesetzgebung festzustellen. Änderungen in diesem Bereich betreffen stets nur Randbereiche und sind allenfalls restriktiv in ihrer Wirkung. Mittelbar wird der Öffentlichkeitsgrundsatz ebenfalls beschränkt. So hat die Ausweitung des Deals – auch aufgrund der damit einhergehenden Beschränkung der Öffentlichkeit – zur verfassungsrechtlichen Prüfung des § 257c StPO geführt. Das Verfassungsgericht urteilte, dass die Vorschrift unter Wahrung enger Voraussetzungen noch mit der Verfassung vereinbar sei.11 Der Öffentlichkeitsgrundsatz selbst wurde jedenfalls nie tangiert und bedeutende unmittelbare Einschränkungen sind für die letzten Dekaden nicht zu erkennen. Indes war eine derart grundlegende Veränderung der Gesellschaft durch die Entwicklung des (mobilen) Internets und der damit einhergehenden Medialisierung, zuletzt durch vergleichbare Entwicklungen wie das Radio oder Fernsehen, zu verzeichnen. Es handelt sich um einen Paradigmenwechsel der Gesellschaft.12 Diese enorme Entwicklung steht dem Stillstand des Öffentlichkeitsgrundsatzes konträr gegenüber. Der Verfahrensgrundsatz der Öffentlichkeit der Verhandlung ist somit grundlegend reformbedürftig.
Neben der Medialisierung ist eine zweite Entwicklungslinie zu verzeichnen. Hierbei handelt es sich um eine wachsende Spezifikation und Spezialisierung in allen gesellschaftlichen Bereichen. An der Rechtsprechung ist dies nicht vollständig vorübergegangen.13 Die Bedürfnisse der Verfahrensbeteiligten und die Rechtsordnung haben sich im Laufe der Zeit feiner ausgeprägt. Dies verdeutlicht die steigende Anzahl an Spezialzuständigkeiten. Ein einheitliches Verfahrensrecht ist daher kaum vorstellbar. Dennoch soll gerade ein Grundsatz wie der der Öffentlichkeit des Verfahrens übergreifend für jede Gerichtsbarkeit und jedes Verfahren seit Jahrzehnten in gleichem Maße gelten?!
Ausgangspunkt zur Klärung der Frage, welche Maßnahmen erforderlich und ausreichend sind, um Gesellschaft und Verfahrensprinzip wieder in Einklang zu bringen, ist der Begriff der Öffentlichkeit.
Öffentlichkeit ist ein wertungsoffener und damit eminent politischer Begriff, dessen Konkretisierung mit der Entwicklung der Gesellschaft mithalten muss.14 In den letzten Jahrzehnten wurde es versäumt, das Öffentlichkeitskonzept der Entwicklung zu einer multimedialen Gesellschaft anzupassen. Unweigerlich stellt sich die Frage, ob und inwieweit die Verfahrensöffentlichkeit dieser Entwicklung Rechnung tragen kann, soll oder muss.
Erster Anhaltspunkt zur Präzisierung des heutigen Öffentlichkeitsgrundsatzes kann die Frage nach dessen Funktion bieten. Aus dieser Perspektive ist festzuhalten, dass eine Verschiebung der Hauptfunktion der Öffentlichkeitsmaxime stattgefunden hat. Im Mittelpunkt steht nicht mehr die Kontrolle der Justiz.15 Diese ist vielmehr aufgrund rechtstaatlicher Mechanismen und des großen Vertrauens der Bevölkerung in die Justiz in den Hintergrund getreten.16 Wichtigste Funktion des Öffentlichkeitsgrundsatzes ist heutzutage die Information der Allgemeinheit, wobei Britz zu Recht einwendet, dass Kontrolle und Information in einem Wechselverhältnis stehen, weil Kontrolle ohne Information nicht möglich ist.17
Als zweiter Ansatz einer Konkretisierung drängt sich dem positivistisch geschulten Juristen das geschriebene Recht auf. Das einfache Recht und das Verfassungsrecht. Aber auch dieser Ansatz kann nur begrenzt zur Klärung beitragen. Zum einen zeigt das Verfassungsrecht nur die generelle Kollisionslage auf.18 Zum anderen spiegelt das einfache Recht nur Teilbereiche der Öffentlichkeit wider ohne ein generelles Verständnis zu fördern. Zudem liegen die letzten legislativen Ergänzungen in diesem Bereich weit zurück, so dass sie der heutigen medialen Gesellschaft nicht mehr Rechnung tragen können.
Ein Grund für den Rückstand des Verfahrensrechts könnte sein, dass ein wichtiges Entscheidungskriterium bislang keine hinreichende Berücksichtigung gefunden hat: die Straftheorie. Der Zusammenhang von Straftheorie und Öffentlichkeit ist nicht erst auf zweiter Ebene, der Frage der Verwirklichung der Straftheorie zu sehen, sondern bereits bei der Frage nach dem Inhalt des Prinzips von Bedeutung.19 Dies folgt daraus, dass das Strafverfahren und all seine Institutionen zumindest auch den Zweck verfolgen, den mit der Strafe verfolgten Zielen zu dienen, indem sie ihnen zur Geltung verhelfen, sie bekräftigen und verbreiten.20
Zur Präzisierung des Öffentlichkeitsbegriffs könnte ein verfahrensspezifisches Verständnis beitragen. Die Verfahrensarten haben sich verselbständigt und die jeweiligen (verfassungsrechtlichen) Kollisionslagen sind nicht vergleichbar. Im Strafverfahren sind die Friktionen der betroffenen Grund- und Verfahrensrechte besonders evident. Teilweise gründet dies darauf, dass sich auf das Strafverfahren das gesellschaftliche und mediale Interesse fokussiert.21 Diese Erkenntnis findet sich bereits früh in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, dessen 6. Strafsenat bereits 1956 ausführte: „Sie [die Allgemeinheit] bildet sich ihr Urteil über die Stellung der Justiz im öffentlichen Leben überwiegend nach dem Geist, in dem Strafrecht und Strafverfahrensrecht von den Gerichten gehandhabt werden.“22 Verstärkt werden die Friktionen durch die mediale Berichterstattung im Vorfeld der Verhandlung. Diese können im Strafverfahren insbesondere die Unschuldsvermutung und so auch das Recht auf ein faires Verfahren unterlaufen.23 Diese Grundsätze des Strafverfahrens tragen besonderes Konfliktpotential mit einer Medialisierung in sich.24 Verfahrensübergreifend wiederum stehen sich das allgemeine Persönlichkeitsrecht der Beteiligten und die Kommunikationsfreiheiten gegenüber. Allerdings ist es erneut das Strafverfahren, in welchen die einzelnen Positionen besonders eklatant aufeinander treffen. Das gesteigerte öffentliche Interesse am Strafprozess gründet im Wesentlichen auf zwei Komponenten. Zum einen ist ein sozial-psychologisches Element von Bedeutung. So trauen sich viele Menschen regelmäßig zu, beurteilen zu können, ob ein Verhalten Recht oder Unrecht ist und damit, ob dieses zu bestrafen ist.25 Ferner ist im Strafverfahren die Anteilnahme bzw. das Gefühl der eigenen Betroffenheit Teil dieses Elements.26 Zugleich ist das Gros der Bevölkerung bei strafrechtlichen Ermittlungen gegen sie selbst auf den eigenen Persönlichkeitsschutz besonders bedacht.27 Zum anderen gründet das besondere Interesse an Strafverfahren auf einer normative Komponente: Strafverfahren betreffen das Grundgefüge einer Gesellschaft. Der Rechtsbruch des Einzelnen stellt die Rechtsordnung im Gesamten in Frage.28 Insoweit ist das Gefühl der Betroffenheit oder Zuständigkeit daher auch berechtigt. Ferner wird das Strafverfahren den Beteiligten aufgebürdet und beruht nicht auf einem freiwilligen Entschluss, wie eine Klage vor den Zivilgerichten.29 Wurden noch 1964 Fernsehaufnahmen kategorisch ausgeschlossen, öffnete sich das Bundesverfassungsgericht hierfür im Jahr 1998 durch Einführung des § 17a BVerfGG. Schon damals wurde dies mit der besonderen Bedeutung des Bundesverfassungsgerichts und somit im Ergebnis mit einer Differenzierung des Prozessrechts begründet.30
Aufgrund dessen ist das Öffentlichkeitsprinzip verfahrensspezifisch zu präzisieren.31
Ausgehend von einem verfahrensspezifischen Verständnis kann nunmehr eine Annäherung an den Öffentlichkeitsgrundsatz im Strafverfahren gefunden werden. Wie bereits ausgeführt ist bislang der Straftheorie hierzu zu wenig Beachtung geschenkt worden.
Zur Klärung der Inhalte von Verfahrensprinzipien ist die Heranziehung der Grundlage des Strafrechts unentbehrlich. Die Frage nach dem Grund der Strafe sowie der Art und Weise des Verfahrens sind eng verknüpfte, in einem Wechselverhältnis stehende Elemente einer einheitlichen Rechtsordnung.
Einerseits ist es Aufgabe der Straftheorie „Institutionen des geltenden Rechts zu erklären und zu rechtfertigen“.32 Andererseits trägt das Verfahren entscheidend zur Verwirklichung des materiellen Strafrechts und somit implizit zur Erreichung straftheoretischer Ziele bei. Das Verfahren verfolgt unabhängig von der Straftheorie daher das Ziel der Beseitigung von Unsicherheiten zur Wiederherstellung des tatsächlichen sozialen Rechtsfriedens. Hegel führte bereits aus, dass sich erst im Strafverfahren das Strafrecht als Recht realisieren könne. Durch das Verfahren „hört die subjektive und zufällige Wiedervergeltung durch Rache (…) auf, und verwandelt sich in wahrhafte Versöhnung des Rechts mit sich selbst“.33
Aus dem letzten Aspekt wird wiederum deutlich, warum Straftheorie und Strafverfahren keine unabhängigen Größen sind. Dient das Verfahren der Wiederherstellung des Rechtsfriedens, dient es zugleich der Wiederherstellung des Rechts selbst, sei es durch Bestrafung oder durch Befreiung von dem aufgekommenen Verdacht.34
Ausgehend von der Frage der grundlegenden Bedeutung der Straftheorie für das Strafverfahren kann nunmehr dieser Zusammenhang für den Öffentlichkeitsgrundsatz nutzbar gemacht werden. Das Verhältnis von Straftheorie und Verfahrensöffentlichkeit hat Hassemer wie folgt akzentuiert: „(…) ohne Medien kann die Strafjustiz (…) ihre zentrale Aufgabe nicht erfüllen“.35
Die unterschiedlichen Straftheorien wirken sich verschieden auf die Umsetzung des Öffentlichkeitsgrundsatzes aus. Es zeigt sich, dass manche bereits nicht geeignet sind, die gegenwärtige Ausprägung von Öffentlichkeit zu erklären. Dies ist die Konsequenz daraus, dass einige Straftheorien bereits die Strafe, wie sie derzeit praktiziert wird, nicht erklären können. Die Ausgestaltung des Verfahrens, an dessen Ende über die Verhängung einer Strafe entschieden wird, können diese Theorien somit unweigerlich nicht präzisieren.
Für die Straftheorie kann indes nichts anderes als für das Recht im Gesamten gelten. Auch dieses Fundament des Strafrechts muss sich mit der Kultur, der Gesellschaft, für die es gilt, fortentwickeln.36 Neuere Linien prägen sich im Bereich einer retributiven, kommunikativen Straftheorie aus. Frisch sieht hierin „gravierende und irreversible Umbrüche im Bereich der Straftheorie“.37
Ein spezialpräventiv ausgerichtetes Verfahren müsste die Öffentlichkeit (faktisch) weitestgehend ausschließen. Der Täter muss entweder gebessert oder unschädlich gemacht werden. Seine Person wird in den Fokus genommen und daher ist allein seine Anwesenheit unentbehrlich für das Verfahren.38 Der Nachteil, den die (mediale) Öffentlichkeit für den Täter hätte, dessen Stigmatisierung und Entsozialisierung, würden den vordersten Zweck der spezialpräventiv begründeten Strafe – die Resozialisierung – erheblich gefährden.39 Tatsächlich führte der seit der Debatte rund um die Große Strafrechtsreform der 1960er Jahre bestehende Trend der Fokussierung der Spezialprävention zu einer fortschreitenden Begrenzung der Öffentlichkeit.40 Nicht nur unmittelbare Einschränkungen durch die Schaffung einzelner Ausschlusstatbestände sind zu verzeichnen. Mittelbar wurde die Öffentlichkeit durch die Ausdehnung des Strafbefehlverfahrens, der Einstellung aus Opportunitätsgründen sowie die gesetzliche Fundierung der Absprachen im Strafprozess begrenzt.41 Die Wahrung der Öffentlichkeit scheint insofern an Bedeutung verloren zu haben. Der Schutz vor der Öffentlichkeit wurde fokussiert.42 Das dieser Tendenz Einhalt zu gebieten ist, hat das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Frage der Verfassungsmäßigkeit des § 257c StPO gezeigt. Beanstandet wurde insbesondere die Beschränkung der Öffentlichkeit.43 Zu beachten ist weiter, dass die Funktion des Öffentlichkeitsgrundsatzes hierdurch untergraben wird. Er sichert vorrangig die Information der Allgemeinheit, wodurch auch die Kontrolle der Justiz ermöglicht wird. Spezialpräventiv lässt sich die heute praktizierte Öffentlichkeit weder in Form der unmittelbaren noch der mittelbaren erklären.
Generalpräventiv wäre hingegen eine größtmögliche Öffentlichkeit zu fordern, da es nicht um den Einzelnen geht, sondern um die Stärkung des Normvertrauens bzw. die Abschreckung der Allgemeinheit. Im Fokus steht nicht der Täter, sondern das künftige Verhalten Anderer sowie die Tat als Rechtsverletzung.44 Hierbei ist jedoch der Einwand der Verobjektivierung des Angeklagten und des Schauprozesses nicht von der Hand zu weisen. Unter Zugrundelegung generalpräventiver Aspekte müssten in der Regel die Kommunikationsfreiheiten Vorzug genießen. Denn nur bei hinreichend genauer Information der Allgemeinheit, kann diese ihr Verhalten an den gefundenen bzw. präzisierten Verhaltensregeln ausrichten.45
Sowohl die generalpräventiven als auch die spezialpräventiven Theorien geraten in Ambivalenz. Richterliche Entscheidungen, welche als ungerecht oder nicht nachvollziehbar eingestuft werden, können das Normvertrauen destabilisieren. Ebenso kann ohne öffentliches Forum eine Entsozialisierung nicht abgemildert, kein Verständnis für den Täter gewonnen werden. Der aufgezeigten Kollisionslage von Informationsfreiheit und allgemeinem Persönlichkeitsrecht wird insofern einseitig Rechnung getragen. Beiden Ansätzen fehlt ein Regulierungselement.
Mit der Tendenz einer modernen retributiven und kommunikationsorientierten Straftheorie lässt sich die Öffentlichkeit des Verfahrens differenzierter bestimmen. Sie haben den Gedanken der Wiederherstellung des Rechts durch den kommunikativen Akt der Strafe bzw. der Straffreiheit zum Ausgangspunkt.46 So ist nicht ein Mehr oder Weniger an Öffentlichkeit entscheidend wie bei den relativen Theorien. Vielmehr ist eine andere Art der Öffentlichkeit notwendig, ein „neues“ Verständnis des Öffentlichkeitsgrundsatzes. Öffentlichkeit im Strafverfahren ist demnach eine „regulierte Medienöffentlichkeit“.47 Dies bedeutet, dass die Medien für das Strafverfahren eine zentrale Rolle spielen, um die Rechtswiederherstellung zu kommunizieren.
Die Kommunikation mit der Allgemeinheit, aber auch dem Angeklagten und sonstigen Verfahrensbeteiligten, ist Kernelement einer jeden Gerichtsverhandlung. Die Gerichte sprechen Recht. Schon hier wird die Bedeutung der Kommunikation in der Bezeichnung der Entscheidungen bei Gericht als Rechtsprechung offenkundig.48 Scheinbar deutlich wird, dass neue Möglichkeiten der Kommunikation – des Sprechens – somit auch die Gerichte nutzen sollten, wenn nicht gar müssen. Ist es nicht so, dass Kommunikation zu keiner Zeit so bedeutsam und zugleich einfach war wie heute? Ist es nicht so, dass Kommunikation noch nie so sehr Bestandteil des Alltags der Bevölkerung war wie heutzutage? Ist es daher nicht logische Konsequenz für die Rechtsprechung, die heute verbreiteten Kommunikationswege zu nutzen? Meines Erachtens ja, aber Vermittlung von Information zwingt deshalb nicht zu einer Verbildlichung oder gar Live-Übertragung jeglichen Geschehens.
Indem die retributive Strafbegründung die Tat in den Fokus stellt, wird zugleich der Persönlichkeitsschutz der Beteiligten gewahrt.49 Anders als bei präventiven Ansätzen muss nicht der Täter und dessen gescheiterte Sozialisation in den Blick genommen werden. Es gilt, das durch die Tat verletzte Recht als solches wiederherzustellen.50 Aufnahmen von Personen sind daher nicht erforderlich, um den Strafzweck zu transportieren. Indes ist im Verfahren eine klare, scharfe Trennung von Tat und Täter nicht durchgängig möglich. Schließlich ist die Tat stets Werk des Täters und steht mit diesem in Verbindung. Zur Wiederherstellung des Rechts ist somit nicht nur die Strafe als solche notwendig, sondern auch die Art und Weise, wie diese gefunden wird.51 Die Wiederherstellung des Rechts leistet neben dem Schuldspruch am Ende des Verfahrens vor allem das Verfahren selbst als kommunikativer, aufklärender Akt. „Verfahren ist Kommunikation.“52
Das hehre Ziel, die Antinomie der Strafzwecke zu überwinden und eine vereinigende Lösung ohne Inkonsequenz zu schaffen, ist erstrebenswert. Als erreicht kann dieses Ziel jedoch nicht angesehen werden. Roxin und v. Hirsch fordern daher, dass die klassische Aufteilung in relative und absolute Theorien aufzugeben sei und eine Straftheorie gefunden werden müsse, welche normativ-ethische Aspekte und präventive in sich vereine.53
Eine stringente und konsequente Begründung bzw. Präzisierung rechtlicher Grundsätze bedarf jedoch eines einheitlichen, geschlossenen Ausgangspunktes. Aufgrund dessen sind vereinigende Strafbegründungen, welche gewisse Inkonsequenzen mit sich bringen, für den verfolgten Zweck der Präzisierung des Öffentlichkeitsgrundsatzes wenig gewinnbringend.54
Im Weiteren stellt sich die Frage, was aus den gefundenen Grundsatzfragen gefolgert werden kann. Ausgehend von dem gefunden Grundverständnis auf der Basis einer retributiven Straftheorie ist eine regulierte Öffnung des Verfahrens für die Medien zu fordern. Klare Grenzen zieht bei diesem Ansatz das Schuldprinzip. Besonders im Strafverfahren hätte eine maßlose Öffnung des Verfahrens für die Öffentlichkeit einen Dammbruch zur Folge, dessen Konsequenzen nicht absehbar sind. Abgesehen davon steht ohnehin die Frage im Raum, inwieweit das mediale Interesse besteht. Dieses wird sich auf einige wenige Verfahren konzentrieren und hierin wiederum auf bestimmte Verfahrensabschnitte.
Die Öffnung zu den Medien stellt die Justiz als Ganze auf die Probe. Die juristische Ausbildung enthält kein Element der Öffentlichkeitsarbeit. In Zeiten, in welchen Angeklagte längst Litigation-PR betreiben, bleibt die Justiz veraltet und rückständig.55 Wie jüngst der Fall Edathy zeigte, wiegt ein falscher oder unüberlegter Umgang mit den Medien schwer und kann die Unschuldsvermutung unterlaufen.56 Da Kommunikation zur Erfüllung des Strafzwecks unerlässlich ist, ist besonders auch auf deren Art und Weise Wert zu legen. Unüberlegte Äußerungen widersprechen der zugrunde gelegten Straftheorie, denn die Wiederherstellung des Rechts als Recht durch Recht kann nur funktionieren, wenn dieses im Rahmen eines ordnungsgemäßen, rechtsstaatlichen Verfahrens erfolgt. Kommuniziert werden muss neben der Strafe/dem Freispruch insbesondere die Rechtsfindung.57
Eine kurzfristige Konsequenz ist die Forderung nach einer einheitlichen, bundesweiten Richtlinie zum Umgang der Justiz mit den Medien. Einzelne Bundesländer nehmen hier Vorbildfunktion ein wie z. B. die Richtlinien für die Zusammenarbeit mit den Medien des Landes Nordrhein-Westfalen58. Allein der Umstand, dass in verschiedenen Bundesländern derartige Richtlinien existieren, in anderen nicht und deren Inhalt stark divergiert, lässt den Schluss zu, dass die derzeitige Richtlinie für Straf- und Bußgeldverfahren nicht genügt, um das Verhältnis von Medien und Justiz klar zu definieren.59 Für eine bundeseinheitliche Richtlinie spricht ferner, dass die jeweiligen Justizministerien die Richtlinien der Länder erlassen und diese zugleich über die Besetzung der Stellen, der Pressesprecher oder Verantwortlichen für Öffentlichkeitsarbeit, entscheiden. So kann der eminent politische Begriff der Öffentlichkeit auch tatsächlich politisch geprägt und die Justiz instrumentalisiert werden. Mittel- und langfristig sollten Änderungen der Juristenausbildung diskutiert werden.60
Konsequenz könnte weiter sein, dass den Medien in der Hauptverhandlung größtmöglicher Zugang zu gewähren ist. Konkret bedeutet dies, dass allen Medienvertretern die Teilnahme zu ermöglichen ist, bei besonders aufsehenerregenden Verfahren auch mittels einer Videoübertragung in einen anderen Gerichtssaal.61
Inwiefern diese Möglichkeit der regulierten Öffnung hin zur Medienöffentlichkeit, lediglich zeitweise erforderlich ist, mag dahingestellt bleiben. Verfahren wie der zunächst – gerade im Bezug auf die Öffentlichkeit und die Frage der Videoübertragung – aufsehenerregende NSU-Prozess vor dem OLG München zeigen, dass vor allem der Beginn des Verfahrens und hier insbesondere die Anklageverlesung und schließlich der Abschluss des Prozesses, die Schlussvorträge und das Urteil, im Zentrum des Interesses stehen. Die dazwischenliegenden 220 Prozesstage verlieren nach und nach an Aufsehen und Bedeutung für die Allgemeinheit und somit auch für die Medienvertreter, so dass eine dauernde Videoübertragung gar nicht erforderlich ist. Eine Freigabe der Verlesung der Anklage und der Urteilsbegründung wäre ein erster Schritt in die vorgezeigte Richtung.62
Dem Einwand, aufgrund angespannter Haushaltslage wäre eine Videoübertragung nicht umsetzbar,63 kann entgegengehalten werden, dass die Umstellung bzw. Ausstattung der Gerichte aufgrund der feststehenden Einführung der elektronischen Akte ohnehin ansteht. Der Mehraufwand, die technischen Möglichkeiten auch auf eine Videoübertragung auszuweiten, dürfte sich hierbei in Grenzen halten.
Der Kritikpunkt, die Sitzungshoheit des Vorsitzenden sei kaum zu wahren, sollte ein zweiter Saal per Videoübertragung zugeschaltet sein, verfängt. Den zweiten Saal über einen Monitor zu beobachten ist zwar vorstellbar. Der Aufnahmefähigkeit eines Vorsitzenden sind jedoch natürliche Grenzen gesetzt.64 Zu beachten ist, dass diese Problematik begrenzt werden kann durch die Zulassung allein von Pressevertretern für den zweiten Saal.65 Ferner sind die Beeinträchtigungen in dem Saal, in welchem die Verhandlung nicht tatsächlich unmittelbar stattfindet und keine Zeugen aussagen, wesentlich geringer als im tatsächlich, unmittelbar genutzten Saal. Auch sind die Bedenken, dass dennoch nicht für wirklich alle Interessierten Plätze geboten sein könnten und eine Auswahl getroffen werden muss, und dass alle im direkten Saal teilnehmen wollen, nicht von der Hand zu weisen.66 Diese Bedenken würden jedoch bei jeder nicht vollständigen Live-Übertragung eingreifen und treten aufgrund des großen Regelungsbedarfs zurück.
Ein straftheoretisches Verständnis, welches von der Wiederherstellung des Rechts durch die Vermittlung der Strafe ausgeht, ist auf eine möglichst breite Vermittlung angewiesen. Besonders aufsehenerregende Straftaten haben die Rechtsordnung und das Rechtsempfinden der Allgemeinheit besonders erschüttert. Eine Bestätigung des Rechts bzw. dessen Wiederherstellung als Recht erfordert sodann die möglichst breite Vermittlung.
In die Überlegungen einer Neuausrichtung der Verfahrensöffentlichkeit sind die sozialen Medien als Gegenstand der gegenwärtigen Alltagskommunikation einzubeziehen. Mit der Problematik der Kontrolle eines mit einem Laptop oder Tablet Notizen fertigenden Journalisten sehen sich die Vorsitzenden ohnehin bereits konfrontiert. Die Kontrollierbarkeit, dass keine Foto- oder Videoaufnahmen mit diesen Geräten gefertigt werden ist quasi nicht gegeben.67 Einem Journalisten nur Bleistift und Papier zuzugestehen, kann hieraus aber auch nicht gefolgert werden. Kurze Textsequenzen direkt aus der Verhandlung einzustellen, stehen schwerwiegende Bedenken nicht entgegen. Rein textliche Microbloggings sind daher im Wege der Öffnung zur zeitgemäßen „Rechtsprechung“ zu befürworten.68 Die Gefahr durch eine webgestützte Verbreitung und deren dauernde Abrufbarkeit, immer Opfer oder Täter einer Straftat zu bleiben, ist zu bedenken. Dem zwischenzeitlich anerkannten „Recht auf Vergessen im Internet“69 ist indes ein genauso hoher Stellenwert einzuräumen, so dass der Einwand nur noch abgeschwächt eingreift. Vielmehr sollte auch die Justiz den möglichen viralen Effekt sozialer Medien für sich, für die Rechtsprechung nutzen.70