Einleitung in das Neue Testament - Ingo Broer - E-Book

Einleitung in das Neue Testament E-Book

Ingo Broer

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Beschreibung

In Verbindung mit Hans-Ulrich Weidemann wurde das aus der renommierten Reihe "Die Neue Echter Bibel" hervorgegangene Werk inhaltlich aktualisiert und in eine einbändige Studienausgabe zusammengeführt. Wissenschaftlich fundiert, klar und übersichtlich im Aufbau und gut verständlich ist es für Studierende der Theologie eine wichtige Basisliteratur und darüber hinaus allen am Neuen Testament Interessierten eine wertvolle Hilfe für dessen Verständnis. Mit dieser Neuauflage haben die Autoren den Band inhaltlich auf den aktuellen Stand gebracht und zugleich die Lesbarkeit des Buches weiter verbessert. So wurden neuere Erkenntnisse in den Text eingearbeitet, die Literaturangaben gestrafft und um die seither erschienene Literatur ergänzt. Außerdem wurden die Gliederungen der neutestamentlichen Schriften inhaltlich und optisch überarbeitet.

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Ingo Broer

Einleitung in das

Neue Testament

Ingo Broer

in Verbindung mitHans-Ulrich Weidemann

Einleitung in das

Neue Testament

echter

Zum Gedenken an

Prof. Dr. Anton Vögtle

17. 12. 1910–17. 3. 1996

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar.

© 2006 Echter Verlag, Würzburg4. erneut überarbeitete Auflage 2016www.echter-verlag.de

Umschlag: Peter Hellmund, Würzburg(unter Verwendung eines Motivs aus dem Codex Vaticanus)Satz: Hain-Team, Bad Zwischenahn (www.hain-team.de)

ISBN

978-3-429-02846-6 (Print)

978-3-429-04894-5 (PDF)

978-3-429-06315-3 (ePub)

eBook-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheimwww.brocom.de

Vorwort zur dritten Auflage

Die vorliegende dritte Auflage ist grundlegend überarbeitet und erscheint in völlig neuem Layout. Die Anregung dazu ging von Hans-Ulrich Weidemann, meinem Nachfolger in Siegen, aus, der immer wieder auf die Lesbarkeit dieses Buches für Studierende hingewiesen hat. Es würde mich freuen, wenn die Studierenden nun zu der Feststellung kämen, dass der Aufwand sich wirklich gelohnt hat.

Die Zusammenarbeit mit Herrn Weidemann bezieht sich aber nicht nur auf das Layout, sondern er hat sich freundlicherweise bereit erklärt, auch die Überarbeitung einiger Paragraphen zu übernehmen. Um literarkritischen Übungen, die in diesem Fall möglicherweise sogar erfolgreich wären, zuvorzukommen, sei darauf hingewiesen, dass Kollege Weidemann die Paragraphen 9–11, 21 und 25 mit Exkurs 3 überarbeitet hat.

Was die politische Korrektheit der männlichen Bezeichnungen, die auch Weibliches meinen, betrifft, so habe ich mich entschlossen, es mit einer Dame zu halten. Frau N. Frank erklärt in Anm. 1 ihres Buches zum Kolosserbrief (s. § 23): „Im Rahmen dieser Arbeit beziehen sich personenreferentielle Nomina, die grammatisch maskulines Genus haben, grundsätzlich auf beide Geschlechter“.

Die Studierenden P. Holschbach, K. Rohleder und N. Meyer haben mich auf vielfältige Weise unterstützt. Dafür danke ich Ihnen herzlich. Auch Thomas Häußner vom Hause Echter sei hier mit Dank für Rat und Tat genannt. Felix Weigner von Hain-Team nicht zu vergessen, ohne dessen freundliche und kräftige Hilfe wir das Manuskript keinesfalls zeitgerecht abgeschlossen hätten.

Noch mehr gilt natürlich mein Dank H.-U. Weidemann, mit dem ich über die oben erwähnte Zusammenarbeit hinaus in vielen Gesprächen in diesem Buch behandelte Probleme besprechen konnte und der mich vielfältig unterstützt und sich auch an der Mühe des Korrekturlesens beteiligt hat.

Siegen im September 2010

I. B.

 

Vorwort zur vierten Auflage

Für die vierte Auflage haben die Autoren die in der Zwischenzeit erschienene Literatur durchgesehen, wichtige neuere Erkenntnisse in den Text eingearbeitet und die Literaturangaben etwas gestrafft sowie um die neuere Literatur ergänzt. Die Gliederungen hat Hans-Ulrich Weidemann inhaltlich und optisch überarbeitet. Mein Dank gilt ihm für die erneute Mitarbeit, die vielfältigen Anregungen, die auch in diese Neuauflage wieder eingeflossen sind, und für die große Hilfe bei der Erstellung des Manuskripts.

Unser gemeinsamer Dank gilt Frau Johanna Knuppertz, die uns die Arbeit sehr erleichtert hat. Für die Erstellung der Register danken wir ihr sowie Daniel Bach und Malte Brügge-Feldhake.

Und schließlich danken wir Herrn Felix Weigner vom Hain-Team, der uns auch bei dieser Neuauflage wieder hilfreich zur Seite stand.

Siegen, im September 2016

Ingo Broer

Inhaltsverzeichnis

Statt einer Einführung

1. Die Bibel als altes und fernes Buch

2. Bibelverständnis und literarische sowie geschichtliche Vorkenntnisse

§ 1 Die Fragen der„Einleitung in das Neue Testament“

1. Die Meinungsvielfalt in den Wissenschaften als Kennzeichen der Moderne

2. Die Bibel als Buch für Wissenschaftler und „einfache“ Leser

3. Die Bedeutung der sog. Einleitungsfragen für ein zutreffendes Verständnis der Bibel

I Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

§ 2 Evangelium als Literaturgattung

1. Das Evangelium und die Evangelien

2. Die literarische Gattung Evangelium und ihre Wurzeln

§ 3 Die synoptische Frage, oder: Die literarischen Beziehungen zwischen den ersten drei Evangelien

1. Der literarische Befund I

2. Schriftliche Quellen

3. Das synoptische Problem in der Alten Kirche

4. Der literarische Befund II

5. Lösungsversuche der Vergangenheit und Gegenwart

6. Für und wider die Zweiquellentheorie

§ 4 Die Logienquelle Q

1. Die Findungsgeschichte der Logienquelle Q

2. Der Umfang der Logienquelle

3. Die Redaktion von Q

4. Ursprüngliche Reihenfolge und ursprünglicher Wortlaut

5. Die Logienquelle als Matthäus und Lukas schriftlich vorliegende Quelle

6. Die Entstehungszeit der Logienquelle

7. Der Entstehungsort der Logienquelle

8. Die Gattung der Logienquelle

9. Die Trägerkreise der Logienquelle

10. Die Logienquelle und das Markusevangelium

11. Theologische Grundlinien der Logienquelle

§ 5 Das Evangelium nach Markus

1. Gliederung des Evangeliums

2. Der Anlass für die Abfassung des Markusevangeliums

3. Die Frage nach dem Verfasser des Markusevangeliums

4. Die Abfassungszeit des Markusevangeliums

5. Der Abfassungsort des Markusevangeliums

6. Die markinische Gemeinde

7. Der Markusschluss

8. Die Quellen des Markusevangeliums

9. Das Problem des Urmarkus

10. Die Sprache des Markusevangeliums

11. Die theologische Absicht des Evangelisten Markus

12. Das „geheime Evangelium nach Markus“

13. Traditionelle Fragen und heutiger Zugang zu den Evangelien

§ 6 Das Evangelium nach Matthäus

1. Die sachliche Gliederung des Textes

2. Gründe für die Abfassung des Matthäusevangeliums

3. Die alttestamentlich-jüdische Perspektive des Matthäusevangeliums und die Verfasserfrage

4. Die Abfassungszeit des Matthäusevangeliums

5. Der Abfassungsort des Matthäusevangeliums

6. Sprache und Stil des Evangelisten Matthäus

7. Die theologischen Anschauungen des Evangelisten Matthäus

§ 7 Das Evangelium nach Lukas

1. Gliederung

2. Gründe für die Abfassung des Lukasevangeliums

3. Der Verfasser des Lukasevangeliums

4. Die Abfassungszeit des Lukasevangeliums

5. Der Abfassungsort des Lukasevangeliums und die Zusammensetzung der lukanischen Gemeinde

6. Die Quellen des Lukasevangeliums

7. Die Sprache des Lukasevangeliums

8. Die Widmung an Theophilus

9. Die theologischen Anschauungen des Lukasevangeliums

§ 8 Die Apostelgeschichte

1. Gliederung

2. Gründe für die Abfassung der Apostelgeschichte

3. Die Frage nach dem Verfasser der Apostelgeschichte

4. Die Abfassungszeit der Apostelgeschichte

5. Der Abfassungsort der Apostelgeschichte

6. Die Quellen des Lukas für die Apostelgeschichte

7. Die Textüberlieferung der Apostelgeschichte: Das Problem des westlichen Textes

8. Die literarische Gattung der Apostelgeschichte

9. Der Geschichtswert der Apostelgeschichte

10. Sprache und Stil der Apostelgeschichte – Lukas als Schriftsteller

11. Die theologischen Aussagen der Apostelgeschichte

II Das johanneische Schrifttum

§ 9 Das Evangelium nach Johannes

1. Die andere Welt des vierten Evangeliums

2. Die Gliederung des Johannesevangeliums

3. Der literarische Entstehungsprozess des Johannesevangeliums

4. Die Verfasserfrage

5. Das Johannesevangelium und die Synoptiker

6. Der religionsgeschichtliche Hintergrund des Johannesevangeliums

7. Die Abfassungszeit des Johannesevangeliums

8. Der Ort des johanneischen Kreises

9. Die Sprache der Johannsevangelium

10. Die theologischen Grundgedanken des Johannesevangeliums

§ 10 Der erste Johannesbrief

1. Der Briefcharakter des ersten Johannesbriefes

2. Die Einheitlichkeit des Briefes

3. Gliederung

4. Das Verhältnis der johanneischen Schriften zueinander

5. Die Sondersprache und die eigene johanneische Theologie als Hinweis auf einen johanneischen Kreis

6. Der Autor des ersten Johannesbriefes, oder: Woher hat der erste Johannesbrief seinen Namen?

7. Der Anlass des ersten Johannesbriefes

8. Die Abfassungszeit des ersten Johannesbriefes

9. Konsequenzen für die Lektüre des ersten Johannesbriefes 10. Theologische Grundgedanken des ersten Johannesbriefes

§ 11 Der zweite und der dritte Johannesbrief

1. Ein oder zwei Verfasser des zweiten und dritten Johannesbriefes?

2. Der Presbyter als der Verfasser des zweiten und dritten Johannesbriefes

3. Zur Abfassungssituation des zweiten und dritten Johannesbriefes

4. Die Beurteilung des Diotrephes

5. Die Abfassungszeit des zweiten und dritten Johannesbriefes

6. Der Abfassungsort des zweiten und dritten Johannesbriefes

III Die echten Paulusbriefe

§ 12  Die neutestamentlichen Briefe und das Briefwesen der Antike

1. Die Briefform

2. Häufig wiederkehrende Formeln

EXKURS 1: Die Fähigkeit zum Lesen und Schreiben und das Postwesen in der Antike

Anhang: Sechs Briefe aus neutestamentlicher Zeit

§ 13 Echte und unechte Paulusbriefe

§ 14 Leben und Wirken des Apostels Paulus

1. Zur Herkunft des Paulus

2. Die Chronologie des Paulus

3. Einige weitere chronologisch wichtige Angaben der Apostelgeschichte

4. Ein alternativer Entwurf

5. Fazit

EXKURS 2: Reisen in der Antike und die Reisen des Paulus

§ 15 Der erste Brief des Apostels Paulus an die Gemeinde in Thessalonich

1. Die Stadt Thessalonich

1.1 Lage, Gründung und Entwicklung

1.2 Die religiöse Lage in Thessalonich zur Zeit des Paulus

1.3 Die Gründung der christlichen Gemeinde in Thessalonich

2. Der Brief

2.1 Gattung und Aufbau des ersten Thessalonicherbriefes

2.2 Die literarische Integrität des ersten Thessalonicherbriefes

2.3 Der Anlass für das Schreiben des Paulus

2.4 Der Abfassungsort und die Abfassungszeit des ersten Thessalonicherbriefes

2.5 Theologische Anschauungen im ersten Thessalonicherbrief

§ 16  Der erste Brief des Apostels Paulus an die Korinther

1. Die Stadt Korinth

1.1 Zur Bedeutung der Stadt Korinth in der Antike

1.2 Korinth zur Zeit der paulinischen Mission

1.3 Die religiöse Lage in Korinth zur Zeit des Paulus

1.4 Sprache und Einwohnerzahl

1.5 Die Gründung der Gemeinde in Korinth

1.6 Die Größe der Gemeinde in Korinth und ihre soziale Schichtung

2. Der Brief

2.1 Der Aufbau des ersten Korintherbriefes

2.2 Die literarische Integrität des ersten Korintherbriefs

2.3 Die Missstände in Korinth und ihr religionsgeschichtlicher Ort

2.4 Die theologische Antwort des Paulus

2.5 Der Anlass des ersten Korintherbriefes und der Abfassungsort

2.6 Der zeitliche Abstand zwischen erstem und zweitem Korintherbrief und das Abfassungsdatum des ersten Korintherbriefs

§ 17  Der Brief des Apostels Paulus an die Philipper

1. Die Stadt Philippi

1.1 Lage, Gründung und Entwicklung der Stadt

1.2 Die religiöse Lage in Philippi zur Zeit des Paulus

1.3 Juden und Christen in Philippi

1.4 Weitere Besuche des Apostels in Philippi

2. Der Brief

2.1 Der Aufbau des Philipperbriefes

2.2 Paulinische Verfasserschaft und literarische Integrität des Philipperbriefes

2.3 Der Anlass des Briefes

2.4 Der Abfassungsort des Philipperbriefes

2.5 Die Abfassungszeit des Philipperbriefes

2.6 Der Philipperbrief und die Rhetorik

2.7 Die theologischen Anschauungen des Paulus im Philipperbrief

§18  Der Brief des Apostels Paulus an Philemon

1. Aufbau

2. Das Anliegen des Briefes

3. Abfassungs- und Zielort des Philemonbriefes

4. Die Abfassungszeit

5. Theologische Anschauungen

6. Eine Stilparallele von der Wende vom ersten zum zweiten Jahrhundert

§19  Der zweite Brief des Apostels Paulus an die Korinther

1. Der Aufbau des zweiten Korintherbriefes

2. Die literarische Integrität des zweiten Korintherbriefes

3. Die aus dem zweiten Korintherbrief erkennbare Entwicklung des Verhältnisses zwischen Paulus und der korinthischen Gemeinde

4. Die Gegner des Paulus im zweiten Korintherbrief

5. Der Abfassungsort

6. Die Abfassungszeit

7. Die theologischen Anschauungen des Paulus im zweiten Korintherbrief

§ 20 Der Brief des Apostels Paulus an die Galater

1. Die Galater und Galatien

1.1 Die Landschaft Galatien

1.2 Die Provinz Galatien

2. Der Brief

2.1 Der Aufbau des Galaterbriefes

2.2 Die Adressaten des Galaterbriefes

2.3 Die Gegner des Paulus in den galatischen Gemeinden

2.4 Abfassungszeit und Abfassungsort

2.5 Die theologische Antwort des Paulus an die Galater

2.6 Der Galaterbrief und die antike Rhetorik

§ 21 Der Brief des Apostels Paulus an die Christen in Rom

1. Die Stadt Rom

1.1 Rom als Weltstadt

1.2 Religionen in Rom

1.3 Juden und „Christen“ in Rom

2. Der Brief

2.1 Der Aufbau des Römerbriefes

2.2 Die literarische Integrität des Römerbriefs

2.3 Der Anlass des Römerbriefes

2.4 Der Abfassungsort und die Abfassungszeit des Römerbriefes

2.5 Die theologischen Anschauungen des Paulus im Römerbrief

IV  Die unechten Paulusbriefe und der Hebräerbrief

§ 22  Der zweite Brief an die Thessalonicher

1. Aufbau

2. Der zweite Thessalonicherbrief – ein echter Paulusbrief?

3. Die Empfänger des Schreibens und der Anlass des Briefes

4. Die Abfassungzeit und der Abfassungsort

5. Der zweite Thessalonicherbrief als kanonischer Brief

6. Die Form des Briefes

7. Die theologischen Anschauungen im zweiten Thessalonicherbrief

§ 23  Der Brief an die Kolosser

1. Die Stadt Kolossä

1.1 Lage und Geschichte der Stadt

1.2 Religiöse Situation

1.3 Die Gründung der Gemeinde

2. Der Brief

2.1 Aufbau und literarische Form des Kolosserbriefes

2.2 Paulus als Verfasser des Kolosserbriefs?

2.3 Die Adressaten

2.4 Anlass und Abfassungszweck

2.5 Die Abfassungszeit und der Abfassungsort

2.6 Die theologischen Anschauungen des Kolosserbriefes

§ 24  Der Brief an die Epheser

1. Die Problematik der Adressatenangabe „in Ephesus“ (1,1)

2. Der Aufbau des Epheserbriefes

3. Die Form des Briefes

4. Anlass und Abfassungszweck

5. Verfasser

5.1 Das Verhältnis von Epheser- und Kolosserbrief

5.2 Die nichtpaulinische Verfasserschaft des Epheserbriefes

6. Adressaten und Abfassungsort

7. Die Abfassungszeit

8. Der religionsgeschichtliche Hintergrund des Epheserbriefes

9. Die theologischen Anschauungen des Epheserbriefes

§ 25  Die Pastoralbriefe

1. Der Aufbau der Pastoralbriefe

2. Die Pastoralbriefe als gemeinsames Briefkorpus

2.1 Die Herkunft des Namens „Pastoralbriefe“

2.2 Die Pastoralbriefe als fragmentarischer Briefroman?

3. Das Problem der Autorschaft der Pastoralbriefe

4. Die Datierung der Pastoralbriefe

5. Der Abfassungsort

6. Die Empfänger der Pastoralbriefe

7. Die in den Pastoralbriefen angesprochenen Irrlehren

8. Die Gattungen der Pastoralbriefe

9. Die Pastoralbriefe und die paulinische Tradition

10. Die Theologie der Pastoralbriefe

EXKURS 3Die Pastoralbriefe als pseudepigraphische Briefe, oder: Pseudepigraphie und Heilige Schrift

§ 26  Der Brief an die Hebräer

1. Gliederung

2. Form und literarische Integrität

3. Anlass und Abfassungszweck

4. Gegner

5. Verfasser

6. Adressaten

7. Abfassungszeit

8. Abfassungsort

9. Traditions- und religionsgeschichtliche Zusammenhänge

10. Theologische Anschauungen

V  Die katholischen Briefe (ohne die Johannesbriefe)

§ 27  DerJakobusbrief

1. Aufbau

2. Form / Gattung

3. Anlass und Abfassungszweck

4. Der Verfasser und die Abfassungszeit des Jakobusbriefes

5. Der Abfassungsort des Jakobusbriefes

6. Die Adressaten des Jakobusbriefes

7. Die Traditionen und der religionsgeschichtliche Hintergrund des Jakobusbriefes

8. Die theologischen Anschauungen im Jakobusbrief

9. Die kanonische Bezeugung des Jakobusbriefes

§ 28  Der erste Petrusbrief

1. Dokumente unter dem Namen des Petrus

2. Der Aufbau des ersten Petrusbriefes

3. Die literarische Einheit des Briefes

4. Die Verfasserfrage

5. Die Datierung

6. Der Abfassungsort

7. Die Empfänger

8. Abfassungszweck und theologische Grundlinien

§ 29  Der Judasbrief

1. Der Aufbau des Judasbriefes

2. Die Briefform des Judasdokumentes

3. Anlass und Abfassungszweck des Judasbriefes

4. Der Verfasser

5. Die Abfassungszeit

6. Der Abfassungsort

7. Die Adressaten

8. Theologische Anschauungen des Verfassers

9. Kanonische Geltung

§ 30  Der zweite Petrusbrief

1. Der Aufbau des zweiten Petrusbriefes

2. Die Form

3. Die Einheitlichkeit

4. Das Verhältnis zum Judas- und zum ersten Petrusbrief

5. Anlass und Zweck

6. Die Gegner

7. Der Verfasser des zweiten Petrusbriefes

8. Die Abfassungszeit und der Abfassungsort

9. Die Adressaten

10.Theologische Grundgedanken

11. Der zweite Petrusbrief und der Kanon

VI Apokalyptische Literatur im Neuen Testament

§ 31  Die Offenbarung des Johannes

1. Zur apokalyptischen Literatur im Alten Testament und im Judentum

2. Die Johannesoffenbarung als christliche Apokalypse

3. Gliederung und literarische Gattung

4. Quellen

5. Gründe für die Abfassung

6. Verfasser

7. Abfassungszeit

8. Der Abfassungsort und die Adressaten

9. Die Anerkennung der Apokalypse als kanonische Schrift

10. Die theologische Absicht der Johannesapokalypse

VII Die Entwicklung der neutestamentlichen Schriften zum Kanon Heiliger Schrift

§ 32  Die Bildung des neutestamentlichen Kanons

1. Kanonfrage und Einleitungswissenschaft

2. Die Gestalt der heiligen Schrift zur Zeit Jesu und der Apostel

3. Der erhöhte Herr als die Autorität des Urchristentums

4. „Die Apostel“ als Autoritäten des Urchristentums

5. Die Schriften des Urchristentums auf dem Weg zur Heiligen Schrift

6. Der Kanon des Neuen Testaments als Ergebnis einer Entwicklung

7. Die Motive der Kanonbildung

Anhang

Hinweise zu weiterführender Literatur und zu den Abkürzungen

Glossar

Stichwortverzeichnis (Auswahl)

Statt einer Einführung

1.  Die Bibel als altes und fernes Buch

Kein Interesse an der Bibel

Wer sich heute noch für die Bibel interessiert, scheint eher ein Exot zu sein als aus unserer Welt zu stammen – denn wer steht noch mit beiden Beinen auf der Erde und interessiert sich für die Bibel? Gleichwohl, wer immer etwas von Kultur versteht – und wer würde keinen Wert darauf legen? –, erkennt die Bibel nicht nur als Weltliteratur an, sondern zählt sie auch zu den Grundlagen unserer Kultur. Aber Weltliteratur ist vieles, was wir auch nicht lesen, und zu den Grundlagen unserer Kultur gehört z. B. auch die griechische Philosophie, für die wir uns dennoch nicht unbedingt interessieren. Warum also soll man sich noch mit der Bibel beschäftigen? Man ist vielleicht versucht, an dieser Stelle auf die umfassende Bedeutung der Bibel für Kirche und Christentum hinzuweisen, dass z. B. ein Christentum ohne Bibel, und zwar die des Alten und des Neuen Testaments, kein Christentum mehr ist und dass das Christentum aller Zeiten an der Bibel festgehalten hat, aber das sind zugegebenermaßen eher theoretische Wahrheiten, die nur über die Erkenntnis hinwegtäuschen (sollen), dass die Bibel in unserer Welt – zumindest in der der Bundesrepublik Deutschland– keine oder allenfalls noch eine geringe Rolle spielt. Das gilt, auch wenn die Bibel dank der Gideon-Bruderschaft im Nachtschränkchen jedes Hotelzimmers liegt und die Auflagenzahlen der Bibelübersetzungen vor allem seit der Aufhebung des Eisernen Vorhangs boomen. Die Bibel wird auch von vielen Christen nicht mehr gelesen und folglich auch nicht mehr gekannt. Damit ist ein Teufelskreis angesprochen, den es – zumindest aus christlicher Perspektive – zu durchbrechen gilt.

Die Bibel – ein konservatives Buch?

Weil wir, woher auch immer, der Meinung sind, die Bibel sei ein konservatives Buch, das aus einer verstaubten Zeit stamme und uns nichts mehr zu sagen habe, lesen wir die Bibel nicht, interessieren uns nicht für ihre Interpretation (wenn wir es nicht als irgendwie mit Theologie Arbeitende beruflich müssen) und können so gar kein eigenständiges Urteil fällen, ob und warum die Bibel ein konservatives Buch ist – so feiern die Vorurteile fröhliche Urständ!

Beispiel: Jungfrauengeburt

Ein Beispiel: Was sollen wir mit der neutestamentlichen, bei Matthäus und Lukas überlieferten Aussage von der Jungfrauengeburt noch anfangen? Dass es so etwas nicht gibt, ist dem modernen Menschen oder dem, der sich dafür hält, evident, und deswegen sind auch diese Geschichten überholt und haben dem heutigen Menschen nichts mehr zu sagen! Aber geht es bei diesen Geschichten um den Vorgang als solchen, wollen also die Evangelisten in erster Linie eine naturwissenschaftliche bzw. eine Aussage über die Natur machen, also dass Jesus ohne die Vereinigung von Josef und Maria (vgl. Mt 1,18: „noch bevor sie zusammengekommen waren“) gezeugt und geboren wurde, oder geht es den Evangelisten weniger um den konkreten Vorgang, der damals in zumindest verwandter Weise keineswegs nur von Jesus, sondern z. B. auch von Platon und Alexander dem Großen ausgesagt wurde, als um eine theologische Aussage, die nur mit Hilfe der Vorstellung von der Jungfrauengeburt zum Ausdruck gebracht werden soll? Und sollte das gelten, welche Aussage könnte das sein? Wenn es mehr um diese Aussage, die hinter der Geschichte von der jungfräulichen Empfängnis Jesu steht, als um die Einzelheiten der Erzählung geht, wie sind die Evangelisten auf diese Aussage und diese Geschichte gekommen?

Schon die Tatsache, dass solche Zusammenhänge auch von anderen überragenden Persönlichkeiten in der Antike ausgesagt wurden, ist ein Hinweis darauf, dass die Evangelisten nicht etwa „direkt von oben“ solche Geschichten eingegeben erhielten und dass es sich dabei auch nicht um geheime Familientraditionen handelt, die erst spät ihren Weg aus dem Kreis der Familie zu den Autoren der Evangelien gefunden haben (weil man dann kaum die völlig unterschiedliche Darstellung bei Matthäus und Lukas erklären kann), sondern dass es sich bei solchen Sachverhalten um Gegebenheiten der damaligen Kultur handelt, deren sich Schriftsteller bedienten, um bestimmte Aussagen über herausragende Persönlichkeiten zu machen.

Aussage des Textes

Kulturelle Gegebenheiten

Warum aber greift ein Evangelist wie Matthäus oder Lukas zu einer solchen Darstellung? Was ist näherhin das Motiv oder der tragende Grund für die Rede von der Jungfrauengeburt bei den beiden Evangelisten? Dahinter steckt sicher nicht die Idee späterer Dogmatiker, die fragen: Wie lässt sich das „Wesen Jesu“ zutreffend beschreiben? Selbst wenn das so wäre, wenn es also den Evangelisten in diesen Geschichten um eine Beschreibung des Wesens Jesu ginge, könnten sie damit auf Zustimmung auch in anderen Kulturen rechnen, in denen die entsprechenden Topoi nicht vorkommen? Damit soll wenigstens angedeutet werden, dass solche Aussagen und deren Akzeptanz einerseits bestimmte Erfahrungen und andererseits einen bestimmten Interpretationshorizont dieser Erlebnisse voraussetzen, mit deren Hilfe diese verstanden und gedeutet werden. Diese Erfahrungen sind wichtiger als die Interpretationsmuster, obwohl erstere auf letztere angewiesen sind, weil sie sich sonst dem Verstehen des Menschen entziehen und derjenige, der die Erfahrungen macht, ohne solche vorgegebenen Interpretationsmöglichkeiten nicht einmal versteht, was ihm geschieht.

Erfahrungen und deren Interpretationsmuster

Augenzeugen

Um welche Erfahrungen mag es dabei gehen? Um diese näher beschreiben zu können, ist es wichtig zu wissen, ob der Evangelist Augenzeuge Jesu gewesen ist oder ob er sich wenigstens auf Augenzeugen stützen kann, wobei natürlich nicht an Augenzeugen für das diesen nun einmal nicht zugängliche Phänomen der Jungfrauengeburt gedacht ist, sondern an Augenzeugen Jesu, also an Menschen, die auf eine umfassende Erfahrung mit dem irdischen Jesus zurückgreifen können. Wäre das der Fall, würde also die Aussage von der Jungfrauengeburt in einer Erfahrung mit der Person des irdischen Jesus gründen, so könnte sie sowohl in seinem Handeln, also in seinem Umgang mit den Menschen, in seinen Wundern oder in seiner Art zu sterben ihren Grund haben als auch in seiner Wort-Verkündigung, also im Inhalt seiner Botschaft. Dann wäre freilich zu fragen, wie die Hörer und Leser des Matthäusevangeliums nach Ostern zu dieser Erfahrung, die ja unwiederholbar und vergangen ist, einen Zugang finden und sie übernehmen konnten / können. – Das wäre ganz anders, wenn Matthäus kein Augenzeuge Jesu gewesen wäre und sich auch nicht auf einen solchen für seine Geschichte hätte stützen können, denn dann würden hinter Mt 1 und 2 ausschließlich Erfahrungen mit der Botschaft Jesu oder mit dem Glauben an Jesus stehen, zu denen sowohl die damaligen wie die heutigen Leser des Matthäusevangeliums, die keine Augenzeugen des historischen Jesus gewesen sind, wesentlich leichter Zugang finden würden als zu Erfahrungen, die auf dem lebendigen Umgang mit der Person Jesu basieren und auf diesen angewiesen sind.

2.  Bibelverständnis und literarische sowie geschichtliche Vorkenntnisse

Vorkenntnisse

Diese Überlegungen zeigen, dass zu einem adäquaten Verständnis biblischer Texte eine ganze Reihe von Vorkenntnissen nötig sind, z. B. die Klärung der Frage, ob hinter den Perikopen in den Evangelien Augenzeugen Jesu oder Menschen mit Glaubenserfahrungen stehen, oder gar Menschen, die über beides verfügten.

Das Problem der Vorkenntnisse betrifft aber nicht nur die Überlieferungen, auf die die Evangelisten zurückgegriffen haben, sondern auch die Evangelisten und ihren Anspruch selbst. Was meint etwa Lukas, wenn er im Vorwort zu seinem Evangelium schreibt, dass er sich entschlossen habe, allem von Grund auf sorgfältig nachzugehen, um es der Reihe nach aufzuschreiben? Ist damit bewiesen, dass Lukas sich in unserem Sinne wie ein Historiker verstand, oder einfacher, dass er jedenfalls mit dem Anspruch auftrat, alles in seinem Werk Geschilderte solle für historisch gehalten werden? Und sind wir verpflichtet, diese Ansicht des Lukas zu übernehmen, oder darf man diese Ausführungen im Vorwort des Lukas-Evangeliums im Sinne einer deklaratorischen Formel verstehen, wie sie antike und auch moderne Schriftsteller nicht nur im Vorwort gebrauchen, um Aufmerksamkeit für ihr Werk zu gewinnen, ohne dass man die Formulierungen auf die Goldwaage legen darf? Besagt die von Lukas gewählte Formulierung mehr, als dass er die von ihm gewählte Art des Evangeliums für geeignet hielt, sich „von der Zuverlässigkeit der (christlichen) Lehre (zu) überzeugen“ (Lk 1,4)?

Mit diesen Überlegungen sind wir unversehens von der Frage nach der Bedeutsamkeit der Bibel für den heutigen Menschen zum Problem des Verstehens der Bibel überhaupt hinübergewechselt, was sicher nicht von ungefähr kommt, denn die Frage nach der Bedeutsamkeit der Bibel für den heutigen Menschen kann ja nicht unabhängig von der Frage des Verstehens entschieden werden. Texte, die man nicht versteht, können, zumindest in der Regel, nicht bedeutsam werden, und das Bemühen um das Verständnis eines schwer verständlichen Textes setzt die Vermutung der Bedeutsamkeit dieses Textes voraus. Diese Bedeutungsvermutung sollte für eine Theologie, die sich christlich nennt, hinsichtlich der Bibel gegeben sein, insofern könnte die gestellte Frage nach der Bedeutsamkeit der Bibel auch auf sich beruhen bleiben. Versucht man gleichwohl eine Antwort, die nicht einfach und ausschließlich auf die Behauptung, die Bibel sei Offenbarungsurkunde, abhebt, so wird man u. a. darauf abstellen können, dass der Mensch die Wahrheit nicht selbst produzieren kann, sondern sie sich schenken lassen muss, dass er sich sagen lassen muss, wie Leben gelingen kann und wie es misslingt.

Vermutung der Bedeutsamkeit

Insofern viele und ernsthafte Menschen die Antwort auf diese Fragen in der Bibel gefunden haben, lohnt es sich vielleicht doch, einmal genauer hinzuschauen, was die Bibel sagt und was sie will. Die hinter der Jungfrauengeburt stehende und in ihr sich artikulierende Erfahrung von Menschen, wahrscheinlich sogar des Evangelisten Matthäus selbst, dass in Jesus und seiner Botschaft Gott zu den Menschen spricht, dass hinter dem Jesusgeschehen in einer Weise Gott steht, wie es sonst nur selten oder nie der Fall sein mag, z. B. hat Menschen vieler Generationen überzeugt und ihnen geholfen, mit Hilfe der Botschaft Jesu das Leben zu bestehen. Oder die in dem Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg (Mt 20,1–16) artikulierte Erfahrung, dass Gott einer ist, der dem Menschen zugetan, der um ihn unabhängig von dem, was er „bringt“, bemüht ist, hat ebenfalls viele Menschen überzeugt und ihnen das Leben zu meistern geholfen, die das Lied „Was Gott tut, das ist wohlgetan“ aus Zweifel lieber nicht mitsingen.

Um die Klärung solcher Vorfragen, die für das adäquate Verständnis der Bibel, hier speziell des Neuen Testaments, von Bedeutung sind, soll es im Folgenden gehen.

§ 1

Die Fragen der „Einleitung in das Neue Testament“

Die fünf W-Fragen

Diese Fragen zu stellen, obliegt im Kanon der Wissenschaften der sog. „Einleitung ins Neue Testament“, weswegen man auch von Einleitungsfragen spricht. Darunter versteht man traditionellerweise die Fragen nach dem Verfasser, nach der Entstehungs- und Adressatengemeinde, nach der Abfassungszeit und nach dem Abfassungsgrund einer neutestamentlichen Schrift, die man auch als die fünf W-Fragen bezeichnen kann: Wer schreibt wann, wo, wem und warum, wobei in die Antwort auf das Warum in der Regel noch eine Zusammenfassung der Theologie des jeweiligen Schreibens integriert ist. Aber heutige Einleitungswissenschaft wird sich nicht notwendig auf diesen Fragekanon beschränken können, sondern den Versuch wagen müssen, nach Möglichkeit alles für die Einzelinterpretation Notwendige bereitzustellen.

1.  Die Meinungsvielfalt in den Wissenschaften als Kennzeichen der Moderne

Viele unterschiedliche Ansichten – nicht nur in der Exegese

Bevor damit begonnen wird, muss freilich auf einige Einwände gegen die vorgetragenen Ansichten eingegangen werden, damit wir uns wenigstens am Ausgangspunkt auf einigermaßen sicherem Boden befinden. Der Grund wird bei der Behandlung der Probleme im einzelnen noch, wie häufig bei antiken Texten, schwankend genug werden, wie es überhaupt ein Problem der exegetischen Wissenschaft ist, dass es zu praktisch allen Meinungen immer auch mindestens eine Gegenmeinung gibt. Allerdings sollte man sich hüten, dies für ein Spezifikum der Bibelwissenschaft zu halten. Es handelt sich dabei offensichtlich um ein Kennzeichen modernen Wissens. Ich vermute, dass man das, wenn nicht an allen Wissenschaften, so doch an vielen Wissenschaften zeigen könnte, und nenne hier nur zwei Beispiele dafür aus der Ökonomie der 90er Jahre des vorigen Jahrhunderts:

Während in der schwierigen wirtschaftlichen Lage der Bundesrepublik in den 90er Jahren viele Sachverständige vom englischen Wunder und vom amerikanischen Weg sprachen und damit in England das vorbildhafte Herunterfahren der Lohnkosten sowie in Amerika das ebenso vorbildliche Schaffen von zahlreichen neuen „Jobs“ in der Dienstleistungs-„Industrie“ meinten, konnte man gleichzeitig die Meinung vertreten finden, die Produktivität pro Lohnstunde sei in Deutschland höher als in England. Nach dieser Ansicht waren damals die Lohnstückkosten in Deutschland viel niedriger als in England, und was die Dienstleistungen angeht, so konnte man die Ansicht vertreten finden, man habe in Deutschland nur eine falsche Statistik. In Wahrheit wäre der Dienstleistungssektor in Deutschland in den letzten zehn Jahren viel stärker gestiegen als in Amerika, und der Unterschied bei den in Dienstleistungsunternehmen Beschäftigten habe damals zwischen beiden Ländern nur bei zwei Prozent gelegen. – Offensichtlich ist die große Meinungsvielfalt nicht nur auf die exegetische Wissenschaft beschränkt. Allerdings mag diese in der neutestamentlichen Exegese wegen der geringen Größe des Untersuchungsgegenstandes besonders ausgeprägt sein.

2.  Die Bibel als Buch für Wissenschaftler und „einfache“ Leser

Das Buch für kleine Leute

Nun erhebt sich freilich nicht nur aus frommem Munde gegen die wissenschaftliche Behandlung der Bibel ein Einwand, der m. E. ernst genommen werden sollte. Die Bibel ist nicht in erster Linie ein Buch für Wissenschaftler, sondern für einfache Leser.

Man darf bei aller Wissenschaftlichkeit der Bibelarbeit in der Exegese in der Tat nicht übersehen, dass die Bibel nicht für die Wissenschaft und die an ihrem Betrieb Beteiligten geschrieben ist, sondern ein Buch für die kleinen Leute ist, das auch für diese verstehbar sein muss. Von daher kann man die Meinung vertreten, der Bibelwissenschaft dürfe es nicht darum gehen, möglichst viele Kenntnisse über die Entstehung, den Anlass, den Verfasser und die Abfassungszeit der neutestamentlichen Schriften anzuhäufen, sondern sie habe die Aufgabe, dem Leser der Bibel ohne großes Vorwissen zu einer Begegnung mit der Bibel zu verhelfen.

Analogie: Literatur und Literaturwissenschaft

Anforderungen für Unterricht und Predigt

Dazu lässt sich dreierlei sagen:

a) Diese Art der Bibellektüre ist nicht nur berechtigt, sondern auch notwendig, denn nicht alle Bibelleser können Theologie studieren, und die Zahl der Bibelleser wird hoffentlich immer die Zahl der Theologiestudierenden um ein Vielfaches übersteigen. Zu fragen bleibt freilich, ob die erwähnten Vorkenntnisse die Begegnung mit der Bibel verhindern oder ob sie diese nicht sogar erleichtern und ihr zu größerer Tiefe verhelfen.

b) Das Problem ist zwar bei der Bibel aufgrund der Inspiration ein besonderes, es stellt sich aber in der Literaturwissenschaft auf analoge Weise. Es ist von daher durchaus sinnvoll und dient der Kontrolle der eigenen Überlegungen, einmal zu fragen, wie die Literaturwissenschaft mit der analogen Fragestellung umgeht. Auch bei der Literatur gibt es beides, die unmittelbare Begegnung mit dem Werk und dessen wissenschaftliche Aufarbeitung, und man wird mit Sicherheit nicht sagen können, dass letztere die erstere hindert, vielmehr gilt: Letztere läutert, reinigt und befruchtet die unmittelbare Lektüre, sie zeigt z. B. Bezüge innerhalb des einzelnen Werkes oder des Gesamt-Oeuvres desselben Autors auf, die bei der unmittelbaren Lektüre in der Regel nicht in den Horizont auch des gebildeten Lesers kommen, macht auf Ähnlichkeiten mit und Differenzen zu anderen Werken aufmerksam usw. und verhilft so zu einem vertieften Verständnis des jeweiligen Buches.

c) Wie der Deutschlehrer im Literaturunterricht ein Drama oder eine Kurzgeschichte nicht ausschließlich aufgrund einer bloß subjektiven Begegnung behandeln kann, so auch der Religionslehrer nicht die Bibel, jedenfalls im Normal-fall. Damit soll die existentielle Dimension im Religionsunterricht gerade nicht unterschätzt werden, aber ein Bibelunterricht, der ausschließlich auf reiner Begegnung mit der Bibel beruhte, würde sicher ebenso zu kurz greifen wie ein Religionsunterricht, der ausschließlich die Ergebnisse der Wissenschaft behandelt und die existentielle Dimension vollkommen ausschließt. Wenn Predigt und Religionsunterricht nicht in die absolute Subjektivität und damit letztlich in Unverbindlichkeit absinken wollen, müssen sie – nicht immer, aber doch in der Regel! – zu intersubjektiven Ergebnissen kommen – und das ist hinsichtlich der Auslegung der Heiligen Schrift Aufgabe der Bibelwissenschaft. Dass die Aufgabe, zu intersubjektiven Ergebnissen zu gelangen, nicht immer gelingt, steht auf einem anderen Blatt, dürfte aber ein Kennzeichen des modernen Wissenschaftsbetriebes sein, das die Exegese, wie angedeutet, mit anderen Wissenschaften teilt.

3.  Die Bedeutung der sog. Einleitungsfragen für ein zutreffendes Verständnis der Bibel

Vernachlässigung des Werkes?

Kann damit die Bedeutung der Bibelwissenschaft für Religionsunterricht und Predigt als erwiesen gelten, so ist damit noch lange nicht gezeigt, dass auch die genannten fünf Fragen, um die sich die Einleitung ins Neue Testament insbesondere bemüht, für das Verständnis der biblischen Schriften von Bedeutung sind. Daher muss vor dem Einstieg in die Arbeit noch gefragt werden: Warum ist es von Bedeutung für das Verständnis einer Schrift, den Verfasser, die Adressaten, die Zeit, den Ort und den Grund der Abfassung zu kennen? Die Antwort auf diese Fragen galt bis in die 20er Jahre unseres Jahrhunderts in Exegese und Literaturwissenschaft als unproblematisch, weil die Einsicht allgemein verbreitet war, dass solche Kenntnisse zu einem besseren Verständnis eines Literaturstückes verhelfen. Seitdem wurde diese Fragestellung z. T. als eine Vernachlässigung des literarischen Werkes, seiner Strukturen etc. verstanden und deswegen die ganze Aufmerksamkeit für das Werk selbst und nicht für solche Vorfragen gefordert. Hatte E. Staiger dagegen schon darauf hingewiesen, dass es keinen Sinn mache, das gesammelte Wissen der vergangenen Literaturwissenschaft einfach über Bord zu werfen, so kann des weiteren darauf verwiesen werden, dass für die Antike sehr häufig zur Beantwortung dieser Fragen keine andere Möglichkeit als die Exegese der Werke selbst besteht. Schon von daher steht der Wert dieser Fragestellung für das Verständnis der Werke außer Frage.

Beispiel: Gal 1,11 f.

Der Nutzen einer solchen Fragestellung soll hier noch anhand zweier Beispiele demonstriert werden:

a) In Gal 1,11 f. ist zu lesen: „Ich erkläre euch, Brüder: Das Evangelium, das ich verkündigt habe, stammt nicht von Menschen; ich habe es ja nicht von einem Menschen übernommen oder gelernt, sondern durch die Offenbarung Jesu Christi empfangen.“ Unmittelbares Verstehen würde hier annehmen, Paulus habe sein Evangelium in dieser Offenbarung erhalten und aufgrund der ihm in dieser Offenbarung übergebenen Lehrinhalte habe Paulus, der den historischen Jesus ja nicht gekannt hat, ohne weitere Einführung durch die Apostel oder die anderen Zeugen Jesu seine Botschaft verkündigt. Interpretiert man aber diesen Text in voller Kenntnis der Entstehungsverhältnisse des Galaterbriefes und berücksichtigt, dass Paulus sich hier gegen judaisierende, also das gesetzesfreie Evangelium des Paulus bekämpfende Gegner wehrt, die ihm Abhängigkeit von den Jerusalemer Aposteln vorwerfen, so entsteht ein völlig anderer Eindruck von Paulus und seiner Verkündigung. Diese judaisierenden Gegner waren nach der Abreise des Paulus in das galatische Missionsgebiet eingedrungen und hatten Paulus vorgeworfen, er weiche trotz besserer Belehrung durch die Urapostel von deren Lehre ab und passe das Evangelium an, um bei den Heiden leichter zum Erfolg zu kommen. Paulus habe an sich von den Uraposteln die Notwendigkeit der Befolgung des Gesetzes übernommen und diese auch bislang vertreten, habe sie aber offensichtlich nun aufgegeben, um bei den Heiden größere Erfolge zu erzielen.

Diesen Vorwürfen tritt Paulus mit dem Argument entgegen, dass er sein Evangelium – von der Gesetzesfreiheit! – gerade nicht durch Belehrung von seiten der Apostel, sondern unmittelbar von Gott empfangen hat. Paulus führt also nicht einfach seine ganze Verkündigung auf Gott zurück und er lehnt es auch nicht ab, mit seinem Evangelium überhaupt auf Tradition zu basieren – dem würden auch 1 Kor 11, 23 ff. und 15,3 ff. widersprechen –, sondern er führt das Charakteristische seines Evangeliums, dass Gott in Jesus Christus eine neue Heilsinitiative zugunsten der Menschen ergriffen hat und dass diese Initiative Juden und Heiden in gleicher Weise gilt, auf die ihm unmittelbar zuteil gewordene Offenbarung zurück.

Entstehung des Textes und seine Interpretation

Kenntnis der Entstehungsverhältnisse, hier insbesondere des Anlasses des Briefes, hat also unmittelbare Konsequenzen für die Interpretation. Dabei gilt es freilich, den sog. hermeneutischen Zirkel zu beachten: Zugang zu den Entstehungsverhältnissen einer Schrift bekommt man bei den neutestamentlichen Schriften, wie wir noch sehen werden, in der Regel allein durch die Interpretation dieser Schrift. Hat man sich über die Entstehungsverhältnisse mit Hilfe einer ersten Interpretation Rechenschaft abgelegt, so wird dies die weitere Interpretation der Schrift befruchten, und durch diese wird wieder ein noch besseres Verständnis der Entstehungsverhältnisse ermöglicht usw., wenn nicht durch solche bessere Einsicht in den Text und seine Entstehungsverhältnisse die anfängliche Interpretation in Frage gestellt wird und einer besseren und angemesseneren Platz machen muss.

Beispiel: Mt-Evangelium

b) Wer unbefangen und ohne größere Vorkenntnisse an das Matthäusevangelium herangeht, wird dessen Texte in der Regel unmittelbar zu verstehen versuchen. Wer aber, durch Bibelwissenschaft geschult, weiß, dass das Matthäusevangelium wenigstens in gewisser Weise eine Neuausgabe des Markusevangeliums ist (s. dazu unten § 3), der wird die matthäischen Veränderungen der Markus-Vorlage aufsuchen und unter besonderer Berücksichtigung dieser Veränderungen den Text zu interpretieren versuchen. Dass dieses letztere Verfahren in der Lage ist, den Exegeten vor manchem Irrweg zu bewahren, dürfte deutlich sein, und insofern ist der Vorteil dieses Verfahrens unmittelbar einleuchtend.

Die Bedeutung der W-Fragen für die Interpretation

Beide Beispiele dürften zeigen, dass eine Interpretation der biblischen Texte, die deren Ursprungssituation in Rechnung stellt, den Texten gerechter wird als der unmittelbare Zugriff. Das ist im übrigen natürlich auch in der Literaturwissenschaft bekannt und anerkannt, man spricht dort in diesem Zusammenhang vom situativen Kontext. Man denke nur an die berühmten Beispielsätze: „Der Hund ist bissig“, oder: „Es zieht“, die je nach Situation ganz Unterschiedliches zum Ausdruck bringen können und sollen. Man kann mit einer solchen Bemerkung vor einem Hund warnen, in bestimmten Situationen kann dieser Hinweis aber auch eine Empfehlung sein, gerade diesen Hund auszuwählen. „Es zieht“ kann eine Aufforderung sein, die Tür doch bitte schnell zu schließen oder einfach auf eine gewisse Ungemütlichkeit im Raum hinweisen.

An einem anderen Beispiel verdeutlicht einleuchtend R. L. Rohrbaugh die Bedeutung der Fragestellung nach dem Entstehungsort eines Evangeliums. Er verweist auf die prozentual viel geringere Bildung auf dem Land – er rechnet mit 2–4 % der Bevölkerung auf dem Lande, die lesen und/ oder schreiben konnte (vgl. dazu unten § 12 Exkurs 1) – und demonstriert daran die Bedeutung der Frage, ob das Markusevangelium in Rom oder eher im syrisch-galiläischen Raum verfasst worden ist. Je nachdem musste der Verfasser des Evangeliums von ganz unterschiedlichen Voraussetzungen ausgehen und auch ganz andere literarische Mittel zum Verständnis des Textes einsetzen. Im ländlichen Raum musste das Evangelium ganz überwiegend vorgelesen werden, und diese Tatsache erfordert eine andere Vorgehensweise von seiten des Autors als eine Lektüre, die für das private Studium geschaffen wird.

Literaturwissenschaft und synoptischer Vergleich

Auch die Notwendigkeit und Angemessenheit des synoptischen Vergleichs (s. dazu unten § 3) lassen sich mit Hilfe der Literaturwissenschaft aufzeigen:

H. R. Jauss hat im Zusammenhang mit der Entstehung eines Werkes vom „Erwartungshorizont“ gesprochen, der sowohl den Autor als auch den Hörer / Leser tangiert. Man kann das schön, um wiederum bei einem Beispiel aus der Antike zu bleiben, am Elektra-Stoff verdeutlichen, der im fünften Jahrhundert v. Chr. gleich dreimal bearbeitet worden ist, nämlich durch Aischylos, Sophokles und Euripides. Eine Interpretation z. B. des Dramas des Euripides als des wahrscheinlich letzten dieser drei Verfasser (vgl. dazu Latacz) ohne Berücksichtigung der Dramen der Vorgänger würde völlig übersehen, dass sowohl der Autor als auch der Zuschauer des Dramas unter dem Einfluss der Bearbeitungen des Stoffes durch die Vorgänger an das letzte Werk herangingen, dass also ihr Erwartungshorizont stark von dem der Vorgängerdramen beeinflusst war und dass die Kritik des Euripides an Aischylos eben nur auf der Basis des Dramas des letzteren verstanden werden kann. Das gleiche dürfte zumindest teilweise auch für die Evangelien gelten.

Als Ergebnis unserer Überlegungen können wir festhalten: Obwohl die Verfasser der neutestamentlichen Schriften sicher nicht in erster Linie für Bibelwissenschaftler ihre Werke verfasst haben, sind das Wissen um die Entstehungsverhältnisse einer Schrift und die Kenntnis ihrer Quellen für deren Verständnis von großer Bedeutung. Insofern dürften auch die im Folgenden zu behandelnden Probleme hinsichtlich der Entstehungsverhältnisse der neutestamentlichen Schriften für deren besseres Verständnis von Nutzen sein.

Allerdings stoßen wir bei der Beantwortung dieser Fragen bezogen auf die neutestamentlichen Dokumente auf Schwierigkeiten, die man sich kaum vorstellen kann, wenn man von heutigen Texten herkommt. Wir werden sehen, dass es zwar durchaus sinnvoll ist, die erwähnten Fragen zu stellen, dass aber die Antworten häufig weit hinter den Erwartungen zurückbleiben. Das ist im übrigen nicht nur bei den Texten des Neuen Testaments, sondern auch bei vielen anderen Texten aus der Antike der Fall und hängt mit vielen Ursachen zusammen, von denen hier nur zwei genannt werden sollen. Zum einen sind die Umstände der Abfassung der Schriften häufig kaum oder gar nicht überliefert, und es gibt oft auch keine unabhängigen Nachrichten über die Verfasser bestimmter Schriften aus der Antike. Wenn man sich klar macht, dass uns von vielen Schriften zwar Verfasser und Titel bekannt sind, die Werke aber verlorengegangen sind, so kann man diese Schwierigkeit sicher gut ermessen. Zum anderen ist unser Begriff von Literatur mit dem damaligen kaum vergleichbar.

Man kann sich diesen Unterschied sehr schön an dem Beispiel eines berühmten Arztes aus der Antike verdeutlichen, der durch ein Riesenwerk bekannt geworden ist und der einst ein fremdes Buch unter seinem Namen „veröffentlicht“ fand (Galen, 2. Jh. n. Chr., vgl. Scripta minora Vol. II, ed. I. Müller, S. 98) – eine heute im Zeichen des Copyright und des Urheberrechtsschutzes völlig unmögliche Sache, an der man erkennen kann, durch welchen Abstand die literarischen Produktionsbedingungen der Antike von denen der Gegenwart unterschieden sind.

Literatur

JAUSS, H. R., Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft, in: ders., Literaturgeschichte als Provokation (stb 418) Frankfurt 1973; LATACZ, J., Einführung in die griechische Tragödie, Göttingen 1993; ROHRBAUGH, R. L. s. Lit. zu § 5; SCHMITZ, T. A., Moderne Literaturtheorie und antike Texte, Darmstadt 2002; STAIGER, E., Die Kunst der Interpretation. Studien zur deutschen Literaturgeschichte (dtv WR 4078) München 1974.

I Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

§ 2

Evangelium als Literaturgattung

1.  Das Evangelium und die Evangelien

Das eine Evangelium

Wir reden heute wie selbstverständlich von den Evangelien und meinen damit in der Regel die vier Werke des Neuen Testaments, die in der Form einer Erzählung des Lebens Jesu erscheinen. Diese Redeweise kennt das Neue Testament selbst nicht, der Begriff Evangelium begegnet in ihm ausschließlich im Singular, den Plural findet man zum ersten Mal in der Apologie des Märtyrers Justin († 165: „Denn die Apostel haben in den von ihnen stammenden Denkwürdigkeiten, welche Evangelien heißen, überliefert …“ [Apol I 66,3] – der Verdacht, bei der identifizierenden Formel „welche Evangelien heißen“ handele es sich um eine ► Glosse, hat sich nicht bestätigt). Doch auch bei der Verwendung des Plurals steht im zweiten Jahrhundert die in den neutestamentlichen Schriften betonte Einheit der Frohbotschaft noch ganz im Vordergrund, weswegen man in dieser Zeit vom „Evangelium nach …“ (vgl. die in dieser Zeit entstandenen Evangelienüberschriften) oder vom „dritten Buch des Evangeliums nach Lukas“ (► Canon Muratori) spricht. Die Einheit des Evangeliums betont auch der Ausdruck des Irenäus von Lyon († Ende des zweiten Jahrhunderts) von dem einen Evangelium in vier Gestalten. Nachdem die Sammelbezeichnung Evangelien gefunden war, war die Übertragung des bereits im Neuen Testament begegnenden, aber dort nicht auf die Autoren der vier Schriften angewandten Begriffs „Evangelist“ (Apg 21,8; Eph 4,11; 2 Tim 4,5 – an letzterer Stelle übersetzt die EÜ nicht wörtlich, zutreffender: „verrichte das Werk eines Evangelisten“) auf die Autoren dieser Werke nicht mehr fern. Sie begegnet erstmals zu Beginn des dritten Jahrhunderts bei Hippolyt von Rom (etwa 160–235), Origenes (185–254) und Tertullian (160–220).

Der Sprachgebrauch der 4 Evangelien und die Alte Kirche

Sehen wir einmal davon ab, dass mit Evangelien auch später entstandene Werke bezeichnet werden, die von der Kirche nicht in den Kanon des Neuen Testaments aufgenommen wurden (sog. ► apokryphe Evangelien), so scheint die Anwendung dieses Begriffs auf die von Matthäus, Markus, Lukas und Johannes geschaffenen Werke schon deswegen völlig berechtigt zu sein, weil Markus sein Werk über das Leben Jesu mit den Worten „Anfang des Evangeliums von Jesus Christus“ beginnt (- die Frage, ob neben diesem Verständnis des Genitivs „Jesus Christus“ als genitivus objectivus auch und möglicherweise zugleich ein Verständnis als genitivus subiectivus möglich ist, braucht in unserem Zusammenhang nicht entschieden zu werden). Da keiner der übrigen Evangelisten dem Sprachgebrauch des Markus gefolgt ist und sein Werk in ähnlicher Weise gleich in der ersten Zeile als Evangelium bezeichnet hat und da Lukas sowie Johannes den Terminus in ihren Evangelien überhaupt nicht gebrauchen, dennoch aber diese Werke schon in der Alten Kirche als Evangelien bezeichnet werden, ist eine Nachzeichnung der Entwicklung des Begriffs angebracht.

1.1 Der älteste noch erkennbare Sprachgebrauch

1.1.1 Evangelium als Heilspredigt von Gottes Handeln in Jesus Christus

Evangelium bei Paulus

Der markinische Gebrauch des Wortes Evangelium ist keineswegs der älteste und sicher auch nicht der ursprüngliche. Denn diesen finden wir bei Paulus. In seinen Briefen findet sich bei 46 Belegen v. a. ein vierfacher Gebrauch: In mehr als der Hälfte der Vorkommen wird der Begriff absolut, also ohne nähere Erklärung, gebraucht (Röm 1,16; 10,16; 11,28 u. ö.). Dies ist ein deutlicher Hinweis, dass Paulus hier einen ihm und seinen Lesern vertrauten Begriff benutzt, den er auch selbst schon übernommen hat. An den übrigen Stellen spricht Paulus vom „Evangelium Gottes“ (z. B. Röm 1,1; 15,16), vom „Evangelium Christi“ (Röm 15,19; 1 Kor 9,12) und von „meinem Evangelium“ (z. B. Röm 2,16; 16,25) und meint damit die Verkündigung des Christusereignisses, also die mündliche Predigt von Gottes Heilshandeln in Jesus Christus. Diese Verkündigung ist nicht Menschen-, sondern Gotteswort (vgl. 1 Thess 2,13; 2 Kor 2,17; 4,2; 1 Kor 14,36) und ergeht in der Urchristenheit in unterschiedlichen Formen und Gestalten, z. B. als Missionspredigt vor „Ungläubigen“ oder als Verkündigung vor bereits an Christus Glaubenden.

Evangelium als Verkündigung

Evangelium als Glaubensformel

Die Vielgestaltigkeit des Evangeliums bezeugt Paulus in seinen Schriften. In 1 Kor 15,1 bezeichnet er die von ihm selbst schon (in Antiochien?) übernommene und von ihm den Korinthern übergebene zusammenfassende Glaubensformel von Jesu Tod und Auferweckung (1 Kor 15,3–5) als Evangelium. In Röm 1,3 f. nennt er eine andere Formel, die er im Folgenden zitiert und die nicht wie 1 Kor 15,3–5 das Lebensende und die Auferweckung, sondern den Lebensanfang und die Auferweckung Jesu in den Blick nimmt, Evangelium Gottes: „das Evangelium von seinem Sohn, der dem Fleisch nach geboren ist als Nachkomme Davids, der dem Geist der Heiligkeit nach eingesetzt ist als Sohn Gottes in Macht seit der Auferstehung von den Toten“. An dieser Stelle wird der christologische Inhalt des Evangeliums Gottes ganz deutlich.

Zielt die Bezeichnung Evangelium an den genannten Stellen eindeutig auf den Inhalt der Verkündigung, so kann Paulus sie an anderen Stellen auch auf die Tätigkeit der Verkündiger beziehen. Beide Verständnismöglichkeiten des Begriffs Evangelium begegnen in 1 Kor 9,14 direkt nebeneinander: „So hat auch der Herr denen, die das Evangelium (= Inhalt) verkündigen, geboten, vom Evangelium (= von dessen Verkündigung) zu leben.“

1.1.2 Die Integration der Jesuserzählungen ins Evangelium durch Markus

Das Neue des mk Sprachgebrauchs

Der Inhalt des Evangeliums konnte – das zeigen diese vorpaulinischen Stücke – mit Hilfe unterschiedlicher Formeln vorgetragen werden, aber er war eindeutig christologisch geprägt. Das bedeutet aber nicht, dass zum Evangelium ebenso wie die Glaubensformeln auch die Erzähltraditionen und die Worte Jesu, die wir in den Evangelien finden, gehört hätten. Das ist zwar immer wieder nicht nur unter Verweis auf Apg 10,36 ff. behauptet worden, weil man dort ein altes Predigtschema zu finden meinte. Aber die Annahme, dass Lukas hier auf ein Predigtschema der Urkirche zurückgreift, hat sich nicht bewährt. Wenn Markus den Terminus Evangelium für eine Schilderung des irdischen Lebens Jesu benutzt, so gebraucht er diesen Terminus atypisch und schafft etwas Neues, weil wir kein Zeugnis aus der dem Markusevangelium vorangehenden christlichen Literatur (d. h. konkret: bei Paulus; in Q [s. dazu unten § 4] begegnet der Begriff nicht, wohl aber das dazu gehörige Verb; selbst im Evangelium des Markus können alle Belege für „Evangelium“ vom Evangelisten selbst stammen) haben, in dem der Begriff für episodische Erzählungen aus dem Leben Jesu gebraucht wird.

Evangelium und Erzähltradition

Die Frage, ob Markus damit eine Gattungsbezeichnung schaffen wollte, ist m. E. weniger wichtig. Entscheidend ist, dass nach dem bei ihm vorliegenden Sprachgebrauch die Erzähltraditionen über Jesus und die Worte Jesu zum Evangelium gehören. Das war noch bei Paulus ganz anders. Bei ihm finden sich zwar die meisten Belege für „Evangelium“, aber im Zusammenhang mit diesem Terminus spielen Erzählungen über Jesus oder Worte Jesu keine Rolle, wie Paulus in seinen Briefen ja überhaupt nur ganz selten Bezug auf ein Wort oder eine Tat des irdischen Jesus nimmt, wenn man vom Kreuz einmal absieht. Deswegen ist es keineswegs ausgeschlossen, dass von Anfang an in der Verkündigung der Urchristenheit solche Erzählungen, wie sie in den Evangelien erhalten sind, erzählt und überliefert wurden. Dies ist im Gegenteil sogar sehr wahrscheinlich, weil man sich sonst fragen muss, woher viele Geschichten, die den Eindruck früher Entstehung erwecken, denn überhaupt stammen sollen. Aber als Evangelium wurden diese Geschichten nach allem, was wir noch erkennen können, nicht bezeichnet. Dies ist erst durch Markus geschehen.

Eine andere Frage ist, ob nicht diese Tendenz zur Integration der Jesusworte und -erzählungen ins Evangelium letztlich von den kerygmatischen Formeln selbst gefördert wurde, insofern die in diesen genannten Stationen des Lebens Jesu zu einer Erweiterung durch weitere Einzelheiten aus dem Leben Jesu geradezu aufforderten. Dieser Annahme wird man durchaus positiv gegenüberstehen können, allerdings darf man dabei nicht so weit gehen, dass die Evangelien aus dieser latenten Tendenz der kerygmatischen Formeln zur Auffüllung quasi wie von selbst entstehen mussten. Denn bei Paulus ist eine Entwicklung zu einer größeren Bedeutsamkeit von Erzähltraditionen in keiner Weise erkennbar, und die Logienquelle (s. dazu unten § 4) zeigt, dass die Sammlung der Jesustradition keineswegs notwendig in den Erzählzusammenhang eines Evangeliums münden musste. Von daher scheint mir die Annahme immer noch am besten begründet zu sein, dass die Christenheit Markus zwei Dinge verdankt: Zum einen die Schaffung eines Erzählzusammenhangs über das Leben Jesu und zum anderen die Integration dieses Zusammenhangs in die Heilspredigt von Jesus Christus, das Evangelium. Markus ist der Schöpfer der Gattung Evangelium. Er legte auf die Erhaltung und Sicherung des in sein Werk integrierten Materials großen Wert und schätzte dieses Material so hoch, dass er es für einen wesentlichen Bestandteil des Evangeliums hielt. Deswegen wandte er erstmalig den Begriff des Evangeliums auch auf die Taten und Worte Jesu an. Nach dem markinischen Verständnis erschöpft sich die Heilspredigt also nicht in der Predigt von Jesus Christus und seinen heilsentscheidenden Taten, sondern die Weiterverkündigung von Jesu übrigen Taten und Worten gehört ebenso dazu, auch diese ist „Evangelium“.

Mk als Schöpfer der Gattung Evangelium

1.1.3 Jesus-Erzählungen und Heilspredigt bei den übrigen Evangelisten

Evangelium ohne „Evangelium“

Die anderen Evangelisten sind ihm in diesem Verständnis der Erzählungen von und über Jesus als Evangelium und genuiner Bestandteil der Heilspredigt gefolgt, auch wenn Lukas und Johannes den Begriff „Evangelium“ nicht einmal in ihr Werk aufgenommen haben (Lukas benutzt das Wort allerdings zweimal in der Apostelgeschichte). Schon die Angabe des Zieles im Lukas- und Johannesevangelium, das deren Autoren mit ihren Werken verfolgen (Lk 1,1–4; Joh 20,30 f.), weist eindeutig in diese Richtung. Ihre beiden Erzählungen in der Form eines Lebens Jesu zielen wie das paulinische Evangelium auf das Heil, sind diese Erzählungen doch Aufforderung zum Glauben oder der Versuch von dessen Sicherung. Obwohl sie also den Begriff nicht verwenden, sind sie im Ziel mit Markus und Paulus einig und insofern verdient ihr Werk durchaus die Bezeichnung Evangelium. Im Matthäusevangelium weist die Bezeichnung „dieses Evangelium“ (24,14; 26,13) auf das Verständnis des eigenen Werkes als Heilspredigt hin.

Es entbehrt im übrigen nicht einer gewissen Ironie, dass im weiteren Verlauf der Geschichte des Christentums der von Markus ja doch erst ziemlich spät inaugurierte Gebrauch des Wortes Evangelium dessen ursprüngliche Verwendung so schnell verdrängt hat, dass Origenes sich schon zu dem Hinweis veranlasst sah, das Evangelium sei auch in den Briefen zu finden (Johannes-Kommentar 1,3).

1.2 Die Wurzeln des neutestamentlichen Begriffes „Evangelium“

Woher der Begriff Evangelium im Neuen Testament überhaupt kommt, ist bis heute nicht endgültig geklärt. Es werden zwei „Ableitungen“ vertreten. Die eine knüpft vor allem an den Sprachgebrauch des Alten Testaments an, der allerdings sehr differenziert ist, die andere basiert auf dem Sprachgebrauch im ► Kaiserkult.

1.2.1 Die Ableitung des Begriffes „Evangelium“ aus der alttestamentlich-jüdischen Tradition

Der gemischte atl Befund

Der Begriff Evangelium begegnet in der LXX dreimal, aber nie im Singular (zusätzlich einmal in der weiblichen Form), und trägt dort keine theologische Bedeutung. Auch das hebräische Äquivalent (besorah) hat keine theologische Prägung. Da die Rabbinen das Wort sowohl für eine gute als auch für eine schlechte Nachricht benutzen können, gibt es auch bei ihnen vom Substantiv keine Brücke zum neutestamentlichen, eindeutig positiven und theologisch gefüllten Gebrauch des Wortes Evangelium. Das ist allerdings beim Verb anders. Dieses begegnet im Alten Testament nicht nur häufiger, sondern wird dort, wenn auch bei weitem nicht in allen Belegen, mitunter in einem theologisch gefüllten Sinn verwendet. Vor allem in Jes 52,7;60,6;61,1 liegt ein solcher Gebrauch für die Ankündigung eschatologischen Heils vor. Das Neue Testament zitiert Jes 52,7 (und 61,1) häufiger und verweist schon dadurch evtl. auf das Verb als Brücke. In die gleiche Richtung weist auch 1 QH 23(18),14.

1.2.2 Die Ableitung des Begriffes „Evangelium“ aus dem Kaiserkult

Der gemischte pagane Befund

In der griechischen Literatur ist das Wort bereits seit Homer bekannt und meint dort sowohl die (gute) Nachricht, z. B. die Siegesnachricht, als auch den Lohn für den Überbringer dieser Nachricht. Es kann daneben auch die Opfer, die man zum Dank für eine solche gute Nachricht darbringt, bezeichnen („euangelia“ opfern). Aber eine theologische Bedeutung kommt dem Begriff in dieser Literatur ebenso wenig zu wie in der LXX. Das ist anders in späteren Texten, die in den Bereich des Kaiserkultes gehören und in denen das Wort Evangelium im Plural für die Nachricht z. B. von der Geburt des Kaisers, vom Ende des Krieges oder vom Anbruch einer neuen Zeit begegnet. Am bekanntesten ist das Zitat aus der Kalenderinschrift von Priene aus der Zeit um 9 v. Chr.: „Der Geburtstag des Gottes hat für die Welt die an ihn sich knüpfenden Freudenbotschaften heraufgeführt“ (eine andere Übersetzung lautet: „die durch ihn der Welt gebrachten frohen Botschaften“). Hier und z. B. später auch bei Josephus bezeichnet unser Wort ein für die Bevölkerung des Reiches heilbringendes Ereignis bzw. die Ankündigung einer neuen Heilszeit auf Erden.

Kalenderinschrift von Priene

1.2.3 Der Begriff „Evangelium“ und seine mehrfachen Wurzeln

Diskussion

Gegen die Verwandtschaft des neutestamentlichen Evangeliumsbegriffes mit beiden Verwendungen sind Einwände vorgetragen worden. Hat die alttestamentliche jüdische „Ableitung“ schon wegen des Fehlens eines theologischen Gehalts bei den wenigen Belegen für das Substantiv deutliche Probleme, so wird der Ableitung aus dem Kaiserkult entgegengehalten, dass an den betreffenden Belegstellen (jedenfalls im ersten Jahrhundert) gerade nicht der Singular wie im Neuen Testament, sondern nur der Plural begegne, dort eindeutig nur irdisches Heil gemeint sei und religiöse Rhetorik vorliege. Darüber hinaus müsse sich im Urchristentum eine Auseinandersetzung mit dem heidnischen Evangeliumsbegriff niedergeschlagen haben, wenn dieser von dort entlehnt worden wäre.

In neuerer Zeit hat man sogar den Verdacht geäußert, die Entscheidung für die eine oder die andere Ableitung hänge weniger mit den vorliegenden Texten als von der leitenden Perspektive des jeweiligen Betrachters ab. Die neueste Lösung sieht vor, dass „Evangelium“ begriffsgeschichtlich aus dem angeführten Sprachgebrauch des ► Kaiserkultes in das Christentum Eingang gefunden, die speziell theologische Prägung aber über das Verb aus der Ersten Bibel und aus dem an die Person Jesu Christi gebundenen Begriffsinhalt in der Jesusbewegung erhalten habe (LThK3 3,1058). Ob die Übertragung des Begriffs auf die neutestamentliche Heilspredigt von Jesus Christus erklärt werden kann, indem auch auf den neutestamentlichen (und vorneutestamentlichen) Sprachgebrauch der Jesusbewegung rekurriert wird, wird weiter zu diskutieren sein.

Kompromiss

Vorbereitung durch den Kaiserkult?

Im Mittelpunkt der Frage muss m. E. stehen, was die Verbindung dieses „christlichen“ Inhalts mit dem bereits außerchristlich vorgeprägten Begriff „Evangelium“ möglich gemacht hat. Angesichts der Tatsache, dass der Begriff im Kaiserkult geprägt vorliegt und er uns bereits in den ältesten Dokumenten des Neuen Testaments als feste Bezeichnung begegnet, im Alten Testament aber eine solche Prägung nicht erkennbar ist, ist eine Beeinflussung dieses Sprachgebrauches durch den Kaiserkult sehr gut möglich, wenn auch die Differenz zwischen Singular und Plural nicht übersehen werden darf. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass Josephus, der freilich etwas später als die Synoptiker schreibt, den Singular in der Bedeutung „frohe Botschaft“ (BJ IV 10,6 § 618) kennt. Allerdings ist bei ihm „Evangelium“ keineswegs schon ein (religiöser) Terminus technicus, da er z. B. auch die Bitte um die Niederschlagung eines Aufstandes als „Evangelium“ bezeichnen kann (BJ II 17,4 § 420). Auch das Verb findet sich bei Josephus nur gelegentlich in theologisch gefülltem Gebrauch (Ant V. 8,2 § 277.282). Wieweit die Beeinflussung der neutestamentlichen Verwendung des Begriffes Evangelium durch dessen Gebrauch im Kaiserkult genau geht, ist allerdings noch keineswegs entschieden, sie könnte auch im Sinne einer Vorbereitung zu verstehen sein, indem die Menschen durch den Gebrauch im Kaiserkult mit dem Begriff vertraut wurden und dies die Übernahme des Begriffs erleichtert hat. Dabei könnte dann das im Alten Testament gebrauchte Verb durchaus auch eine Rolle gespielt haben.

Die Bedeutung des irdischen Jesus für das Evangelium

1.2.4 Die Bedeutung der Verbindung des Begriffes „Evangelium“ mit der Jesustradition

Man muss Markus bei der Übertragung des Begriffs Evangelium auf die Worte und Taten Jesu nicht gleich eine historisierende Absicht unterstellen, aber die Tatsache, dass er diese als erster ausdrücklich zum Evangelium, also zur Predigt vom Heilsereignis in Jesus Christus, zählt, ist doch lebendiger Ausdruck für das Bewusstsein, dass sich Tat und Bedeutung Jesu nicht auf seinen Tod am Kreuz und vielleicht auf seine Menschwerdung reduzieren lassen. Auch Jesu Verkündigung ist und bleibt Evangelium, und die offensichtlich nicht wiederholbaren, weil in einer auch für Markus längst vergangenen historischen Situation lokalisierten Auseinandersetzungen mit Jesu Umgebung gehören zum Evangelium, um von den Wundern Jesu gar nicht eigens zu reden. Man hat für dieses Verhalten des ersten Evangelisten in der Vergangenheit unterschiedliche Titulaturen gefunden und z. B. in der Tatsache der Evangelienschreibung einen wichtigen Hinweis dafür gesehen, dass die Bedeutung Jesu Christi für den christlichen Glauben sich nicht auf das „Dass“ seines Gekommenseins reduzieren lässt, wie man die Glaubensformeln verstehen könnte. Besonders eindrucksvolle Formulierungen hat in den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts Ernst Käsemann hierzu gefunden, von denen wenigstens zwei angeführt werden sollen:

„Einig war man sich in dem Urteil, dass die Historie Jesu für den Glauben konstitutiv sei, weil der irdische und der erhöhte Herr identisch sind. Der Osterglaube hat das christliche►Kerygma begründet, aber er hat ihm seinen Inhalt nicht erst und ausschließlich gegeben“ (203).

„Denn wenn die Urchristenheit den erniedrigten mit dem erhöhten Herrn identifiziert, so bekundet sie damit zwar, dass sie nicht fähig ist, bei der Darstellung seiner Geschichte von ihrem Glauben zu abstrahieren. Gleichzeitig bekundet sie jedoch damit, dass sie nicht willens ist, einen►Mythos an die Stelle der Geschichte, ein Himmelswesen an die Stelle des Nazareners treten zu lassen … Offensichtlich ist sie der Meinung, dass man den irdischen Jesus nicht anders als von Ostern her und also in seiner Würde als Herr der Gemeinde verstehen kann und dass man umgekehrt Ostern nicht adäquat zu begreifen vermag, wenn man vom irdischen Jesus absieht“ (196).

Hier wird die theologiegeschichtliche Bedeutung der markinischen Idee genügend deutlich. Denn ob wir ohne ihn Evangelien im Sinne der Werke der vier Evangelisten hätten, ist keineswegs ausgemacht. Lukas nennt nicht zu Unrecht die Vorgängerwerke in seinem Vorwort. Die Bedeutung der Tatsache, dass und wie Markus als erster den Weg der Integration der Jesusworte und -erzählungen in das Evangelium gegangen ist und damit zum Wegbereiter für seine Nachfolger wurde, ist nicht leicht zu überschätzen.

Die Bezeichnung der vier Evangelien als solche ist nicht der älteste Sprachgebrauch, vielmehr bezeichnet das Wort Evangelium bei Paulus die Heilspredigt vom Christusereignis und zusammenfassende Formeln der wichtigsten Heilsereignisse (1 Kor 15,3–7; Röm 1,1–4). Markus hat als erster, indem er diesen Begriff auf sein Werk angewendet hat, das Leben Jesu in das Evangelium integriert, und die übrigen drei Evangelisten sind ihm darin gefolgt, auch wenn Lukas und Johannes den Begriff nicht verwenden. Die neutestamentliche Verwendung des Begriffs lässt sich einlinig weder aus dem Alten Testament noch aus dem heidnischen ► Kaiserkult ableiten, beide könnten jedoch durchaus die Christen bei der Anwendung dieses Begriffes beeinflusst haben.

2.  Die literarische Gattung Evangelium und ihre Wurzeln

Die Frage nach der Pilotfunktion des Markus stellt sich aber auch noch in anderer Richtung. Hat er nicht nur als erster das Leben Jesu in das Evangelium und damit in das ► Kerygma integriert, sondern daneben auch noch eine ganz neue literarische Gattung, eben die des Evangeliums, geschaffen, oder kann er sich bei seinem Werk an andere Werke der Antike anlehnen und deren literarische Gattung übernehmen?

2.1 Übereinstimmungen und Differenzen zwischen den vier Evangelien und die Gattung „Evangelium“

Einheitliche Literaturgattung?

Die Evangelien weisen untereinander zweifellos neben den noch zu nennenden Übereinstimmungen auch eine Reihe von Unterschieden auf. So überliefern Matthäus und Lukas eine sog. Kindheitsgeschichte, Markus und Johannes dagegen nicht. Lukas beginnt mit einem für damalige Verfasser typischen Vorwort mit deutlichen literarischen Ambitionen, das wiederum die anderen Evangelisten so nicht kennen, während Johannes sein Werk mit dem Prolog beginnt, zu dem es in den synoptischen Evangelien keine Parallel-Überlieferung gibt. Angesichts dieser Differenzen im Stoff ist die Frage berechtigt, ob es überhaupt sinnvoll ist, von einer einheitlichen Literaturgattung zu sprechen und ihr alle vier Evangelien zuzuweisen.

Freilich gehört zu einer Nennung der Unterschiede auch die Anführung der Übereinstimmungen: Beginn des öffentlichen Wirkens Jesu mit der Taufe durch Johannes den Täufer, öffentliche Wirksamkeit in Galiläa (allerdings im vierten Evangelium immer wieder auch in Jerusalem), Wundererzählungen und Streitgespräche, Ende in Jerusalem und Auferstehung. Diese geben den Evangelien abgesehen von der einheitlichen Hauptperson ein so übereinstimmendes Gepräge, dass man diese doch wohl zu Recht einer einheitlichen Größe zuweisen kann, zumal sich diese Gemeinsamkeiten keineswegs nur auf das gemeinsame Thema / die gemeinsame Hauptperson und den gemeinsamen Rahmen (der im Johannesevangelium wenigstens dem der Synoptiker sehr ähnlich ist) beschränken.

Verwandtschaft im Formalen