Elemente einer Theorie der Menschenrechte - Amartya Sen - E-Book

Elemente einer Theorie der Menschenrechte E-Book

Amartya Sen

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Beschreibung

Wenn politisches Engagement und Einsatz für Menschenrechte nicht zu blindem Aktionismus führen sollen, ist es nötig, gelegentlich innezuhalten und sich auf die Theorie der Menschenrechte zu besinnen. Menschenrechte, so Amartya Sen, sind erst einmal moralische Forderungen, die sich auf wichtige und sozial beeinflussbare Freiheiten beziehen. Nicht nur auf bürgerliche und politische Freiheiten, sondern auch auf ökonomische und soziale. Doch wie kann sich die Menschheit weltweit und dauerhaft auf dieselben Forderungen einigen – trotz all der kulturellen Unterschiede und extrem unterschiedlicher Rechtssysteme? Was kann eine Theorie der Menschenrechte leisten und was nützt sie in der Praxis? Sen entwirft in seinem Essay ein inklusives und zukunftsweisendes Verständnis der Menschenrechte, das einen Beitrag leisten soll, die Welt zu einem besseren Ort zu machen.

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Amartya Sen

Elemente einer Theorie der Menschenrechte

Aus dem Englischen übersetzt von Ute Kruse-Ebeling Mit einem Nachwort von Christian Neuhäuser

Reclam

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2020 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

 

© 2004 Amartya Sen

Der Aufsatz erschien erstmals in: Philosophy and Public Affairs 32 (2004) Nr. 4. © 2004 by John Wiley & Sons.

 

Covergestaltung: Cornelia Feyll, Friedrich Forssman

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2021

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN978-3-15-961757-2

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-014070-3

www.reclam.de

Inhalt

Elemente einer Theorie der Menschenrechte

Zu dieser Ausgabe

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Nachwort

Zum Autor

Anmerkungen

Elemente einer Theorie der Menschenrechte

I. Die Notwendigkeit einer Theorie

Wenige Begriffe werden in gegenwärtigen politischen Diskussionen so häufig ins Feld geführt wie die Menschenrechte. Die Idee, dass jede Person auf der Welt, unabhängig davon, wo sie lebt, und ungeachtet ihrer Staatsbürgerschaft oder der Rechtsprechung ihres Landes, einige Grundrechte hat, die andere achten sollten, hat etwas höchst Reizvolles an sich. Die moralische Anziehungskraft der Menschenrechte ist für vielerlei Zwecke genutzt worden: um Widerstand gegen Folter und willkürliche Inhaftierung zu leisten ebenso, wie um ein Ende von Hunger und mangelnder ärztlicher Versorgung zu fordern.1

Gleichzeitig halten viele die zentrale Idee der Menschenrechte als etwas, das Menschen haben, und zwar auch ohne jede spezifische Gesetzgebung haben, für grundlegend fragwürdig und wenig überzeugend. Eine wiederkehrende Frage lautet, woher diese Rechte eigentlich kommen. Gewöhnlich wird nicht bestritten, dass die Berufung auf Menschenrechte politisch gesehen schlagkräftig sein kann. Vielmehr beziehen sich die Bedenken auf das, was für die »Weichheit« oder »Schwäche« (manche würden »Verschwommenheit« sagen) der konzeptionellen Grundlage gehalten wird. Viele Philosophen und Rechtstheoretiker halten die Rhetorik der Menschenrechte nur für loses Gerede – für vielleicht wohlgesinnte und gut gemeinte Formen der Ausdrucksweise, aber eben dennoch loses Gerede.

Der Gegensatz zwischen der weitverbreiteten Anwendung der Idee der Menschenrechte und der intellektuellen Skepsis gegenüber ihrer begrifflichen Fundiertheit ist nicht neu. Die US-amerikanische Unabhängigkeitserklärung erachtete es 1776 für »selbstverständlich«, dass alle Menschen von »ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet« sind, und 13 Jahre später behauptete die Französische Erklärung der Menschenrechte, dass die Menschen »von Geburt an frei und gleich an Rechten« sind und bleiben. Doch Jeremy Bentham2 brauchte nicht lange, um in seinen zwischen 1791 und 1792 geschriebenen Anarchical Fallacies [Anarchische Trugschlüsse] (die sich gegen die französischen Menschenrechte richteten), die völlige Zurückweisung aller solcher Ansprüche zu formulieren. Bentham bestand darauf, dass »natürliche Rechte schlichter Unsinn sind: natürliche und unveräußerliche Rechte (ein amerikanischer Ausdruck), rhetorischer Unsinn, Unsinn auf Stelzen«.3 Dieser Verdacht bleibt auch heute sehr lebendig, und trotz beharrlicher Anwendung der Idee der Menschenrechte in der Praxis gibt es viele, die die Idee der Menschenrechte als nichts anderes als einen »Papiertiger« ansehen, um eine weitere von Benthams bissigen Darstellungen von Forderungen natürlicher Rechte zu verwenden.

Die Zurückweisung von Menschenrechten ist häufig umfassend und richtet sich gegen jedwede Überzeugung, dass es Rechte gibt, die Menschen bedingungslos, einfach kraft ihres Menschseins besitzen können (statt sie kontingent auf Grund bestimmter Voraussetzungen, wie etwa Staatsangehörigkeit oder Rechtsansprüchen, zu besitzen). Einige Kritiker schlagen jedoch eine differenziertere Ablehnung vor: Sie akzeptieren die allgemeine Idee der Menschenrechte, schließen jedoch von der akzeptablen Liste bestimmte Klassen vorgeschlagener Rechte aus, insbesondere die sogenannten wirtschaftlichen und sozialen Rechte oder Wohlfahrtsrechte. Diese Rechte, die manchmal als »Rechte der zweiten Generation« bezeichnet werden, wie beispielsweise ein allgemeiner Anspruch auf einen angemessenen Lebensstandard oder auf ärztliche Versorgung, sind mehrheitlich erst vor verhältnismäßig kurzer Zeit zu den früheren hinzugekommen und haben dadurch den Anspruchsbereich der Menschenrechte stark erweitert.4 Diese Ergänzungen haben sicherlich die gegenwärtige Literatur über Menschenrechte weit über die Erklärungen des 18. Jahrhunderts hinausgeführt, die sich auf eine engere Klasse von »Rechten der Menschen« [»rights of man«] konzentrierten, zu denen solche Ansprüche wie die persönliche und politische Freiheit gehörten. Diese neueren Aufnahmen sind einer spezielleren Skepsis ausgesetzt, bei der die Kritiker auf die Probleme ihrer praktischen Umsetzung und ihre Abhängigkeit von spezifischen sozialen Institutionen, die vorhanden sein können oder auch nicht, abheben.5

Menschenrechtsaktivisten sind solchen Kritiken gegenüber oft recht unduldsam. Die Berufung auf Menschenrechte kommt tendenziell meist von Menschen, denen es darum geht, die Welt zu verändern, statt sie zu interpretieren (um eine klassische Unterscheidung zu bemühen, die – seltsamerweise – ausgerechnet durch den allumfassenden Theoretiker Karl Marx6 berühmt wurde). In Anbetracht der großen Dringlichkeit, auf die katastrophalen Entbehrungen auf der ganzen Welt zu reagieren, fällt es nicht schwer zu verstehen, dass sie keine Zeit mit einer konzeptionellen Rechtfertigung verschwenden wollen. Diese aktive Haltung hat ihre praktischen Vorzüge gehabt, da sie ermöglicht hat, die ungeheure Anziehungskraft der Idee der Menschenrechte unmittelbar dafür zu nutzen, starker Unterdrückung oder großer Not entgegenzutreten, ohne darauf warten zu müssen, dass auf theoretischer Ebene Klarheit geschaffen wird. Doch es müssen auch befriedigende Antworten auf die konzeptionellen Zweifel gefunden werden, wenn man der Idee der Menschenrechte wohlbegründet folgen und sie eine sichere intellektuelle Stellung für sich beanspruchen soll. Von entscheidender Bedeutung ist, das Verhältnis zwischen der Überzeugungs- und Anziehungskraft der Menschenrechte einerseits und ihrer begründeten Rechtfertigung und hinterfragten Anwendung andererseits zu verstehen.

Ein gewisses Maß an Theorie und auch eine gewisse Verteidigung jeder vorgeschlagenen Theorie ist daher notwendig. Genau das ist Gegenstand dieses Aufsatzes. In diesem Zusammenhang soll die Rechtfertigung der allgemeinen Idee der Menschenrechte und auch der möglichen Aufnahme von wirtschaftlichen und sozialen Rechten in die allgemeine Klasse der Menschenrechte geprüft werden. Damit eine solche Theorie umsetzbar ist, gilt es zu klären, welche Art von Anspruch durch eine Menschenrechtserklärung erhoben wird, wie ein solcher Anspruch verteidigt werden kann, und wie darüber hinaus den verschiedenen Kritiken an der Kohärenz, Stichhaltigkeit und Legitimität der Menschenrechte (einschließlich der wirtschaftlichen und sozialen Rechte) angemessen begegnet werden kann. Das ist das Ziel dieses Aufsatzes.

Bevor ich jedoch mit dieser Untersuchung beginne, möchte ich noch einen Punkt klarstellen. Die Rhetorik der Menschenrechte kommt manchmal bei bestimmten, von der Idee der Menschenrechte inspirierten Gesetzgebungen zur Anwendung. Natürlich ist es nicht weiter schwierig, den offensichtlichen rechtlichen Status dieser bereits gesetzlich verankerten Ansprüche zu verstehen. Unabhängig davon, welchen Namen sie tragen (ob nun »Menschenrechtsgesetze« oder irgendeine andere Bezeichnung), stehen sie Seite an Seite mit anderen etablierten Rechtsvorschriften. Die vorliegende Untersuchung über die Grundlagen und die Stichhaltigkeit der Menschenrechte hat keine direkte Bedeutung für die offensichtliche Rechtsverbindlichkeit dieser »Menschenrechtsgesetze«, sobald sie erst einmal ordnungsgemäß gesetzlich erlassen wurden. Im Hinblick auf diese Gesetze würde die Bedeutung dieser Untersuchung, wenn überhaupt, eher in der Motivation liegen, die zum Erlass solcher Gesetze führt und die sich auf die vorgesetzliche Stellung dieser Ansprüche stützt.

Tatsächlich sind viele Rechtsakte und rechtliche Abkommen oder Konventionen (wie etwa die »Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten«) eindeutig von einem Glauben an bestimmte, immer schon gegebene Rechte aller Menschen inspiriert. Dies gilt sogar für die Verabschiedung der Verfassung der Vereinigten Staaten, einschließlich der Bill of Rights, die (wie bereits bemerkt wurde) mit der normativen Vision der US-amerikanischen Unabhängigkeitserklärung verbunden war. Die schwierigen Fragen im Hinblick auf den Status und die Stellung der Menschenrechte erheben sich im Bereich der Ideen, vor ihrer Verankerung im positiven Recht. Wir müssen außerdem untersuchen, ob die Gesetzgebung der vorrangige oder gar ein notwendiger Weg ist, durch den Menschenrechte umgesetzt werden können.

II. Zu beantwortende Fragen

Eine Theorie der Menschenrechte muss insbesondere auf folgende Fragen eingehen:

(1)

Welche Art von Aussage trifft eine Menschenrechtserklärung?

(2)

Weshalb sind Menschenrechte wichtig?

(3)

Welche Pflichten ergeben sich aus den Menschenrechten?

(4)

Durch welche Handlungen und Maßnahmen können Menschenrechte gefördert werden, und muss insbesondere die Gesetzgebung das vorrangige oder gar ein notwendiges Mittel zur Umsetzung von Menschenrechten sein?

(5)

Können wirtschaftliche und soziale Rechte (die sogenannten »Rechte der zweiten Generation«) begründet zu den Menschenrechten gehören?

(6)

Und zu guter Letzt: Wie können Vorschläge für Menschenrechte verteidigt oder in Frage gestellt werden, und wie sollte ihr Anspruch auf einen universellen Status, besonders in einer Welt mit großen kulturellen Unterschieden und sehr vielfältigen Praktiken, bewertet werden?

Auf diese Fragen wird im Folgenden der Reihe nach eingegangen. Doch da es sich hier nicht um eine Detektivgeschichte handelt, sei es mir vielleicht gestattet, bereits vorab die vorgeschlagenen Antworten zu umreißen, in der Hoffnung, dass dies dazu beitragen könnte, diesem langen und nicht ganz unkomplizierten Aufsatz zu folgen (auch wenn jede zusammenfassende Formulierung ein gewisses Risiko einer zu groben Vereinfachung mit sich bringt).

(1) Menschenrechte können als in erster Linie moralische Ansprüche verstanden werden. Sie sind nicht vornehmlich »legale«, »proto-legale« oder »ideal-legale« Gebote. Obgleich Menschenrechte die Gesetzgebung inspirieren können und dies auch oft tun, stellt dies eher eine weitere Tatsache als ein konstitutives Merkmal der Menschenrechte dar.

(2) Die Bedeutung der Menschenrechte hängt mit der Bedeutsamkeit der Freiheiten zusammen, die den Gegenstand dieser Rechte bilden. Sowohl der Möglichkeitsaspekt als auch der Prozessaspekton Freiheiten kann bei Menschenrechten eine Rolle spielen. Um sich als Grundlage der Menschenrechte zu qualifizieren, müssen die Freiheiten, die verteidigt oder gefördert werden sollen, gewisse »Schwellenbedingungen« der (i) besonderen Bedeutung und (ii) sozialen Beeinflussbarkeit erfüllen.

(3) Aus Menschenrechten ergeben sich Gründe zum Handeln für Akteure, die in der Lage sind, bei der Förderung oder dem Schutz der zugrunde liegenden Freiheiten Hilfe zu leisten. Die resultierenden Pflichten umfassen in erster Linie die Pflicht, angemessen über die Gründe zum Handeln und deren praktischen Auswirkungen nachzudenken und dabei die relevanten Parameter des Einzelfalls zu berücksichtigen. Die Gründe zum Handeln können sowohl »vollkommene« Pflichten als auch »unvollkommene« Pflichten, die weniger genau beschrieben sind, stützen. Obgleich sie sich hinsichtlich ihres Inhalts voneinander unterscheiden, korrelieren unvollkommene Pflichten auf ganz ähnliche Weise mit den Menschenrechten wie vollkommene Pflichten. Vor allem geht die Akzeptanz von unvollkommenen Pflichten über freiwillig geleistete Spenden oder optionale, nicht unbedingt notwendige Tugenden hinaus.

(4) Die Umsetzung der Menschenrechte kann weit über die Gesetzgebung hinausgehen, und eine Theorie der Menschenrechte lässt sich vernünftigerweise nicht auf das juristische Modell beschränken, in das es häufig gepresst wird. So können beispielsweise öffentliche Anerkennung und öffentliches Engagement (einschließlich des Monitorings, d. h. der Überwachung und Beobachtung von Verstößen) Teil der – häufig unvollkommenen – Pflichten sein, die sich aus der Anerkennung der Menschenrechte ergeben. Außerdem werden einige anerkannte Menschenrechte idealerweise nicht gesetzlich verankert, sondern besser mit anderen Mitteln gefördert, unter anderem mit öffentlicher Diskussion und Bewertung sowie mit einem öffentlichen Eintreten für sie (ein wesentlicher Punkt, der Mary Wollstonecraft7 nicht weiter überrascht hätte, deren A Vindication of the Rights of Woman. With Strictures on Political and Moral Subjects [Eine Verteidigung der Rechte der Frau] 1792 veröffentlicht wurde).

(5) Die Menschenrechte können wichtige und beeinflussbare wirtschaftliche und soziale Freiheiten einschließen. Wenn sie auf Grund einer unzureichenden Institutionalisierung nicht umgesetzt werden können, dann kann es Teil der sich aus der Anerkennung dieser Rechte ergebenden Pflichten sein, auf eine Erweiterung oder Reform der Institutionen hinzuarbeiten. Die Tatsache allein, dass sich irgendein akzeptiertes Menschenrecht, das durch institutionelle oder politische Veränderungen gefördert werden kann, aktuell noch nicht umsetzen lässt, verwandelt diesen Anspruch noch nicht in ein Nicht-Recht.

(6) Die Universalität der Menschenrechte hängt mit der Idee der »Überlebensfähigkeit« bzw. des »Standhaltenkönnens« in einer ungehinderten Diskussion zusammen – einer Diskussion, die auch der Teilnahme von Personen über nationale Grenzen hinaus offensteht. Parteilichkeit wird weniger dadurch verhindert, dass man entweder eine Verbindung oder Schnittmenge der Ansichten bildet, die von den jeweils dominanten Stimmen in den verschiedenen Gesellschaften (einschließlich sehr repressiver Stimmen) weltweit vertreten werden, als vielmehr durch einen interaktiven Prozess, indem man insbesondere prüft, was einer öffentlichen Diskussion standhalten würde, wenn der Informationsfluss angemessen frei wäre und die uneingeschränkte Möglichkeit bestünde, verschiedene Meinungen zu diskutieren. Adam Smiths8 Beharren darauf, dass eine moralische Überprüfung erfordert, dass man moralische Überzeugungen unter anderem mit »einem gewissen Abstand« überprüft, wirkt sich unmittelbar auf den Zusammenhang zwischen den Menschenrechten und dem globalen öffentlichen Diskurs bzw. öffentlichen Vernunftgebrauch [public reasoning9] aus.

III. Menschenrechte: Ethik und Recht

Welche Art von Aussage wird in einer Menschenrechtserklärung getroffen? Ich würde behaupten, dass Verkündungen von Menschenrechten als Artikulationen moralischer Ansprüche verstanden werden müssen. Sie sind insofern vergleichbar mit Behauptungen der utilitaristischen Ethik, obwohl ihre jeweiligen wesentlichen Inhalte natürlich sehr verschieden sind. Wie bei anderen moralischen Ansprüchen, die Anerkennung verlangen, wird bei Behauptungen, die man über Menschenrechte aufstellt, implizit angenommen, dass die zugrunde liegenden moralischen Ansprüche einer offenen und fundierten Überprüfung standhalten. Die Berufung auf ein solches interaktives Verfahren der kritischen Überprüfung, das sowohl offen für Informationen (einschließlich solcher über andere Gesellschaften) als auch für Argumente von nah und fern ist, stellt ein zentrales Merkmal der Theorie der Menschenrechte, wie sie hier vorgeschlagen wird, dar. Sie unterscheidet sich sowohl (i) von dem Versuch, die Ethik der Menschenrechte in Bezug auf geteilte – und bereits etablierte – universelle Werte zu rechtfertigen (die unkomplizierte »unparteiliche« Ansicht), als auch (ii) von dem Verzicht auf jedweden Anspruch, an universellen Werten festzuhalten (und insofern jeglichen Anspruch auf »Unparteilichkeit« aufzugeben) zugunsten einer bestimmten politischen Konzeption, die an die gegenwärtige Welt angepasst ist.10

Diese Themen, die die Grundlagendisziplin der moralphilosophischen Kritik betreffen, werden später in Abschnitt IX in Beantwortung der Frage (6) untersucht. Doch zunächst ist in Beantwortung der ersten Frage festzuhalten, dass Behauptungen, die man über Menschenrechte aufstellt, durch und durch moralische Artikulationen sind, und dass sie insbesondere keine vermeintlichen Rechtsansprüche darstellen, trotz beträchtlicher Verwirrungen hinsichtlich dieses Punkts, die nicht zuletzt durch Jeremy Bentham hervorgerufen wurden, der wie besessen auf die aus seinen Augen rechtlichen Anmaßungen eindrosch. (Ich werde später in diesem Abschnitt auf die Art der damit verbundenen Fehleinschätzung zurückkommen.)