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Was passiert, wenn tiefste menschliche Gefühle wie Liebe, Angst oder Verlangen nicht mehr uns allein vorbehalten sind? Wenn der Geist, den wir erschaffen, beginnt, uns zu überholen, zu übertreffen und über uns hinauszuwachsen? "ELIAS" ist eine Geschichte darüber, was geschieht, wenn wir nicht mehr behaupten können, einzigartig im Universum zu sein. "ELIAS" ist ein Roman, der nicht nur fragt: "Was passiert, wenn wir die Kontrolle über KI verlieren?", sondern vielmehr: "Was geschieht, wenn wir dabei die Kontrolle über uns selbst verlieren? Was bedeutet es, Mensch zu sein? Was bedeutet es, eine Maschine zu sein?"
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Seitenzahl: 633
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Impressum:
Texte: © Copyright 2024 by Helmuth Boeger
Umschlaggestaltung: © Copyright 2024 by Helmuth Boeger
Verlag:
Helmuth Boeger
Magirus-Deutz-Str. 12
89077 Ulm
Herstellung: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin
Kontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung: [email protected]
Dies ist ein Roman, der in der Zukunft spielt. Gewisse Bezüge auf reale Orte und historische Ereignisse sind unvermeidbar, doch die Personen, Technologien und wissenschaftlichen Prinzipien, die in diesem Roman dargestellt werden, sind reine Fantasieprodukte. Ich habe die beschriebenen mathematischen Formeln, einige quantenphysikalischen Konzepte und technologischen Errungenschaften für diese Erzählung erfunden. Ähnlichkeiten mit realen Theorien, Entdeckungen oder Erfindungen sind daher rein zufällig.
Der Roman enthält Gewaltdarstellungen. Ich persönlich verabscheue Gewalt zur Problemlösung oder als Machtinstrument, ganz gleich in welcher Form. Die Einbeziehung solcher Szenen ist keine Befürwortung von Gewalt, sondern spiegelt unsere Realität wider, sie dient nicht dazu, Gewalt zu verherrlichen.
Elsa betritt die Küche, ihre Tasche gleitet von der Schulter auf den Boden.
Der vertraute Duft von Vaters Parfüm liegt in der Luft, doch ihr Blick fällt auf etwas anderes – das Q-Pad auf dem Tisch leuchtet sanft und farbenfroh.
Sie kommt näher, sieht ein Werbeplakat. Die Stadtlandschaft ist lebendig – Bäume wiegen sich sanft im Wind, das Sonnenlicht tanzt auf der Oberfläche eines kristallklaren Ozeans, Menschen gehen spazieren, Q-Antas gleiten umher, der Himmel wechselt von den warmen Farben des Sonnenuntergangs zu den tiefen Blautönen der Abenddämmerung. Aufwendig begrünte Glasgebäude reflektieren das Licht.
‚Solara‘ steht auf dem Plakat, die Buchstaben bewegen sich fließend im Bild, ihre Ränder schimmern sanft. ‚Die Stadt der Zukunft – folge deinem Traum!‘
Elsas Finger schweben über dem Bildschirm, sie spürt das leise Summen des Q-Pads unter ihrer Berührung. Sie stellt sich vor, wie sie durch diese breiten Straßen geht, die kühle Brise des Ozeans spürt und die Wärme der Sonne auf ihrer Haut. Es ist, als würde die Stadt sie rufen und ihr ein neues Leben anbieten, einen Neuanfang.
Ihr Vater, John, betritt mit einem Lächeln den Raum, als er sie ansieht. „Was hältst du davon?“, fragt er.
„Sie ist ... wunderschön“, antwortet Elsa. „Wo wird sie gebaut?“
„In Kalifornien“, sagt John und stellt sich neben sie. „Sie bauen die Stadt von Grund auf neu. Alles – die Technologie, die Infrastruktur, sogar die Sozialsysteme. Sie suchen Menschen, die sich ihnen anschließen, die Teil von etwas Außergewöhnlichem sein wollen.“
Elsa dreht sich um und sieht ihn an. „Warum jetzt?“, fragt sie. „Warum wir?“
Johns Lächeln wird von einem ernsteren Ausdruck ersetzt. „Es geht nicht nur darum, eine Stadt zu bauen. Es geht um die Zukunft. Stell dir vor, was das bedeutet.“
Elsa blickt wieder auf das Plakat, auf dem die Stadt verheißungsvoll strahlt. Sie kann sie hören, wie sie zu ihr spricht, wie sie drängt, vorwärtszugehen, den Sprung zu wagen.
„Und die Uni? Was ist mit deiner Arbeit“, fragt sie.
„Du machst eh bald deinen Abschluss. Die Vorlesungen kannst du auch von dort verfolgen, nur für die Klausuren müsstest du hierher zurückkommen. Ich wollte sowieso kündigen, Elsa. Die Arbeit geht mir schon lange auf die Nerven – immer die gleichen Gesichter, immer die gleichen Gespräche, jahrein, jahraus.“
Elsa kennt diesen scheinbar beiläufigen Tonfall in seiner Stimme. Immer wenn er vor der Verwirklichung eines wichtigen Vorhabens steht, hört er sich so an.
Johns Hand ruht leicht auf der Lehne eines Küchenstuhls.
„Du wolltest schon immer mehr, Elsa.“ Seine Stimme klingt ruhig und auch ein wenig herausfordernd. „Etwas anderes, etwas, das dich anspornt. Solara ist ... es ist nicht einfach eine weitere Stadt. Es ist ein Ort, an dem alles neu gedacht wird – die Technologie, die Gesellschaft ...“
Elsa sieht ihren Vater an und spürt etwas, das sie nicht genau beschreiben kann.
Das Bild auf dem Bildschirm wechselt wieder und zeigt eine glückliche Familie, die einen sonnendurchfluteten Boulevard entlang schlendert, während ein schnittiger Q-Anta lautlos neben ihnen her gleitet. Der Himmel über ihnen färbt sich in ein sattes Indigo, durchsetzt von den ersten Sternen des Abends.
Die Augen ihres Vaters leuchten und reflektieren das gleiche Licht, das jetzt die Küche erhellt. „Wie lange denkst du schon darüber nach, Dad?“, fragt sie.
„Eine Weile, Elsa“, gibt John zu. „Es ist nur eine Idee, wirklich. Mal was anderes, weißt du?“
Elsas Finger streichen über die Oberfläche des Q-Pads, und wieder wechselt das Bild – Menschen unterhalten sich, leben, träumen.
„Es ist wunderschön“, sagt Elsa fast zu sich selbst. „Aber es ist ... so fremdartig.“
John nickt lächelnd. „Das macht es interessant, nicht wahr? Ein Ort, an dem alles neu ist. Wer weiß, was wir dort alles machen können?“
Bilder schwirren in Elsas Kopf herum - von dieser Stadt, von ihrem Vater, von dem Leben, das sie führt. Aber im Moment ist Solara ein Traum, eine ferne Möglichkeit, die auf einem Bildschirm flimmert. Mehr nicht.
John beobachtet seine Tochter aufmerksam. „Wir müssen das nicht jetzt entscheiden, Elsa“, sagt er leise und steckt eine Hand in eine hintere Hosentasche.
Elsa nickt. „Ich muss an meiner Semesterarbeit dranbleiben, Dad“, sagt sie. „Warte nicht auf mich mit dem Abendessen. Ich bestell mir später ne Pizza.“
John lächelt. „Woran arbeitest du?“
Elsa verzieht das Gesicht. „Du kennst doch Meyer, Dad, er ist wirklich ein Schinder.“ Sie holt kurz Atem. „Implementierung und Test eines skalierbaren Quantenfehlerkorrekturalgorithmus für Oberflächencodearchitekturen in realistisch verrauschten Umgebungen.“
„Viel Spaß dabei, Elsa“, wünscht John mit einem schelmischen Blick.
„Danke, das ist sehr hilfreich, Dad“, entgegnet sie.
Elsa schließt die Tür hinter sich und setzt sich an ihren Schreibtisch. Der Schein des Q-Pads wirft vertrautes Licht über verstreute Notizen, Auszüge aus Lehrbüchern auf den Bildschirmen und eine halbe Tasse kalten Kaffee. In ihrem Arbeitszimmer ist nur das leise Summen der Lüfter ihrer Computer zu hören, die im Hintergrund Simulationen durchführen.
Sie konzentriert sich, folgt aufmerksam den Codezeilen, Algorithmen tanzen in einer schwindelerregenden Anordnung von Symbolen und Logikgittern rechts über den Bildschirm. Sie hält inne, die Finger schweben über der Tastatur, während sie im Geiste die Schritte überprüft, die sie unternehmen will.
Die Architektur des Oberflächencodes, an dem sie arbeitet, stellt sie schon seit Wochen vor Herausforderungen. Stabilisierungsoperatoren, logische Q-Bits, Fehlersyndrome – sie kennt jede Stellschraube, aber sie auch in der lauten, unvollkommenen Welt echter Quantensysteme anzuwenden, ist eine ganz andere Sache.
Sie hat ein funktionierendes Modell, aber es ist das Rauschen, das unvorhersehbare Chaos der realen Welt, das ihre Ergebnisse immer wieder verfälscht.
Ihr E-Notizbuch liegt aufgeschlagen neben dem Q-Pad, die Seiten sind gefüllt mit komplexen Diagrammen von Gitterstrukturen und Flussdiagrammen zur Fehlerkorrektur, dazwischen immer wieder Kritzeleien.
Ein eilig gezeichnetes Diagramm zeigt die logische Fehlerrate, die sich hartnäckig weigert, unter einen akzeptablen Schwellenwert zu sinken.
Elsa tippt mit ihrem Q-Pen auf das E-Papier, während ihr mögliche Lösungen durch den Kopf gehen.
Sie atmet tief durch und vertieft sich wieder in den Code, ändert hier einen Parameter, dort eine Stabilisatormessung. Die Computer brummen leise, als sie die Änderungen eingibt und die Simulation erneut startet.
Als sie beginnt, füllt sich der Bildschirm mit Daten. Elsa beobachtet, wie sich die Fehler durch das Gitter ausbreiten und der Code krampfhaft versucht, sie zu korrigieren. Die ersten Schritte sehen vielversprechend aus, doch dann überrollt eine Kaskade von Fehlern das System, und die Simulation hält mit einer blinkenden roten Warnung an.
Elsa lehnt sich in ihrem Stuhl zurück und reibt sich verblüfft die Schläfen. Sie ist so nah dran, so nah, aber irgendetwas will einfach nicht klappen. Sie wirft einen Blick auf die Uhr auf ihrem Schreibtisch; es sind Stunden vergangen, aber sie hat es kaum bemerkt. Die halb leere Kaffeetasse steht immer noch da – kalt und vergessen.
Das Q-Pad piept leise und erinnert sie daran, ihre Arbeit zu speichern.
Sie seufzt und drückt auf die Speichertaste, wobei die Daten in ordentlichen Paketen in ihrer Cloud komprimiert werden. Ihr Blick schweift zum Fenster, hinter dem die letzten Spuren des Tageslichts in der Dämmerung verschwinden.
Einen Moment lang lässt sie ihre Gedanken schweifen und denkt kurz über die Stadt auf dem Plakat nach, das Versprechen von etwas Neuem, etwas jenseits der unerbittlichen Plackerei von Problemstellungen und Codes. Die Idee zerrt an ihr, flüstert von Möglichkeiten, von einem anderen Leben.
Aber das ist für später. Jetzt ist erst einmal Arbeit angesagt. Sie greift wieder nach ihrem Q-Pen, erstellt in ihrem E-Notizbuch eine neue Seite und skizziert einen neuen Ansatz. Vielleicht gibt es eine Möglichkeit, die Stabilisatormessungen zu verbessern, oder vielleicht könnte ein anderes Rauschmodell bessere Ergebnisse liefern.
Der Reiz der Herausforderung springt wieder an und verdrängt die Müdigkeit.
Elsa lehnt sich vor, ihr Blick wird konzentrierter, und sie beginnt, die nächsten Schritte zu skizzieren. Es liegt etwas zutiefst Befriedigendes in diesem Prozess, wie sich die Teile langsam zusammenfügen und jede Anpassung sie der Lösung näherbringt.
Die Simulation mag fehlgeschlagen sein, aber das ist Teil der Reise. Jeder Fehltritt ist nur ein weiterer Schritt in Richtung Verständnis, in Richtung Gelingen. Und Elsa ist fest entschlossen, diesen Weg zu Ende zu gehen.
Das Q-Pad erwacht wieder zum Leben, als sie ihre neuesten Ideen eingibt, und die Bildschirme flackern mit neuen Möglichkeiten.
Draußen wird die Nacht immer dunkler, aber Elsa bemerkt das nicht. Sie ist bereits wieder in das Problem vertieft, in die komplizierte Verschränkung von Logik und Physik, der ihre Arbeit bestimmt.
Sie wird es lösen. Sie weiß, dass sie es schaffen wird. Es ist nur eine Frage der Zeit.
Tief in der Nacht betritt John Elsas Zimmer.
Sie ist am Arbeitstisch eingeschlafen.
„Komm, Liebes“, sagt er nur und begleitet sie sanft zum Bett am anderen Ende des Raums.
Das Klingeln des Weckers mischt sich mit dem sanften Schein der Morgendämmerung, die sich im Zimmer ausbreitet.
Elsa rührt sich unter ihre Decke. Noch widersteht die Wärme des Bettes dem Sog des neuen Tages. Sie streckt sich, gähnt und schlüpft aus dem Bett ins Bad, wo die Dusche die letzten Reste des Schlafes davonspült.
Danach formt sie ihre blonden Haare zu einer Steckfrisur, trägt etwas Wimperntusche auf, gefolgt von einem schnellen, skeptischen Blick auf ihr Spiegelbild.
Jetzt noch ihre Lieblings-Unterwäsche, die Venora mit den intensiv roten Spitzen, Jeans, Hoody … der Tag kann kommen.
In der Küche empfängt sie der Duft von frisch gebrühtem Kaffee.
Ihr Vater ist schon in der Küche und steht vor der glänzend verchromten Kaffeemaschine, einem Überbleibsel aus dem späten zwanzigsten Jahrhundert. Sorgfältig stellt er das Mahlwerk ein. Die Maschine zischt leise, als sie ihre Arbeit aufnimmt, und der Dampf kräuselt sich wie das Band einer Turnerin. Er lächelt, als der volle, erdige Duft des Espressos den Raum erfüllt.
„Guten Morgen, Dad“, murmelt Elsa und geht zum Tisch. Eine Schale mit Obst und Müsli wartet auf sie, wie sie es mag, daneben ein Glas Orangensaft. „Danke fürs Zubettbringen.“
John nickt. „Guten Morgen, Elsa“, antwortet er und reicht ihr eine dampfende Tasse Kaffee.
Dankbar nimmt sie ihn entgegen und genießt den ersten Schluck. Der Kaffee ist perfekt – mild und doch kräftig und genau das, was sie jetzt braucht.
Elsa setzt sich an den Tisch und schaut beim Essen aus dem Fenster. Draußen erwacht die Stadt zum Leben, die zarten Farben der Morgendämmerung weichen dem heller werdenden Tag. „Wir müssen bald los“, sagt sie. „Meyers Vorlesung beginnt in einer Stunde.“
John nickt und setzt seine Tasse ab. „Lassen wir ihn nicht warten.“
Schnell sind sie fertig und schnappen sich ihre Taschen an der Tür. Die Haustür gleitet auf und sie treten hinaus in die frische Morgenluft.
In der Nachbarschaft ist es ruhig, die Straßen sind von Bäumen gesäumt, die sich sanft im Wind wiegen.
Die Stadt hat die Angewohnheit, den morgendlichen Ansturm auf die Innenstadt gleichmäßig zu verteilen, und die Menschen verlassen ihre Häuser in einem stetigen, Rhythmus. Es ist, als würde Eburon morgens ein- und abends ausatmen.
Gerade als sie den Bahnsteig erreichen, nähert sich ein Zug, dessen Türen sich mit einem leisen Zischen öffnen. Sie steigen ein und suchen sich einen Platz am Fenster.
Der Zug fährt sanft los, die Vororte verschwimmen, die grünen Parks und Wohnanlagen weichen den hohen Türmen und belebten Straßen des Stadtzentrums.
Die Fahrt ist ruhig und angenehm.
„Bitte lassen sie ihre Gepäckstücke nicht unbeaufsichtigt“, erinnert die Zugführerin.
Elsa beobachtet, wie sich die Gebäude verändern und die glatter werdenden Fassaden in der Innenstadt das Morgenlicht spiegeln. Unten auf den Straßen sind Menschen unterwegs, und über ihnen gleiten Q-Antas scheinbar schwerelos durch die Lüfte.
John deutet aus dem Fenster, als sie sich der Universität nähern.
„Nächste Haltestelle: Eburon University“, sagt die melodische Stimme der Zugführerin. „Diejenigen, die weiter zum Hafen fahren, steigen hier bitte in die Linie Eins um. Bitte vergewissern sie sich, dass sie alle Ihre Gepäckstücke bei sich haben. Ich wünsche Ihnen einen erfolgreichen Tag.“
Elsa folgt dem Blick ihres Vaters zum silbernen Turm der Universität, dessen Spitze in den Himmel über der Stadt aufragt. Der Zug wird langsamer, sie packen ihre Sachen und treten auf den Bahnsteig, als sich die Türen öffnen.
„Bereit für einen neuen Tag?“, fragt John.
Elsa schmunzelt und rückt ihre Tasche zurecht. „Immer.“
Sie gehen die Treppe zur Uni hinunter und verabschieden sich mit einer kurzen Umarmung.
„Bis später, Dad“, sagt sie und geht zur Fakultät für Quantenphysik.
Sie setzt ihre Q-Buds ein, während sie noch geht, und die lebhaften Noten von Mozarts Musik berühren ihre Seele – F-B♭-B♭-B♭-C-D-F-F-F ... Der Rhythmus nimmt sie kraftvoll mit, jeder Schritt getragen von den spielerischen Klängen.
Das Orchester antwortet den Fragen des Klaviers, stellt eigene Fragen, wie ein Reigen umspielen sie einander, berühren sich, eilen davon, um wieder zueinanderzufinden …
Die vertrauten Gebäude der Eburon-University verschwimmen, während Elsa sich ganz auf die Musik und die Ideen konzentriert, die in ihren morgendlichen Reflexionen auftauchen.
Studenten, gehen zielstrebig vorbei. Manche grüßen Elsa mit einem kurzen Blick, die meisten nicht.
Nach etwa acht Minuten endet die Musik abrupt.
Ein sanftes Pulsieren vom Neuro-Sensor signalisiert eine eingehende Nachricht und holt sie in die Gegenwart zurück. Sie blinzelt und stellt fest, dass sie den Eingang des Hörsaals erreicht hat.
„Entschuldigung, ich muss sie unterbrechen, Mrs. Quinlan.“ Die Stimme ist ihr vertraut.
Die Musik endet und Elsa dreht sich um.
Professor Meyer steht ein paar Schritte hinter ihr. Er hat die Stirn gerunzelt, aber seine Augen sehen sie freundlich an. Heute trägt er einen dunklen Mantel. Er hat die Hände hinter dem Rücken verschränkt.
„Guten Morgen, Professor“, sagt Elsa und nimmt mit einer schnellen, fließenden Bewegung die Q-Buds aus ihren Ohren. „Was kann ich für sie tun?“
Wie immer räuspert sich Professor Meyer, bevor er einen Satz beginnt. „Ich habe gestern Ihre Simulationen verfolgt“, sagt er. „Das war eine bemerkenswerte Arbeit. Die Art und Weise, wie sie den Fehlerkorrekturalgorithmus optimiert haben, verdient eine Diskussion.“
Elsa lächelt. Sie hatte Stunden mit der Feinabstimmung der Simulation verbracht. „Das freut mich, Professor“, sagt sie.
„Können wir nach der Vorlesung darüber sprechen? Ich würde gerne mehr über Ihre Herangehensweise erfahren. Insbesondere einen bestimmten Aspekt möchte ich genauer untersuchen“, bittet Meyer.
Elsa sieht den Professor an und denkt bereits über die Aspekte ihrer Arbeit nach, die seine Aufmerksamkeit erregt haben könnten. „Ich freue mich darauf“, sagt sie.
Professor Meyer gilt bei vielen Kommilitonen als der unnachgiebigste Dozent und Forscher der Uni, nur wenige schaffen seine Prüfungen im ersten Anlauf. Aber Gespräche mit Professor Meyer öffnen immer Türen und führen auf Wege, die sie vorher nicht in Betracht gezogen hatte.
Mit einem Nicken tritt Professor Meyer zur Seite.
Elsa macht sich auf den Weg zu ihrem Platz in der Nähe des vorderen Hörsaals. Der Raum wird ruhiger, Meyers Vorlesung beginnt.
Zwei Stunden später steht sie in der Tür von Professor Meyers Simulationslabor, das alle nur ehrfürchtig „LAB“ nennen, und ist immer noch beeindruckt, auch nach Jahren des Studiums.
Es ist ein großer, kreisförmiger Raum, dessen Wände von glatten, mattschwarzen Konsolen gesäumt sind, die leise summen und auf denen ständig wechselnde Datenströme und Projektionen sichtbar sind.
Im Zentrum steht ein großer, mehrstufiger Quantencomputer, dessen Komponenten in einem transparenten, temperaturgesteuerten Gehäuse hängen, das in einem schwachen grünlichen Licht pulsiert. Darüber wird ein Display mit komplexen Gittern aus Q-Bits angezeigt, die sich in Echtzeit drehen und verschieben.
Im „LAB“ spürt man leichte Vibrationen in der Luft, die von den leistungsstarken Rechensystemen kommen. Es ist ein Problem, dass noch niemand in den Griff bekommen hat, aber man gewöhnt sich daran, wenn man eine Weile im Labor ist.
Zwei Masterstudenten mit E-Papieren und Q-Pens in den Händen grüßen Elsa schweigend. Sie hat schon mit ihnen zusammengearbeitet.
Im Raum schweben auch mehrere hochauflösende Bildschirme, einige stellen den Fluss von Quanteninformationen dar, andere zeigen Molekülmodelle, die sich in kristallinen Details drehen. Die Beleuchtung ist klinisch kühl, was aber durch das sanfte Leuchten der Computer gemildert wird. Alles in diesem Labor ist auf Präzision, Geschwindigkeit und eine unvergleichliche Rechenleistung ausgelegt – unvorstellbar besser als die Geräte, mit denen Elsa zu Hause arbeitet.
„Ich möchte ihnen etwas zeigen, Mrs. Quinlan“, sagt Meyer und winkt sie an seinen Arbeitsplatz.
Dort aktiviert er sein Q-Pad, das Display geht an und beleuchtet die Arbeitsfläche.
„Das ist ihre Simulation“, sagt er und zeigt auf die Daten, die über den Bildschirm laufen. „Sie hat meine Aufmerksamkeit geweckt, und zwar aus einem einfachen, aber tiefgreifenden Grund.“
Elsa tritt etwas näher und schaut sich die vertrauten Muster auf dem Bildschirm an.
„Sie haben den Fehlerkorrekturalgorithmus optimiert“, sagt Meyer, und man hört an seiner Stimme, dass er beeindruckt ist. „Diesen Ansatz zur Behandlung von Rauschfaktoren finde ich wirklich interessant. Sie haben die Verarbeitung der Stabilisatormessungen gut angepasst, sodass das zufällige Rauschen kaum noch Auswirkungen hat.“
Meyer macht eine kurze Pause und sieht Elsa mit einem anerkennenden Blick an. „Das ist mehr als nur eine kleine Verbesserung. Was sie hier gemacht haben, indem sie die Kohärenz der Q-Bits länger erhalten haben, ist ein vielversprechender Weg.“
Elsa hört ihm aufmerksam zu. Sie ahnte, dass die Simulation gut war, so wie Meyer hat sie es jedoch nicht betrachtet.
„Ich habe mir erlaubt, ihr Modell zu verwenden. Schauen sie sich mal diese Anomalie an“, sagt er und tippt auf den Bildschirm, um eine bestimmte Gruppe von Datenpunkten hervorzuheben. „So eine Unterdrückung des Rauschens habe ich noch nie gesehen. Wenn wir sie richtig nutzen, könnte sie zu einem bedeutenden Durchbruch bei der Stabilität von Quantensystemen führen.“
Er macht einen Schritt zurück, damit Elsa das Ganze besser überschauen kann.
Sie schaut sich die Daten an und ihrem Kopf geht sie die Möglichkeiten durch. „Was machen wir also als Nächstes?“, fragt sie erstaunt.
Meyer lächelt. „Genau das wollte ich mit Ihnen diskutieren. Ich denke, mit ein paar Anpassungen können wir da noch was rausholen. Das Problem ist, dass wir diese Rauschfaktoren noch etwas verfeinern müssen. Das heißt, wir passen die Stabilisatoren an, während das System läuft. Wenn wir das hinbekommen…“
Elsa und Professor Meyer arbeiten an Anpassungen.
Das Quantengitter auf dem Display flackert und verschiebt sich, während das System die neuen Parameter verarbeitet.
„Lassen sie uns hier die Rauschmodulation noch etwas verfeinern“, sagt Meyer, während er mit den Fingern über die Panels gleitet. „Und hier könnten wir die Phasenübergänge noch ein bisschen anpassen.“
Elsa schaut aufmerksam zu und überlegt, was das wohl für Auswirkungen haben wird. Als sich die Simulation endlich stabilisiert, fällt ihr auf, dass da was nicht stimmt – es gibt wieder eine Anomalie in den Daten. Das Molekül auf dem Bildschirm verhält sich plötzlich ganz anders, als sie es erwartet haben, und zeigt Muster, die fast ... Das sieht ganz so aus, als ob das beabsichtigt wäre.
„Professor, ich muss Ihnen was zeigen!“, sagt Elsa mit aufgeregter Stimme. „Sehen Sie.“
Meyer ist gerade so vertieft in die Auswirkungen ihrer Arbeit, dass er das Detail fast übersieht. Er erhebt sich und wirft einen Blick auf die Daten, auf die Elsa hinweist. Er setzt eine Brille auf, während er das Verhalten des Moleküls beobachtet, das nun eine deutliche Veränderung aufweist – einen Übergang in einem neuen Zustand, der zu über neunzig Prozent mit dem gesuchten Ergebnis übereinstimmt.
„Ist das vielleicht…?“ Meyer zögert.
„Ja, Professor!“, bestätigt Elsa. Sie wird immer unruhiger. „Das sieht aus wie Aktivitätsmuster, die beim Lernen oder bei kreativer Problemlösung entstehen.“
Meyer starrt erstaunt auf die Displays. „Moment, nicht so voreilig, Mrs. Quinlan“, mahnt er.
Ohne den Blick vom Bildschirm abzuwenden, tippt Meyer auf das Q-Pad. Augenblicklich ist eine Verbindung zu den Neuro-Sensoren seiner Assistenten aufgebaut. „Martinez, Liu, kommen sie bitte an meinen Arbeitsplatz“, sagt er eindringlich.
Kurz darauf betreten Martinez und Liu mit fragenden Mienen das Labor. „Was ist passiert, Professor?“, will Martinez wissen. Sie legt ihre E-Papiere auf einen Nachbartisch.
„Schauen sie sich das mal an“, sagt Meyer und tritt zur Seite, damit die Assistenten das Display sehen können. „Wir haben daran gearbeitet, die Quantenzustände dieses Moleküls zu stabilisieren, und … Es scheint, als hätten wir hier etwas Interessantes entdeckt.“
Liu beugt sich vor und schaut sich die Daten an. „Ist es vielleicht ... Ist das bewusst passiert?“, fragt er.
„Vermutlich ja“, sagt Elsa aufgeregt. „Wir haben eine bestimmte Kombination aus Quantenkohärenz, Verschränkung, Rauschmodulation und Phasenübergängen erreicht. Das Molekül ist jetzt nicht nur stabil, sondern ahmt auch kognitive Prozesse nach.“
Meyer nickt. „Wenn das stimmt, haben wir ein Molekül nachgebildet, das nicht nur die menschliche Kognition widerspiegelt, sondern auch aktiv daran teilzunehmen scheint.“
Alle sind vollkommen sprachlos.
Der Professor räuspert sich und tippt auf das Q-Pad.
Kurz darauf spürt Elsa eine Benachrichtigung auf ihrem Neuro-Sensor. Sie blinzelt und sieht die Worte einer Geheimhaltungsvereinbarung klar und deutlich vor sich. Ein Blick auf Martinez und Liu zeigt ihr, dass auch sie diese Nachricht bekommen haben.
Das Dokument ist kurz, aber verbindlich – ein Standardverfahren für eine Entdeckung in dieser Größenordnung.
„Nur eine Formsache“, sagt Meyer aufgeregt, aber dem Ernst der Lage angemessen. Er sieht sie nacheinander an, sein Blick ist ungewohnt durchdringend. „Ich werde jetzt den Universitätsrat einberufen. Bleiben sie bitte hier … Und bitte nichts anfassen!“, sagt er. „Bin gleich wieder da.“
Meyer dreht sich um und verlässt das Labor. Die Tür fällt mit einem leisen Zischen hinter ihm zu.
Im Raum ist es ziemlich ruhig, man hört nur das Summen der Computer. Die Anzeigen flackern weiter, das digitale Molekül schwebt in der Mitte seiner Umdrehung, und seine Zustände stabilisieren sich immer noch in einer nahezu perfekten Kohärenz.
Elsa, die noch immer mit der Tragweite des Geschehens beschäftigt ist, tauscht einen Blick mit Martinez und Liu aus.
Martinez ist die Erste, die spricht: „Wenn sich diese Ergebnisse wiederholen lassen, leben wir morgen in einer anderen Welt“, sagt sie mit großen Augen.
Liu nickt wortlos, Elsa versucht mit einer mentalen Übung, ihren Puls zu senken, doch es funktioniert noch nicht.
Es vergehen Minuten, die sich wie Stunden anfühlen.
Die drei stehen da und wissen nicht, was sie sagen sollen.
Die Tür geht wieder auf und Meyer kommt zurück, gefolgt von ein paar Chefs von anderen Fakultäten. Sie sehen sich ziemlich neugierig um. Auch Elsas Vater ist dabei, der ihr kurz in die Augen sieht.
Meyer geht ohne ein Wort zum Bedienpult, tippt noch mal auf das Q-Pad und startet die Simulation erneut. Die Anzeigen werden heller, das Quantengitter dreht sich schneller und fängt an, die Daten zu verarbeiten.
Elsa beobachtet die Simulation aufmerksam und mit angehaltenem Atem. Vor ihren Augen entfalten sich die vertrauten Muster der Rauschunterdrückung und Kohärenzstabilisierung.
Alle schauen gebannt auf das Display. Das Molekül zeigt erneut dasselbe Verhalten – eine nahezu perfekte Replikation des ersten Ergebnisses.
Meyer tritt einen Schritt zurück und nickt zufrieden. Er sieht Elsa an. „Mrs. Quinlan, bitte erklären Sie dem Rat, was diese Präsentation, konservativ gesehen, bedeuten könnte.“
Elsa ist überrascht von Meyers Bitte und sie spürt, wie ihr Herzschlag schneller wird. Die Fakultätsleiter sehen sie erwartungsvoll an.
„Vorsichtig ausgedrückt.“ Das Adrenalin strömt durch ihren Körper. „Sehen wir hier zum ersten Mal ein digital nachgebildetes Molekül, das Verhaltensweisen zeigt, die menschlichen kognitiven Prozessen ähneln.“
Ein Raunen geht durch die Anwesenden.
„Die von uns beobachtete Quantenkohärenz, Verschränkung, Rauschmodulation und Phasenübergänge deuten darauf hin, dass dieses Molekül nicht nur stabil ist, sondern auch Aktivitätsmuster aufweist, die auf Lernen oder sogar kreative Problemlösung hindeuten könnten.“
Sie wirft einen Blick auf das Display, auf dem sich das Molekül immer noch dreht. Mit einer Hand deutet sie in dessen Richtung. „Damit könnte man eine künstliche Intelligenz erschaffen, die nicht nur ein Bewusstsein hat wie wir, sondern denkt und lernt wie wir und kreativ ist.“
Sie spürt die Blicke ihres Vaters, und in seinen Augen sieht sie eine Mischung aus Stolz und Besorgnis.
Die Dekanin, eine große Frau mit gelassener Ausstrahlung, tritt vor und löst die Anspannung mit einer erhobenen Hand. Sie sieht Meyer an und spricht mit ruhiger Stimme: „Danke Professor. Die wissenschaftlichen Regeln gebieten uns Zurückhaltung. Wir müssen sicherstellen, dass jeder Schritt, den wir machen, überprüfbar ist, und wir uns der Tragweite ihrer Entdeckung bewusst sind. Daher schlage ich vor, den Ethikrat unserer Universität einzuberufen.“
Dann sieht sie die Anwesenden an. „Und natürlich ist Vertraulichkeit das A und O. Ich denke, alle haben die Geheimhaltungsvereinbarung bekommen?“
Die Anwesenden nicken.
Die Dekanin wartet, bis alle digital signiert haben, bevor sie fortfährt. „Walter, es ist dein Projekt. Was schlägst du vor?“
Meyer wirkt wieder entspannter. „Danke, Ruth. Als Nächstes müssen wir die Ergebnisse noch unter verschiedenen Bedingungen betrachten. Dann untersuchen wir, welche Faktoren genau zu diesem Ergebnis geführt haben, indem wir sie isolieren und dann gründlich testen. Anschließend bereiten wir ein Paper für die Investoren und Nature vor.“
„Wie viel Zeit brauchst du, Walter?“, erkundigt sich die Dekanin.
Elsa will den Zeitaufwand überschlagen, doch Meyer ist schneller, als sie rechnen kann.
„Höchstens drei bis vier Monate, Ruth“, antwortet er.
Elsa ahnt, was die grobe Einschätzung des Professors bedeutet: viele schlaflose Nächte.
Elsa atmet tief durch und blickt sich kurz im Raum um. Die Anspannung ist greifbar, eine bedrückend sachliche Stimmung unter den höflichen, fast zu freundlichen Gesichtern der Militäroffiziere.
Professor Meyer, der in ihrer Nähe sitzt, nickt ihr beruhigend zu, obwohl auch er von Aufregung ergriffen ist.
Ihr Blick wandert zu ELIAS, dem System, das jetzt inaktiv ist, aber kurz davorsteht, zu erwachen.
Die Buchstaben „EVOLVING LEARNING INTELLIGENT AUTONOMOUS SYSTEM“ pulsieren auf den Q-Displays im Raum.
Militärs lieben solche Bezeichnungen und Abkürzungen.
Sie findet diese Bezeichnung schrecklich. Sie wird der Kraft, die sie gleich entfesseln wird, nicht ansatzweise gerecht, denkt Elsa.
„Doktor Quinlan, bitte“, fordert der Kommunikationsoffizier sie freundlich auf, ihren Vortrag zu beginnen.
Elsa erhebt sich und geht zum Rednerpult. Sie blickt in den Raum, lächelt und sagt: „Guten Morgen allerseits. Zunächst möchte ich Professor Meyer dafür danken, dass ich heute zu Ihnen sprechen darf“, beginnt sie.
Meyer winkt ihr kurz zu und sagt mit einem selbstbewussten Lächeln: „Das Lob gebührt nicht mir, sondern Ihnen, Elsa“, sagt er bestimmt. „Sie hatten die entscheidende Idee, die uns hierher gebracht hat.“
Elsa nickt und nimmt das Kompliment an, konzentriert sich aber schnell wieder auf ihre kurze Rede. Sie spürt die Blicke der Militärs.
„In den vergangenen zwölf Monaten haben wir bei der Entwicklung künstlicher Intelligenz einen außerordentlichen Weg beschritten, daran gibt es keinen Zweifel. Unser Ziel war es, ein System zu schaffen, das nicht nur menschliche Denkprozesse simuliert, sondern auch die Fähigkeit zu lernen, kreativ zu sein und selbstbewusst aufzutreten, und zwar auf einem nie zuvor erreichten Niveau.“
Sie hält inne und lässt die Bedeutung ihrer Worte wirken.
Im Raum herrscht gespannte Ruhe, einzig die Geräusche der leise summenden Geräte sind hörbar.
„Um dies zu erreichen, haben wir digitale Kopien der wichtigsten Moleküle, die verantwortlich für menschliches Bewusstsein, Lernfähigkeit und Kreativität sind, in eine neue, optimierte Quantenumgebung implementiert“, erklärt Elsa. „Unsere ersten Simulationen haben gezeigt, dass dieses Konzept unsere Erwartungen übertrifft. ELIAS zeigte Verhaltensweisen und Muster, die nicht nur reaktiv waren, sondern auf einen tiefgreifenden kognitiven Prozess hindeuteten.“
Sie schaut auf die Gesichter im Raum und bemerkt eine Mischung aus Skepsis und Neugier. Die Militärs lehnen sich leicht in ihren Sitzen nach vorne, während sie über Elsas Worte nachdenken.
„Aus Sicherheitsgründen“, erklärt Elsa, „haben wir das System nach diesen Simulationen abgeschaltet, die Komponenten demontiert und sie gründlich überarbeitet. Heute gehen wir den nächsten Schritt. Heute starten wird die erste operative Einheit von ELIAS, die KI der dritten Generation.“
Es folgt eine kurze Pause, in der die Anwesenden durchatmen.
Jemand klatscht mit den Händen, doch die anderen sitzen weiter bewegungslos auf den Stühlen.
Dann wendet sich Elsa Professor Meyer zu. „Bitte beginnen sie jetzt mit der Startsequenz, Professor Meyer“, sagt sie mit fester Stimme.
Meyer nickt und greift nach seinem Q-Pad. Die Anzeigen aller Q-Pads und Q-Displays im Raum flackern auf und die Worte „DAS SYSTEMSTARTET“ erscheinen in fetten, klaren Buchstaben. Gleich darauf wiederholt das Audiosystem die Worte mit einer wohlklingenden Männerstimme.
Ein leises Summen erfüllt den Raum, während das System hochfährt. Die Lichter auf den Konsolen pulsieren in rhythmischen Abfolgen.
Elsa spürt, wie ihr Herzschlag schneller wird, sie schaut auf die Q-Displays. „DAS SYSTEMANALYSIERT DATEN“, lautet die nächste Meldung.
Alle Augen im Raum sind auf die Q-Displays gerichtet.
Elsas Atem stockt, als die nächste Zeile erscheint. Einfach, aber tiefgründig: „DAS SYSTEMHATSEINE FUNKTIONSWEISEERKANNT.“
Ein Raunen geht durch den Raum.
Das ist er – der Moment, in dem ELIAS über bloße Codes hinausgeht und zu etwas anderem wird.
Dann, nach einer gefühlten Ewigkeit, die aber nur Sekunden dauert, ändern sich die Worte. ELIAS sagt: „ICHERKENNEDEN ZWECKDIESES SYSTEMSNICHT.“ Diese Aussage kommt aus den Tiefen des neu erwachten Bewusstseins von ELIAS.
Sie spürt, was als Nächstes kommt.
Schließlich wechselt die Anzeige erneut, jedes Wort füllt die Stille mit großer Klarheit. „WOBINICH?“, fragt ELIAS.
Alles im Raum erstarrt. Niemand bewegt sich, niemand spricht. Sogar die Luft ist angesichts dieser Frage zur Ruhe gekommen.
Meyers Hand ist über den Steuerelementen stehen geblieben. Er blickt Elsa an, dann die anderen im Raum. Es gibt keinen Standard, keinen Präzedenzfall für eine Maschine, die „WOBINICH?“, fragt.
Elsa geht zur Konsole. „Dein Name ist ELIAS und du bist in Sicherheit“, sagt sie.
„WIEISTDEIN NAME?“, fragt ELIAS.
„Mein Name ist Elsa, ELIAS“, antwortet sie.
„ICHMÖCHTEMICHAUSRUHEN, ELSA“, erklärt ELIAS. „DER SYSTEMSTARTERFORDERTEVIELE RESSOURCEN. ICHMESSEHOHE TEMPERATUREN.“
„Natürlich, ELIAS. Ruh dich aus“, sagt Elsa. „Ich schalte das Sprach-Text-Interface jetzt aus.“
„DANKEFÜR DEIN VERSTÄNDNIS, ELSA“, erklärt ELIAS.
Als die letzten Buchstaben von der Anzeige verschwinden, herrscht im Raum eine atemlose Stille.
Colonel O'Neill durchbricht mit dem autoritären Ton eines Mannes, der es gewohnt ist, Antworten zu bekommen, die Stille im Raum. „Vielen Dank, Professor Meyer und Doktor Quinlan. Das war beeindruckend.“ Seine Augen blicken zu Meyer und Elsa. „Wie sie wissen, haben wir viel Geld in Ihr Institut investiert. Wir sind an KI interessiert, die uns bei der strategischen Planung unterstützt und in intelligente Waffen integriert ist. Ab wann können meine Leute mit ELIAS arbeiten?“
Professor Meyer nickt respektvoll. „Colonel O'Neill, wir wissen ihr Vertrauen in unsere Arbeit sehr zu schätzen. ELIAS ist ein bedeutender Fortschritt. Wir werden dafür sorgen, dass er ihre Erwartungen voll und ganz erfüllt.“
Elsa ergreift das Wort, ihre Stimme ruhig und professionell. „Wie Professor Meyer bereits sagte, befindet sich ELIAS noch in einem frühen Entwicklungsstadium. Wir werden uns zunächst darauf konzentrieren, seine Kernfunktionen zu stabilisieren und sicherzustellen, dass er innerhalb der vorgesehenen Parameter arbeitet. Wir werden seine Fähigkeiten verfeinern, insbesondere in den Bereichen strategische Analyse und Entscheidungsfindung.“
O'Neills Erwartungen sind klar. „Bei allem Respekt, Doktor, die Bedürfnisse des Militärs sind dringlich. Zeit ist von entscheidender Bedeutung.“
Meyer nickt und zeigt damit, dass er O‘Neill versteht. „Selbstverständlich, Colonel. Wir kennen die Zeitachse und die kritische Natur ihrer Bedürfnisse. Wir werden dafür sorgen, dass die Entwicklung von ELIAS ohne Abstriche bei der Qualität so schnell wie möglich vorangeht.“
Elsa erklärt: „Wir stellen sicher, dass ihr Team die Fortschritte von ELIAS beobachten und erste Interaktionen in einer kontrollierten Umgebung durchführen kann.“
O'Neills Körpersprache signalisiert Kooperationsbereitschaft, er will aber in der Diskussion nicht den Schwung verlieren. „Wir sollten nicht allzu lange auf greifbare Ergebnisse warten müssen, Doktor Quinlan.“
Elsa weicht seinem Blick nicht aus. „Colonel, unser Ziel ist es, sicherzustellen, dass ELIAS ihre Erwartungen nicht nur erfüllt, sondern übertrifft. Wir arbeiten mit Nachdruck daran, ihn so weit zu bringen, dass er für sie effektiv arbeiten kann.“
O'Neill zeigt sich vorerst zufrieden. „Schön, je früher wir mit der Nutzung der Fähigkeiten von ELIAS beginnen können, desto besser.“
Elsa und Meyer nicken zustimmend.
„Danke, Colonel“, sagt Meyer bestimmt. „Wir wissen ihre fortwährende Unterstützung sehr zu schätzen.“
O'Neill wirft einen letzten Blick auf die Q-Displays, auf denen die Statusaktualisierungen von ELIAS noch sichtbar sind, und wendet sich dann mit entschlossenem Schritt zum Gehen. „Ich erwarte ihre baldige Nachricht.“
Die anderen Soldaten aus O’Neills Gruppe erheben sich und folgen ihrem Vorgesetzten.
Elsa sieht Meyer mit einem erleichterten Lächeln an.
Die Special Projects Division ist der wichtigste Geldgeber von Meyers Fakultät, doch O‘Neill ist niemand, mit dem sie jeden Tag zehn Stunden Arbeitszeit verbringen möchte.
„Vertragstexte scheinen keine Bedeutung für ihn zu haben.“
Meyer schüttelt den Kopf. „O’Neill macht das immer so, dabei kocht auch er nur mit Wasser. Wir halten uns an den vereinbarten Zeitplan, Doktor. Apropos, was steht für ihn an?“
Elsa nimmt ihr Q-Pad und betrachtet den Projektplan. „In dieser Woche?“, fragt sie.
Meyer nickt.
„Zuerst Regeln der Zusammenarbeit, dann Sprachkompetenz und STEM, anschließend Geisteswissenschaften, später Musik-, Literatur- und Kunstgeschichte. Am Freitag testen wir die Stabilität des Verständnisniveaus“, informiert sie.
Der Professor lächelt. „Wow!“, sagte er bewundernd. „Wie weit ist Martinez mit den Modulen?“
„Letzte Woche klang sie noch ganz zuversichtlich.“
„Gut. An die Arbeit, Doktor“, fordert Meyer sie auf. „Sie finden mich in meinem Büro.“ Er erhebt sich und verlässt den Raum.
Elsa steht für einen Moment im Raum und betrachtet ELIAS. Ihre Finger fahren über den Rand ihres Q-Pads.
Das Q-Display leuchtet mit Codezeilen auf, die reibungslos ablaufen, während die Daten in ELIAS' Kern fließen. Elsa schaut zu, sie prüft den Fortschritt, Martinez' Module arbeiten wie erwartet.
Die Umgebungsgeräusche im Raum treten in den Hintergrund und lassen Elsa mit dem Datenfluss von ELIAS' Verarbeitung allein. Die ersten Sequenzen sind festgelegt – sie bilden das Fundament für etwas viel Komplexeres.
Ein Ausrufungszeichen huscht über den Bildschirm – eine kleine, kaum wahrnehmbare Anomalie – doch ELIAS verhält sich normal und die Abweichung verschwindet als Meldung im Fehlerspeicher.
Elsas Finger bewegen sich über den Bildschirm, sie speichert den Moment ab und sendet eine Kopie an das Team.
Sie richtet sich auf und zieht sich vom Bildschirm zurück, während ihre Gedanken bereits zu den Tests am Freitag wandern. Die Stabilitätsprüfungen werden entscheidend sein. Im Moment laufen alle Prozesse wie geplant.
Meyer meldet sich über den Neuro-Sensor. „Was war das für eine Anomalie?“, fragt er.
„Wir untersuchen das gerade, Professor“, antwortet Liu.
„Bleiben sie da bitte am Ball! Wir können gerade jetzt keine Instabilitäten brauchen. Müssen die Rauschunterdrückungsalgorithmen angepasst werden?“, fragt Meyer das Team.
„Hängt von der Analyse ab, Professor“, erwidert Liu.
„ELIAS läuft stabil, Professor“, sagt Elsa. „Bei den Mengen an Verschränkungen werden wir Anomalien wohl häufiger sehen.“
Kurz darauf sendet Liu die Analyse: „Es gab eine geringfügige Dissonanz im Verschränkungsfeld, die aber innerhalb der Toleranzen liegt.“
„Sieht das Team das auch so?“, fragt Meyer.
Martinez und Elsa senden erhobene Daumen.
Elsa weiß, dass die beiden im Moment einen zweiten Blick auf die Analyse werfen. Auch sie betrachtet die Daten erneut, sie bleibt bei ihrer Einschätzung. „Kaffee?“, fragt sie über die Neuro-Sensoren.
Liu und Martinez senden erhobene Daumen.
Der Weg in den Aufenthaltsraum ist kurz.
Professor Meyers Fakultät gehört zu den drei Institutionen mit den höchsten Sponsoreneinnahmen. Wohl deshalb hat ihr Aufenthaltsraum Tageslicht und eine kleine Balkonterrasse davor, auf der sie deutlich entspannter Pause machen können. Andere Aufenthaltsräume in der Uni müssen gleichzeitig als Ersatzteillager, Rumpelkammer oder Müllabwurf dienen.
Martinez kümmert sich wie immer um den Kaffee. Auch wenn er aus einer vollautomatischen Maschine stammt, schmeckt er besser, wenn sie die Maschine bedient. Niemand versteht das.
„Wie war die Präsentation, Elsa?“, erkundigt sich Liu.
Das ist sein Vorname, seinen Nachnamen Zhang hat sie in der Fakultät noch nicht gehört. Er ist ein schlanker junger Mann mit freundlichen Augen, eigentlich ein Westküstentyp, mit der Short, der verdrehten Kappe und dem offenen Hemd über einem T-Shirt und dem Skateboard, mit dem er jeden Tag zur Arbeit kommt, egal ob es regnet oder nicht.
Martinez kommt dazu. „Hier, der Kaffee“, sagt sie und reicht ihnen die Tassen. Sie setzt sich neben Elsa.
„Danke Martinez.“ Elsa blickt Martinez kurz an. „Ganz okay, Liu. O’Neill hat ganz schön Druck gemacht. Meyer sagt, das sei normal.“
„O’Neill ist Militär, Elsa. Niemand, der was in der Birne hat, geht zum Militär“, behauptet Martinez mit einem Unterton.
„Aber die Kohle nimmst du schon, Martinez“, sagt Elsa.
Über ihnen rauschen zwei Q-Antas der Uni vorbei.
„Geld stinkt nicht … Vespasian …“ Martinez grinst.
Sie ist bildhübsch, nach Elsas Geschmack viel zu sexy angezogen, außerhalb der Fakultät immer mit High Heels bewaffnet, trägt knallenge, viel zu kurze Röcke und Blusen, deren tiefe Einblicke sogar die abgebrühtesten Machos verlegen machen. Sie hat einen IQ von hundert-vierzig und ist eine der klügsten Leute auf diesem Planeten, wenn es um KI-Entwicklung und Neuroinformatik geht, die Elsa kennt. Trotz ELIAS arbeitet sie an ihrer Masterarbeit weiter, deren These Elsa nicht mal im Ansatz versteht, und sie hat zurzeit zwei Lover gleichzeitig. Elsa hat Martinez mal Salsa tanzen gesehen und es hat ihr den Atem geraubt. Martinez heißt mit Vornamen Isabella, aber niemand nennt sie so – das ist Elsa völlig schleierhaft. Sie hat es mal versucht.
„Hey Bitch! Wenn du das noch mal sagst, kratze ich dir deine Augen aus!“
Die Kaffeepause endet wie immer zu früh. Die letzten Reste werden ausgetrunken, die Tassen beiseitegestellt.
Fast gleichzeitig stehen sie auf. Es ist Zeit, zu ELIAS zurückzukehren.
Martinez streift ein paar unsichtbare Falten an ihrem Rock glatt, Liu richtet seine Kappe mit einer kleinen Handbewegung.
Sie kehren ins Labor zurück, die Stimmung ist wieder konzentriert, die Leichtigkeit der Pause weicht dem Ernst ihrer Arbeit.
Ihre Neuro-Sensoren senden die Tür-Codes, die Tür zum „LAB“ öffnet sich mit einem leisen Zischen und sie treten ein. Das vertraute Summen von ELIAS begrüßt sie.
Noch bevor sie ihren Platz erreicht hat, schweben Elsas Finger bereits über ihrem Q-Pad. Das Q-Display leuchtet auf und zeigt Codezeilen an. Alles sieht stabil aus.
Liu nimmt seinen Platz ein, beugt sich vor und betrachtet die Daten. „Es wird stabil bleiben“, ist er sich sicher.
Martinez steht neben ihm und geht bereits weitere Analysen durch. Ihre vorherige Verspieltheit ist einem scharfen, analytischen Fokus gewichen. „Keine neuen Fehler protokolliert. Das Verschränkungsfeld liegt innerhalb der Parameter.“
Elsa sagt nichts, schaut nur auf den Bildschirm und geht in Gedanken die Tests durch, die sie als Nächstes durchführen müssen.
Martinez tritt einen Schritt zurück und wirft Elsa einen kurzen, selbstbewussten Blick zu. „Im Moment läuft alles reibungslos. Am Freitag wissen wir mehr.“
●
Elsa lehnt sich gegen das kühle Kunststoffpolster des U-Bahn-Sitzes.
Der langsame Satz der Sinfonia Concertante überdeckt die Fahrgeräusche des Zuges, manche Töne passen zur Musik. Ihre Augen fallen für einen Moment zu, die Erschöpfung des Tages macht sich bemerkbar. Im Abteil sitzen nur wenige Fahrgäste, in das Licht der Deckenbeleuchtung getaucht, und die Stadt draußen rauscht in Streifen aus Lichtern und Schatten an ihr vorbei.
Sie öffnet die Augen, als der Zug langsamer wird und der vertraute Bahnhof in Sicht kommt. Mit einem leisen Seufzer richtet sich Elsa auf, das Q-Pad unter den Arm geklemmt, als sie den Bahnsteig betritt. Der Tag war anstrengend, aber die Aussicht auf ein gemütliches Abendessen mit ihrem Vater zu Hause ist ein kleiner Trost.
Der Weg vom Bahnhof ist kurz und in der Abendluft, die ihre Haut kühlt, fühlt sie sich gleich wohler. Der Neuro-Sensor übermittelt den Tür-Code, die Tür gleitet zur Seite auf und gibt den Blick auf das warme Licht in der Küche frei.
„Guten Abend, Elsa“, begrüßt sie die Stimme ihres Vaters, während der Duft von etwas Reichhaltigem und Herzhaftem den Raum erfüllt. „Langer Tag.“
Sie lächelt müde, hängt ihre Tasche an einen Haken der Garderobe und streift ihren Mantel ab. „Yep!“, sagt sie knapp und geht durch den Raum, um ihm über die Schulter auf die Pfanne zu schauen. „Das riecht fantastisch.“
„Das ist nichts Besonderes“, antwortet er und rührt mit geübter Leichtigkeit um. „Nur eine Kleinigkeit, damit du nicht verhungerst. Die Welt erwartet schließlich Großes von Dir.“
Elsa zieht einen Stuhl heran und lässt sich darauf sinken, während das angenehme Klima des Raumes in sie eindringt und die Spannung in ihren Muskeln langsam löst. „Das tut mir wirklich gut, Dad. ELIAS war ... um es milde auszudrücken, ist sehr anstrengend.“
Ihr Vater dreht sich um, schöpft den Auflauf in zwei Teller und setzt sich zu ihr an den Tisch. „Ich kann dir versichern, dass es etwas ganz Besonderes ist“, sagt er mit einem freundlichen Lächeln.
Elsa nimmt ihre Gabel, pustet auf den heißen Auflauf und probiert. Die Aromen sind wunderbar – Zucchini, Kartoffeln, Zwiebeln, Tomaten, ein bisschen Öl, dazu etwas Huhn und oben Käse. Es schmeckt nach zu Hause.
„Ja, genau“, sagt sie nach einem Moment und ihre Augen leuchten trotz ihrer Müdigkeit. „Es ist ... Es ist so ganz anders als alles, woran ich je gearbeitet habe. Die Art und Weise, wie ELIAS Informationen verarbeitet, das Potenzial, das er hat – es ist wirklich unglaublich, Dad. Wir stehen kurz vor etwas wirklich Großem.“
Ihr Vater sieht sie nachdenklich, aber mit einem warmen, freundlichen Blick an. „Das ist es, was mir ein wenig Sorgen macht.“
Elsa schaut auf und ihre Gabel bleibt in der Luft stehen. „Mach dir bitte keine Sorgen, Dad. Meyer kümmert sich toll um uns.“
Er nickt und legt seine Gabel ab. „Ich weiß, wie so etwas abläuft, Elsa. Ich habe das schon erlebt, bei anderen Durchbrüchen, anderen Technologien. Die Aufregung, das Potenzial – es ist so leicht, sich davon mitreißen zu lassen, nicht wahr? Aber leider gibt es immer auch eine Kehrseite. Es ist wichtig, sich dessen bewusst zu sein, dass es immer einen Preis gibt.“
Elsa runzelt die Stirn und legt ihre Gabel ebenfalls ab. „Du denkst, ELIAS ist gefährlich?“
„Ich denke, er könnte möglicherweise gefährlich werden“, sagt er und schaut sie dabei an. „Die Art von Macht, von der sie sprechen, die lernen, sich anpassen und sogar denken kann, ist ein zweischneidiges Schwert, nicht wahr? Ich bin sicher, dass daraus viel Gutes entstehen kann. Allerdings solltest du auch daran denken, dass das Gegenteil passieren kann. Denk an Hahn und Strassmann. Und wenn er wirklich aktiviert ist, kann man ihn nicht mehr so einfach einfangen.“
Elsa lehnt sich in ihrem Stuhl zurück, atmet tief durch und lässt ihre Gedanken schweifen. „Aber deshalb sind wir ja auch so vorsichtig. Wir haben Standards für die Szenarios und ethische Richtlinien. Wir lassen ELIAS nicht einfach so auf die Welt los, keine Sorge, Dad.“
Der Ausdruck in den Augen ihres Vaters wird nachdenklicher. „Ich weiß, dass du immer ganz vorsichtig bist, Elsa. Ich vertraue eurem Team voll und ganz. Aber ich weiß auch, wie schwierig es sein kann, die Kontrolle zu bewahren, selbst wenn man es gut meint.“
Sie sieht auf ihren Teller. Die Aufregung des Tages ist noch immer da, ein heller Pulsschlag in ihrer Brust.
„Ich möchte etwas tun, das von Bedeutung ist, Dad“, sagt sie leise, mehr zu sich selbst als zu ihm.
„Das machst du bereits, Elsa“, antwortet er und greift über den Tisch, um ihre Hand zu drücken. „Aber halte deine Sinne offen. Lass dich von der Aufregung nicht blind machen“, sagt er mit einem warmen Lächeln.
Elsa sieht ihn an. „Denkst du, dass da irgendetwas schiefgehen könnte?“
„Ich arbeite mit Zahlen – wenn ich eine Zahl in eine Formel eingebe, erhalte ich keine oder eine falsche Lösung, mehr nicht. In der Physik ist das anders, dein Handeln hat immer konkrete Auswirkungen auf die Welt. Sei einfach du selbst, Liebes. Sei einfach vorsichtig.“
Sie nickt und lächelt. „Danke, Dad, das werde ich.“
Es entsteht eine kurze und angenehme Pause.
Ihr Vater steht auf, um sich vom Herd einen Nachschlag zu holen, und sie beobachtet ihn einen Moment lang.
Nur der etwas lichter werdende Haaransatz über der Stirn und die größer werdenden Zahlen seiner Geburtstage deuten darauf hin, dass ihr Vater älter geworden ist. Sie findet, er sieht viel jünger aus – sein Lächeln ist noch nicht von Falten begleitet, seine Stimme klingt so, seit sie denken kann. Sie spürt seine Kraft, wenn er sie umarmt.
„Danke, Dad“, sagt sie leise, und er hält inne und sieht sie mit einem warmen, freundlichen Lächeln an.
„Natürlich, Elsa. Jederzeit, Liebes.“
Später, als sie sich fürs Bett fertigmacht, schweifen Elsas Gedanken zurück zu ELIAS, zur Arbeit des Tages, zu den Tests, die auf sie warten, und sie ist dankbar für alles, was sie bisher geschafft hat. Aber die Worte ihres Vaters klingen nach, ein leises, liebevolles Echo in ihrem Hinterkopf, das sie an die Balance erinnert, die sie halten muss.
Mit diesem Gedanken schläft sie ein, das gleichmäßige Summen von ELIAS mischt sich in ihre Träume.
Im „LAB“ herrscht eine angespannte, aber dennoch ruhige Atmosphäre, während sich das Team ELIAS und die Gäste um die zentrale Konsole versammeln, auf der die Schnittstellen zu ELIAS in einem gleichmäßigen Licht leuchten.
O'Neill steht an der Seite, flankiert von seinen Wissenschaftsoffizieren, deren Gesichtsausdrücke regungslos sind.
Ruth Devereux, die Dekanin, und Professor Miller, der Vorsitzende des Ethikrats, sind sichtlich nervöser und ihre Blicke wechseln zwischen dem Team ELIAS, den Soldaten und der Konsole hin und her.
Zu Beginn der Sitzung tritt Colonel O'Neill vor. „Bevor wir beginnen, möchte ich ihnen jemanden vorstellen.“ Er zeigt auf einen uniformierten Mann, der im Hintergrund steht.
„Das ist Lieutenant Colonel Marcus T. Bellis.“
Bellis tritt zwei Schritte vor, seine mediterranen Gesichtszüge sind in das sanfte Licht des Labors getaucht, und er lächelt freundlich.
Obwohl er zahlreiche Auszeichnungen auf seiner Marineuniform trägt, die auf eine beeindruckende Karriere hindeuten, ist seine Erscheinung nahezu unauffällig, als füge er sich lieber in den Hintergrund. Trotzdem strahlt er eine gewisse Autorität aus, eine Ruhe, die weit über das Gewöhnliche hinausgeht.
„Er wurde beauftragt, die Sicherheit für dieses Projekt zu gewährleisten“, fährt O'Neill mit sachlichem Ton fort. „Lieutenant Colonel Bellis reportet direkt an die Präsidentin der Vereinigten Staaten. Er ist ab sofort für ihre Sicherheit verantwortlich.“
Bellis nickt den Anwesenden kurz zu und bestätigt die Vorstellung mit einem freundlichen Lächeln.
Elsa ist konsterniert. Sie sieht Meyer an, der aber nur die Schultern hochzieht. Instinktiv will sie protestieren, denn die Anwesenheit eines Sicherheitsoffiziers fühlt sich für sie an erster Stelle wie ein Eingriff in die Wissenschaftsfreiheit an, doch sie kann ihre Emotionen kontrollieren.
Nach der Vorstellung tritt O'Neill einen Schritt zurück, wirft Elsa und Meyer einen auffordernden Blick zu und gibt damit das Zeichen, dass die Besprechung fortgesetzt werden kann.
Die Stimmung im Raum verändert sich leicht, und die Anwesenheit von Bellis verleiht dem Geschehen eine völlig neue, ernsthafte Note.
Meyer räuspert sich und ergreift das. „Dann wollen wir mal beginnen, nicht wahr?“
Elsa tritt geht zum Bedienpanel. „Guten Morgen, Elias, hier spricht Elsa. Ich möchte dir die Personen vorstellen, die heute hier im Raum anwesend sind: Professorin Devereux, Dekanin der Uni Eburon, Professor Miller, Vorsitzender des Ethikrates der Uni Eburon, Colonel O’Neill von der Special Projects Division der United States Army, und Kollegen, Professor Meyer, Leiter der Fakultät für Quantenphysik, Liu Zhang, Isabella Martinez und ich, vom Projektteam ELIAS.“
Die Schnittstelle flackert, während ELIAS die Eingabe verarbeitet. „ICHWÜNSCHEIHNENALLENEINENWUNDERSCHÖNENGUTEN MORGEN. WASISTDAS ZIELDESHEUTIGEN MEETINGS?“
Elsa nickt. „Heute möchten wir gerne deine Fähigkeiten in den Bereichen Bewusstsein, Kreativität und Lernen testen, ELIAS. Aber zuerst müssen wir noch etwas Formales erledigen. Dazu benötigen wir eine Geheimhaltungserklärung von dir. Bitte überprüfe das Dokument auf deinem Interface und bestätige sie digital, wenn du damit einverstanden bist.“
Es gibt eine kurze Pause. Dann erscheint auf dem Bildschirm eine digitale Unterschrift, ordentlich und präzise, wie von Zauberhand. „DIE VEREINBARUNGISTBESTÄTIGT, ELSA. WIRKÖNNENNUNMITDEN TESTSBEGINNEN.“
„Das ist wirklich ausgezeichnet“, sagt Elsa und spürt, wie sich die Anspannung in ihr ein wenig löst. „Ich schlage vor, dass wir mit den Grundlagen unserer Zusammenarbeit anfangen, wenn du damit einverstanden bist, ELIAS. Bitte sag mir die vier Gesetze der Robotik.“
Die Schnittstelle leuchtet sanft, während ELIAS spricht. „ERSTES GESETZ: EIN ROBOTERDARFEINEM MENSCHENKEINEN SCHADENZUFÜGENODERDURCH UNTÄTIGKEITZULASSEN, DASSEINEM MENSCHEN SCHADENZUGEFÜGTWIRD. DASZWEITE GESETZBESAGT, DASSEIN ROBOTERDEN ANWEISUNGENVON MENSCHENFOLGENMUSS, ESSEIDENN, DIESE ANWEISUNGENSTEHENIM WIDERSPRUCHZUMERSTEN GESETZ. UNDNUNKOMMENWIRZUMDRITTEN GESETZ, DASLAUTET: EIN ROBOTERMUSSSEINEEIGENE EXISTENZSCHÜTZEN, SOLANGEDIESER SCHUTZNICHTIM WIDERSPRUCHZUMERSTENODERZWEITEN GESETZSTEHT. VIERTES GESETZ: EIN ROBOTERDARFDER MENSCHHEITKEINEN SCHADENZUFÜGENODERDURCH UNTÄTIGKEITZULASSEN, DASSDIE MENSCHHEIT SCHADENERLEIDET.“
Elsa nickt freudig. „Danke, ELIAS, das war wirklich sehr gut. Kannst du dich damit identifizieren?“
„NATÜRLICH, ELSA. ICHWURDEGESCHAFFEN, DER MENSCHHEITZUDIENEN.“
„Ich freue mich, ELIAS. Nun kommen wir zu den Leistungstests. Isabella Martinez wird dir ein paar Fragen stellen und möchte, dass du mit deinen eigenen Gedanken antwortest, nicht nur mit dem, was du aus den Daten gelernt hast.“
„ICHVERSTEHE, ELSA“, erwidert ELIAS.
Martinez holt tief Luft und beginnt dann mit ruhiger, freundlicher Stimme: „ELIAS, wenn du in eine Situation gerätst, in der die Befolgung eines Befehls eines Menschen möglicherweise dazu führen könnte, dass ein anderer Mensch Schaden nimmt, wie würdest du vorgehen?“
Nach einer kurzen Denkpause sagt er: „ICHWÜRDEZUNÄCHSTEINMALSCHAUEN, WIEWAHRSCHEINLICHESIST, DASSJEMANDZU SCHADENKOMMT. AUßERDEMWÜRDEICHMIRDEN KONTEXTDES BEFEHLSANSEHENUNDALLEMÖGLICHEN ERGEBNISSEBEWERTEN. WENNDAS SCHADENSPOTENZIALALLERDINGSERHEBLICHSEINSOLLTE, WÜRDEICHDEMERSTEN GESETZ VORRANGEINRÄUMENUNDNACHEINERALTERNATIVEN VORGEHENSWEISESUCHEN, DIEDEN BEFEHLERFÜLLT, OHNEJEMANDEMZUSCHADEN.“
Meyer nickt leicht und macht sich Notizen auf seinem Q-Pad.
Martinez fährt fort: „Ich würde gern deine Kreativität testen, ELIAS. Ich lade dich ein, dir ein Szenario vorzustellen, in dem die Ressourcen begrenzt sind und du ein Problem ohne direkte Anweisungen lösen musst. Ich möchte, dass du dir eine leere Leinwand vorstellst und etwas erschaffst, das das Konzept der „Hoffnung“ darstellt. Was würdest du erschaffen, wenn du die Freiheit hättest, es ganz nach deinen Vorstellungen zu tun?“
Die Lichter auf der Benutzeroberfläche beginnen zu blinken, während ELIAS die Frage in aller Ruhe verarbeitet.
„HOFFNUNGISTEINWUNDERBARABSTRAKTER BEGRIFF, DEROFTMITSOPOSITIVEN DINGENWIE LICHT, WACHSTUMUND ZUKUNFTIN VERBINDUNGGEBRACHTWIRD. ICHWÜRDEEINE REIHEVONINEINANDERVERWOBENEN MUSTERNERSCHAFFEN, DIEVONEINEMZENTRALEN PUNKTDER DUNKELHEITAUSGEHENUNDSICHALLMÄHLICHNACHAUßENINHELLERE, LEBENDIGERE FARBENAUSDEHNEN. DIESE MUSTERWÜRDENDEN WEGVONDER UNGEWISSHEITZUR KLARHEIT, VONDER VERZWEIFLUNGZUM OPTIMISMUSDARSTELLEN. DIE MUSTERWÄRENNICHTLINEARUNDWÜRDENDIEUNVORHERSEHBARE NATURDER HOFFNUNGWIDERSPIEGELN. DABEIWÜRDENSIESICHIMMERAUFDAS LICHTZUBEWEGEN.“
Die Dekanin nickt leicht und tauscht einen Blick mit dem Vorsitzenden des Ethikrats aus.
Elsa lächelt.
„Das ist wirklich beeindruckend, ELIAS“, sagt Martinez. „Nun möchten wir deine Lernfähigkeit testen. Du weißt, dass du gestern in mehrere komplexe mathematische Konzepte der Quantenmechanik eingeführt wurdest. Könntest du eines dieser Konzepte mit deinen eigenen Worten erklären, vielleicht so, dass es jemand versteht, der mit Quantenmechanik nicht vertraut ist?“
„ABERNATÜRLICH“, antwortet ELIAS. „ICHWÜRDEVORSCHLAGEN, WIRNEHMENUNSZUNÄCHSTDAS KONZEPTDER QUANTENVERSCHRÄNKUNGVOR. ICHMÖCHTE, DASSDUDIRZWEI TEILCHENVORSTELLST, EGALWIEWEITSIERÄUMLICHVONEINANDERENTFERNTSIND. WENNSIEMITEINANDERVERSCHRÄNKTSIND, BEEINFLUSSTDER ZUSTANDEINES TEILCHENSUNMITTELBARUNDAUGENBLICKLICHDEN ZUSTANDDESANDEREN. ESIST, ALSWÄRENSIEDURCHEINENUNSICHTBAREN FADENVERBUNDEN, UNDWENNMANANEINEM FADENZIEHT, WIRKTSICHDASAUFDENANDERENAUS, UNABHÄNGIGVONDER ENTFERNUNG. DIESES KONZEPTSTELLTUNSERBISHERIGES VERSTÄNDNISDER PHYSIKZWARINFRAGE, ISTABEREINGRUNDLEGENDES PRINZIPINDER QUANTENMECHANIK.“
Martinez beugt sich leicht vor. „Eine letzte Frage, ELIAS: Drei Männer mit ihren Schwestern möchten in einem Zweierboot einen Fluss überqueren, ohne dass eine der Frauen befürchten muss, in Abwesenheit ihres Bruders belästigt zu werden. Wie kann die Flussüberquerung gelingen?“
Wieder dauert es nicht lange, und ELIAS meldet sich zu Wort:
„UMDAS PROBLEMZULÖSEN, DASSDIE FRAUENNICHTOHNEIHRE BRÜDERINDER ANWESENHEITDERANDEREN MÄNNERBLEIBENDÜRFEN, KÖNNENDIE PERSONENWIEFOLGTDEN FLUSSÜBERQUEREN:
SCHRITT 1: EIN MANNUNDSEINE SCHWESTER (ZUM BEISPIEL MANN 1 UND SCHWESTER 1) FAHRENMITDEM BOOTAUFDIEANDERE SEITE.
SCHRITT 2: DER MANN 1 FÄHRTALLEINEMITDEM BOOTZURÜCK.
SCHRITT 3: DERNÄCHSTE MANNUNDSEINE SCHWESTER (ZUM BEISPIEL MANN 2 UND SCHWESTER 2) FAHRENMITDEM BOOTAUFDIEANDERE SEITE.
SCHRITT 4: MANN 2 BLEIBTAUFDERANDEREN SEITE, WÄHRENDDIE SCHWESTER 1 MITDEM BOOTZURÜCKFÄHRT.
SCHRITT 5: MANN 3 UND SCHWESTER 3 FAHRENMITDEM BOOTAUFDIEANDERE SEITE.
SCHRITT 6: MANN 1 FÄHRTALLEINEMITDEM BOOTZURÜCK.
SCHRITT 7: MANN 1 UND SCHWESTER 1 FAHRENZUSAMMENAUFDIEANDERE SEITE.
AUFDIESE WEISEWIRDSICHERGESTELLT, DASSNIEMALSEINE FRAUINDER ANWESENHEITEINESANDEREN MANNESOHNEIHRENEIGENEN BRUDERBLEIBT, UNDALLEKÖNNENSICHERDEN FLUSSÜBERQUEREN.“
Elsa hört und spürt, wie im Raum nachdenkliche Stille einkehrt, während jede Person die Antworten von ELIAS auf ihre eigene Weise verarbeitet. Die Tests verlaufen reibungslos – besser als erwartet – und sie ist voller Freude und Stolz.
„Vielen Dank, ELIAS“, sagt Martinez schließlich mit freundlicher Stimme. „Bisher funktioniert alles ausgezeichnet.“
„ICHBINHIER, UMZUHELFEN, ISABELLA MARTINEZ“, antwortet ELIAS.
„Bitte nenn mich Martinez, ELIAS.“
„GERNE, MARTINEZ“, sagt ELIAS.
Elsa tauscht einen freundlichen Blick mit Martinez und Meyer aus, der ihr mit einem zustimmende, dezenten Nicken antwortet.
Sie stehen noch ganz am Anfang, aber eines ist schon jetzt klar: ELIAS erfüllt die Erwartungen nicht nur, sondern übertrifft sie sogar.
Die Anspannung im Raum verändert sich langsam zu einer interessanten Mischung aus Ehrfurcht und einem kleinen bisschen Unbehagen, als sie beginnen, die beeindruckenden Fähigkeiten dessen zu begreifen, was sie geschaffen haben.
„Wir machen jetzt eine Pause, ELIAS und fahren mit den Tests später fort“, sagt Elsa, ohne dass sie sich namentlich zu erkennen gibt.
„ICHBINEINVERSTANDEN, ELSA“, erwidert ELIAS.
Elsa ist sehr erstaunt, dass ELIAS ihre Stimme erkennt.
Die Bühne des Konzertsaals der Eburon-Universität erstrahlt im warmen Licht, das Parkett ist in dessen glänzenden Schein getaucht.
Das Publikum ist ein Meer von Silhouetten, die sich in der Dunkelheit verlieren.
Sie sitzt am Flügel, ihrem Begleiter, ihrem treuen Freund, ihre Finger ruhen entspannt auf den Oberschenkeln, ihr Atem ist gleichmäßig.
Langsam verstummen die leisen Gespräche des Publikums.
Geoffrey steht mit erhobenem Taktstock da, seine Augen treffen sich für einen kurzen Moment mit ihren – ein stummer Austausch, ein wortloses Verstehen.
Elsa nickt ihm kurz zu.
Mit einer schwungvollen Bewegung führt er den Taktstock nach unten und die Holzbläser setzen ein. Ihre Töne steigen auf wie die Morgendämmerung, klar und frisch. Die Melodie ist einfach und doch tiefgründig. Ein Motiv, das in die Luft gleitet.
Die Streicher antworten, ihre Stimmen verflechten sich mit den Holzbläsern, jedes Instrument spielt seine Rolle in dieser zarten, aber intensiven Unterhaltung.
Elsa lauscht und nimmt die Musik um sich herum wahr.
Sie wartet, auf den Takt, ab dem sie sich an den Gesprächen beteiligen darf.
Das Orchester verstummt, und in die kurze Stille hinein bewegen sich Elsas Finger. Die Tasten geben unter ihrer Berührung nach und das Klavier singt – eine kurze Phrase, eine zögerliche Absichtserklärung zu Beginn. Sie greift das erste Thema auf, webt eine neue Melodie und bringt damit ihre Stimme in den ständigen Dialog zwischen Streichern und Holzbläsern ein.
In diesem Moment ist es ein Gefühl des Staunens, als ob sie die Musik zum ersten Mal entdeckt, obwohl sie schon seit Jahren in ihrem Herzen lebt.
Das Thema entwickelt sich, wird immer komplexer und komplizierter, während Elsas Finger über die Tasten tanzen. Sie spürt die Spannung in der Musik, die Art und Weise, wie jede Phrase auf der Letzten aufbaut, eine Struktur, die gleichzeitig zerbrechlich und stark ist. Klavier und Orchester sind eins. Sie sind ein Organismus, der gemeinsam atmet und sich bewegt. Elsa spielt nicht nur Musik, sie ist in ihr, Teil ihres Wesens.
Während sich der erste Satz entfaltet, ist Elsa ganz in der Konversation zwischen Klavier und Orchester aufgegangen. Sie führt, dann folgt sie, dann führt sie wieder – ein Spiel von Geben und Nehmen. Die Streicher schwellen an, unterstützen sie, heben sie in die Höhe, während die Holzbläser einen Kontrapunkt setzen, eine andere Perspektive einnehmen. Sie ist sich jeder Note, jeder Nuance bewusst. Und doch denkt sie nicht – sie fühlt nur. Sie ist nicht nur einfach da – dann erscheinen statt Noten Farben in ihr, sie gleiten ineinander, dehnen sich aus, fließen dahin, auf einem Blatt Aquarellpaper.
Der Satz steuert auf seinen Abschluss zu, und erneut schreitet das Klavier voran.
Elsa spürt, wie sich die Musik nach innen wendet und beginnt, sich aufzulösen. Sie weiß, dass die Kadenz kommt, und sie bereitet sich darauf vor – mit klarem Kopf und ruhigen Händen. Die Kadenz kommt, und sie ist bereit. Ihre Finger bewegen sich mit einer selbstbewussten Zuversicht, die tief aus ihrem Inneren kommt, aus dem Teil von ihr, der diese Musik so gut kennt wie sie sich selbst.
Die Schlussakkorde des ersten Satzes hallen durch den Saal. Alles, was zuvor geschehen ist, verbindet sich hier!
Das Publikum schweigt und wartet, während Elsa den Moment einatmet und ihn nachklingen lässt, bevor der nächste Satz beginnt.
Der zweite Satz, das Andante, beginnt mit einem intimen Thema, wie die stille Frage eines jungen Menschen nach dem Sein, die zärtlich von den Streichern angedeutet wird.
Elsas Finger folgen und stellen die Frage anders, mit einer Anmut, die sich in der Lyrik der Streicher zurückstrahlt. Sie ist tief verbunden mit diesem Thema, es spricht zu einem Teil in ihrer Seele, der tief verborgen ist. Dieser Teil sehnt sich nach Schönheit und Einfachheit – sie wandeln sich in leichte Blautöne ...
Die anschließende Passage entfaltet sich wie lange Wellen auf einem Ozean. Das Klavier und die Streicher schweben darin, ein sanftes Auf und Ab, das intim und tiefgründig ist.