Einsame Wölfe - Florian Hartleb - E-Book
SONDERANGEBOT

Einsame Wölfe E-Book

Florian Hartleb

0,0
15,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 16,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Utøya, München, Macerata - Unsere liberale Gesellschaft ist in den letzten Jahren mit einer neuartigen Form von Hass konfrontiert, mehr noch: sie wird davon fundamental bedroht. Rechtsextremisten belassen es längst nicht mehr nur bei Worten, sondern führen konkrete, perfide geplante Anschläge durch, die von Einzelnen, sogenannten Einsamen Wölfen ausgeübt werden. Deutschen Behörden haben diese neue Form des Terrorismus bereits viel zu lange ignoriert. Florian Hartleb hat ein aufrüttelndes Buch darüber verfasst, wie sich Einzelgänger über das Internet vernetzten und so radikalisieren, bis sie für die "weiße Rasse" töten wollen – und warum der Staat bislang hilflos zusieht und relativiert. Er kennt die persönliche Kränkungsideologie der Täter, weiß, wo sie sich radikalisieren und welche Ideologie ihren Attentaten zugrunde liegt. Ein alarmierendes, präzise recherchiertes Buch, das einen eindringlichen Ausblick auf die Folgen rechten Denkens und den zunehmend globalisierten Rechtsterrorismus wirft.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 271

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Florian Hartleb

Einsame Wölfe

Der neue Terrorismus rechter Einzeltäter

Hoffmann und Campe

I. Rechter Terror. Noch immer eine unterschätzte Gefahr

1. Die aktuelle Bedrohung durch Terroranschläge von Einzeltätern

Eine neue Art der Beklemmung hält in den westlichen Gesellschaften Einzug. Das 21. Jahrhundert ist zwar schon jetzt das Jahrhundert des Individualterrorismus. Doch die neuartige Art der politisch motivierten Brutalität ist »hausgemacht« (homegrown) und nicht per se dem islamistischen Fundamentalismus zuzuordnen: Rechtsradikale töten, um eine Gesellschaft nach ihren Maßstäben zu errichten, ohne große Organisation im Hintergrund, sondern autonom und scheinbar unvorhersehbar. Dabei hätte sich die Weltöffentlichkeit dieser Gefahr spätestens seit dem 22. Juli 2011 bewusst sein müssen: Nach jahrelanger Planung ermordete der norwegische Rechtsextremist Anders Behring Breivik nach einer diabolischen Choreographie 77 Menschen, darunter viele Jugendliche. Erste reflexhafte und vorschnelle Einschätzungen, etwa von den medial gefragten Experten Guido Steinberg oder Elmar Theveßen,1 meinten ob der Kaltblütigkeit einen Akt von al-Qaida zu erkennen.

Es stellte sich jedoch schnell heraus, dass hier ein Einzeltäter gehandelt hatte. Breivik fiel vorher polizeilich nicht auf, war weder einschlägig registriert noch vorbestraft. Geradezu weitsichtig zeigte sich der frühere US-Präsident Barack Obama im Nachgang der Breivik-Attacken. Er äußerte im August 2011, dass die Bedrohung durch die »Einsamen Wölfe« (lone wolves), die terroristischen Einzeltäter, größer sei als die durch organisierte Gruppen, die etwa den Terroranschlag vom 11. September 2001 durchführt hatten. Obama konstatierte: »Das Risiko, mit dem wir gegenwärtig konfrontiert sind, ist der Einsamer-Wolf-Terrorist, jemand mit einer einzigen Waffe, der in der Lage ist, Massaker von großem Ausmaß durchzuführen, wie wir sie kürzlich in Norwegen sahen.«2

Es geht den Feinden einer demokratischen Werte- und Gesellschaftsordnung längst nicht nur um Worte, etwa im virtuellen Raum, sondern um Taten. Um konkrete, perfide geplante Aktionen, die von Einzelnen, sogenannten Einsamen Wölfen, durchgeführt werden. Diese neue Dimension von Terrorismus wurde lange Zeit von politischen Entscheidern, Ermittlungs- und Geheimdienstbehörden sowie Terrorismusexperten ignoriert und als Taten von verrückten Einzelgängern ad acta gelegt. Diese Tendenz hält bis heute an. Rechtsextremistische und/oder fremdenfeindlich motivierte Gewaltakte gelten Sicherheitsbehörden und anderen Beobachtern eigenartigerweise immer noch als emotional-hassgeladen, wenig planhaft und organisiert. Politisch motivierte Intensivtäter, die ein rechtsextremistisches Weltbild haben, tauchen in wissenschaftlichen und journalistischen Arbeiten »unter ferner liefen« auf.3

Terror durch Einzelne, ohne dass eine Organisation dahinter die Strippen zieht – dieses Phänomen, umschrieben mit der Metapher des Einsamen Wolfes, meinten wir bislang nur aus anderen Weltregionen zu kennen, aus Afghanistan, dem Irak oder dem Israel-Konflikt, wo radikale Palästinenser gezielte Messerattacken verüben. Doch ob wir es wahrhaben wollen oder nicht: Akte des Terrors, selbst mit Bussen und LKW, kommen mittlerweile auch in Europa vor. Nicht immer muss der Hintergrund dabei ein politischer sein, wie wir seit dem Anschlag von Münster durch Jens R. im April 2018 wissen. Der Mann raste mit einem Kleinbus in die Menschenmenge, tötete vier Menschen und verletzte zahlreiche Personen.4 Doch zeigt sich bei all diesen Handlungen die zerstörerische Kraft des Individuums.

Es ist höchste Zeit, die Gewaltexzesse von Einzeltätern als akute Bedrohung wahrzunehmen und zu erkennen. Dazu gehört die Einsicht, dass diese Bedrohung bislang nur unzureichend charakterisiert wurde, terroristische Gewalttaten von rechts fast immer jeden politischen Anspruchs beraubt werden.5 Wir sind bislang nicht auf diese Art von Gefährdung vorbereitet, verbinden wir doch Terrorismus mit festen Netzwerken und Strukturen sowie mit einer sorgsamen Planung, die eine hohe operative Intelligenz erfordert. Einem Einzeltäter traut man es scheinbar nicht zu, sich ohne direkte Anbindung an eine Gruppe derart zu radikalisieren und danach unter dem Denkmantel von politischem Fanatismus in Eigenregie loszuschlagen – als Ultima Ratio. Es scheint den Behörden oft unbegreif‌lich zu sein, dass solch ein Täter keine kriminelle Vorgeschichte haben muss, dass er ein sogenannter »Clean-Face-Täter«6 sein kann, also jemand, der vermeintlich in die Gesellschaft integriert und polizeilich nicht vorbelastet ist.

Dieses Buch tritt den Gegenbeweis an und gibt erstmals einen fundierten und detaillierten Einblick in die Charakteristika, Motivationen und Radikalisierungsprozesse rechtsradikaler Einsamer-Wolf-Attentäter. Die Bezeichnung »Einzeltäter« steht in diesen Fällen lediglich für die konkrete Tatplanung. Sie verneint nicht, dass die einschlägige Gewalt- und Ideologiefixierung der Täter Ursachen hat, dass ihre Taten Folge von Kommunikation und Interaktion mit Gleichgesinnten sein können und dass die Akteure sich angesichts von zunehmender Fremdenfeindlichkeit in der Gesellschaft und des damit einhergehenden Diskurses motiviert fühlen. Ihre Taten sind alles andere als ein Spontanakt: Aber vieles passt auf den ersten Blick doch nicht zusammen.

Eine Annäherung an die Thematik kann nur über Mosaiksteine erfolgen, ein diffuses Unbehagen bleibt. Die öffentliche Sicherheit ist in den westlichen Demokratien, dort, wo bisher der Grundsatz galt, dass Menschen hier im Großen und Ganzen gut und gerne leben, gefährdet. Das politisch motivierte Engagement der Täter speist sich aus rassistischen Versatzstücken, Überlegenheitsdenken und der gewollten Eliminierung von Menschen. Wir sehen uns konfrontiert mit Menschen, die für die »weiße Rasse« morden wollen, die ihr Weltbild auf Adolf Hitler beziehen und im Terror einen Weg sehen, ihre persönlichen Kränkungen zu überwinden und ihren Hass mit Gewalt auszudrücken. Ihr niedriger Beweggrund ist militanter Ausländerhass: Sie wollen in erster Linie eine ethnische Minderheit im eigenen Land ins Mark treffen und stellvertretend die Gesellschaft als Ganzes. Gerade die Opferauswahl unterscheidet den Rechtsterrorismus von anderen Varianten des Terrors – vom Linksterrorismus, der sich gegen Symbole des Kapitalismus und den »Bonzenstaat« richtet, und vom islamistischen Fundamentalismus, der den Westen und »Andersgläubige« ins Visier nimmt.

2. Emotionale Aufladung – Die Frage nach dem »Warum«

Der Risikoforscher Nassim Nicholas Taleb bringt in seinem Weltbesteller Antifragilität. Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen meine eigene Motivation, dieses Buch zu schreiben, auf den Punkt: »Wir wollen Ungewissheit nicht nur knapp überleben, nicht nur ›gerade noch einmal davonkommen‹. Wir wollen Ungewissheit vollkommen unbeschadet überleben und darüber hinaus – wie eine bestimmte Klasse streitlustiger römischer Stoiker – das letzte Wort haben. Die Frage ist: Wie gelingt es uns, das, was wir nicht sehen, nicht durchschauen, nicht erklären, zu domestizieren, zu dominieren, vielleicht sogar zu bezwingen?«7 Wenn das gelingen soll, braucht es strategische und internationale Kompetenz – rechtzeitig. Schließlich finalisiert Terror einen akribisch vorbereiteten Akt. Er wühlt durch seine scheinbare Unvorhersehbarkeit unser aufgeklärtes Wertesystem auf.

Menschen, die nicht mehr in zivil-harmonischer Weise mit sich reden lassen, wollen der westlichen Gesellschaft, in der sie leben, einen letzten Bärendienst erweisen. Wenn Menschen aus Lust oder Rache töten, einfach willkürlich, nennen wir sie Mörder oder Amokläufer. Töten Menschen nach Plan und aus politischen Überzeugungen, verbunden mit einer heroischen Selbstüberhöhung, sprechen wir von Terroristen. Wir fragen uns unwillkürlich: Wie konnte es passieren, dass eine offenbar kranke Idee umgesetzt wurde? Welche Botschaft liegt solchen Taten zugrunde? Geht es um einen destruktiven oder revolutionären Impuls? Lassen sich im sozialen Umfeld Spuren finden? Generell: Was hätte die Gesellschaft tun können, um das zu verhindern? Warum griffen die Mechanismen eines Frühwarnsystems im sozialen Umfeld nicht? Weshalb sind die Sicherheitsbehörden nicht rechtzeitig eingeschritten? Zugleich zeigt die Kamera, oft sensationsheischend, das Ausmaß an Verzweif‌lung und Zerstörung.8 Das deckt sich mit der Gaffermentalität in der Gesellschaft, die auf Schaulust beruht. In der Medienbranche ist bereits zynisch von »Terrortainment« die Rede. Die Terrorberichterstattung trägt Züge einer medialen Hysterie, die starke kommerzielle Züge trägt.9 Mit anderen Worten: »Terrorismus ist ein emotional besetztes Modethema.«10

Warum erschüttert uns Terrorismus so sehr? Immerhin ist die Wahrscheinlichkeit, Opfer eines Terroraktes zu werden, nach wie vor gering. Dazu gibt es einige Erklärungsansätze:

Wir unterteilen die Menschen in »ganz normal« und »psychisch gestört«. Besonders das Extreme fasziniert uns.

Es gefällt uns, über Implikationen im sozialen Umfeld zu rätseln, Dekadenz und einen Verfall der Sitten zu wittern.

Es fesselt uns, über die politische Motivation zu diskutieren, generell über die Botschaft, die sich hinter einer von langer Hand geplanten Tat offenbar verbirgt.

Wir hinterfragen die Gewichtung von persönlicher Kränkung und exzessiver politischer Radikalisierung beim Täter.

Wir trauern um die Opfer, deren Leben willkürlich und abrupt ausgelöscht wurde.

Wir denken an eine angemessene Würdigung, reflektieren über die Frage nach einer gebührenden Erinnerungskultur.

Es wird deutlich, dass Staat und Gesellschaft nicht perfekt sind und dass wir Alarmzeichen früher erkennen müssen, um solch eine Tat in Zukunft zu verhindern.

Wir diskutieren, ob im ersten Schritt die öffentlichen Reaktionen der Schwere des Anlasses angemessen waren und ob im nächsten Schritt die Präventionsmaßnahmen nachhaltig angelegt sind.

Grad und Art des Terrorismus sagen etwas über den Ist-Zustand unserer Gesellschaft aus. Vielleicht liegt gerade darin der besondere Anreiz begründet, die dahinterstehende Botschaft zu entschlüsseln und eine Gegenstrategie zu entwickeln.

3. Rechter Terror in der öffentlichen Wahrnehmung

In der Öffentlichkeit spielen heute islamistische Fundamentalisten als Bedrohung die zentrale Rolle, sie dominieren in terroristischer Hinsicht die Berichterstattung. Al-Qaida und IS rufen explizit zu Einsamer-Wolf-Terrorismus auf und bekennen sich zu entsprechenden Anschlägen – unabhängig davon, ob wirklich Verbindungen bestanden haben. Über die Motive, Radikalisierungsprozesse und die Gefahr, die von islamistischen Terroristen für unsere liberale Gesellschaft ausgeht, wird viel und ausführlich geschrieben. Das ist auch völlig berechtigt.

Rechte Terroristen, wie der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) in Deutschland, scheinen hingegen eine Randerscheinung zu sein. Eine öffentliche, anhaltende Auseinandersetzung findet nicht auf gleiche Weise statt. Dabei gibt es Studien, wonach die rechtsextremistisch eingestellten Einzeltäter mehr Menschen getötet haben als solche mit islamistischen Motiven. Doch steht der islamistische Fundamentalismus im Zentrum der Aufmerksamkeit, da er einen größeren Bedrohungszusammenhang repräsentiert.11

Eine neue Dimension wurde der Weltöffentlichkeit am 22. Juli 2011 vor Augen geführt, als das friedliche Norwegen ins Mark getroffen wurde. Genau fünf Jahre danach, am 22. Juli 2016, kehrte ein ähnliches Muster des Rechtsterrorismus in München wieder: die akribische, im virtuellen Raum forcierte Planung, die gezielte Opferauswahl, mit einer Glock 17 die gleiche Tatwaffe und der rassistische Bezug. Nicht nur der indische Intellektuelle Pankaj Mishra erkennt hier in seinem weit beachteten Besteller Das Zeitalter des Zorns. Eine Geschichte der Gegenwart die offenkundige Parallele. Er sieht »Erben des Nihilismus« und »verwandte Geister« am Werk. Breivik sei »der erste vom Internet hervorgebrachte Massenmörder […]. Er inspirierte seinerseits den deutsch-iranischen Teenager.«12 Bei diesem Teenager handelte es sich um den 18-jährigen David Sonboly, als Ali Sonboly Hamedani in München geboren und dort aufgewachsen. Dieser Gewaltakt stellte alles in Deutschland auf den Kopf. Er schien so ungewöhnlich zu sein, dass er sich einer Einordnung scheinbar entzog. Die Behörden waren auf diese Art des Terrors einfach nicht eingestellt und haben bei der Ermittlungsarbeit entscheidende Details nicht beachtet.

Um uns dem Verständnis des Falls »Sonboly« und seiner Bedeutung zu nähern, müssen wir auch betrachten, was den Terror allgemein in unserer Zeit ausmacht. Zwischen den Tätergruppen gibt es Überschneidungen, aber auch große Unterschiede, die nicht vernachlässigt werden dürfen. Der terroristische Anschlag ist so kalkuliert, dass er in Echtzeit maximale Aufmerksamkeit auf sich zieht – vorschnelle Urteile und hysterische Reaktionen eingeschlossen. In Zeiten von Facebook, Twitter und Co. entfaltet diese Komponente eine besondere Wirkung. Die Orchestrierung bezieht die Möglichkeit einer späteren literarischen oder filmischen Darstellung mit ein, es entsteht ein mediales Narrativ. Heute gilt mehr denn je ein Urteil, das bereits vor vier Jahrzehnten getroffen wurde: »Kommunikation ist unerlässlicher Bestandteil der terroristischen Gewalttat: Der Terrorist bewirkt für sich allein nichts, die Publizität hingegen alles.«13 Anders ausgedrückt: Öffentlichkeit ist der Sauerstoff für Terroristen.

Es besteht kein Zweifel: Das Phänomen des Terrors ist en vogue, hat längst globale Ausmaße erreicht. Passiert ein Anschlag, drücken politische Entscheider einander Solidarität und Mitgefühl aus, versprechen, in einem »Kampf gegen den Terror« fest zusammenzustehen. Wer heute von Terrorismus spricht, hat das Weltereignis des 11. September 2001 vor Augen, denkt an die größten Schreckensereignisse etwa in Brüssel oder Paris, als terroristische Netzwerke brutal zuschlugen. Oder an das Horrorjahr 2016, als die Lkw-Attacken auf der Prachtmeile in Nizza und auf einem Weihnachtsmarkt in Berlin unschuldige Menschen abrupt und unvermittelt in den Tod rissen. Diese Ereignisse haben dazu geführt, dass inzwischen geradezu reflexhaft hinter jedem Anschlag ein islamistischer Hintergrund vermutet wird. Man kann davon ausgehen, dass sich unmittelbar nach jeder Tat Populisten melden, die eine Attacke auf den Westen durch »den Islam« vermuten, um mit simplifizierender Empörungsrhetorik Kapital daraus zu schlagen.

Das alles ereignet sich in einem Kontext, wo allerorten in Anlehnung an ein Zitat aus William Shakespeares Hamlet konstatiert wird, dass die Zeit aus den Fugen geraten sei. Der Held des Dramas, der Prinz von Dänemark, übt sich mehr und mehr im Selbstmitleid, bis er sich schließlich seinem Schicksal fügt. Befinden wir uns ebenfalls auf diesem Weg? Der Soziologe Ulrich Beck prägte mit seinem Weltbesteller den Begriff der »Weltrisikogesellschaft«, in der die Suche nach einer verlorenen Sicherheit prägend wird. Risiken sind demnach nicht nur real vorhanden, sondern werden inszeniert und für politische Ziele ausgenutzt. Mit dem Resultat, dass Angst zum dominanten Lebensgefühl wird.14 Das gilt insbesondere für Terroristen: »Ihnen gelingt ein Doppelschlag, zunächst mit physischer Gewalt und dann über unsere Gehirne. Der erste Schlag zieht zunächst die ganze Aufmerksamkeit auf sich, der zweite bleibt hingegen oft unbemerkt.«15

Fast geht bei der heutigen, emotional aufgeladenen Debatte um die neue Dimension des Terrors ein wichtiger Aspekt unter: Entgegen der aktuellen Aufregung ist der Terror in Westeuropa nicht neu. Europa wurde ab den siebziger Jahren bis Mitte der neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts immer wieder von Terrorwellen heimgesucht. Globale Datenbanken zeigen, dass der Terrorismus weltweit zunimmt, nicht aber in Europa. Forscher der US-Universität Maryland versuchen seit 1970 weltweit Terroranschläge zu dokumentieren. Eine Terrorattacke gelangt unter folgender Voraussetzung in die »Globale Terrorismus Datenbank«: Ein nichtstaatlicher Akteur muss vorsätzlich Gewalt gegenüber Menschen oder Objekten anwenden oder zumindest androhen, um politische, religiöse oder soziale Ziele zu erreichen.16

Es existiert und existierte eine Vielzahl von terroristischen wie separatistischen Organisationen: die sich katholisch nennende Irisch-Republikanische Armee (IRA) in Nordirland, die baskisch-separatistische Euskadi Ta Askatasuna (ETA – baskisch für Baskenland und Freiheit), die linksextremistische Rote Armee Fraktion (RAF) in der Bundesrepublik Deutschland, die kommunistischen Roten Brigaden und die neofaschistische Ordine Nuovo in Italien sowie viele nicht-europäische Terrorzellen. Diese Gruppen haben die Strukturen der jeweiligen Länder infrage gestellt und wurden von Teilen der Bevölkerung aktiv oder heimlich unterstützt. Ein Blick auf die siebziger und achtziger Jahre zeigt, dass damals jährlich sogar noch mehr Opfer beklagt wurden als heutzutage.17 Allein den Terrorakten der IRA fielen in 30 Jahren mindestens 3500 Menschen zum Opfer. Der Rechtsterrorismus spielte bei der Betrachtung des Nachkriegsterrorismus im 20. Jahrhundert eine vergleichsweise bescheidene Rolle. Das hat sich nun schlagartig geändert, zumal sich der »Erfolg« des Terrorismus nicht nach der Zahl der getöteten oder verletzten Opfer bemisst. Als ein wichtiges Kriterium gilt die Aufmerksamkeit, die eine terroristische Attacke bekommt.

4. Die NSU als Menetekel

Das unerkannte Agieren des Nationalsozialistischen Untergrundes (NSU) kann als Beginn einer neuen Dimension des Rechtsterrorismus in Deutschland gelten. Die Morde der Kleinzelle NSU wurden jedoch jahrelang als unpolitische Kriminalität abgetan, gar die Hinterbliebenen der Opfer selbst verdächtigt. Über 13 Jahre, von 1998 bis 2011, lebten die drei Rechtsextremisten Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe im Untergrund und ermordeten in dieser Zeit mindestens zehn Menschen – neun Migranten und eine Polizistin. Die einzige überlebende Person, Beate Zschäpe, wurde im Juli 2018 nach einem Prozess, der mehr als fünf Jahre dauerte, zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Ihre rechtsextremistische Gesinnung konnte ebenso nachgewiesen werden wie ihr wesentlicher Tatbeitrag. Offensichtlich hatte es das Trio primär auf die Face-to-Face-Ermordung von Ausländern abgesehen, nach dem Motto »Taten statt Worte«. Darüber hinaus gingen mehrere Banküberfälle und Sprengstoffanschläge auf das Konto der Terroristen. Bekennerschreiben fanden sich nicht. In einem später aufgefundenen Film machten sich die Täter in höhnischer und zynischer Weise über ihre Verbrechen lustig, sprachen auch von einem »Netzwerk an Kameraden«.18 Die deutschen Sicherheitsbehörden und Geheimdienste sahen, vorsichtig gesagt, tatenlos zu. Es gab keine Frühwarnung für rechten Terrorismus, obwohl das von politischer Seite behauptet wurde. Der damalige Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich pries den Verfassungsschutz nur wenige Monate vor Bekanntwerden des NSU als »unverzichtbares Frühwarnsystem«, das »gute und wertvolle Arbeit« leiste.19

Im Verfassungsschutzbericht stand: »Auch 2010 waren in Deutschland keine rechtsterroristischen Strukturen feststellbar.«20 Dabei hatte das mörderische Trio in ganz Deutschland ein großes Unterstützernetzwerk, bis zu 200 Personen, die etwa Wohnungen und Waffen bereitstellten, logistisch und finanziell unter die Arme griffen. Die Morde wurden quer durch Deutschland verübt, von Rostock über Dortmund bis nach München. Es wäre daher unzutreffend, von einem abgeschotteten Terror-Trio zu sprechen. Der Verfassungsschutz spielte eine äußerst unglückliche Rolle. Ein massiver Vertrauensverlust in die Einrichtung entstand nach dem Bekanntwerden von Aktenvernichtungen und Manipulationen von Computerdateien in den Behörden, speziell in einigen Landesämtern des Verfassungsschutzes.21

Inspiriert waren die NSU-Terroristen offenbar von dem Einzeltäter John Ausonius, der sich Anfang 2018 in einem 26 Jahre alten Mordprozess in Frankfurt verantworten musste. Der als Wolfgang Alexander John Zaugg geborene Schwede mit deutsch-schweizerischen Wurzeln war Anfang der neunziger Jahre wegen einer Mordserie auf Einwanderer in Schweden bekannt geworden. Die schwedischen Medien nannten ihn den »Lasermann«, weil er für einige seiner Anschläge eine Laser-Zielvorrichtung auf ein abgesägtes Gewehr montiert hatte. Der Verfassungsschutz bezeichnete ihn 2012 als »mögliche Blaupause für den NSU«, als er schließlich von der deutschen Terrorzelle Kenntnis nahm. Die Leiterin der Rechtsextremismus-Abteilung des Inlandsgeheimdiensts berichtete von »deutlichen Parallelen« bei den beiden rassistischen Tatserien – diese erschöpften sich längst nicht darin, dass die Opfer zufällig ausgewählte Einwanderer waren. Die Bundesanwaltschaft führte deswegen ein Prüfverfahren gegen Ausonius. Es existieren verblüffende Analogien: Wie er schossen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt oft aus direkter Nähe auf den Kopf ihrer Opfer, die sie nicht persönlich kannten.22 Das Leben finanzierten sie sich mit Banküberfällen. Warum aber sollte sich das Zwickauer Terror-Trio ausgerechnet einen schwedischen Serientäter zum Vorbild genommen haben? Auch hier hat der Verfassungsschutz eine Theorie: Sie könnten von seinen rassistischen Anschlägen in Schriften des weltweit agierenden rechtsextremen Blood-and-Honour-Netzwerks gelesen haben. Anfang der 2000er Jahre erschien unter dem Pseudonym »Max Hammer« (dahinter steht der norwegische Neonationalsozialist Erik Blücher) das sogenannte C18-Field-Manual (auch als Blood & Honour Field Manual bekannt). Dort steht unter anderem, dass der »arische Mensch kämpfend sterben müsse«.23 In einem Extra-Kapital über Terrorismus wird John Ausonius lobend erwähnt.24 Ausonius hinterließ wie der NSU keine Bekennerschreiben – ein Kalkül? Eine gefundene Adressenliste weist auf die engmaschige Verbindung zu Blood and Honour hin.

Hier zeigt sich bereits die über Grenzen hinweggehende aktuelle Herausforderung durch den rechtsterroristischen Einzeltäter, der in keinerlei Organisationen eingebunden ist. Der NSU, eine Kleinzelle mit drei Protagonisten, fällt nicht darunter. Ihr Antrieb war aber ähnlich: Geprägt vom Hass auf ethnische Minderheiten, wollten sie ein Zeichen setzen gegen die Einwanderungsgesellschaften. Eine Mitgliedschaft in einer Partei, Kameradschaft oder einer sonstigen Gruppierung ist heute längst nicht mehr notwendig, der Besuch von »Parteistammtischen« anachronistisch geworden. Ebenso wenig trifft das Bild von minderbemittelten, alkoholisierten Jugendcliquen zu, die Ausländer zum Sündenbock für die eigene Situation machen, sich gegenseitig stimulieren, gemeinsam losziehen und im wahrsten Sinne des Wortes losschlagen. Gleichgesinnte finden sich längst in den sozialen Medien, in Chats etwa mit Partnern von Gewaltspielen oder im Darknet. Mit Verschlüsselungsdiensten oder gefakten Accounts lassen sich dabei leicht Spuren verwischen.

5. Warum wir uns den Einsamen Wölfen stellen müssen

Europaweit zeigt der rechte Terror sein neues Gesicht. In den letzten Jahrzehnten konnte man in vielen Ländern das Einsamer-Wolf-Phänomen konstatieren, gerade auch mitten in den westlichen Demokratien. In den USA kamen solche Fälle gehäuft vor, aber auch in Österreich, Großbritannien, Norwegen, Schweden, Italien, Finnland und hierzulande. Experten sprechen gar vom »Zeitalter des Einsamer-Wolf-Terrorismus«.25 Wir befinden uns mitten in einer neuen Welle des Terrorismus. Auf die vier bisherigen Wellen folgt die fünfte:27

1. Welle: anarchistischer Terrorismus (Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts): Anschläge auf zahlreiche Staats- und Regierungschefs in Monarchien (Russland und Europa).

2. Welle: antikoloniale Gewaltwellen (von den zwanziger Jahren an), etwa in Indochina, Algerien und einigen südamerikanischen Ländern.

3. Welle: linksextremistisch motivierter Terrorismus in Ländern wie Italien, Deutschland, Spanien (zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts).

4. Welle: islamistischer Terrorismus (ab 1979,28 vor allem im 21. Jahrhundert) mit einer Entgrenzung der Gewalt, vorangetrieben durch die Terrororganisationen al-Qaida und IS.

5. Welle: Einsamer-Wolf-Terrorismus mit den neuen Möglichkeiten des Internets in den USA und Europa (unterschiedliche ideologische Inspiration).

Auch die Boulevardmedien beschäftigen sich meinungsstark mit dem Thema Einsamer-Wolf-Terrorismus, Bild spricht vom »gefährlichsten Terrorphänomen der Welt«.29 Gerade weil keine größere Organisation dahintersteht, keine »Szene« ausgemacht werden kann, tun sich Öffentlichkeit, Politik und Behörden im Umgang und in der Bewertung so schwer. Das Dilemma liegt in der Täterfixierung begründet. Opfer werden zu Schatten und ihre Angehörigen schnell vergessen. Vielleicht warnen gerade deshalb die deutschen Sicherheitsbehörden vor einer möglichen Glorifizierung.30 Eine einzige kriminell – mehr noch, barbarisch – agierende Person sollte nicht in das Zentrum der Aufmerksamkeit rücken.

Dieses Buch will die längst notwendige Auseinandersetzung mit dem neuen rechten Terrorismus anstoßen, der gerade nicht importiert ist, sondern mitten unter uns entsteht. Ich zeige auf, wie sich mit den neuen technischen wie digitalen Möglichkeiten ein Tätertypus herausgebildet hat, der bisher noch kaum wahrgenommen worden ist. Wir sollten nicht einer Beschwichtigungsrhetorik anheimfallen, wonach dieses Phänomen undurchschaubar oder gar marginal wäre. In diesem Buch möchte ich ihm auf die Spur kommen und zugleich Möglichkeiten beschreiben, wie wir mit dieser Gefährdung umgehen können. Terror kommt nicht wie eine Naturkatastrophe über uns, ist kein Erdbeben oder Vulkanausbruch. Auf der anderen Seite ist die Gefahr, Opfer eines Autounfalls zu werden (gerade wenn der Fahrer SMS schreibt), weitaus wahrscheinlicher. Die Reaktion auf Terror wirkt wie ein Balanceakt zwischen Fatalismus (nach dem Motto: An Terror müssen wir uns gewöhnen, wir sollten ihn besser totschweigen) und Paranoia (nach dem Motto: Der Terror zerstört die humanitären Grundlagen unseres Zusammenlebens). Wir dürfen jedoch nicht der Panikmache unterliegen. Populisten und Boulevardmedien, aber auch viele Meinungsträger schüren das Bild, wonach wir immer und überall mit Terror rechnen müssen. Das ist bedenklich: Vielmehr geht es mir um eine sachliche Debatte, ohne Eifer und Sensationshascherei. Ziel muss es sein, ein Frühwarnsystem zu entwickeln und Warnzeichen zu erkennen.

Daher müssen die destruktiven Verbindungen zwischen dem Individuum und den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen aufgezeigt werden. Erst dann können Strategien im Umgang mit dem neu auftretenden rassistischen Hass gefunden werden, wie ich sie im letzten Teil meines Buches einführen möchte. Viel steht auf dem Spiel. Es geht um die Bewahrung unserer freiheitlichen Gesellschaftsordnung, die Einzelne aushöhlen wollen. Dabei ist nicht nur die staatliche Seite angesprochen, die das Konzept der wehrhaften Demokratie neu denken muss. Der Schlüssel liegt auch in der Zivilgesellschaft selbst, sich gegen Verrohung und Barbarisierung zu stemmen. Wir brauchen eine integrierte Prävention, müssen gemeinsam an einem Strang ziehen, um stärker als die »Propaganda der Tat« zu sein. Dazu gehört auch, psychische Erkrankungen ernst zu nehmen und sie in die Betrachtung dieses Phänomens einfließen zu lassen, zumal sie lange gesellschaftlich tabuisiert waren und es noch immer sind. Es besteht kein Zweifel: Wer als Einzeltäter nach langer Planung exekutiert, trägt oftmals tiefe Frustrationen in sich und – mehr noch – seelische Leiden. Rassistische Vorstellungen eignen sich dann als perfektes Auf‌fangbecken, um andere für die eigene innere Misere verantwortlich zu machen oder chauvinistische Gefühle auszuleben.

6. Die aktuelle Lage: Politische und behördliche Fehleinschätzungen

So war es auch im Fall von David Sonboly. Exakt fünf Jahre nach Breiviks kaltblütigen Morden schritt er zur Tat. Elf Wochen vor der Tat änderte er seinen Name zum zweiten Mal, von Ali zu David. Er wollte als Deutscher firmieren, bevor er losschlug. Am 22. Juli 2016 befand sich die Stadt München stundenlang im apokalyptischen Ausnahmezustand – unter Anteilnahme der Weltöffentlichkeit. Menschen gerieten an einem symbolträchtigen Ort im Herzen der Stadt, am Olympia-Einkaufszentrum, in Massenpanik. Etwa 2600 Sicherheitskräfte waren in einen der größten Ad-hoc-Einsätze der letzten Jahrzehnte eingebunden. Busse und Bahnen stellten den Betrieb ein, Fernsehsender und Online-Medien überboten sich via Liveticker in sensationslüsternen Spekulationen, auch über Phantomtatorte und weitere Täter. Eine Eigendynamik entfalteten vor allem die sozialen Medien. In einer am 18. Juli 2018 erstmals ausgestrahlten Dokumentation des Bayerischen Rundfunks kommt der Journalist Martin Bernkopf, der damals live für den Sender berichtete, zu dem Schluss: »Alle miteinander haben wir Terror gemacht. Die Leute, die auf Facebook gepostet haben. Wir, die Medien. Die Polizei, die nicht gesagt hat: ›Nein, es ist kein Terror‹, in gewisser Weise auch. Das Wort ›Terror‹ ist gefährlich und hat die ganze Hysterie ausgelöst.«31 Schnell wurde über einen islamistischen Hintergrund spekuliert, etwa auch auf CNN. Die Berichterstattung in der ARD setzte ein, als noch nicht feststand, wie viele Opfer es gab und wie viele Täter womöglich beteiligt waren.32

Die virtuelle Gerüchteküche lief so weit, dass über weitere Anschläge in der Münchener Innenstadt berichtet wurde. So verbreitete sich über eine Stunde lang der irrtümliche Tweet eines jungen Mannes, dass am Karlsplatz/Stachus geschossen werde. Diese Information übernahmen verschiedene Fernseh- und Radiosender. Taxis wurden daraufhin von ihrer Zentrale angewiesen, den Platz zu meiden. In der Folge verbreitete sich über den gleichen Informationsweg eine große Anzahl an Legenden über den Aufenthaltsort und die Anzahl der Täter.33 Solcherlei Irrtümer erhöhten die Aufmerksamkeit für die an sich bereits dramatische Tat zusätzlich. Neun Menschen, acht Jugendliche und eine Mutter, fielen den Taten eines Einzelnen zum Opfer, fünf weitere wurden durch Schüsse zum Teil schwer verletzt. Mehrere Dutzend Menschen verletzten sich auf der Flucht und bei der ausbrechenden Panik. Augenzeugen, die das Schießen aus nächster Nähe beobachten mussten, sind traumatisiert. Die Tat hat für viele Menschen einen persönlichen Bezug, der nicht außer Acht gelassen werden sollte.

Als offizieller Gutachter der Stadt München in diesem Fall habe ich dargelegt, dass es der 18 Jahre alte Deutsch-Iraner aus einem festen rechtsextremistischen Weltbild heraus auf Migranten als Opfer abgesehen und dabei ganz alleine gehandelt hat. Er wollte deutscher als deutsch sein, hasste Zuwanderer, obwohl er selbst Zuwanderer war. Mehr als ein Jahr lang plante er seine Taten. Den Behörden galt er »aufgrund seines Selbstbildes eher [als] ein psychisch kranker Rächer«, nicht aber als »terroristischer Kämpfer«, so etwa das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz.34 Seine Tat sei nicht politisch motiviert gewesen, hieß es unisono. Rache, nicht politische Motivation, wirkte angeblich »tatauslösend«.35 Die Behörden schreiben in ihrem Abschlussbericht: »Es ist nicht davon auszugehen, dass die Tat politisch motiviert war.«36 Kritik an der behördlichen Einschätzung ruft gerade die Festlegung auf das Hauptmotiv »Schulmobbing« hervor.

Sollte oder darf es in Bayern – der Freistaat rühmt sich traditionell für seine vermeintliche Vorreiterrolle im Kampf gegen Extremismus und Terrorismus – keinen Rechtsterrorismus geben, zumal nach dem NSU-Debakel? Die Terrorzelle hatte zahlreiche Verbindungen in den Freistaat, wo fünf Morde verübt wurden. In der Folge wollte man etwa seitens des Verfassungsschutzes daran arbeiten, Fehler abzustellen. Im Fall Sonboly erkennen die Behörden, scheinbar unverrückbar, keinen Terrorismus, sondern eine unpolitische Gewalttat, die Folge eines angeblichen Schulmobbings, das der Täter »nachträglich aufblähte«.37 Der bayerische Verfassungsschutz bewertete den Fall intern, stellte in Deutungshoheit die Weichen auf Amok und ignorierte ihn dann in seinen offiziellen Berichten. Wer unter Rechtsextremismus und Rechtsterrorismus in den offiziellen Verlautbarungen zum Jahr 2016 blättert, findet nichts – als ob es die Attacken in der bayerischen Landeshauptstadt nie gegeben hätte. Auf Biegen und Brechen soll die Tat allem Anschein nach kein Rechtsterrorismus sein, David Sonboly, wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung schreibt, als »Rechtsextremist durchfallen«. Feuilletonredakteur Patrick Bahners macht sich über die Bewertung des Bayerischen Landesamts für Verfassungsschutz regelrecht lustig: »Es ist von ›Anleihen aus dem Bereich Rechtsextremismus‹ die Rede wie bei einem Doktoranden, der aus Prestigegründen Theorien zitiert, die er nicht richtig verstanden hat. Vermisst wird die ›Verinnerlichung‹ des rechten Gedankenguts. David S. habe es ›nicht geschafft, noch im Vorfeld eine Ideologie zu adoptieren oder wie Breivik eine eigene Ideologie zu entwickeln.‹«38 Offenbar wird nach dieser Logik nur derjenige zum Ideologen, der wie bei der RAF über ein Studium und eine elaborierte Ausdrucksweise verfügt.

Dem schloss sich die politische Seite nahtlos an. Der bayerische Innenminister Joachim Herrmann sagte nach Abschluss der Ermittlungen: »Von einer rechtsextremistischen Tat zu sprechen, erscheine dann schon etwas gewagt«.39 Seine Pressekonferenz spiegelt die Kapitulation vor festen, schematisch wie wissenschaftlich vorgegebenen Beurteilungskriterien wider. Auf Nachfrage sprach Herrmann davon, dass »jeder selbst entscheiden [müsse], ob er die Tat als rechtsextrem einstufe«.40 Zur Begründung, diese Tat nicht als rechtsextremistisch einzustufen, gab er an, dass Sonboly niemals Teil einer rechtsextremistischen Organisation gewesen sei.41 Diese Argumentation geht aber von einem stark antiquierten Verständnis aus, das im virtuell geprägten Zeitalter des Einsamer-Wolf-Terrorismus längst nicht mehr zeitgemäß und obsolet geworden ist. Zwei Jahre später erkennt er nun zumindest einen »rassistischen Ansatz« an.42 An der falschen Weichenstellung ändert das nichts, ebenso wenig an der bleibenden Fehlbewertung. Dass die Tat unmittelbar im Anschluss und bis zum Ende der Ermittlungen scheinbar unumstößlich in Richtung unpolitischer Amoklauf gedeutet wurde, verwundert – zumal Herrmann selbst bereits früh ein rechtsextremistisches Weltbild von David S. bestätigte.43

Das Narrativ »Amok« schuf auch der »Profiler« Alexander Horn, prominenter Buchautor und Leiter der Dienststelle für Operative Fallanalyse (OFA), Kommissariat 115 des Polizeipräsidiums München. Er gilt als Super-Fahnder, als einer der erfolgreichsten Verbrecherjäger, sogar als Deutschlands brillantester Cop.44 Seine These »einstiges Mobbing in der Schule als Hauptursache für einen Racheakt an die Gesellschaft« sollte verfangen, der politische Hintergrund ausgeblendet werden. Im Fazit heißt es über David Sonboly: »Ein psychisch gestörter Jugendlicher, der Opfer von Mobbing und körperlichen Misshandlungen wurde und hierdurch selbstwertbelastende Kränkungen erlebte, begann, Rachephantasien zu entwickeln.«45 Nach dieser Argumentation dürften auch islamistische Anschläge nicht als Terrortaten bezeichnet werden, wenn die Täter keine umfassende Ideologisierung aufweisen.

Auch durch mein im Oktober 2017 im Rahmen eines Expertengesprächs mit dem Landeskriminalamt und der Staatsanwaltschaft München vorgestelltes Gutachten, das in einem mühsamen Studium Tausender Seiten von Ermittlungsakten entstanden ist,46 findet mittlerweile ein Umdenken statt. Und das, obwohl bislang nur ein kleiner Auszug, eine Kurzfassung davon veröffentlicht wurde. Die Beweislage ist zu erdrückend. Im Februar 2018 spricht erstmals eine Behörde, das Bundesamt für Justiz, von einer extremistischen Tat und zahlt Hinterbliebenen und Verletzten eine Härteleistung aus.47 Dazu kommt eine ganz neue Wendung, auf die ich bei meinen internationalen Recherchen für dieses Buch stieß. Verblüfft nahm ich im April 2018einen frei verfügbaren Artikel in den US-Medien zur Kenntnis, der ganz neue Kontakte von Sonboly enthüllte und den ich umgehend an das Bayerische Landeskriminalamt (BLKA) weiterleitete. Die Behörde wusste von der öffentlich zugänglichen Information scheinbar nichts oder gab es mir gegenüber vor. So informierte ich, über das offenkundige Desinteresse verwundert, auch investigative Journalisten, die nach weiteren Recherchen eine Existenz von geistigen Zwillingen Sonbolys mit ähnlicher Weltsicht und Tatabsicht nahelegten.

Einer dieser Journalisten war Christian Bergmann, der unter anderem für ARDFakt arbeitet. Er fand schnell heraus: Sonboly war mit einem Gleichgesinnten aus Deutschland Teil eines virtuellen Netzwerks von potenziellen Massenmördern. Als Schlüsselfigur darin fungierte der 21-jährige William Atchison, der im Dezember 2017 in Aztek, New Mexico, ein Schulattentat verübte, zwei Studierende ermordete und sich dann, wie beabsichtigt, selbst richtete. Die beiden standen im Online-Kontakt, kommunizierten über die Internet-Plattform »Steam«, wie ein Sheriff zu Protokoll gab.48 In einem Forum namens »Anti-Refugee-Club« tauschten sie rechtsextremistische und rassistische Inhalte, Amok- und Attentatsphantasien sowie globale Tötungslisten aus. Nach den Morden von David Sonboly im Münchner OEZ feierte Atchison den Attentäter. Der US-Amerikaner, ein bekennender Rassist, sorgte dafür, dass Sonboly in einer virtuellen Ahnengalerie, die Wikipedia ähnelt, als Held verewigt wurde (er wurde zudem auf Steam zum »Ehrenspieler« ernannt).49 Das verwundert nicht: Einzeltäter werden trotz nachgewiesener sozialer Störungen in solchen Foren groß gemacht und überhöht.

Es war einfach, die Chatclubs auf der Spieleplattform Steam nachzuvollziehen, die einstigen Propagandaforen zu rekonstruieren und einstige Gesprächspartner anzuchatten.50 Die Überraschung der Staatsanwaltschaft München ob dieser neuen Wendung verwundert. Im Prozess gegen den Waffenhändler, der Sonboly die Tatwaffe verkaufte, wurden mehrmals Beweisanträge zu Steam abgelehnt. Dabei gab es konkrete Hinweise durch einen Zeugen. Pikant ist, dass im März 2017 die Ermittlungen im Fall David S. offiziell abgeschlossen wurden. Alle Spuren schienen nach den Aussagen der Behörden gründlich überprüft. Gut 60 Ermittler der Sonderkommission OEZ werteten rund 1750 Hinweise aus und sichteten mehr als 1000 Dateien.51 Dennoch blieb das virtuelle Netzwerk unerkannt.

Ebenso heikel: Das BKA wusste ab dem 9. Dezember 2017, also vor meinem Fund, von der Verbindung zwischen Atchison und Sonboly. Nach eigener Auskunft des BKA wurde das LKA Bayern aber erst am 14. Juni 2018 davon unterrichtet,52 obwohl es federführend ermittelte. Die fehlende Weitergabe mitsamt dem mangelnden Informationsabgleich ist bemerkenswert, »begleitete und unterstützte« das Bundeskriminalamt doch »auf Ersuchen die zuständige Bayerische Polizei in seiner Zentralstelle. Dies beinhaltete die Koordinierung und Steuerung des kriminalpolizeilichen Informationsaustausches mit dem Ausland.«53 Dieses behördeninterne Versagen entlarvt auch die Legende von der angeblich so akkuraten deutschen Verwaltung. So stellt sich nun öffentlich die Frage, ob die These vom Amoklauf weiter aufrechterhalten werden kann oder die Tat nicht als Ausfluss eines virtuellen Terrornetzwerks gedacht werden muss.54

Ein spätes Gefälligkeitsgutachten55