Einige Arten zu lieben - Charlotte Mew - E-Book

Einige Arten zu lieben E-Book

Charlotte Mew

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Beschreibung

Charlotte Mew war eine der ungewöhnlichsten Schriftstellerinnen ihrer Zeit, wurde von Zeitgenossen hoch geschätzt – und dann vergessen. In England inzwischen wiederentdeckt, blieb sie hierzulande praktisch unbekannt. Dieser Band versammelt ihre eindrucksvollsten Erzählungen erstmals in deutscher Sprache. Sie reichen von surrealen Phantasien bis zu Geschichten von menschlichen Extremerfahrungen, erzählt in einem Ton, der zart und stark zugleich ist und gerade in dieser Mischung elektrisiert.

Um die Liebe, ihre Schattierungen und ihre Gefährdungen geht es in diesen Erzählungen von Charlotte Mew, um Glaube und Tod, um das Ausgestoßensein aus der Gesellschaft und die Fragilität der menschlichen Existenz. Fast immer stehen weibliche Figuren im Mittelpunkt, und die Geschlechterrollen geraten ins Wanken. Diese Geschichte sind so auch ein Spiegel der zeitgenössischen Debatten über Machtstrukturen in Ehe und Familie und die sexuellen Freiheiten der Frau. Die Intensität des menschlichen Mitgefühls, das aus ihren Texten spricht, ist überall gepaart mit einer hellwachen Beobachtungsgabe. Mit Charlotte Mew ist eine große literarische Stimme wiederzuentdecken, die zwischen viktorianischem Zeitalter und literarischer Moderne steht und heute wieder direkt zu uns spricht.

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Titel

Charlotte Mew

Einige Arten zu lieben

Erzählungen

Aus dem Englischen von Wiebke Meier

Mit einem Nachwort von Ina Schabert

C.H.BECK

Übersicht

Cover

Inhalt

Textbeginn

Inhalt

Titel

Inhalt

Vorbei

Einige Arten zu lieben

I

II

III

IV

Eine offene Tür

I

II

III

IV

V

Eine Weiße Nacht

Mademoiselle

Mark Staffords Frau

I

II

Das Lächeln

Schicksalhafte Treue

Der Weizen

Ein Hochzeitstag

Weiße Welt

«Anders als alle anderen» – ein Nachwort – von Ina Schabert

Quellennachweise

Zum Buch

Vita

Impressum

Vorbei

Seelen sehn sich an und gehn vorbei

Und gehn vorbei und sehn sich niemals wieder

Wer einen romantischen Blick auf London in seinen ärmsten Vierteln bisher verpasst hat – denn auch dort findet man Romantik –, sollte auf einen Sonnenuntergang im frühen Winter warten. Man kann sich nach Norden oder Süden, nach Islington oder Westminster wenden und dabei auf prächtige Bilder und mehr als einen einzigartig schönen Anblick stoßen. Die Stunde der rosenfarbenen Dämmerung besitzt ein Monopol auf Effekte. Einige unter ihnen werden vielleicht nie wieder erreicht.

An einem solchen Abend Mitte Dezember legte ich meine Näharbeit beiseite und ließ die harmlosen Herrlichkeiten des Feuerscheins (Enthüller eines falschen Zaubers) hinter mir, um, wie die Jugend das wohl tun mag, den Gegensatz zwischen der schneidenden Luft draußen und der Glut drinnen zu genießen.

Meine Absicht bestand in der Erfüllung eines latenten Appetits, denn mir stand nicht der Sinn danach, mich mit einer Rechtfertigung des Hungers zu begnügen, wie er auf einen warmen und trägen Nachmittag folgt.

Die herrliche Kälte des strengen Frosts ließ meinen Geist tanzen. Die Straße klang hart unter meinen Füßen, und über den einsamen Plätzen erwachten hinter mir scharfe Echos. Die beißende Luft stürmte mit kraftvoller Heftigkeit gegen meine Wangen. Sie brachte mein Blut mächtig in Wallung und holte den Gedanken an die warme, gerade verlassene Glut mit einem unermesslichen Gefühl der Bereicherung zurück.

Aber nach dem ersten Entzücken über das berückende Gefühl stellte sich die Frage nach dem Ziel. Die dunklen Bäume hinter den schäbigen Anlagen wichen allmählich Reihen flackernder Gaslampen, die Läden mit einem anderen Aussehen und einem üblen Geruch in den Blick rückten. Dann ragten die dicken Mauern eines teilweise niedergerissenen Gefängnisses dunkel vor dem blassen Himmel empor.

Das Gebäude erinnerte mich – ach, dass das möglich war – an eine in diesem Bezirk erst kürzlich durch einen über jeden Zweifel erhabenen Architekten errichtete Kirche, die ich, so hatte man mir empfohlen, bei passender Gelegenheit aufsuchen sollte. Das tat ich jetzt. Eine Reihe eng gedrängter Häuser mit den unverzeihlichen Erkerfenstern, die die erbärmlichen Verhältnisse nach außen kehren, wurde sichtbar. Die unheilverkündenden Mauern raubten ihnen jedes Licht und standen wie ein stummer Fluch vor ihnen. Ich glaube, sie zersprengten alle Hoffnungen der traurigen Bewohner unter ihnen – wenn sie denn Hoffnungen hatten – in Verzweiflung. Durch besudelte Fensterscheiben grinsten Gesichter kranker und schmutziger Kinder anzüglich auf die Straße. Ein Zimmer, an dem ich vorbeiging, schien voll von ihnen zu sein. Das Fenster war offen; ihr Gejammer und ihre unsinnigen Forderungen brachten die Mutter zum Weinen. Mit dem Geschrei der Kinder wurde es ihr von den mitleidlosen Gefängnismauern zurückgeworfen.

Die Unterkünfte kamen mir vor wie Travestien – vielleicht waren sie es nicht – des wunderbaren Ortes, den man Heim nennt.

Als ich wegging, suchte ich nach dem Wichtigsten, das man ihnen geraubt hatte. Was verweigerte ihnen, wie Armut und Sünde es nicht vermochten, das Recht auf den heiligen Namen?

Eine Antwort kam, aber die Deutung verzögerte sich. Ihr Teil war nicht die Trostlosigkeit von etwas Verlorenem, sondern von etwas, das nie gewesen war. An dieser Stelle schob ich freudig jede weitere Spekulation von mir weg und trat der Natur frei gegenüber.

Plötzlich tauchte ich aus dem unerträglichen Schatten des Mauerwerks auf und atmete wieder leichter. Vor mir lag ein geräumiger Platz, fast quadratisch, von dreistöckigen Wohngebäuden gesäumt und wie mit einem schnellen Mechanismus durch die Farben des Sonnenuntergangs verwandelt. Rote und goldene Flecken wogten in den Scheiben der niedrigen, rund um den verblüffend weiten Raum verteilten Häuser. Darüber hing ein schwach purpurfarbener Himmel mit violetten Wolken, verdunkelt durch Rauch und die nahende Dämmerung.

Im Zentrum, aber weiter links, befand sich eine alte Steinpumpe, und aus der Höhe, einige Fuß darüber, blickten ungleiche Lampen herab. Sie standen auf einem gepflasterten Platz, eingefasst von zerbrochenen Eisenzäunen in einer Farbe, die, jetzt verwaschen, einmal weiß gewesen war. Schmale Straßen führten in fünf Richtungen vom offenen Fahrdamm weg. Ihre Lichterreihen versanken undeutlich in der Ferne und spotteten der in den verblassenden Himmel aufsteigenden Sterne. In der leuchtenden Dämmerung war alles verklärt. Während ich dastand, fing die sinkende Sonne die spröden Enden der unbedeckten Haare eines Mädchens ein und legte einen schwachen Nimbus um das arme entheiligte Gesicht. Der sanfte Kreis verlieh ihm, als sie mich ansah, Ähnlichkeit mit einem der mystischen Gesichter in mittelalterlichen Heiligendarstellungen.

Stille stahl sich herein, und über den Platz huschten dunkle Gestalten, ließen mich im Dasein erstarren (ich dachte unwirklich), als meine mittelalterliche Heilige fragte, ‹wen ich anrempeln wolle›, und mich, nicht unfreundlich, auf meinem Weg weitergehen ließ. In einer benachbarten Gasse riefen Höker, und das monotone Kling-kling der Muffinglocke bildete den akustischen Hintergrund des Bildes. Ich ging weiter, und dann wurde der Glanz auch schon schwächer. Als kurze Zeit später Dunkelheit den Ort beherrschte, bestimmte schäbige Düsternis erneut sein Erscheinungsbild.

Nicht weit von hier gibt es eine Straße mit einem Namen, der das Leben in einem durch die Vorstellung beflügelt, die es von einem ungemein friedlichen Land wachruft, wo breite Straßen nur Pfade durch grüne Wiesen sind und der Schritt im Gleichklang mit der sanften Musik reiner Ströme ist. Dort markieren der Duft von Rosen und die ersten hervorbrechenden Knospen des Frühlings die Jahreszeiten, und die Vögel rufen gewissenhaft Zeit und Art des Tages aus. Hier wird Ostern durch die Ankunft eines schäbigen Luftballonmarkts am Karfreitag verkündet; Früh- und Spätsommer kann man erkennen, wenn man den unromantischen, doch authentischen Kalender beobachtet, in dem Murmeln, Spatzeck, Peitschen- und Drehkreisel, Reifen und Lutscher jeweils den Flug der Zeit markieren.

Vielleicht von der Unvereinbarkeit angezogen, schlug ich diesen Weg ein. Das Bemerkenswerte an einer solchen Hauptverkehrsstraße ist, dass ihr Publikum, egal wie zufrieden es mit den vergänglichen Ersatzstoffen für Literatur auch ist, trotzdem nach dauerhaften Formen von Kunst (der Begriff ist so häufig missbraucht worden, dass man sich kaum noch an ihm vergehen kann) verlangt. Sogenannte Bilder sind das einzige, was unter den prominent zur Schau gestellten Waren vom Lebensnotwendigen und dem beliebten Putz abweicht. Das Fenster, das die Sehnsüchte ausstellte, war kaum einladender als das des Fischhändlers nebenan, aber weniger übelriechend, und ich blieb stehen, um zu sehen, was die schlecht reflektierenden Lampen zeigten. Die Auswahl war typisch. Am prominentesten eine große Chromotypie mit einem Mädchen im Gebet. Ihre nach oben, vermutlich zum Himmel, gerichteten Augen ließen dem Betrachter keine Möglichkeit, auf den kunstvoll entkleideten Brüsten darunter zu verweilen. Würden Wachsarbeiten sich an solchen Schönheiten versuchen, könnten sie es mit jeder vergleichbaren Attraktion der ausgedehnten Ausstellung in Marylebone aufnehmen. Diese Personifikation von Pseudoreinheit war sinnlich unterhaltsam und folglich verkäuflich.

In meiner Vorstellung entstand das Ideal eines solchen Bildes, und von dieser Prostitution wandte ich mich angewidert ab. Eilig ging ich weiter und blieb nicht wieder stehen, ehe ich das niedrige Tor zu dem Ort, den ich suchte, durchquert hatte.

Sein abweisendes Äußeres war in tiefem Zwielicht verborgen und lud nicht zur Betrachtung ein. Ich trat ein und stieß das innere Tor auf. Es war mit Trauerkarten beklebt, auf denen die nicht protestierenden Geister der Toten der Gnade anempfohlen wurden. Man verlangte meine Gebete für die ‹Seelenruhe des Architekten der Kirche, der im wahren Glauben dahinging – Dezember – 1887›. Ich akzeptierte diese Behauptung, hielt ihn für darüber erhaben und vertraute meine eigene im Geist dem Priester für diejenigen an, die noch immer in der Düsternis danach suchten.

Innerhalb des Gebäudes verwehrte Dunkelheit erneut eine genaue Erkundung. Vor dem Altar kämpften einige Lampen gegen die Finsternis.

Ich versuchte, einige hässliche Details mit der selbstgefälligen Extravaganz des großen Mannes übereinzubringen, und wandte mich, als das nicht gelang, wieder der Straße zu. Zwischen mir und meinem Heim lag ein Weg von fast einer Stunde. Dieser Umstand und die Atmosphäre muffiger Heiligkeit an dem ganzen Ort lösten in mir wieder die Sehnsucht nach dem Freien aus und weckten eine feine Verachtung für alles außer Luft und Himmel. Auch war mein Appetit der Zeit nun eine Stunde voraus. Als meine Hand das Tor berühren wollte, schickte ich einen letzten Blick zurück in die Dunkelheit. In dem Augenblick bewegte sich nichts, und es war still; aber dort, wo ich stand, ergriff mich die magnetische Anziehungskraft einer menschlichen Präsenz. Ich zögerte und fand nach ein paar Augenblicken, was mich in einer fernen Ecke auf einem Stuhl suchte, mit dem Gesicht nach unten über den Sitz geworfen. Die Haltung nahm mich gefangen. Ich ging nach vorn. Ohne Frage drückten die Konturen der Gestalt Verzweiflung aus.

Überträgt Sprache die Intensität von Qual? Deren höchster Ausdruck ist die Form. Hier drückte sich menschliche Agonie in dürren Linien aus, ohne Stimme, aber für die Seele klar erkennbar. Zunächst überfiel mich die zwingende Darstellung mit der aufdringlichen Kraft der Schönheit. Dann wurde das Ding, das dort in der hartnäckigen Dunkelheit ausgestreckt war, zur Person und vertrieb das Wohlgefallen. Weder Sympathie noch ihr vulgärer Ersatz, die Neugier, trieben mein Handeln an, als ich näher trat. Eigentlich wollte ich längst weg sein. Ich wollte das fast nicht zu erkennende Wesen ignorieren. Mein Wille rief: Verlasse es! – aber ich hatte nicht die Macht, ihm zu gehorchen. Vielleicht hätte er obsiegt, hätte sich das Mädchen auf der Suche nach mir nicht rasch erhoben. Ich stand still. Ihr Blick begegnete meinem. Ein wüst gebeutelter Geist blickte aus den trüben Augen und winkte mich zu sich. Meiner drängte darauf zu, aber ob sich meine Glieder tatsächlich bewegten, weiß ich nicht, denn die gebieterische Aufforderung raubte mir jedes Bewusstsein außer dem, der Notwendigkeit nachzugeben.

Erreichte sie mich oder bewegten wir uns beide vorwärts? Unmöglich zu sagen. Ich vermute, wir wussten es beide nicht. Aber wir trafen aufeinander, ihre Hand erfasste meine und zog mich herrisch auf die kalte und laute Straße hinaus.

Wir gingen rasch in die flackernden Buden hinein und wieder heraus, rempelten in unserer mitleidlosen Geschwindigkeit kleine stolpernde Kinder an, während ich wie im Traum auf das Konzert aus heiseren Schreien und feilschendem Jammern hörte, das auf das Schweigen unserer Flucht traf. Sie zog mich immer weiter, atemlos und ohne Erklärung. Wir sagten nichts. Ich hatte weder Interesse noch Antrieb, nach unserem Ziel zu fragen. Der heftige Druck auf meiner Hand wurde nicht einen Atemzug lang gelockert; er hätte mich auch gegen meinen Widerstand getragen, hätte ich irgendeinen aufbieten können, aber dazu war ich nicht in der Lage. Die Straßen schienen an uns vorbeizueilen, bevölkert von Verzweiflung.

Unheimlich beleuchtete Gesichter sandten leere Verneinungen an einen fragenden Geist, der sich schließlich in mir zu regen begann. Hier, dachte ich einmal vage, war das immerwährende Nein!

So mussten wir uns mehr als eine halbe Stunde fortbewegt haben und weit gegangen sein. Ich nahm das nicht wahr. In der Ewigkeit höchster Augenblicke gibt es keine Zeit. Auch das Denken fürchtet, aufdringlich zu sein und steht beiseite.

Schließlich erreichten wir eine Tür am Ende einer Sackgasse, die von der ohrenbetäubenden Hauptverkehrsstraße abzweigte. Sie warf sich dagegen und zog mich eine unbeleuchtete Treppe hinauf. Hin und wieder wackelte sie unter der Gewalt unseres Aufstiegs; mit meiner freien Hand versuchte ich, mir an dem breiten und schmierigen Geländer nach oben zu helfen. Im Haus war kaum ein Ton zu hören. Unter der ersten Tür, an der wir vorbeigingen, schien Licht hervor, aber im Innern war alles still.

Ganz oben stieß meine Führerin mich plötzlich aus dem tiefschwarzen Gang in einen blendend hellen Raum. Meine Augen versagten vor der Fülle strahlenden Lichts. Auf einer kleinen Kommode brannten drei Kerzen, zwei weitere standen flackernd auf dem hohen Fensterbrett, und auf einem Tisch neben dem Bett machte eine Lampe die kleineren Illuminationen durch ihr weitreichendes Glänzen überflüssig. Sogar einige kleine Christbaumkerzen tropften farbiges Wachs auf den hölzernen Kaminsims, und ich bemerkte, dass ein Feuer, ganz aus Holz, gemacht worden war. Teile einer Arbeitskiste oder eines Schreibtischs mit Einlegearbeiten sowie die Sprosse eines Stuhls lagen halb verkohlt auf dem Rost. Bedenkenlos hatte man ein gebieterisches Verlangen nach Licht erfüllt, diese Zeichen wiesen darauf hin. Auf dem Bett lag eine Frau, halb angekleidet, schlafend. Als die Tür hinter mir zuschlug, zuckten die Flammen, und meine Gefährtin ließ meine Hand los. Sie stand neben mir, heftig bebend, aber ohne etwas zu sagen.

Ich sah mich um. Überall waren die Spuren eines nicht lange zurückliegenden, tatkräftigen Wirkens sichtbar. Die hellen Scheiben reflektierten die heruntergebrannten Kerzen, das elende, aber glänzende Mobiliar und einige seltsame Stücke bemalten Porzellans vor den spritzenden Lichtern auf den Kommoden bezeugten eine provinzielle Unduldsamkeit gegenüber Schmutz. Die Regalbretter waren leer, der ganze Raum wies Spuren extremer Armut auf. Die bittere Not der Umgebung stimmte schlecht mit der makellosen Person des Mädchens und seinen wohlgepflegten Händen überein, die zitternd herabhingen.

Hinterher wurde mir klar, dass diese verlassenen Wesen der Welt zunächst auf einer luxuriösen Bühne begegnet sein mussten. Die Einzelheiten eines Beweises dafür brauche ich nicht anzuführen. Es musste so gewesen sein.

Meine frühere Apathie wich einer übertrieben klaren Beobachtung. Ich bemerkte sogar, dass einige Schnipsel eines zerrissenen, von der Bettdecke herabgefallenen Briefes von feiner Struktur und von einer männlichen Hand beschrieben waren. Ein Fragment trug ein kunstvoll ausgeführtes, heraldisches Zeichen in Farbe. Es mag ein Klub- oder ein Familienwappen gewesen sein. Ich versuchte zu entscheiden, was davon zutraf, als das Mädchen schließlich einen Ruf der Erschöpfung oder der Erleichterung ausstieß und gleichzeitig in eine Haltung verfiel, die der in der dämmrigen Kirche glich. Ihr ganzer Körper wurde von tränenloser Agonie oder Entsetzen geschüttelt. Es war Abscheu erregend, dabei zuzusehen. Zeitweise fing sie an zu rufen oder zu jammern, und, da ich neben ihr stand, mich erst wild, dann mit herzerweichender Erschöpfung zu bitten ‹zu bleiben, da zu bleiben›. Sie erhob sich halb und wandte sich mir mit fahriger Anmut zu. Alle ihre Bewegungen waren auffallend elegant.

Über ihre Züge will ich nicht urteilen; im Augenblick waren sie von ihrem Leid beherrscht, und sie erhoben keinen Anspruch auf besondere Individualität.

Ich versuchte, sie aufzurichten, und zog sie im Knien widerstrebend an mich. Die Nähe war unangenehm. Die Gegenwart von etwas Fremdem hat mich seit jeher abgestoßen. Ein paar Fuß weiter entfernt hätte ich das Mädchen vielleicht brennend bemitleidet. Mit nachlassender Kraft hing sie an mir. Ihr Herz schlug schmerzhaft nahe bei meinem, und wenn ich jetzt in dunklen Straßen anderen begegne, die, wie sie, ihres größten Besitzes beraubt worden sind, muss ich daran denken.

Die magnetische Anziehungskraft unserer Begegnung ließ bereits nach; und da sich langsam die Vernunft durchsetzte, blickte ich unvoreingenommen auf den Vorfall zurück, während sie wie ein zerbrochener Mechanismus in meinen Armen lag. Ihr dunkles Haar hatte sich gelöst und fiel über meine Schulter. Durch das Braun stahl sich ein schwacher weißer Streifen. So irrt ein Mondstrahl durch einen dämmrigen Raum. Ich erinnere mich, dass mir ein leiser Duft auffiel, als es durch ihre unfreiwilligen Bewegungen über mein Gesicht geweht wurde, der wie ein raffinierter und verführerischer Geist immer wiederkehrte und sich mit zauberischer List in dem wirren Durcheinander versteckte.

Der Geist des armen Mädchens bewegte sich eindeutig auf Abwegen. Abgerissene und unzusammenhängende Ausrufe erzählten von einem kürzlich abgerungenen Versprechen, doch es war nicht meine Aufgabe, zu vermuten oder zu erforschen, wem gegeben oder welcher Art.

Ich berichte den Ablauf weniger Minuten. Bei der ersten Gelegenheit suchte ich die Schlummernde auf dem Bett auf. Sie schlief fest: eine lange Ruhe umfing sie, aus der es kein Erwachen geben konnte, denn sie war tot. Während einer kurzen Stunde in Überraschungen aller Art geschult, machte mich diese Erkenntnis einfach um eine Erfahrung reicher. Nichts an dem in Strenge erstarrten Gesicht rief Grauen hervor. Es war ein kräftiges Gesicht und, wenn Schönheit nicht auf Jugend und gesunde Gesichtsfarbe beschränkt ist, ein schönes Gesicht gewesen und war es noch.

Die stille Teilhaberin an der krampfhaft durchbrochenen Stille war vielleicht dreißig Jahre alt. Den auf feine Art kontrollierten Zügen, die sie vielleicht jünger gezeigt hätten, hatte der Tod eine gewisse Festigkeit eingeprägt. Die tatsächlichen Jahre zählen kaum; so wie wir Zeit berechnen, musste die Existenz lange gedauert haben. Nicht der Tod, sondern das Leben hatte dort den Ausdruck von Desillusionierung hinterlassen. Und da die Romanze zu Ende ist, sind alle Abschiedsgrüße zur Jugend gesagt. Am Bett, auf einem roh zusammengezimmerten Tisch, stand ein liebevoll erworbener Strauß Veilchen. Sie waren in eine Teetasse mit blauem Rand gestellt, über den sie hinaushingen, als forderte er ihr eigenes göttliches Blau wehmütig heraus. Sie waren fremd und ihr Duft wahrscheinlich unnatürlich, aber er zog sehr lieblich durch den Raum. Ein Buch lag mit dem Gesicht nach unten daneben – leider, allen kirchlichen Kräften sei’s geklagt, kein religiöses –, und die zerrissenen Fragmente des zerstörten Briefes waren auf den schwarzen Einband gefallen.

Eine leidenschaftliche Bewegung der Brust des Mädchens gegen meine lenkte meinen Blick auf etwas anderes. Sie zitterte, und ihre Arme um meinen Hals waren steif vor Kälte. Dass sie möglicherweise Hunger hatte, kam mir nicht in den Sinn. Das hätte einen Weg zu meinem Herzen gefunden. Ich fragte mich, ob sie schliefe, und wagte nicht, mich zu rühren, obwohl ich inzwischen einen Krampf hatte und fröstelte. Die Heftigkeit ihrer Gemütserregung ließ nach, sie atmete sanft und glitt schließlich zu Boden.

Allmählich sah ich mich genötigt zu handeln und rief mir die Aussichten für die Nacht in Erinnerung. Wann und wie ich nach Hause kommen könnte, war eine notwendige Frage, und ich horchte vergebens auf einen freundlichen Schritt draußen. Niemand war die letzte Treppe emporgestiegen, seit wir sie verlassen hatten. Flüchtig konnte ich Schwingungen von Männerstimmen im Raum unter uns hören. War es möglich, diese plötzlich entdeckten Kinder des Friedens und des Aufruhrs zu verlassen? War es möglich zu bleiben?

Heute war Samstag und in zwei Tagen sollte ich nach Schottland reisen; die praktische Erinnerung an noch leere Koffer blieb in meinem Lageüberblick nicht vergessen. Wie sollten außerdem meine besorgten Freunde von meinem Verbleib erfahren und das Exzentrische des Plans verstehen, wenn ich mich entschied, das arme Kind, das jetzt in meinen Armen ganz bestimmt schlief, nicht im Stich zu lassen? Es war unstrittig, stellte ich fest, dass für die Umherirrende, die, halb von Sinnen, ihr ermüdendes Gewicht an mich presste, etwas getan werden musste. Und da drüben sollte eine gütige Hand die kalten Glieder bedecken und die weit geöffneten Augen der nicht mehr atmenden Schläferin schließen, die darauf wartete, dass ein Freund ihre letzte Ruhe bestätigte.

Die Einsicht führte rasch zu ungeduldigen Gedanken, als aus meinen Augen ein schicksalhafter Blick auf das Gesicht des toten Mädchens fiel. Ich glaube nicht, dass sich der erste Ausdruck würdevoller Ruhe verändert hatte, und doch weckte es jetzt ein Gefühl kalten Grauens in mir. Die dunklen, ungewollt offenen Augen starrten mich eindringlich an. Eine Hand lag ausgestreckt auf der Bettdecke, nie wieder würde ich das mit einem nur zeitweilig unterbrochenen Leben verwechseln können. Meine Uhr tickte laut, aber ich wagte weder, darauf zu schauen, noch konnte ich meinen Blick von der Gestalt auf dem Bett losreißen. Zum ersten Mal traf die leere Hülle des Seins auf meine Sinne. Obwohl ich das Verrückte meines Tuns klar erkannte, wartete ich fieberhaft auf ein Zeichen von Atmung, meine eigene dabei fast einstellend.

Wenn heute die Erinnerung daran auftaucht, kann ich nur mit Widerstreben bei dieser Stunde verweilen, in der ich die Sache, die man Tod nennt, erkannte.

Hunderte Phantasien, in irre unerträgliche Schrecken gekleidet, ergriffen von mir Besitz, und hätten meine Lippen sich nicht geweigert, hätte ich einen Schrei ausgestoßen, wie das erschöpfte Kind neben mir es zweifellos gewollt hatte und gescheitert war, ehe es verzweifelt floh.

Mein Blick war gefesselt; er konnte sich nicht befreien. Wie monströse Gestalten in einem immer wieder anderen und zunehmenden Grauen durch unsere Träume irrlichtern, umschlichen mich die Bilder derer, die ich liebte, mit starren, doch wohlbekannten Zügen, ihre Glieder nahmen die steifen Umrisse des Todes an, wenn sie meiner mit einem Anschein lautloser Fröhlichkeit spotteten, als ich sie wiedererkannte. Sie begannen, ihre Arme um mich zu schlingen, mit den heftigen Umklammerungen eines brennenden und übernatürlichen Lebens. Allmählich gefror der Kontakt. Sie zwangen mich in ein eisiges Gefängnis. Ihr Griff lockerte sich. Diese Geschöpfe meines Herzens waren ruhelos. Die furchtbar vertraute Gesellschaft begann zu tanzen, periodisch in und aus einem Kreis weißer gigantischer Bettgestelle, aufgereiht wie Grabsteine, jedes umrahmte eine riesige und fürchterliche Travestie des traurigen Gesichts, das die ganze Zeit über vergeblich nach der Fürsorge eines mitleidlosen Fremden suchte. Sie verschwanden. Mein Herz kehrte nach Hause zurück. Der geliebte Platz war verlassen. Kein Echo seiner vielen Stimmen auf der Schwelle oder der Treppe. Meine Schritte verursachten kein Geräusch, als ich rasch hinauf in einen wohlbekannten Raum ging. Hier flehte ich den Spiegel an, mich meines eigenen Spiegelbilds zu versichern. Er verwehrte mir ein menschliches Abbild und warf einen kalten Schein zurück. Als ich mechanisch ein Buch öffnete, das mir lieb und teuer war, bemerkte ich, dass die Seiten leer waren, nicht einmal ein verschwommener Fleck oder eine verwischte Zeile; und dann fröstelte ich – es war tödlich kalt. Das Feuer, das ich nur eine oder zwei Stunden zuvor wegen der Winterdämmerung verlassen hatte, glühte mit müdem Spott angesichts meiner Bemühungen, die Glut neu zu entfachen. Meine Hände tauchten wild in seine glühende Asche, aber ich zog sie rasch heraus, unversehrt und sauber. Die Dinge, mit denen ich das Leben berührt hatte, waren nichts. Hier, als ich die mir liebsten Namen rief, kehrten deren Echos wieder zurück im Klang einer verlernten Sprache. Ich erkannte sie nicht und doch erfasste ich sie. Was war, war nie gewesen!

Mein Geist beschwor das Wesen herauf, das ein Recht auf mich hatte. Er kam, streckte die Arme zu einem unvergänglichen Willkommen aus. Als er mich erreichte, ergriff mein Herz die Flucht. Ich rief laut nach ihm, aber meine Rufe verloren sich in einem schrecklichen Gelächter, das über meine verwirrte Phantasie von den abscheulich vertrauten Gestalten hereinbrach, die zurückgekehrt waren und nun die große Gestalt dessen, den ich liebte, umringten. Aber ich hatte ihn nie gekannt. Ich schlug auf meine Brust, um dort den gewohnten Schmerz kribbelnder Freude zu wecken. Ich rief vergangene Erfahrung mit vergeblichem Drängen zum Zeugen, dass mir der Mann wahnsinnig lieb und teuer war. Er war es nicht. Er verließ mich mit gesenktem Kopf, ein Fremder, den ich nicht zurückrufen würde, auch wenn ich es könnte.

Für einen kurzen Moment erwachte die Vernunft in mir. Ich kämpfte, um die Wahngebilde der Verzweiflung abzuschütteln. Ich versuchte, während sie noch verweilten, die Lehre dieses unvergesslichen Antlitzes des Todes zu erfassen. Wieder ragte das Haus, das kein Heim war, mit seinen unverzeihlichen Erkerfenstern unterhalb der Gefängnismauern hervor. Was hatte das alles hier mit ihm zu tun? fragte ich mich. Und die Antwort, die es hervorgerufen hatte, lautete, «Nicht die Trostlosigkeit von etwas Verlorenem, sondern von etwas, das nie gewesen war.»

Das halb bekleidete Mädchen aus dem jämmerlichen Bilderladen kam mir in den Sinn, mit den wächsernen Händen und dem sinnlosen Symbolismus. Ich war ruhiger geworden, doch ihre puppenhaften Lippen zischelten dieselben halb bedeutungslosen, aber bedeutungsträchtigen Wörter. Dann holten mich die Nächte einer kurzen Lebensphase ein, als ich noch beten konnte, vor Jahren, in einer magischen Kindheit. Sie fanden mich jenseits davon – ohne deren Kraft.

Wirklich war der Körper für mich die Manifestation dessen gewesen, was man Seele nennt. Hier war meine Verkörperung entleert. Mein Gesicht war starr von trocknenden Tränen. Hilflos sehnte ich mich danach, von einem unbekannten Gott ein Wunder zu erbitten. Würde Er doch nur den passiven Körper anrühren und ihm den Hauch eines wenn auch vorübergehenden Lebens einhauchen.

Heftig erflehte ich wenigstens einen flüchtigen Beweis für seine immer mögliche Existenz. Denn für mich war sie nicht, würde sie nie sein und war sie nie gewesen.

Das Entsetzen, das teilweise schon nachgelassen hatte, erneuerte seine Dominanz. Irgendeine inkohärente oder sinnlose Rede hätte geistige Widerstandskraft erzeugt. Inmitten der fortgesetzten Ruhe der Lebenden und der schrecklichen Stille der Toten verlor mein Verstand rasch seine Orientierungspunkte. Da war kein Ton, nicht einmal der einer wilden Führung, den ich nicht freudig willkommen geheißen hätte.

«Das Reich des Schweigens», sagt einer der großen Weltenlehrer, «ist jenseits des Grabes noch groß genug.»

Ich schien das Tor des Lebens durchschritten zu haben, und die geringe Kraft meiner Seele stieß die geräuschlose Pforte zurück. Zum Äußersten getrieben rief ich: «Oh Gott! um des blutigsten Kriegsrufes des Menschen oder Deines Flüsterns willen!» Es war nutzlos. Nicht ein Bewohner unterbrach in der überbelegten Mietskaserne seinen Schlummer oder hielt in seiner Tätigkeit inne, um auf das unfreiwillige Gebet zu antworten.

Und mag der «Tag des Gerichts der Worte» dies beachten! Dann, sagt die alte Fabel, soll die Seele des Abgeschiedenen gegen ein Bild der Wahrheit aufgewogen werden. Ich versuchte in meiner Einbildung, die Gestalt der stummen Gottheit zu konstruieren, die für mich die Waagschale niederdrücken sollte. Lautlosigkeit verkehrte Furcht in Wahnsinn. Weder konnte ich weggehen noch die Gesellschaft der grauenvollen Präsenz im Raum länger ertragen. Aber der entscheidende Augenblick war ganz nah.

Längst waren die vier niedrigen Kerzen heruntergebrannt, und jetzt kämpfte die Lampe unruhig darum, weiter zu leuchten. Die Flamme konnte nur noch wenige Augenblicke durchhalten. Ich sah das und sah doch die Möglichkeit nicht, es könnte dunkel werden. Das schlafende Mädchen, schloss ich rasch, hatte bereits alles verfügbare Licht als trotzige Waffe eingesetzt.

Seit meinem Eintreten hatte ich mich bisher kaum gerührt, die Last auf meiner Brust zuverlässig gestützt. Ohne einen Gedanken an sie sprang ich nun auf, um zu fliehen. Die plötzliche Heftigkeit der Bewegung weckte meine Gefährtin. Sie stolperte blind auf ihre Füße und stellte sich mir entgegen, als ich die Tür erreichte.

Kaum in der Lage zu stehen und die Trübheit aus ihren Augen verscheuchend, packte sie eine Ecke der Kommode hinter sich, um Halt zu finden. Ihr zurückgeworfener Kopf mit seinem dunklen, herunterhängenden Haar krönte eine große tragische Form. Hier stand kein armer Bittsteller, und ich war für einen Kampf nicht gewappnet. Sie erfasste meinen pochenden Arm und weinte flüsternd, leise und rauh, aber nachdrücklich hörbar: «Um Gottes willen, bleib hier bei mir.»

Meine Lippen bewegten sich vergeblich. Ich schüttelte den Kopf.

«Um Gottes im Himmel willen» – wiederholte sie, schwankte und richtete ihre brennenden, geröteten Augen auf mich – «verlass mich jetzt nicht.»

Ich stand unschlüssig, halb benommen, da. Zurücktretend bückte sie sich und begann, den zerstückelten Brief auf dem Bett zusammenzufügen. Ein stummer Protest auf dem kalten Gesicht der Schwester ließ sie stocken. Sie gab ihre Tätigkeit mit dem Ruf «Nein!» auf, beugte sich plötzlich nach vorne und ergriff mich mit erbitterter Kraft.

«Hierher! Hierher!», bat sie eindringlich und zog mich leidenschaftlich zurück in den Raum.

Die herzzerreißende Not und das wilde Flehen – nein, ein Blick furchtbarer Pein – machten meine Absicht zu fliehen zunichte. Ein Duft, der mich verfolgen sollte, stahl sich zwischen uns. Die armen kleinen Veilchen trugen ihren Einspruch vor. Ich blieb. Dann trat ein Lächeln – ein solches Leuchten wird kaum je wieder erreicht werden – auf ihre bleichen Lippen, breitete sich aus, ein himmlisches Strahlen verwandelte ihr junges, verweintes und unvergessliches Gesicht. Es schwankte, oder rief das letzte unsichere Flackern der Lampe diese Einbildung bei mir hervor? Der exquisite Augenblick war kaum vorbei, als es dunkel wurde. Danach ließ das Licht mich in der Tat im Stich. Fast ohne meine eigene Absicht zu kennen, widerstand ich der jetzt zitternden, in der Düsternis nicht erkennbaren Gestalt, aber noch klammerte sie sich an mich. Mit unnatürlicher Wucht stieß ich sie von mir weg.

Sie stürzte schwer auf den Boden. Ohne einen Augenblick nachzudenken, stolperte ich die furchtbare, unbeleuchtete Treppe hinunter. Wenige Stufen bevor ich das Ende erreichte, schlug mein Fuß einen Splitter von der dünnen Kante einer morschen Stufe ab. Ich rutschte aus und hörte, wie sich oben eine Tür öffnete und dann schloss. Kein weiterer Ton. Schließlich war ich an der Eingangstür. Sie war angelehnt. Ich öffnete sie und schaute hinaus. Seitdem ich den Platz zuerst überquert hatte, war er ganz verödet. Alle Bewohner waren, vermute ich, an ihrem Feiertagsabend zu einer solchen Stunde anderweitig beschäftigt. Die Lampen, wenn es welche gab, waren nicht angezündet. Man blickte in tiefste Finsternis. Auch hier verfolgte mich das abscheuliche Dunkel, und es herrschte Stille. Selbst die Kinder schrien in verlockenderen Gefilden greller Verwahrlosung. Einige, deren gute Engel sie vielleicht nicht vergessen hatten, hatten sich schlafen gelegt. Vor wenigen Stunden waren ihre Schreie ohrenbetäubend gewesen. Hatten auch sie sich gegen mich verschworen? Ich erinnerte mich vage, dass ich bei meinem überstürzten Fortlaufen aus der Kirche einige mit unbeabsichtigter Grobheit angerempelt hatte. Stumm schien der ganze Platz; und er war, abgesehen von den undeutlichen Sternen darüber, völlig dunkel. Von erbärmlicher Feigheit an den Fleck gebannt, wagte ich mich nicht über die Schwelle. Ach, das bewusstlose Mädchen im Obergeschoss. Vielleicht hätte ein Gemurmel irgendwo im Haus mich zu ihr zurückgeschickt. Bestimmt hätte es mich eher dorthin geschickt als hinaus auf die leere Straße. Der geringste Hinweis auf ein menschliches Wesen hätte mich zurückgerufen. Ich wartete auf ein aufforderndes Geräusch. Es kam.

Aber von der verlassenen, doch nicht so schmählich verlassenen Straße. Ein Mann, der mit Hilfe freundlicher Geländer nach Hause schwankte, stimmte betrunken ein Lied an. Beim ersten Ton stürzte ich zu ihm, drängte mich, wild fortstürmend, an ihm vorbei und weiter, bis ich die übelriechende und flackernde Hauptverkehrsstraße erreichte, einen Zufluchtsort, wo süße Sicherheit lächelte. Hier atmete ich freudig auf und eilte davon, ohne einen Gedanken an die beiden leblosen Wesen, die alleine in der mit einem Leichentuch verhüllten Kammer der Trostlosigkeit lagen, und ohne Antrieb zurückzukehren.

Mein einziger Impuls war Flucht; der Weg, auf den ich am frühen Abend nicht geachtet hatte, war mir unbekannt. Ich brauchte einige Minuten, um eine Droschke zu finden; aber schließlich kam das unzweckmäßige Fahrzeug, das die feilschenden Händler auf der Straße rüde auseinandertrieb, und trug mich von der entstellten Masse an Gesichtern und den Ansprüchen auf Mitleid fort zum Frieden.

Ich legte mich fröstelnd zurück, durch die klirrenden Scheiben vor mir kroch der Wind. Die unüberschaubaren Wendungen, die mich nach Hause brachten, bemerkte ich nicht.

Mein Bericht über das nächtliche Abenteuer war verkürzt und wenig aufregend. Man verlangte von mir weder Detail noch Kommentar, sondern gewährte mir ein ziemlich humorvolles Willkommen, das mich dem verhallenden Schrecken Lebewohl sagen und mich sogar kühn in den früher vom Tod heimgesuchten Raum hinaufsteigen ließ.

Auf der Schwelle stand ich still und schaute hinein, halb hielt ich eine Begrüßung für möglich, wie ich sie mir dort unter dem Einfluss des toten Mädchens ausgemalt hatte, ich konnte nicht eintreten. Wieder floh ich, dieses Mal zu einem freundlichen Licht, und hörte meine Brüder mit einem Freund im hellerleuchteten Flur laut lachen.

Als ich sie erreichte, ertönte in dem Raum darüber ein Walzer. Ich schloss mich dem improvisierten Tanz an und wirbelte den Rest des Abends fröhlich dahin.

Physisch erschöpft, schlief ich ein. Meinen Schlaf störte keine Unterbrechung. Ich erwachte erst zu den köstlichen Freuden des Morgens, lag da und beobachtete, wie die frühen Schatten in den Raum krochen. Bald ging die Sonne auf. Ihr erstes Lächeln begrüßte mich aus dem Spiegel vor meinem Bett. Voller Verachtung für die majestätische Spiegelung sprang ich auf und öffnete das Fenster weit, um ihr direkt gegenüberzutreten. Ihr Glanz fiel auch auf jemanden, der mir vertraut hatte, aber ich vergaß es. Nicht viele Tage später fiel dasselbe Sonnenlicht, das mein Leben in ein Lachen verwandelt hatte, auf die traurigste Szene irdischen Endes und beleuchtete für jemanden, den ich im Stich gelassen hatte, die Wege des Todes. Nicht im geringsten hatte ich mir das träumen lassen. Denn am nächsten Morgen war die Tragödie des vergangenen Abends fern und nicht mehr unerträglich.

Um zwölf Uhr mahnte mich mein Gewissen zu suchen. Ich nahm das hin, bewegte mich aber nicht. Eine halbe Stunde später insistierte es, und ich gehorchte. Ich brach auf, mit der festen Absicht auf Erfolg und ohne zu wissen, wie ich das sicherstellen konnte. Um vier Uhr gestand ich mir die Hoffnungslosigkeit der Aufgabe ein und gab sie auf. Mehr konnte die Pflicht nicht von mir verlangen, entschied ich, nicht ganz unzufrieden damit, dass der Misserfolg schwierigere Forderungen ausschloss. Als ich auf meinem Nachhauseweg an der unansehnlichen Kirche vorbeiging, zwang mich ein drastischer Impuls, erneut hineinzugehen.

Ich muss fast erwartet haben, dieselbe hingestreckte Gestalt zu sehen, denn meine Augen suchten sofort die Ecke, die sie eingenommen hatte. Die Winterdämmerung zeigte, dass sie leer war. Gleich sollte ein Gottesdienst beginnen. Ein kleiner Knirps in violettem Rock und plissiertem Leinen bemühte sich, die Segenskerzen anzuzünden, und ein Trupp Schulkinder schob sich an mir vorbei, als ich vor dem Altar stand und ihren Weg blockierte. Eine grau gekleidete, barmherzige Schwester hielt jede der kleinen Gestalten an, forderte sie auf, neben mir stillzustehen, erzwang, mit zwei festen Händen auf jeder Schulter, einen drolligen Knicks und flüsterte gleichzeitig jeder kleinen eiligen Person die Aufforderung zu – «immer dem Altar Ehrfurcht bezeugen.» «Ada, komm zurück!» – und behielt einen anderen unwilligen Haarschopf im Auge! Vielleicht sah die gute Frau hinter dem Talmiflitter und den flackernden Lichtern das Gesicht ihres Herrn. Aber sie vergaß Seine Worte. Die Sprüche für die Kleinen, die die Jahrhunderte durchklungen haben, geboten Freiheit und nicht Gefolgschaft. Ich stand beiseite, bis sie auf die Sitze geschlurft waren, und wartete schließlich kniend auf den Schluss des kurzen Nachmittagsspektakels.

Gegen Ende blickte ich von dem murmelnden Priester weg, dessen zwischen störendem Putz und den heiligsten Mysterien geteilte Aufmerksamkeit meine eigene ablenkte.

Zwei Mädchen, die einander an den Händen hielten, kamen herein und standen im tiefen Schatten hinter der am weitesten entfernten Reihe hochlehniger Stühle an der Tür. Das jüngere rollte seinen Kopf von einer Seite auf die andere; seine umherirrenden Augen und die unaufhörlichen blödsinnigen Grimassen ließen mein Blut gefrieren. Das andere, das betete, wandte sich plötzlich um (der Ort war bis auf die flackernden Altarlichter dunkel) und küsste das schreckliche Geschöpf an seiner Seite. Ich schauderte, dabei zeigte ihre Miene keinerlei Abscheu oder Mitleid. Sie drückte fromme, gewohnheitsmäßige Liebe aus.

Sie wischte die Lippen der Schwachsinnigen ab und streichelte die zitternden Hände in den ihren, um die traurigen hysterischen Liebkosungen zu beruhigen, die die andere nicht kontrollieren konnte. Das war eine Seite des Evangeliums, die der alte Mann mit dem Rücken zu ihnen niemals lesen könnte. Eine erhabene und geisterhafte Szene.

Oben auf der kleinen Galerie sangen die graugekleideten Nonnen eine lange lateinische Hymne mit vielen Versen und dem Refrain «Oh! Heilig Herz!» Ich verbarg mein Gesicht, bis der letzte vibrierende Akkord der Begleitung angeschlagen war. Der Organist wagte eine plagale Kadenz. Sie evozierte kein ‹Amen›. Ich flüsterte es, und eine zufällig angeschlagene Note kreischte Missbilligung. Ich wiederholte es. Dann spuckte ich auf die blutleere Wange der Pflicht und begann meine Suche erneut. Dieses Mal, um meine eigene erregte Seele zufriedenzustellen.

Ich nahm den unbekannten Weg wieder auf. Die Straßen waren fast leer und dünn mit Schnee bedeckt. Er fiel noch immer. Ich schrak davor zurück, die fleckenlose Seite zu verderben, die ausgebreitet schien, um den entweihenden Abdruck des Menschen herauszufordern und zur Schau zu stellen. Die Stille der gedämpften Straßen beruhigte mich. Das Viertel schien eingelullt in eine ungewohnte Ruhe.

Schwarze kleine Gestalten taumelten zu zweit oder zu dritt aus den weißen Alleen. Aber ihre kindlichen Äußerungen klangen weniger schrill als gewöhnlich und erstarben schneller.

Ich war jetzt ernsthaft verzweifelt und schonte weder mich noch die ungläubigen und ungepflegten Leute, die ich um Hilfe bat.

Das Schicksal behandelt alle anständig. Es macht keine Kompromisse, auch wenn es vielleicht zögert. Hunger und Erschöpfung trieben mich schließlich nach Hause, mit einer Sammlung ausgeschmückter, abschlägiger Antworten versehen, die in meinen allmählich ermatteten Ohren klangen.

Ich hatte mein seltsames Erlebnis fast vergessen, als mir einige Monate danach, im Spätfrühling, ein geisterhaftes Abbild der winterlichen Begegnung erschien. Es war nach sechs Uhr, und ich hatte eine berüchtigte Hauptverkehrsstraße im westlichen Teil dieser ruhmreichen und schuldbeladenen Stadt erreicht, ohne zu wissen, wie schlecht die Stunde gewählt war. Der Platz bot meinen damit nicht vertrauten Augen einen bemerkenswerten Anblick. Strahlend hell erleuchtete Fenster stellten verwirrend schöne Waren zur Schau, rückten den menschlichen Jahrmarkt aufdringlich in den Vordergrund.

Es herrschte großes Gedränge. Ich schob mich in die Menge. Ihr stetiges Vordringen mir entgegen hinderte meinen Zutritt weder noch billigte sie ihn. Wie auch immer, ich hatte beschlossen, etwas zu kaufen, und würde mich daran von etwas Unvorhergesehenem nicht hindern lassen. Das gelang mir, für einen Augenblick stand ich an der Ladentür und war im Begriff, mir wieder einen Weg durch das rasch anschwellende Gedränge zu bahnen.

Auf und ab, mit kalten Reizen herausgeputzt, schritten die unersättlichen Töchter des ewigen Königs hin und her. Welche holden Boten sandten sie weit in die Ferne, mit tränenden Augen und ohnmächtig flehenden Armen, ehe sie so ‹ihren Wohlgeruch vermehrten und bis hinunter zur Hölle erniedrigt wurden›? Das war meine Frage. Ich fragte nicht, wer sie im Stich ließ und beim Abschied das ‹abscheuliche Englisch ihres Schicksals› sprach.

Ich beobachtete die Szene kühl, jedoch nicht unempfänglich für eine gewisse Größe. Ein prächtiger Totentanz der Tugend.

Eine ekelerregende Mischung von Gerüchen griff meine Sinne an; jede Essenz eine abstoßende Verlockung, ein Frevel an der Natur, eine Perversion ihres eigenen reinen Zaubers.

Ein schüchtern protestierender Duft zog seltsam vorbei. Als er sich mir näherte, fuhr ich zusammen. Er beschwor eine schmerzhafte Erinnerung herauf. Ich ging weiter, um ihm zu entkommen, blieb aber stehen und stand dem Wesen gegenüber, das im flackernden Lampenlicht und in der Gegenwart jener schweigenden Zeugin das Gebet der armen kleinen Veilchen geteilt hatte.

Der Mann neben ihr war mit einem Strauß Blumen dekoriert, denen verschwistert, die vor Monaten vergeblich gegen ihn Partei ergriffen hatten. Er hätte kein besseres Siegeszeichen tragen können. Er betrachtete irgendeine extravagante Kleinigkeit in dem Fenster neben dem Eingang, den ich gerade durchquert hatte. Sie unterhielten sich, verglichen sie mit einem silbernen Kästchen, das er in seiner Hand umdrehte. In der Mitte bemerkte ich ein winziges emailliertes Schild. Das Detail erschien mir vertraut, war aber nicht genau zu bestimmen. Sie betraten den Laden. Ich stand da, ohne mich zu rühren, beschwor mein Gedächtnis, bis es aus einer trüben Ecke meines Gehirns ein dort verwahrtes ‹Nein› produzierte.

Dieses Mittel führte jetzt zu einem armseligen Fetzen Papier auf dem Bett eines toten Mädchens. Ich sah eine Gestalt, vom Tod gezeichnet, dem Verhungern nah und das Verderben in zerrissenen Fragmenten in ihrer Hand. Aber welchen Platz nahm ich in der Szene ein? Eine kurze Unterhaltung in meiner Nähe gab eine prompte Antwort.

Sie standen wieder neben mir. Der Mann sprach: seine Gefährtin hob ihr Gesicht; ich erkannte das Profil – ich werde nie wissen, wie es wirklich aussah. Vor vier Monaten trug es die Maske des Schmerzes; jetzt war es nur eine Seite im unsterblichen Buch des Menschen. Ich hatte noch die unvergleichlichen Bewegungen im Sinn, die mich in der dämmrigen Kirche zuerst angezogen hatten.

Sie war, abgesehen von einem großen Schal aus ungestüm leuchtendem Karmesinrot, ganz und gar in stumpfes Zinnoberrot gekleidet. Die beiden Schattierungen könnten als Symbole für die göttliche und die irdische Leidenschaft dienen. Doch fragt man nach der Farbe der Märtyrer, nennt man es «Rot» (und, knapp gesagt, war so ihr Gewand): kein charakteristischer Farbton. Der Mörder und auch der Prälat können solche Amtsroben tragen. Beide sind befugt, zu segnen und zu verfluchen.

Ich war in einer verwegenen Stimmung. Ich streckte meine Hände aus und bat um Gnade. Mein war das bittere Los des Bittens. Ungeachtet dessen, was diese Seele mir schulden mochte, wurde der Widerstreit in meiner Natur zu einem einhelligen Flehen um Vergebung – für die Qualen, denen ich sie überließ, und die Zeichen der Entehrung, die sie meinetwegen trug. Dass ich beim Versuch, Beachtung zu erlangen, scheitern könnte, zog ich nicht in Betracht. Ich erwartete die Antwort auf meinen Appell entschlossen und standhaft. Woher sie kam, weiß ich nicht. Der Mann und die Frau begegneten meinem Blick mit einem vereinten leeren Starren. Die beiden Gesichter flossen in ein einziges rächendes Antlitz zusammen – so schien es mir. Ich war erregt. Als sie sich der Kutsche zuwandten, die auf sie wartete, hörte ich ein Lachen, das zu einem Schrei anschwoll. Er rief mich zu einem geschändeten Tempel. Sonntagsglocken lassen süßere Rufe erschallen, als dieser es einst getan haben könnte.

Ich kannte also meine Rolle in dem beraubten Körper, dessen Seelenkerzen schon lange ausgelöscht waren.

Räder eilten vorbei, um den Ton zu überrollen, aber er klang nach. Kam er von einem besiegten Engel? oder aus dem Mund der Frau? oder meinem? Gott weiß!

Einige Arten zu lieben

I

Les âmes sont presque impénétrables les unes aux autres, et c’est ce qui vous montre le néant cruel de l’amour.

«Und jetzt schicken Sie mich ohne Antwort fort?», sagte der junge Mann, erhob sich zögernd, nahm seine Handschuhe vom Tisch und blickte währenddessen auf die starrköpfige kleine Dame auf dem Sofa, die seine Betrübnis mit spöttischer Freundlichkeit in ihren klaren, recht humorvollen blauen Augen beobachtete und ihn damit quälte.

«Wenn Sie wollen, gebe ich Ihnen eine Antwort.»

«Ich möchte lieber hoffen – geben Sie mir ein Fünkchen Hoffnung?»

«Nur ein Fünkchen», räumte sie ein, lachend, mit derselben verstörend nachsichtigen Miene. «Aber machen Sie es nicht größer – es gibt so eine Angewohnheit, ‹Fünkchen› zu vergrößern, ich weiß das – und ich will nicht, dass Sie – wenn Sie denn zurückkommen – mit einer ganzen lodernden Sonne zurückkommen.»

«Sie sind sehr offen und ein bisschen grausam.»

«Ich fürchte, ich will es sein – beides. Es ist für Sie so viel besser.» Während sie sprach, drehte sie die Ringe um ihre kleinen Finger, als würde die Unterredung sie allmählich etwas ermüden.

«Sie behandeln mich wie einen Jungen», brach es mit jugendlicher Bitterkeit aus ihm heraus.