Einvernehmlich - Donna Freitas - E-Book

Einvernehmlich E-Book

Donna Freitas

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Beschreibung

Er war ihr Mentor, Professor und Priester – und überschritt jede Grenze.

Donna Freitas ist jung, talentiert und scheint am Ziel ihrer Träume: Sie ist Doktorandin an einer renommierten Universität, ihr Betreuer, ein katholischer Priester, scheint der ideale Gesprächspartner für ihre Arbeit. In seinem Büro trinken sie Kaffee, führen lange Gespräche, diskutieren über Theorien. Er ruft sie immer häufiger an, schickt ihr Briefe und schließlich einen Artikel – einen Artikel, in dem es nicht um Wissenschaft geht, sondern der eine Liebeserklärung ist. Der Mann bombardiert sie mit Anrufen und Briefen, taucht unaufgefordert bei ihr auf, schreckt nicht einmal davor zurück, Freitas‘ krebskranke Mutter zu kontaktieren. Als sie sich schließlich an die Universitätsleitung wendet, bleibt die erhoffte Hilfe jedoch aus. Die wahre Geschichte einer jungen Frau, die zutiefst verunsichert ist, Scham und Schuldgefühle für etwas empfindet, an dem sie keine Schuld trägt – die 20 Jahre zurückliegenden Ereignisse verfolgen Donna Freitas bis heute.

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Seitenzahl: 468

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Donna Freitas ist jung, talentiert und scheint am Ziel ihrer Träume: Sie ist Doktorandin an einer renommierten Universität, ihr Betreuer, ein katholischer Priester, scheint der ideale Gesprächspartner für ihre Arbeit. In seinem Büro trinken sie Kaffee, führen lange Gespräche, diskutieren über Theorien. Er ruft sie immer häufiger an, schickt ihr Briefe und schließlich einen Artikel – einen Artikel, in dem es nicht um Wissenschaft geht, sondern der eine Liebeserklärung ist. Der Mann bombardiert sie mit Anrufen und Briefen, taucht unaufgefordert bei ihr auf, schreckt nicht einmal davor zurück, Freitas’ krebskranke Mutter zu kontaktieren. Als sie sich schließlich an die Universitätsleitung wendet, bleibt die erhoffte Hilfe jedoch aus. Die wahre Geschichte einer jungen Frau, die zutiefst verunsichert ist, Scham und Schuldgefühle für etwas empfindet, an dem sie keine Schuld trägt – die über zwanzig Jahre zurückliegenden Ereignisse verfolgen Donna Freitas bis heute.

Donna Freitas, Jahrgang 1972, ist Wissenschaftlerin, Professorin und Schriftstellerin. Sie ist Autorin erfolgreicher Kinder- und Jugendbücher sowie des Romans »Die neun Leben der Rose Napolitano« (btb-HC, 2021). Ihre journalistischen Arbeiten erschienen u. a. in The New York Times, The Washington Post und The Boston Globe, zahlreiche Auftritte in Radio und Fernsehen, Vorträge an über 200 US-Colleges zum Thema sexuelle Gewalt. Freitas hat an verschiedenen renommierten US-Universitäten gelehrt und unterrichtet heute Creative Writing an der Fairleigh Dickinson University. Sie lebt in Brooklyn.

Donna Freitas

EINVERNEHMLICH

Er war ihr Mentor, Professor und Priester – und überschritt jede Grenze

Aus dem Englischen von Frauke Brodd

Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel »Consent: A Memoir of Unwanted Attention« bei Little, Brown and Company, New York.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Deutsche Erstausgabe März 2023

Copyright der Originalausgabe © 2019 by Donna Freitas

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2023 by btb Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Coverentwurf: semper smile, München

nach einem Entwurf von Lucy Kim/Little Brown

Coverfoto: Adam Kuylenstierna

MK · Herstellung: sc

Satz und E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-26136-8V001

www.btb-verlag.de

www.facebook.com/btbverlag

Widmung

Wie soll ich dieses schwierige Buch jemandem widmen, da es von etwas so Dunklem und Hässlichem in meinem Leben handelt. Wer reißt sich denn schon darum, dass ihm oder ihr ein solches Buch gewidmet wird?

Doch gleichzeitig gibt es so viele Menschen in meinem Leben, die wieder Licht in mein Dunkel hineinließen, Menschen, denen ich unendlich dankbar bin, vor allem einigen Frauen (und einem Mann): Molly, Miriam, Michele, Carlene, Rene, Marie, Kylie, Frances, Daphne, Alvina, Jill, Rebecca, Eliot. Und auch Professorin C. und Professorin L. von der Georgetown University – dafür, dass sie mir geglaubt und an mich geglaubt haben, und dafür, dass sie als Frauen so sind, wie ich unbedingt werden wollte.

ANMERKUNG DER AUTORIN

Ein Trauma ist immer ein Mischmasch – aus Gefühlen, Erinnerungen, aus Übelkeit und Magenschmerzen, aus Verwirrung im Kopf.

Folgende Geschichte handelt von einem Trauma in meinem Leben, einem Belagerungszustand, der eines Tages im Frühjahr begann und erst fast zwei Jahre später endete. Nach dieser Zeit war ich ein Häufchen Elend.

Ich habe mir äußerste Mühe gegeben, das, was passiert ist, richtig einzuordnen, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich alles bedacht habe und die zeitliche Abfolge korrekt ist.

Es gab so viel zu verstehen, ein wahres Labyrinth, in dessen Drehungen und Wendungen ich mich manchmal verliere. Wenn ich versuche, mich an das zu erinnern, was passiert ist, wie es passiert ist, dann werde ich oft von einer Lawine aus Erinnerungen mitgerissen, in der sich einzelne Bilder übereinanderschieben, miteinander verschmelzen, sodass sie nur schwer unterscheidbar sind.

Aber eins steht fest: Jeder von mir beschriebene Vorfall hat sich in mein Gedächtnis eingebrannt, und zwar leider mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit für immer.

DAS MONSTER IM HAUS

Das Päckchen lag ungeöffnet auf dem Couchtisch.

Es wartete dort bereits seit Tagen. Durch Sonne, Regen und Sommergewitter hindurch. Neben ihm befanden sich eine dicke Kerze von Pottery Barn, die ich im Ausverkauf ergattert hatte, und ein Stapel Bücher, die ich für die Graduate School las. Vor dem Tisch stand eine alte Couch mit einem Holzgestell. Ich hatte eine breite Decke darüber geworfen, um die billigen Polster zu kaschieren, die voller Flecken waren von den früheren Bewohnern meines Uni-Apartments. Die Betonwände und hohen, lichten Fenster liebte ich von ganzem Herzen. Es war die erste Wohnung, die ich ganz für mich allein hatte. Hinter dem Tisch stand der gewaltige Fernseher, den ich in meinem ersten Studienjahr gewonnen und seither mit mir herumgeschleppt hatte. Er stammte aus dem Aufenthaltsraum meines Studentenwohnheims, und die Resident Assistants – die sogenannten RAs, die sich damals um uns Studenten in den Wohnheimen kümmerten – hatten ihn am Ende des Semesters verlost. Mich zogen sie als die glückliche Gewinnerin aus dem Hut.

Das Päckchen war dünn, eher ein rechteckiger Umschlag, auf dessen Vorderseite meine Adresse in sorgfältiger Schrift geschrieben stand. Es hätte alles Mögliche drin sein können. Gute-Laune-Fotos von Freunden oder Bilder von einer Hochzeit. Aber dieser blassgelbe Umschlag enthielt einen Essay. Den Entwurf eines Essays.

Ich wusste das, weil der Autor, der auch mein Mentor war, es mir gesagt und mich angewiesen hatte, ich solle den Entwurf lesen, er brauche mich als Leserin. Ich wäre ein schlechter Mensch, eine schlechte Studentin, eine schlechte Freundin, wenn ich diese Pflicht ignorieren würde, so wie ich in letzter Zeit so viele andere Bedürfnisse und Bitten von ihm ignoriert hatte.

Er schickte mir den Umschlag am Tag seines Aufbruchs zu einer einmonatigen Reise. Es war Ende Juli, es war heiß und schwül, der Asphalt vor meiner Wohnung dampfte förmlich vor Hitze. Er rief mich an, um mir mitzuteilen, dass ich Post von ihm erhalten würde und den ganzen Monat Zeit hätte, den Text zu lesen. Vielleicht glaubte er, dass Zeitmangel oder fehlende Vorwarnung die Gründe für mein Versäumnis waren, auch alles andere nicht zu lesen, was er mir in letzter Zeit geschickt hatte. Vielleicht hielt er diese Frist von einem Monat für eine Gefälligkeit.

Während seiner vierwöchigen Abwesenheit rief er an, um zu fragen, ob ich den Essay schon gelesen hätte. Er rief immer wieder an und schimpfte, wenn klar wurde, dass ich dieser einfachen Verpflichtung noch nicht nachgekommen war. Die Zeit drängte, der August würde bald vorbei sein, und ich hatte noch nicht einmal den Umschlag geöffnet.

»Don-na«, sagte er am Telefon in diesem Singsang, mit dem er meinen Namen immer intonierte. »Ich komme nach Hause. Ich will nach meiner Rückkehr wirklich darüber reden können.«

Warum, warum, warum?, fragte ich mich im Stillen, während ich ihm versprach – denn ich hatte es ihm versprochen –, dass ich dazu kommen würde, bald, vielleicht heute. Warum ich? Ich war eine unbedeutende Studentin. Er war ein wichtiger Professor, berühmt in gewissen Kreisen. Hatte er keine Kollegen, deren Meinung er einholen konnte? Warum interessierte er sich für meine?

Zu diesem Zeitpunkt kannte ich die Antworten auf meine eigenen Fragen bereits. Die Verzweiflung in seiner Stimme war Beweis genug. Aber dennoch war dieses Wissen schwammig und nebulös, bange und argwöhnisch. Ich hatte es in den hintersten Winkel meines Gehirns geschoben und mich so sehr bemüht, es abzutöten. Ich verschloss die Augen vor der Wahrheit, und ich genoss diese Blindheit, die so unerschütterlich und stark war, geradezu überwältigend.

Als ich abends auf meiner Couch saß und fernsah, mit dem Briefumschlag auf meinem Tisch neben den Überresten meines letzten Take-away-Essens, hoffte ein Teil von mir immer noch, dass ich mich irrte; dass sich dieser bohrende Schmerz in meinem Bauch als ein Produkt meiner melodramatischen Fantasie herausstellen würde.

Morgen für Morgen erhob ich mich von meinem Bett, ging in mein Wohnzimmer und wünschte, der Umschlag wäre über Nacht verschwunden. Aber nein, da lag er, zwischen meinen Sachen, nur wenige Schritte von meiner hässlichen Pepto-Bismol-farbigen Küche entfernt, in der ich üppige Abendessen für Freunde, für meine RAs und für mich selbst kochte. Der Anblick des Umschlags, sobald ich zur Tür hereinkam, fühlte sich jedes Mal aufs Neue so an, als entdeckte ich, dass jemand eine tickende Zeitbombe in meiner Wohnung deponiert hätte, während ich unterwegs war, um mir Schmerztabletten zu besorgen. Ich zerbrach mir den Kopf darüber, wie sie in mein Zuhause und in mein Leben gekommen war, und gab mir alle Mühe, sie zu entschärfen.

Es war nur ein Essay. Harmlos. Ein paar Seiten Papier, geschrieben auf einer Tastatur, ausgedruckt und zusammengeheftet. Eine Aneinanderreihung von Wörtern, Schwarz auf Weiß. Wovor hatte ich Angst? Warum war das so eine große Sache? Ich war es gewohnt, Texte zu lesen. Ich war Doktorandin, eine unersättliche Leserin. Lesen war meine Berufung, mein Hauptanliegen, meine Freude.

Tu es einfach, drängte mein Verstand mich. Aber ich will nicht, zerrte er im nächsten Augenblick an mir. Komm schon, Donna, ermahnte ich mich selbst. Es ist ja nicht so, dass ein Essay dich wirklich verletzen kann. Es ist ja nicht so, dass er mit Messern, Kugeln und Gift gespickt ist.

Das Gedankenkarussell drehte sich vor und zurück, vor und zurück. Während die Tage voranschritten, quälten mich die Fragen, wie ich in diese Lage geraten und wer daran schuld war. Wer war wirklich dafür verantwortlich? Ich? Er? Die Antwort darauf in ihre syntaktischen Bestandteile zu zerlegen, fiel mir schwer, aber ich ließ nicht locker, immer und immer wieder.

Ich habe die Post aus dem Briefkasten geholt. (War das einvernehmlich?) Ich legte den Umschlag auf den Couchtisch. (Einvernehmlich. Oder?) Ich ging ans Telefon, als er anrief und mich anflehte. (Einvernehmlich, rein technisch gesehen. Aber damals gab es noch keine Anruferkennung, also vielleicht doch nicht?) Ich habe ihm versprochen, dass ich den Essay lesen werde. (Liegt Einvernehmen vor, wenn Peinlichkeitsgefühle mit im Spiel sind? Wenn er bettelt?) Aber ich habe mich auch geweigert, den gelben Umschlag anzufassen. (Ich wollte nicht einvernehmlich handeln.) Ich habe ihn fast einen Monat lang nicht geöffnet. (Ein stummes Nein. Aber zählen stumme Neins?) Ich habe den Umschlag finster angestarrt. (Ausdruck meiner Zurückhaltung auf körperlicher Ebene. Aber es war ja nicht so, dass er im Raum war und sehen konnte, wie ich die Stirn runzelte. Gott sei Dank.) Ich tat mein Bestes, um das Vorhandensein des Umschlags, sein Verharren zu ignorieren, ich bewegte ihn nicht, berührte ihn nicht, zumindest nicht am Anfang. (Bedeutet das Ausbleiben einer Antwort stillschweigend ein Ja?)

Der bloße Anblick des Umschlags auf meinem Couchtisch erfüllte mich mit einem so abgrundtiefen Grauen, dass ich mir nicht sicher bin, ob ich sein Ausmaß je zum Ausdruck bringen kann. Worte reichen nicht aus. Andererseits, hätte ich nicht mein Sprachvermögen nutzen sollen? Hätte es nicht ganz einfach sein sollen, das Wort »Nein« laut und deutlich, glasklar und glockenrein auszusprechen?

Ich wartete bis zum Vortag seiner Rückkehr von der Reise, um den Umschlag zu öffnen, die Seiten herauszunehmen und sie tatsächlich mit meinen Fingern zu berühren. Ich hielt sie in der Hand, als könnte es zu einer allergischen Reaktion auf das Papier kommen, und sah weg. Es war, als würde ich mich darauf vorbereiten, mir die ekelhafteste Medizin der Weltgeschichte einzuverleiben, eine Medizin, von der man schon weiß, dass einem davon schlecht wird, aber irgendwie muss man sie hinunterkriegen. Man muss tief einatmen, die Augen schließen und sie hinunterschlucken, und dann muss man sein Bestes geben, um sich von einem derart unerträglichen Ekel abzulenken, in dem Wissen, dass Würgen und Erbrechen sowieso unvermeidlich sind.

Ich schaltete den Fernseher ein, damit um mich herum Geräusche zu hören waren, damit ich das Gefühl hatte, dass andere Menschen in der Nähe waren. Ich wollte damit nicht allein sein, mit nichts davon, nicht mit dem Umschlag, dem Papier, dem Essay, nicht mit den Worten auf den Seiten.

Dann fing ich endlich an.

Nach so viel Widerstand ließ ich meinen Blick auf dem ersten Wort ruhen, dann auf dem zweiten und dem dritten, bis ich ihnen gestattete, in mein Gehirn, in meinen Körper einzudringen, wo sie sich zu Sätzen zusammenfügen würden, die eine Bedeutung annähmen. Ich redete mir ein, dass ich nach so viel Melodrama herausfinden würde, dass der Essay so harmlos war wie der Stapel Bücher, den ich für meine Vorlesungen las, dass ich bald darüber lachen würde, wie dumm ich gewesen war, so viel Wind um nichts zu machen, dass ich die Augen verdrehen würde über die Art und Weise, wie ich mich gewehrt hatte, die Seiten zu lesen. Ich würde erkennen, dass der Autor es wirklich gut gemeint hat, ohne jegliche Hintergedanken oder schändliche Absichten.

Ich wartete darauf, dass die Erleichterung mich erreichte, wie eine kühle Welle, die mich in der drückenden Augusthitze durchströmen würde.

Doch als diese Worte eines nach dem anderen in mich eindrangen und sich zu einer riesigen Halde aus Sätzen auftürmten, die zu Absätzen wurden, die zu Abschnitten wurden, stellte sich heraus, dass der Essay schließlich doch Gift war, dass sich mir der Magen umdrehen und er mich krank machen würde. So krank, dass ich von meiner Couch aufstand und mich flach rücklings auf den Boden meiner Wohnung legte und mir den Bauch hielt.

Der Essay stellte ein Liebesgeständnis dar.

Aber es war kein direktes Geständnis. Es gab kein »Liebe Donna« am Anfang oder Sätze, die die Worte »Mir ist unlängst klar geworden, dass ich in dich verliebt bin« enthielten. Er sagte mir, dass er mich liebte, ohne es mir direkt zu sagen, indem er es in eine langatmige, hochtrabende Betrachtung – nein, eine Würdigung – einer realen Liebe zwischen einem älteren Mann, einem berühmten Schriftsteller und Denker, und einer dreißig Jahre jüngeren Frau hüllte, mit der dieser Mann im Verborgenen eine leidenschaftliche Affäre begann, die erst viele Jahre nach seinem Tod an die Öffentlichkeit gelangte. In dem Essay ging es darum, diesem Mann die Sünde seiner Liebe zu dieser jungen Frau zu verzeihen, dass er sie verfolgte, dass er nicht in der Lage war, von ihr abzulassen und seine Begierde zu bändigen. Der Text rechtfertigte seine Liebe zu ihr, pries sie als tugendhaft, ja göttlich, und ergötzte sich daran, dass sie diese Liebe erwiderte, obwohl sie für beide verboten war, da der Mann auch Priester war. Ich stelle mir vor, dass mein Mentor dies für die ultimative romantische Geste hielt: das kunstvolle Verfassen eines Essays über die für mich empfundene Liebe, allerdings anschaulich verpackt in eine Metapher. Das Ersuchen um eine sexuelle Beziehung mittels schriftstellerischer Fiktion. Für ihn war ein durch und durch reflektierter intellektueller Essay von gleichem Wert wie ein Sonett.

Der Text war heimtückisch und verschwurbelt und letztlich feige, obschon er genauso war wie alles andere, was er tat, nämlich heimtückisch und verschwurbelt und immer mehrdeutig genug, um mich zu verunsichern, um mich an meinem Instinkt, meinem Urteilsvermögen, meiner Intuition zweifeln zu lassen, dass an seinem Verhalten mir gegenüber etwas zutiefst falsch war. Seine Anwandlungen waren immer nur kurz davor, offensichtlich unangemessen zu sein, sie waren unter Umständen jedes Mal ganz und gar unschuldig; Handlungen, die als romantische Annäherungsversuche gedeutet – und genauso gut als solche missverstanden werden könnten.

Im Zusammenhang mit ihm blieb immer Platz für Zweifel, und das gehörte zu seinem Talent als mein Stalker.

Irgendwann erhob ich mich vom Boden und setzte mich wieder auf die Couch. Ich warf die Seiten auf den Couchtisch, und sie fächerten sich auf und verbargen das billige Holz. Mein Entsetzen explodierte und breitete sich in der ganzen Wohnung aus, sickerte durch die Fliegengitter meiner offenen Fenster und vergiftete die feuchte Sommerluft.

Was machte ich jetzt? Was war mein Plan?

Er würde mich anrufen, sobald er wieder zu Hause war, und auf ein persönliches Treffen drängen, damit wir seinen Text »besprechen« könnten. Nicht ans Telefon zu gehen, würde nichts nützen, da er einfach vor meiner Tür auftauchen und warten würde, bis ich herauskomme. Ich könnte leugnen, dass ich den Entwurf gelesen hätte. Ich könnte es immer weiter leugnen, aber dann würde er mich so lange immer weiter bedrängen, bis ich es nicht mehr schaffen würde zu leugnen. Ich könnte zusagen, ich könnte das Gespräch führen und so tun, als sähe ich keinen Zusammenhang zwischen seinem Essay und der Situation, in der ich mich jetzt befand. In die er mich gebracht hatte.

Als mir diese Gedanken durch den Kopf schossen, revoltierte alles in mir. Mein ganzes Ich, mein Körper, mein Gehirn, mein Herz, meine Seele vereinten sich zu einem riesigen Nein. Nein, nein, nein, nein. Ich kann das nicht tun. Ich kanndasnicht. Ich wollte sterben. Ich wollte lieber sterben, als mich mit dem auseinanderzusetzen, was sich anbahnte.

Das Telefon klingelte.

Ich erwog, nicht ranzugehen, weil – na ja, weil wahrscheinlich er der Anrufer war.

Aber dann tat ich es doch, denn was hätte ich tun sollen? Nie wieder ans Telefon gehen? Ich hatte einen Job zu erledigen, denn die RAs hier waren jetzt auf mich angewiesen. Ich hatte Freunde. Eine Familie. Einen Freund.

Der Anrufer war mein Vater.

»Deine Mutter hat Krebs«, erwiderte er umgehend auf mein Hallo, und seine Stimme war erfüllt von Trauer. »Es sieht nicht gut aus. Du musst nach Hause kommen. Sie wird morgen operiert. Vielleicht schafft sie es nicht. Deine Mutter könnte sterben.«

Ich hörte ihm zu, verstand seine Worte kaum, ihre schreckliche Bedeutung. Während ich das Telefon an mein Ohr hielt und bereits begann, meine Sachen zu packen, wurde mir allmählich etwas völlig Wahnsinniges bewusst. Ich würde morgen nicht hier sein, weil meine Mutter operiert werden würde. Eine große Operation. Sie hatte Krebs. Sie könnte sterben. Das war die ultimative Ausrede, um bei seiner Rückkehr nicht da zu sein. Es gab keine bessere Ausrede, um das gefürchtete Gespräch zu vermeiden. Um dieses Gespräch, das er so dringend führen wollte, niemals zu führen.

Während mein Vater weiterredete, dachte ich im Stillen: Ich bin eine furchtbare Tochter. Und später, als ich den Hörer auflegte und den Reißverschluss meiner Reisetasche zuzog, dachte ich im Stillen:

Ich bin erlöst.

WAS SIE MIR NAHMEN UND WIE ICH SIE GEWÄHREN LIESS

Diese Geschichte dürfte nicht erzählt werden.

Im Austausch dafür, dass meine Graduate School den Belästigungen durch meinen Mentor endlich ein Ende setzt – und gegen Zahlung einer sehr geringen Summe Geld –, willigte ich ein, so zu tun, als wäre nichts von dem, was ich zu sagen habe, jemals passiert. Ich willigte ein, meine Universität von jeglichem Fehlverhalten freizusprechen. Ich willigte ein, für immer zu schweigen.

Zu diesem Zeitpunkt war es mir egal, was ich tun oder unterschreiben musste. Das Einzige, was ich wollte, war, dass dieser Mann verschwindet, dieser Mann, der mein Mentor sein sollte, mein Fürsprecher während meiner Zeit an der Graduate School und danach auf dem Weg in meine berufliche Zukunft. Ich hätte damals alles unterschrieben, ein Schriftstück, in dem ich als Nutte bezeichnet würde, in dem stand, meine Mutter sei eine Hure. Falls erforderlich, hätte ich die Universität bezahlt, wäre er dadurch nur endlich verschwunden. Ich hätte all meine Ersparnisse auf das Konto der Uni überwiesen. Ich hätte ihnen alles gegeben, was sie von mir verlangten, nur um endlich frei zu sein.

Was sie wollten, war mein Schweigen.

Also bekamen sie es. Ich schnitt mir im Personalbüro der Universität die Zunge heraus und bot sie der Frau dar, deren Aufgabe es war, sie entgegenzunehmen. Ich habe mich selbst verstümmelt, mitten am Tag, vor den Augen ihrer Verwaltungsassistentin. Das Blut habe ich nicht einmal bemerkt. Ich übergab das Wichtigste, was eine Frau besaß, so hatte ich es in meinen Feminismus-Seminaren gelernt. Ich tat’s, als wäre es ein Leichtes.

Erst viel später wurde mir klar, welches Verbrechen ich da an mir selbst begangen hatte, mir war nicht bewusst, dass meine Universität mich dazu zwang, mich zu verstümmeln, und zwar für immer. Mir war während meines Besuchs in der Personalabteilung nicht klar, dass ich es mit Leuten zu tun hatte, die daran mitwirkten, die Institution und ihren Lehrkörper auf Kosten der Unversehrtheit ihrer Studierenden zu schützen. Wer hätte gedacht, dass sich Universitäten wie Verbrecherbanden zusammenschlossen, wenn auch unter dem Deckmantel der respektablen Institution mit hehren Idealen? Wer hätte gedacht, dass die Hochschule, an der ich mich für meine Promotion eingeschrieben hatte, dieser Leuchtturm der Hoffnung und des Lichts, so tief sinken würde, von einer jungen Frau zu verlangen, dass sie ihre Sprache opfern würde, um ihr diese ganz einfache Bitte zu erfüllen: die Teilnahme an ihren Kursen ohne die Angst, gestalkt zu werden?

Aber mit dieser Erfahrung stehe ich nicht allein da.

Überall im Land, an Universitäten weit und breit, an Arbeitsplätzen großer und kleiner Betriebe aller Art, in Unternehmen, die sich rühmen, Gutes zu tun und die Welt zu verbessern, gibt es Aktenschränke voller blutiger Frauenzungen. Einige sind jung und zart, andere eher schrumpelig und ramponiert, aber alle werden uns von Leuten in betont legerer Kleidung, in Anzügen und vernünftigen Röcken weggenommen, Leuten, die auf uns zugehen, als wäre das, was sie vorhaben, völlig legitim, völlig angemessen, selbst wenn sie die langen Messer mit den geschwungenen Klingen hinter ihren Rücken zücken und heben, um sie uns ins Gesicht und in den Nacken zu stoßen. Und während sie uns entstellen, tun sie so, als wäre das ganz normal, und wir stehen da und lassen sie gewähren, weil das die einzige Wahl zu sein scheint, die wir haben.

Sobald sie unsere Zungen haben, packen sie sie nicht einmal mehr in einen Beutel, um die Sauerei einzudämmen. Sie haben sich so sehr an diesen Eingriff gewöhnt, dass es sie inzwischen kalt lässt. Stattdessen tragen sie unsere Zungen zurück in den Raum, den sie für weibliche Körperteile reserviert haben, einen Raum mit speziellen Schlössern, mit Schallschutz, um die Erzählungen der Zungen – nachts, im Dunkeln, wenn alle anderen nach Hause gehen – zu übertönen, eine Kakophonie körperloser Stimmen. Aber sie hören nie auf zu bluten. Sie bluten und bluten jahrelang, so sehr, dass immer mehr Leute eingestellt werden müssen, um sicherzustellen, dass nichts nach außen durchsickert. Schließlich will niemand einen öffentlichen Skandal.

Frauenzungen sind gefährlich, ließe man zu, dass wir sie behalten. Institutionen, Betriebe, Unternehmen wissen das seit Langem, deshalb sorgen sie dafür, dass wir sie opfern. Es ist gut, dass Frauen in diese abgeriegelten Räume einbrechen und sich unsere Zungen zurückholen.

Ich bin noch dabei, mich wieder an meine zu gewöhnen.

Sie fühlt sich unförmig und fremd an in meinem Mund.

»Du weißt, dass ich einmal während meines Studiums gestalkt wurde.«

Ich erinnere mich, dass ich diesen Satz in einem Gespräch mit einer Kollegin, Mary, fallen ließ, die mittlerweile eine meiner besten Freundinnen ist. Ich tat so, als wäre diese Information keine große Sache, kaum ein Achselzucken wert, obwohl mein Blutdruck in die Höhe schoss, wie immer, wenn ich dieses Thema anspreche.

Mary und ich hatten uns erst kürzlich kennengelernt. Wir saßen an einem sonnigen Augusttag in Manhattan draußen an einem Tisch vor meinem Lieblingsitaliener und unterhielten uns angeregt bei einem Teller Spaghetti mit Pesto. Wir hatten uns auf einer Konferenz gut verstanden und beschlossen, uns danach privat zu treffen. Das hier war das erste von vielen weiteren Mittagessen und unzähligen Verabredungen, woraus inzwischen eine über zehnjährige Freundschaft entstanden ist. Damals war sie im siebten Monat schwanger, ihre Wangen waren rosig und von der Hitze gerötet. Ich weiß noch, wie rund ihr Bauch war und aus ihrem schmalen Körper ploppte. Wir trugen beide Sommerkleider, ärmellos, figurbetont, so freizügig wie möglich und dennoch öffentlichkeitstauglich. Bei Mary war der Effekt spektakulär, und auf unserem Weg zum Restaurant erntete sie mehr als nur ein paar Blicke von Passanten, und viele Frauen lächelten sie mitfühlend an.

Mary hörte auf zu essen, als ich ihr das sagte, und sah auf. »Was?«

»Ja. Ist das nicht seltsam.« Der Satz verließ meinen Mund als Feststellung, obwohl ich ihn als Frage formuliert hatte. Bevor sie antworten konnte, sprach ich schnell weiter: »Und wie erging es dir an der Graduate School?«

Sie antwortete nur zögerlich – was vollkommen normal war, denn wie soll man auf ein so unerwartetes Geständnis auch reagieren? Sie lenkte das Gespräch in ungefährlichere Bahnen, baute Abstand auf zwischen dem, was ich ihr anvertraut hatte, und unserem Mittagessen im Hier und Jetzt. Und sie unterlegte meine Äußerung mit einem weißen Rauschen aus anderen Themen, bis wir den in der Atmosphäre schwebenden Nachklang dessen, was ich ausgesprochen hatte, kaum mehr wahrnehmen konnten. Wir saugten unsere leuchtend grünen Spaghetti lautstark ein, wir lachten und scherzten und tratschten, und mein Blutdruck normalisierte sich langsam wieder.

Selbst jetzt, viele Jahre später, ist es mir furchtbar peinlich, wie ich an diesem Tag geklungen haben muss. Die Art und Weise, wie ich ihr erzählte, was mir widerfahren war, war so plump, alles daran war unbeholfen. Ich hatte es mit Gewalt aus meinem dunkelsten Ich hervorgeholt und es ihr ohne Vorwarnung oder Vorrede zur Begutachtung serviert. Auf Anraten meiner Therapeutin experimentierte ich damit, diese Tatsache meiner Vergangenheit in meine Gegenwart zu »integrieren«. Sie drängte mich immer wieder, mit anderen Menschen, mit Freunden, mit irgendjemandem darüber zu sprechen, was während des Studiums passiert war, damit ich es besser in mein Leben und meine Beziehungen einbinden könnte, um so das Trauma zu heilen, das es in meinem Körper und meinem Gehirn verursacht hatte.

Aber ich muss noch eine Methode entwickeln, darüber zu sprechen, die weniger holprig ist.

Wie genau spricht man nonchalant über die hässlichsten Teile der eigenen Geschichte? Die Teile, die am stärksten Scham und Schuldgefühle hervorrufen, die Beichten, die ein Gespräch zum Stillstand bringen und die andere Person sprachlos machen? Die einen Nachmittag mit köstlichem Essen und neu gewonnener Intimität in etwas Befremdliches verwandeln?

»Ich weiß noch genau, wann du es mir gesagt hast«, sagte Mary neulich zu mir. »Und wie du es mir gesagt hast.«

»Es tut mir leid«, entschuldigte ich mich und versuchte, das Ganze mit einem Lachen abzutun, um das Brennen zu lindern, das sich auf meine Wangen schlich. »Ich kann nicht glauben, dass ich dir das angetan habe, so kurz nach unserer ersten Begegnung.«

Mary hat große braune Augen, ehrlich und aufrichtig, sanft und achtsam. »Donna«, sagte sie. »Du musst dich nicht entschuldigen. Ich habe mich geehrt gefühlt.«

»Geehrt?« Mit diesem Wort aus ihrem Mund hatte ich nicht gerechnet.

»Dass du das Gefühl hattest, du könntest mir so schnell etwas so Persönliches anvertrauen. Da wurde mir klar, dass wir beide gute Freundinnen werden würden. Echte Freundinnen.«

»Oh«, sagte ich und ließ diese Worte auf mich wirken, versuchte, ihre zarte und schöne Liebenswürdigkeit in meine Haut eindringen zu lassen. »Trotzdem tut es mir noch leid«, fügte ich hinzu. »Und wird mir immer sehr leidtun.«

Auf vielfache Art und Weise gibt es mich als Mensch zweimal.

Ich bin Schriftstellerin und Akademikerin, ich bin kreativ und wissenschaftlich. Ich bin seit vielen Jahren eine anerkannte Romanautorin und eine erwachsene Frau mit einem Doktortitel, deren Forschung über Sex auf dem Campus weithin gelehrt wird und die seit über einem Jahrzehnt im ganzen Land über diese Forschung und sexuelle Übergriffe an Universitäten und Colleges spricht. Gleichzeitig bin ich eine verletzliche Person, die beschämt ist durch etwas, das ich von Anfang bis Mitte Zwanzig durchlebt habe, beschämt durch die Schuld, die ich für das, was geschehen ist, bei mir selbst ansiedele, beschämt durch die Rolle, die ich in all dem gespielt habe, weil ich zuließ, dass es tatsächlich so lange andauerte. Ich bin jemand, dessen Karriere in gewisser Hinsicht geglückt ist, und ich bin auch jemand, dessen Karriere aufgrund der Ereignisse mit meinem Mentor stagnierte. Ich weiß, dass ich in der Lage sein sollte, mir selbst das zu sagen, was ich allen Studierenden sage, die wie ich angegriffen und belästigt wurden:

Es ist nicht deine Schuld. Gib dir nicht die Schuld.

Und doch schaffe ich es nicht, mich selbst davon zu überzeugen. Ich kann die junge Frau, die ich war und immer sein werde, nicht davon überzeugen, dass die Aussage »Es ist nicht deine Schuld« in meinem Fall absolut zutreffend ist. Ich bleibe zwei Menschen, zwei Frauen, die denselben Körper, dasselbe Herz, denselben Verstand, dieselbe Seele teilen. Diese gespaltene Frau hat ein paralleles Leben geführt, das eine in der Öffentlichkeit, als selbstbewusste, einflussreiche Person, fachkundig als Forscherin, Rednerin und Autorin zu vielen Themen, darunter auch Title IX, das Gesetz zum Schutz vor geschlechtsspezifischer Diskriminierung, und Körperverletzung. Die andere Frau bleibt im Verborgenen, eine unsichere und beschämte Person, deren berufliches Leben unwiederbringlich von diesem Mann gezeichnet ist, für immer verändert durch seine Unfähigkeit, sich zu beherrschen und sein unangemessenes Verhalten zu unterlassen, durch die Art und Weise, wie er mich mit seinem Blick fixierte und ich ihn nicht zurückweisen konnte.

Ich bin eine Überlebende, aber ebenso bin ich – und werde es immer bleiben – ein Opfer. Ich kann nicht für andere sprechen, die diese doppelte Identität mit mir gemein haben, aber ich kann für mich selbst sagen, dass ich, obwohl ich die stolze Person sein möchte, die ausschließlich den Titel der Überlebenden trägt, immer auch noch das zitternde, sich wegduckende Opfer bin. Zu behaupten, dass dem nicht so wäre, selbst nach zwei vergangenen Jahrzehnten, wäre eine Lüge. Wegen meiner Arbeit, wegen des Feminismus, wegen bestimmter Freunde, die mich über die Jahre unterstützt haben, bin ich mir dessen bewusst, was ich laut zu anderen und mir selbst in meinen dunkelsten Momenten sagen soll: dass alles seine Schuld war. Dass er getan hat, was er mir angetan hat. Dass ich nicht mir die Schuld geben sollte. Ich habe diese Sätze einstudiert, sie geprobt wie für eine Rolle in einem Theaterstück, und doch gibt es nur einige flüchtige Momente, in denen ich tatsächlich glaube, dass sie wahr sind. Die anderen sind geprägt von Zweifel und Unsicherheit.

So oft habe ich mir vorgestellt, wie mein heutiges Ich mit dem jüngeren Ich aus der damaligen Zeit zusammensitzen würde und all das erzählte, was junge Frauen erzählen, die so etwas durchlebt haben. Ich nutze diese mentale Übung als eine Methode, um mir selbst zu helfen, mir zu verzeihen, als Anstrengung, im Laufe der Jahre damit fertigzuwerden. Ich nutze sie, weil Kollegen und Freunde, die diesen Teil meiner Geschichte kennen, mich darauf gebracht haben, vor allem, wenn ich abends beim Essen oder bei einem Drink in lange Monologe voller Selbstanklagen und Schuldzuweisungen verfallen bin.

»Wenn du dich jetzt mit einer deiner Studentinnen zusammensetzen würdest«, fragten sie mich, »und sie würde dir eine ähnliche Geschichte wie deine eigene erzählen, was würdest du zu ihr sagen? Würdest du jemals auf die Idee kommen zu behaupten, dass sie, auch nur zum Teil, schuldig ist?«

Natürlich ist die Antwort ein unmissverständliches Nein. Ich würde das niemals zu einer meiner Studentinnen sagen. Oder zu einer meiner Freundinnen oder Kolleginnen. Ich würde so etwas zu keiner Person sagen, die das gleiche Martyrium durchlitten hat wie ich. Was die Erfahrungen der anderen angeht, glaube ich fest an das rechtskräftige fehlende Verschulden. Das steht für mich außer Zweifel. Warum also trifft das in meinem Fall nicht unmissverständlich zu? Warum gelingt mir kein sauberer Sprung vom beschämten Opfer zur stolzen Überlebenden? Wie kann ich den Kampf dieser beiden gegeneinander antretenden Ichs beenden?

Wird mir das jemals gelingen?

Wir leben in einer Kultur, in der Frauen und Mädchen mit einer derartigen Regelmäßigkeit, Häufigkeit und Entschlossenheit belästigt und angegriffen werden, dass wir Bilanz ziehen müssen aus den Abspaltungen einer Person, ausgelöst durch traumatische Ereignisse. Aus den Benimmregeln, anhand derer Frauen lernen müssen, gute Schauspielerinnen und ausgezeichnete Lügnerinnen zu werden, damit sie in der Lage sind, zu erdulden und weiterzuleben, als wäre ihnen nichts Schreckliches passiert. Aus den persönlichen und beruflichen Kosten, die es mit sich bringt, mit zwei Gehirnen zu leben, aus den Geheimnissen, die der eigene Körper der Betroffenen jahrelang gekonnt vor ihr verbirgt, aus dem ständigen Gefühl, dass sie diejenige ist, die irgendwieversagt hat, und daraus, welchen Schaden ihr Ich-Erleben nimmt, ihre Fähigkeit zu erkennen, was wahr und was falsch ist an dem, wer sie ist und wer sie nicht ist.

Wir haben die Aussage »Ich bin einverstanden und alles passiert einvernehmlich« als etwas Eindeutiges hingestellt, so eindeutig wie das einzelne Wort Nein, aber wir belügen uns selbst und einander damit. Wenn sich das Verhalten einer Person abstellen ließe, indem man ein Zauberwort mit vier Buchstaben ausspricht, dann wäre das Verhalten meines Professors niemals über diesen langen Zeitraum weitergegangen. Das Wort Nein bedeutete in meinem Fall nichts. Ich habe dafür teuer bezahlt. Ich zahle immer noch dafür.

Ich sage nicht, dass alles, was ich in den Jahren zwischen Anfang und Mitte Zwanzig getan, erreicht und geleistet habe, eine Lüge oder gar vorgespielt war. Ich sage nicht, dass die selbstbewusste, erfolgreiche Frau, die ich in vielerlei Hinsicht bin, nicht real ist. Sie ist, ich bin, real. Es wäre gelogen, dass die andere Frau, die ich war, die ich immer noch bin, nicht mehr existiert. Es wäre gelogen, sie zu verleugnen. Zu behaupten, dass die junge Frau, die von diesem Mann gezeichnet wurde, vollständig geheilt ist. Ich werde immer sie sein. Ich werde immer beide Frauen sein. Auch wenn meine Freunde, meine Mitfeministinnen, wünschten, es wäre anders.

So gesehen habe ich also auch zwei Gehirne. Jedes der beiden verbirgt Dinge vor dem anderen. Als gäbe es Teile meines Gehirns, die unkenntlich gemacht wurden. Als wäre das FBI oder die CIA oder irgendeine geheime Regierungsbehörde eines Nachts in mein Gehirn eingedrungen und hätte meine Erinnerungen an die Graduate School – meine Erinnerungen an ihn – mit einem dicken, durchtränkten schwarzen Marker klassifiziert; sie vor mir geheim gehalten.

Ich habe immer gewusst, dass ich zwei Erinnerungssätze habe – einen Satz, der ausschließlich diesem Mann und allem, was mit ihm geschah, gewidmet ist, und einen zweiten, der ausschließlich allem anderen gewidmet ist, was in meinem Leben während des Studiums und danach geschah. Der eine Satz ist dunkel und hässlich und abstoßend, der andere ist hell und glücklich und aufregend. Die dunklere Seite ist gefährlich; sie liegt auf der Lauer, verborgen, hinterhältig, bis zu dem Moment, in dem die glücklichere Seite von mir am wenigsten mit ihr rechnet und ihre Existenz fast vergessen hat, und plötzlich holt sie aus mit der Wucht und Gewalt eines Messers, das sich seinen Weg bahnt durch alles, was ich sonst bin, alles, was ich geworden bin, und verwundet mich von Neuem.

Mein Gehirn und mein Körper haben im Laufe der Jahre viel dafür getan, diese beiden Erinnerungssätze getrennt voneinander zu halten, um zu verhindern, dass der eine den anderen verunreinigt – und das ist das richtige Wort dafür: Verunreinigung. Ich sehe in diesem Professor eine potenziell verunreinigende Kraft, gleich einem Insektizid oder einer fauligen, stinkenden Chemikalie, die sorgfältig eingedämmt werden muss. Die Aufgabe meines Gehirns scheint es zu sein, ihn in einer Ecke hermetisch wegzusperren und so den restlichen Teil vor weiterer Kontamination zu schützen.

Wenn ich versuche, mich an diese Zeit in meinem Leben zu erinnern, funktioniert mein Gehirn wie eine Zaubertafel. Wenn man den Schieber über die mattgraue Scheibe zieht, löscht er alles, was vorher da war, damit man ein neues Bild beginnen kann. Ich habe einen dieser Schieber in meinem Kopf, aber wenn ich ihn über meine Erinnerungen ziehe, ist er auf der einen Seite und alles und jeder sonst auf der anderen Seite. Auf der einen Seite passiert und geht mein Leben weiter, als wäre ich völlig normal, unberührt von diesem Mann, erfolgreich und glücklich, aber auf der anderen Seite ist das Mädchen, das ich sehe, eine erbärmliche, verängstigte Chaotin, und so wird sie immer bleiben.

***

Man kann einen Menschen durch so viele verschiedene Linsen, aus so vielen Blickwinkeln betrachten. Es bedrückt mich, dass dieser hässliche Teil meiner Geschichte meine Linse ist, mein Blickwinkel, das Fenster, für das ich mich entschieden habe und durch das ich die vielen verschiedenen Aspekte meines Lebens betrachte, meine Freunde, meine Familie, meinen Glauben, meine Erwartungen, Hoffnungen und Träume. Dann wiederum ist das Aufschreiben dieser Zeilen eine Art Festnageln, ein Sondieren. Und ich möchte diesen Mann festnageln, damit ich ihn jetzt, aus der Ferne, verstehen und mir Gedanken machen kann, wer er war und ist und wie er mir widerfahren ist. Ich würde ihn gerne in einen hilflosen Schmetterling verwandeln, der an die Wand genagelt ist und dort darauf wartet, dass ich ihn unter die Lupe nehme. Ich war viel zu lange sein widerstrebender Schmetterling, und er hielt seinen starren Blick auf mich gerichtet, sah zu, wie ich flatterte, und es war ihm egal, dass ich frei von ihm sein wollte.

Ich hatte viele Jahre Zeit, darüber nachzudenken, was an der Graduate School geschah, wie es dazu kam und warum es so lange andauerte. Ich verwende also meine eigenen Erfahrungen als eine Art Fallstudie, denn leider gibt es viel zu studieren. Wie ironisch oder passend auch immer das sein mag – Gespräche über Belästigung, Übergriffe und Einvernehmen sind zu einem der zentralen Aspekte meiner beruflichen Identität geworden. Und wenn ich eines aus meinen Erfahrungen gelernt habe, dann das: Mit etwas einverstanden zu sein und einvernehmlich zu handeln, ist etwas unendlich Vielschichtiges und Wandelbares, vor allem, wenn zwei Menschen bereits in einer Beziehung zueinander stehen.

In meinem Fall gab es im wahrsten Sinne des Wortes eine Reihe von Stadien der Zustimmung, die sich allmählich in Stadien der Nichtzustimmung verwandelten. Einvernehmen ist eine so knifflige, heikle Angelegenheit, es kann in der einen Minute vorhanden und in der nächsten nicht mehr vorhanden sein, es kann undurchsichtig und vage sein, man zeigt sich einverstanden, aus Angst oder aus einer vermeintlichen Verpflichtung heraus. Aufgrund des Machtgefälles zwischen mir und meinem Professor, zwischen mir und meinem Mentor, habe ich mich auf eine Art verhalten, für die ich mich jetzt schäme, und ich sehne mich danach, zurückzugehen und alles anders zu machen. Und doch ist es so viel einfacher, mir im Nachhinein zu wünschen, ich hätte anders gehandelt, jetzt, wo ich älter bin, jetzt, wo ich so viel mehr über Mobbing und Belästigung weiß und darüber, wie Institutionen damit umgehen (oder auch nicht), jetzt, wo ich mehr Abstand zu dem habe, was vorgefallen war.

Aber wenn es dir selbst passiert und du jung und machtlos bist, und derjenige, der dafür sorgt, dass es so passiert, deine Hoffnung in seinen Händen hält, zerbrechlich und schön, dann ist man zu vielem bereit, um sicherzustellen, dass er den Traum von deiner Zukunft nicht platzen lässt.

Apropos Zukunftstraum.

Die Menschen urteilen oft über die Zahlungen, die manche Frauen erhalten, wenn sie sich mit Anschuldigungen wegen Belästigung und Übergriffen an die Öffentlichkeit wenden, vor allem wenn die Summen in die Millionen gehen. Das ist in letzter Zeit häufig der Fall, weil immer mehr Frauen ihre Stimme erheben und weil unsere Nation erkennt, wie charakteristisch es für eine Frau ist, am Arbeitsplatz, in der Schule, in jedem Augenblick ihres Lebens belästigt und angegriffen zu werden.

Meiner Meinung nach ist keine Summe zu hoch oder zu empörend. Keine Entschädigung wird jemals ausreichen.

Mal ehrlich, wie hoch kann man den Preis für den Verlust, den endgültigen Verlust der schönsten Träume einer Frau ansetzen? Was sind die tatsächlichen Kosten für den Verlust deiner Zukunft? Deiner Karriere? Deines Leumunds in den Augen der anderen?

Auch wenn ich versucht habe, mich vom Gegenteil zu überzeugen und mir weiszumachen, dass diese Zeitspanne meines Lebens an der Graduate School den Verlauf meiner Zukunft nicht bestimmt hat, dass sie nicht schuld daran ist, wie sich die Dinge für mich entwickelt haben (oder auch nicht), bin ich wieder einmal eine zweigeteilte Frau. Tief drin, vergraben unter all den Faktoren, die im Laufe der Jahre in meine berufliche Entscheidungsfindung eingeflossen sind, dem Pech und den miesen Kollegen, den guten und glücklichen Momenten, den Wahlmöglichkeiten, die ich hatte und genutzt habe, lauert er. Wie Schlamm auf dem Grund eines Sees, unsichtbar und schleimig unter klarem Wasser, ist er immer noch da. Und wenn ich mir diese Wahrheit eingestehe, bin ich auch in der Lage, diese Stimme zu hören, kaum mehr als ein Flüstern, die mir sagt, ja, auch wenn es viele, viele Gründe gibt, warum ich mir den Traum von meiner Zukunft nicht erfüllt habe, und auch wenn ich mir andere Träume erfüllt habe, von denen ich noch nicht wusste, dass ich sie hatte, so hat dennoch er mich meinen einzigen wahren Traum gekostet, den reinsten, den, dessen Ende immer noch am meisten schmerzt und immer schmerzen wird.

Er brach mich an jenem Ort, an dem ich einst am glücklichsten gewesen war, wo ich mich nach innen gewandt und das Beste meines Ichs entdeckt hatte. Er griff sich diesen einst zuversichtlichen, überschwänglichen Teil von mir und verwandelte ihn in etwas Unsicheres und Ängstliches, in etwas, das sich duckt und schämt, das angewidert ist und kränkelt. So hat er alles, was mit diesem Teil von mir zu tun hatte, in ein Ödland verwandelt, voller Trümmer und Tretminen, zwischen denen ich mich nicht mehr zurechtfand. Denen ich nicht ausweichen konnte, zumindest nicht mit vollem Erfolg. Denen ich, wenn ich ehrlich bin, immer noch nicht ausweichen kann.

Ich wollte immer nur Hochschuldozentin werden. Sonst nichts. Und ich bin es nicht geworden. Nicht so, wie ich es mir erhofft hatte. Nicht so, wie es meine Freunde jetzt sind. Und so ungern ich das zugebe und so sehr ich mir wünsche, dass es anders wäre: Schuld daran ist er.

ERSTER TEIL

1

Rhode Island, wo ich herkomme, ist ein Dorf.

Das klingt wie ein Scherz. Ja, von seiner Größe her ist Rhode Island ein kleiner Staat, aber es ist eben auch klein wie ein Dorf, ein Ort, in dem jeder jeden kennt. Hier lässt es sich leicht »Über sechs Ecken …« spielen, und meistens sind es nur ein bis zwei. Rhode Island ist ein Staat der Arbeiterklasse, familiär und katholisch, zumindest war es so, als ich dort aufgewachsen bin. Es ist ein Einwandererstaat, Italiener, Portugiesen und Iren. Im Sommer gehen wir an die öffentlichen Strände, die sich mit Kindern und Jugendlichen und Eltern füllen, mit Männern, die fürs Surfen zu alt sind, aber dennoch mit Longboards unter den Armen auftauchen und sich ihren Weg durch die bunten Sonnenschirme bahnen.

Die Grundstücke rund um das Haus meiner Familie in Narragansett waren früher bewaldet. Meine Großmutter und ich gingen stundenlang Brombeeren pflücken, und wir kehrten erst zurück, wenn wir genug für einen Kuchen gesammelt hatten. Es gab auch Weintrauben, Blaubeeren und Walderdbeeren. Je nach Tages- und Jahreszeit überredete meine Großmutter mich, eine Jeans anzuziehen, damit ich mir nicht die Beine an den Stacheln zerkratzte, und dann gingen wir hinaus in die warme Luft, vorbei an den hie und da zufällig eingestürzten Steinmauern, die sich durch die Landschaft zogen, und hinein ins hohe Gras, zwischen dem sich die Erdbeerpflanzen versteckten.

Jemand hat mir einmal eine Sonnenblume geschenkt, ich weiß nicht mehr, wer es war, aber ich war damals sechs oder sieben Jahre alt, und ich liebte diese Blume, wie ich noch nie etwas geliebt hatte. Ich liebte ihre Leuchtkraft, ihre Größe, die Art und Weise, wie sie sich pausenlos explosionsartig zu öffnen schien und ihr gelbes Gesicht gen Himmel drehte. Aber weil sie eine Blume war, wusste ich auch, dass sie sterben würde. Ich beklagte ihren unausweichlichen Tod, bevor er nahte, starrte sie besorgt in ihrer Vase in der Mitte des Küchentisches an. Als sie schließlich ihr Ende erreicht hatte, verwelkt und an den Rändern braun geworden, als sie schlaff herabhing, nachdem sie so aufrecht und groß und scheinbar unbesiegbar gewesen war, hob mein Vater sie aus der Vase, nahm meine Hand in seine und führte mich auf das freie Grundstück hinter unserem Haus. Es war voller Bäume und Sträucher, aber hauptsächlich voller Gras – Gras, das so hoch war wie ich damals groß. Wir legten die verwelkte Sonnenblume sanft und ehrfürchtig nieder, und ich dachte, mein Vater wolle sie beerdigen, weil er wusste, wie sehr ich sie liebte. Aber stattdessen sah er mich an und sagte: »Nun warte es ab«, dann drehte er sich um und ging vor mir her, zurück in den Garten, an der Schaukel vorbei auf die Terrasse.

Im darauffolgenden August sowie in jedem weiteren Jahr, bis das Grundstück gerodet wurde, um Platz für ein neues Haus zu schaffen, wuchsen prächtige Sonnenblumen zwischen den Gräsern empor, jedes Jahr mehr. Wir konnten sie von der Küche aus durch die Glastüren beim Frühstück sehen. Ich war mir damals wie heute absolut sicher, dass mein Vater dieses alljährliche Wunder meinetwegen geschehen ließ, ein Beweis seiner Liebe zu mir, die sich mit jeder neuen Sonnenblumensaison vervielfachte, wie die Geschichte von der wundersamen Brotvermehrung, nur viel besser.

In den Siebziger- und Achtzigerjahren war Rhode Island wie ein großes Festzelt, das einem Unterschlupf bot, vollgepackt mit Meer und Sand und den einfachen Freuden des Lebens, lautstark angereichert mit Akzenten, über die man sich lustig machte, wenn man sie im Fernsehen oder im Kino hörte.

»Ray ist draußen und paaahkt«, sagte meine Mutter immer, wenn die Leute fragten, wo mein Vater sei, nachdem er uns wie ein Gentleman – mein Vater war immer ein Gentleman – direkt vor der Tür abgesetzt hatte, egal wohin wir gefahren waren. Meine Mitbewohner im College hörten sich die Nachrichten, die meine Mutter auf unserem Anrufbeantworter hinterließ, bewundernd an und speicherten sie, um sie noch einmal abzuspielen, manchmal für Gäste, weil ihr Akzent so stark war, dass er ihnen unglaubwürdig vorkam.

Als ich klein war, Buchstabieren lernte und mir die Regeln für stumme Vokale und dergleichen einprägte, hatte ich, daran erinnere ich mich gut, eine zündende Idee: Es musste so etwas wie ein stummes »r« geben. Wie sonst könnte ich die Tatsache erklären, dass Wörter, die nicht so klangen, als trügen sie ein r in sich – Hääähz, paahhkt, Faaaht, Määähz – auf dem Papier so unterschiedlich geschrieben wurden: Herz, parkt, Fahrt, März? Warum hatte mir niemand in der Schule diese spezielle Lektion über dieses r beigebracht? Als ich meiner Mutter von diesem Geistesblitz erzählte, der ein großes Rechtschreibrätsel zu lösen schien, lachte sie und erklärte mir, dass bestimmte regionale Akzente einzelne Buchstaben manchmal wie schwarze Löcher verschlucken, sobald die Leute etwas sagen. Sie war selbst Lehrerin, und ich weiß noch, wie sehr ich mich über die Aussprache der Menschen in meiner Umgebung aufregte, die meiner Eltern eingeschlossen, als wollten sie mich austricksen und es den Kindern schwerer machen, Lesen und Rechtschreibung zu lernen. Ich sagte ihr, es sei nicht richtig oder fair gegenüber ihren Schülern, dass sie so spreche, fast so, als würde sie sie anlügen, was sie nur noch mehr zum Lachen brachte.

Rhode Island war ein Ort der Geborgenheit, mit seiner Unkompliziertheit, seinem sich Jahr für Jahr wiederholenden Rhythmus, dass man im Sommer an den Strand ging, im Herbst, Winter und Frühling zur Schule und – unabhängig von der Jahreszeit – sonntags in die Kirche. Es ist auch der Ort, an dem ich in der ersten Klasse durch Zufall lernte – und zwar genau zu der Zeit, als mein Vater mit Sonnenblumen Wunder vollbrachte –, dass es in dieser Welt noch andere Götter als den einen katholischen Gott gab. In meiner katholischen Grundschulklasse hatten wir gerade Phonetikunterricht. Wir sprachen alle Wörter laut aus, Satz für Satz, und arbeiteten uns durch den Lesestoff des Lehrbuchs, in dem es an diesem Morgen zufällig um griechische Götter ging. Zeus und Athene, Aphrodite und Poseidon und all ihre Abenteuer. Es ging darum, uns die Phonetik beizubringen, zu lernen, laut und vor allem richtig zu lesen, aber die Vorstellung, dass es noch andere Götter gab als den Gott, zu dem meine Familie und ich sonntags und vor dem Essen und Schlafengehen beteten, war die eigentliche Lektion, die ich an diesem Tag mit nach Hause nahm.

Meine Mutter war in ihrem Zimmer und legte auf dem Bett Wäsche zusammen.

Ich kletterte aufs Bett und setzte mich im Schneidersitz auf ihre Decke. Ich betrachtete ihre lächelnden braunen Augen, die weichen Locken ihres kurzen dunklen Haars, ihre farbenfrohe Kleidung, Pullover mit eingestickten Blumen an einem Tag, Tiere an einem anderen, die fröhliche Kleidung einer Vorschullehrerin.

»Du hast mir nicht gesagt, dass es andere Götter gibt«, sagte ich zu ihr.

Es war eindeutig ein Vorwurf.

»Was meinst du damit?«, fragte sie.

Ich erzählte ihr von dem morgendlichen Phonetikunterricht und was ich herausgefunden hatte. Ich war schockiert, als ich erfuhr, dass meine Mutter schon immer von anderen Göttern gewusst hatte und dass dies für sie keine so große Überraschung war wie für mich. Sie stellte mir an diesem Tag viele Fragen, was ich über Zeus und seine göttlichen Kollegen dachte, ob ich gerne über sie las und mehr lesen wollte. Sie würde mir gerne Bücher mit Geschichten über griechische Götter und auch über andere Götter geben, wenn ich Interesse hätte. Doch mich ließ eine einzige Frage nicht mehr los, die ich ihr immer und immer wieder stellte.

»Was ist, wenn wir an den Falschen glauben?«

Da die Welt nun voller Götter zu sein schien, konnte ich nicht aufhören, über die Möglichkeit nachzudenken, dass wir mit dem katholischen Gott eine schlechte Wahl getroffen hatten. Welcher Gott war der richtige? Auch wir hatten uns entschieden, zumindest meine Eltern und meine Großmutter, und zwar, ohne mich zu fragen oder mir vor dieser Wahl die Information zu geben, die ich mittlerweile für grundlegend hielt. Wie trifft man denn überhaupt eine solche Entscheidung, wenn es da draußen so viele Götter gibt? Warum haben wir diesen katholischen Gott den anderen vorgezogen? Was genau machte ihn besser?

»Tja«, sagte meine Mutter, während sie weiter Wäsche zusammenlegte und stapelte. »Das genau ist eben der Glaube.« Sie fuhr fort, mir zu erklären, dass es in der Religion darum gehe, an etwas zu glauben, ohne zu wissen, ob es wahr ist, dass es bei diesem Vertrauensvorschuss um genau die Fragen gehe, die ich stellte, um die Entscheidung, dass es in Ordnung ist, sich nicht sicher zu sein, ob der katholische der eine »richtige« Gott oder der eine »wahre« Gott ist, und zu akzeptieren, dass wir die Antwort vielleicht nie erfahren werden. Dass meine Eltern und meine Großmutter, als Familie, an den katholischen Gott und die katholische Kirche glaubten.

»Ich glaube nicht, dass mir das gefällt«, erklärte ich.

Wieder einmal fühlte ich mich betrogen. Als hätten mir meine Eltern und die Lehrer in der Sonntagsschule absichtlich wichtige Informationen vorenthalten und Fakten unterschlagen, die ich brauchte, um eine fundierte Entscheidung über Gott und Glauben und das, was ich glaubte, zu treffen.

»Stell mir ruhig weiter Fragen«, sagte meine Mutter.

Sie wirkte so gelassen, so ruhig, während ihre Tochter Nachforschungen anstellte, die möglicherweise die Welt, wie sie sie seit ihrer Geburt kannte, zu Fall brachte. Aber in Wahrheit glaube ich, dass meine Fragen sie erschütterten. Meine Mutter wollte, dass ich ihren Glauben an den katholischen Gott und seine Traditionen teilte. Alle um uns herum taten das, und sie dachte, ich sei damit gut gerüstet, sobald ich älter würde und mich den Härten des Lebens stellen müsste, wie eine Art Ganzkörper-Polsterung, die die Wucht der Blessuren und des Schmerzes abschwächt.

Tatsächlich aber kam mein kindlicher Glaube an den katholischen Gott nie zurück, ich konnte nie aufhören, darüber nachzudenken, was wahr und was falsch sein könnte, wenn wir sonntags in die Kirche gingen, ich mochte die Vorstellung nicht, wir befänden uns möglicherweise im Irrtum, und hatte Bedenken, dass meine Eltern und meine Großmutter in der Glaubensfrage eine schlechte Entscheidung getroffen hatten. Ich habe auch nie aufgehört, Fragen über andere Götter zu stellen, sowohl in meinem Kopf als auch draußen in der Welt, Fragen, die meine Lehrenden an den katholischen Schulen, auf die ich mein ganzes Leben lang ging, manchmal erschreckt und empört haben, Schulen, die ich geliebt habe, mit so vielen Freunden und Nonnen und Priestern, die ich ebenso geliebt habe wie die Institutionen an sich. Und obwohl ich vielleicht meinen Glauben an Gott verloren habe, als ich noch sehr jung war, so habe ich niemals meinen Glauben an meine Eltern verloren. Das war einfach. Sie waren immer für mich da.

Während meiner Ausbildungszeit war ich eine unersättliche Schülerin und Studentin. Das bin ich bis zu einem gewissen Grad immer noch, aber nicht mehr so wie damals. Ich verschlang Bücher wie die Süßigkeiten, die meine Mutter mir als Kind verboten hatte, wodurch ich nur zu einer noch leidenschaftlicheren Zuckerkonsumentin wurde. Ich war in Trigonometrie und Infinitesimalrechnung so fit, dass meine Mathekurse mit dem Honors-English-Kurs kollidierten. Die Lehrerin aus dem Advanced-Placement-Programm, Frau H., gab mir zudem jahrelang Privatunterricht. Das alles fühlte sich an wie ein Lotteriegewinn.

Miss H. wurde an meiner Schule für ihre Freundlichkeit, ihre Intelligenz, für das kontinuierliche Tragen langer, wallender Hippie-Röcke und -Pullover bewundert, für ihr Feststecken in einer Zeitschleife der 1960er-Jahre, für ihren Pazifismus, für ihr unmögliches krauses, schmutzig-blondes Haar, das in der Mitte gescheitelt war und ihr verwittertes Gesicht umrahmte. Sie lächelte viel, sprach mit sanfter Stimme und hatte ein ebenso sanftes Lachen. Ich habe sie verehrt.

Gemeinsam haben sie und ich alles gelesen, all die Klassiker. Ich schwärmte für Ayn Rand (ich war jung, ich kam darüber hinweg), Dickens, Shakespeare, Steinbeck. Meine geliebte Privatlehrerin drückte mir 450-Seiten-Wälzer in die Hand und fragte mich leise, ob ich sie in zwei, drei, vielleicht vier (wenn ich Glück hatte) Tagen lesen könne.

Ja, antwortete ich. Tausendmal ja!

Es gab keinen Lehrstoff, kein Curriculum, keinen Plan, keine Struktur, nur einen wackeligen Bücherstapel in einem schummrigen, hässlichen Klassenzimmer (aus irgendeinem Grund schalteten wir nie das Licht ein) und Gespräche, Diskussionen, lernen, reden. Miss H. schob einen weiteren Schreibtisch und Stuhl heran und setzte sich neben mich, als wäre sie eine Mitschülerin oder ich ihre Kollegin, und ich vergaß, dass ich in der Schule war und sie meine Lehrerin, bis es wieder klingelte. Oft war sie zu beschäftigt, um sich mit mir zu treffen, und ich saß allein da und las oder arbeitete. Aber sie trieb mich an, und zwar bei allem, mehr als irgendjemand mich je angetrieben hatte, vor allem, was mein Schreiben betraf. Ich aß alles auf, jeden einzelnen Krümel, als wäre ich am Verhungern, als wäre es die beste Mahlzeit meines Lebens, als könnte es meine letzte sein, als hätte ich noch nie so gutes Essen gekostet, obwohl meine Mutter eine begabte italienische Köchin war. Ich war hungrig, und der Hunger wurde nur noch größer, als ich erst einmal entdeckte, dass er da war. Ich lernte, diesen Schmerz zu lieben.

Ich war schon immer eine Leseratte gewesen; meine Mutter sorgte dafür, dass wir zwei- bis dreimal pro Woche in die Bibliothek gingen. Sie machte daraus immer etwas ganz Besonderes, wie wir beide ins Auto stiegen und uns vergewisserten, dass wir unsere Bibliotheksausweise eingesteckt hatten. Ich erinnere mich noch genau an den Tag, an dem meine Mutter beschloss, ich sei alt genug, um mich allein zwischen den Bücherregalen herumzutreiben.

»Warum gehst du nicht auf Entdeckungsreise«, sagte sie zu mir, als wäre das keine große Sache, kein Meilenstein, während wir im Schneidersitz auf dem Boden in der Kinderabteilung saßen und in einem Bilderbuch blätterten. »Du suchst dir aus, was dich interessiert, und wenn du fertig bist, treffen wir uns am Schalter der Ausleihe. Lass dir Zeit.«

Ich stand auf und starrte sie an, ein bisschen ungläubig, dass sie mich allein und ohne Sperrstunde in die Wildnis schickte, erregt von der verheißungsvollen Aussicht auf heimliche Streifzüge. Danach taumelte ich mit Stapeln von Büchern nach Hause, so umfangreich, wie ich es mir zutraute (Louisa May Alcott war in dieser Hinsicht wunderbar, wie ich herausfand), so viele, wie die Bibliothekare mir mitzunehmen erlaubten, eine Angewohnheit, die meine Mutter von Herzen billigte und duldete.

Doch dieser private Englischkurs mit Miss H. war ein Wendepunkt, was meine Beziehung zu Büchern und ihrem Gedankengut anging. Es war der Anfang von allem, meiner Zukunft, meiner akademischen Begierde, meinem intellektuellen Erwachen, meiner Einführung in das kritische Denken, meiner Freude am Lernen, am Suchen, am Hinterfragen, am hemmungslosen und hartnäckigen Grübeln über das Warum, das Warum nicht, das Wie und Wer und darüber, wasgenau das alles überhaupt bedeutet? Miss H. war der Grund dafür, dass ich an der Georgetown University aufgenommen wurde, einer Institution, an der sich nach meiner Ankunft herausstellte, dass alle anderen qualifizierter als ich waren, um dort zu sein. Überall, wo ich hinkam, waren Leute, die auf schicke Privatinternate gegangen waren, wo sie Sex gehabt und jede Menge Drogen genommen und spannende Seminare belegt hatten. Internate, für die ihre Eltern entsprechend viel oder sogar noch mehr als die Studiengebühr für ein einziges Semester an der Georgetown bezahlt hatten.