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Elias Schrenk E-Book

Elias Schrenk

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Beschreibung

„Wie kommst du dazu, deine Selbstbiographie zu deinen Lebzeiten zu veröffentlichen?“ So werden viele Freunde mich fragen. Bis vor wenigen Jahren dachte ich nicht im Entferntesten daran, mein Leben zu beschreiben. Ich hatte nicht einmal ein Tagebuch geführt, und meine Familie hatte über die letzten fünfzig Jahre meines Lebens nichts in Händen. Meine Frau und Kinder baten mich wiederholt, Erinnerungen aus meinem Leben für sie aufzuzeichnen. Ich versprach es ihnen, weil ich glaubte, es ihnen schuldig zu sein. Über Evangelisation hatte ich noch nie etwas in den Druck gegeben; man wird es verstehen, wenn ich es endlich tue. Wer meine Stellung kennt, weiß, wie wenig Zeit ich habe für eine solche Arbeit. Meine Freunde werden es daher begreifen, wenn ich die Mitteilungen in unvollkommenem, teilweise familiärem Gewand gebe. Wenn dieser und jener Leser Gott lobt für Seine Liebe, Gnade und Treue, mit der Er mich geführt hat, so ist der Hauptzweck dieser Seiten erreicht. Elias Schrenk

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Elias Schrenk

Ein Leben im Kampf um Gott

Samuel Schrenk (Hrsg.)

Impressum

© 1. Auflage 2019 ceBooks.de im Folgen Verlag, Langerwehe

Autor: Samuel Schrenk (Hrsg.)

Cover: Caspar Kaufmann

ISBN: 978-3-95893-204-3

Verlags-Seite: www.folgenverlag.de

Kontakt: [email protected]

Shop: www.ceBooks.de

 

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Inhalt

Titelblatt

Impressum

Vorwort

Vorwort von Samuel Schrenk

1. Die Dorfheimat

2. Hinter dem Ladentisch

3. Mancherlei Versuchung und Bewahrung

4. Die Lebensentscheidung reist

5. In der Schule des Basler Missionshauses

6. Schwere Anfänge in Westafrika

7. Kreuz und quer durch England

8. Die Mitkämpferin

9. Wieder im heiligen Krieg in Afrika

10. Der Mensch denkt, Gott lenkt

11. Werbedienst für die Asantemission in England

12. Heimatkirche und Mission

13. Wenn Gottes Winde wehen

14. Pionierdienst für Evangelisation in Deutschland

Nachtrag 15. Aus der Werkstatt des Evangelisten

16. Schrenks Stellung in der Gemeinschaftsbewegung

17. Schrenk als Hausvater

18. Der Lebensabend

Unsere Empfehlungen

Vorwort

„Wie kommst du dazu, deine Selbstbiographie zu deinen Lebzeiten zu veröffentlichen?“ So werden viele Freunde mich fragen. Bis vor wenigen Jahren dachte ich nicht im Entferntesten daran, mein Leben zu beschreiben. Ich hatte nicht einmal ein Tagebuch geführt, und meine Familie hatte über die letzten fünfzig Jahre meines Lebens nichts in Händen. Meine Frau und Kinder baten mich wiederholt, Erinnerungen aus meinem Leben für sie aufzuzeichnen. Ich versprach es ihnen, weil ich glaubte, es ihnen schuldig zu sein. Nachher wurde ich von drei Seiten ersucht, Erinnerungen aus meinem Leben zu veröffentlichen. So kam ich zum Schreiben dieser Seiten. Über Evangelisation hatte ich noch nie etwas in den Druck gegeben; man wird es verstehen, wenn ich es endlich tue. Wer meine Stellung kennt, weiß, wie wenig Zeit ich habe für eine solche Arbeit. Meine Freunde werden es daher begreifen, wenn ich die Mitteilungen in unvollkommenem, teilweise familiärem Gewand gebe. Wenn dieser und jener Leser Gott lobt für Seine Liebe, Gnade und Treue, mit der Er mich geführt hat, so ist der Hauptzweck dieser Seiten erreicht.

Elias Schrenk

Vorwort von Samuel Schrenk

 

Unser heimgegangener Vater hatte schon im Jahre 1906 das Manuskript zur dritten Auflage seines Lebensbildes fertiggestellt. Diese bringt neben einer Reihe stilistischer Änderungen und kleinerer Ergänzungen eine Neubearbeitung und Erweiterung des 14. Kapitels: „Evangelist in Deutschland vom Oktober 1886 an.“ Da es sich in diesem Kapitel des Buches, das der eigentlichen Lebensaufgabe unseres Vaters gewidmet ist, um grundsätzliche Ausführungen über Evangelisation handelt, so möchten wir diesen Beitrag der Öffentlichkeit nicht länger Vorenthalten, wäre es nicht zweckmäßig gewesen, das Lebensbild noch weiter zu ergänzen, da z. B. über Schrenks Schriftstellerei, über seine Mitarbeit in der deutschen Gemeinschaftsbewegung, seine Stellung zu den Gnadauer und Blankenburger Konferenzen, seine Arbeit in Russland, vor allem auch über seinen Kampf gegen die sogenannte Pfingstbewegung so gut wie nichts aus diesem Buch zu entnehmen ist? – so möchte wohl jeder fragen.

Aber nach ernstlicher Erwägung und Prüfung schien es uns besser, die Eigenart des Buches, das aus seiner eigenen Hand hervorgegangen ist, so zu lassen, wie es ist. Es würde eine ganz anders eingestellte und sehr ausführliche neue Darstellung erfordern, wenn wir Ergänzungen und Beiträge zu einem umfassenden Lebens, und Charakterbild geben wollten. Dadurch aber würde auch die Einheitlichkeit des einfachen, schlichten Buches beeinträchtigt. Darum haben wir nur über die letzte Lebenszeit die kurzen Mitteilungen beigefügt, die bisher unter dem Titel: „Blätter der Erinnerung“ im Buchhandel zu haben waren, wir weisen aber noch auf einige Aufsätze hin, die weiteres Material zum Verständnis Schrenks bieten.

Samuel Schrenk

1. Die Dorfheimat

Im schönen Württemberg, im Oberamt Tuttlingen, finden wir am Fuße des Hohenkarpfen das lieblich gelegene Pfarrdorf Hausen ob Verena, wo meine Eltern, Jakob Schrenk, Schneider, und Regina geb. Glunz, wohnten. Dort bin ich als das zweitjüngste von fünf Kindern am 19. September 1831 geboren. Die zwei ältesten Geschwister starben in früher Jugend. Mein Vater war ein begabter, unternehmender und gottesfürchtiger Mann, der viel von der Welt gesehen, dreizehn Jahre in der Armee gedient und unter Napoleons Fahnen gekämpft hatte. Neben der Schneiderei betrieb er noch ein gemischtes Warengeschäft mit Landwirtschaft, so dass in meinem Elternhaus ein großer Umtrieb war. Ich hing mit inniger Liebe an meinem Vater und er an mir. Es war mir eine große Freude, wenn ich als kleiner Knabe ihn nach dem eine Stunde entfernten Aldingen begleiten durfte, wo er oft Waren einkaufte.

Schon als ich sechs Jahre alt war, erkrankte er und lag über fünf Jahre lang fast immer im Bett, was für die Erziehung von uns Kindern nach einer Seite nachteilig wirkte, nach der anderen Seite auch segensreiche Folgen hatte, da unsere Jugend unter dem Zeichen des Kreuzes stand. Schon mein Großvater war ein frommer Mann mit viel Bibelkenntnis gewesen. Sein Segen ruhte sichtlich auf meinem Vater und seiner Schwester. In meinem Elternhaus war tägliche Hausandacht, in der mein Vater Schmolkes Gebetbuch las, das mir zum Segen wurde. Ich fand es daher immer verkehrt, wenn man da und dort gegen Andachtsbücher eiferte. Hätten wir doch in jedem Haus unseres Volkes Andachtsbücher! Gewiss stände es dann in religiöser Beziehung viel besser bei uns. Ich sage das selbstverständlich nicht, um das Herzensgebet in den Schatten zu stellen. Zur Hausandacht gesellte sich dann noch stramme väterliche Zucht, die jede Unart strafte und auf Ordnung hielt, wenn abends die Betglocke geläutet wurde, so musste ich rasch nach Hause springen, um vor meinem Vater zu beten:

Ach bleib bei uns, Herr Jesu Christ, weil es nun Abend worden ist;

Dein göttlich Wort, das helle Licht,Lass ja bei uns auslöschen nicht.In dieser letzten betrübten ZeitVerleih uns, Herr, Beständigkeit,Dass wir dein Wort und SakramentRein behalten bis an unser End'.Und neiget unser Leben sich.Lass uns einschlafen seliglich. Amen.

Meine Mutter hatte weniger religiösen Einfluss auf uns Kinder, der Herr musste sie erst später durch viel Trübsal zu sich ziehen. Dagegen habe ich meiner Großmutter viel zu verdanken. Als kleines Knäblein durfte ich in ihrem Zimmer schlafen, und sie ist die erste gewesen, die mir in früher Kindheit etwas von der Kraft des Blutes Jesu Christi in mein Herz hinein gebetet hat. Ich werde es nie vergessen, wie sie jeden Abend mit Inbrunst flehte:

Christi Blut und Gerechtigkeit,Das ist mein Schmuck und Ehrenkleid;Damit will ich vor Gott bestehn,Wenn ich zum Himmel werd' eingehn.

Drum soll auch dieses Blut alleinMein Trost und meine Hoffnung sein.Ich bau' im Leben und im TodAllein auf Jesu Wunden rot.

Ich steh' in Gottes Macht,Ich steh' in Gottes Kraft,Ich steh' in Christi Blut,Das ist für alle bösen Geister gut.

Wenn Augen und Herze im Tode sich beugen,So will ich doch endlich mit Seufzen bezeugen,Dass Jesus, nur Jesus, mein Jesus soll heißen,Von welchem mich ewig kein Teufel soll reißen.

Wüssten doch alle Mütter und Großmütter, von welcher Bedeutung es für ihre Kleinen ist für Zeit und Ewigkeit, wenn sie ihnen in zarter Kindheit herzlich vorbeten und sie, sobald sie stammeln können, beten lehren! Gewiss hätten wir dann viel mehr betende Menschen und viel mehr Freude an unseren Kindern. Der Geist der Dorfjugend in Hausen war nicht gut; es gab Konfirmandenklassen, an die ich nur mit Entsetzen denken kann. Auch ich nahm früh Schaden in dieser Stickluft durch Vergiftung der Phantasie, was mir später viel Not machte. Der Herr hielt mich aber in seiner Hand, so dass ich vor viel jugendlichem Leichtsinn bewahrt blieb. Doch fehlte es nicht an Knabenstreichen.

Es gab viel Obst im Dorf, und als kleiner Kommunist eignete ich mir leider oft fremde Apfel, Zwetschgen und Birnen an. Der Herr züchtigte mich später dafür, und ich bekannte meinen Frevel und erstattete alles zurück. Meines Vaters Krankheit hatte zur Folge, dass ich mit meiner zwei Jahre älteren Schwester schon früh manche Arbeit in Haus, Feld und Wald verrichten musste, wir hatten in meiner Jugendzeit prachtvolle Kommunal, und Privatwaldungen, Tannen und Buchen von einem Umfang, wie man sie jetzt nicht mehr kennt. Das Leben im Wald war meine Lust und Freude, und man sagte mir nach, ich könnte klettern wie ein Eichhörnchen. Das war aber wohl übertrieben; denn einmal fiel ich hoch von einer Tanne herunter, weil ein Ast unter meinen Füßen brach. Ich fiel auf den Kopf und die rechte Hand und habe es der göttlichen Bewahrung zu danken, dass ich ohne bleibenden Schaden, wenn auch blutüberströmt nach Hause kam. Eine Spur dieses Falles trage ich an meiner Stirn. Dieser Unfall hinderte mich aber nicht, am selben Abend auf dem Dach eines Hauses zu sitzen und Ziegel beim Dachdecken zu bieten. Charakteristisch war es für meine damaligen Begriffe, dass ich auf die Frage, was ich werden wolle, gewöhnlich antwortete: Förster oder Pfarrer.

Mein Vater hatte mir versprochen, mich Theologie studieren zu lassen, wenn er wieder gesund werde, wir hatten ja im benachbarten Spaichingen eine Lateinschule, die ich hätte besuchen können, wie die Söhne unseres Pfarrers es taten. Allein des Vaters Krankheit hielt an, und durch die großen Kosten, die sie verursachte, litt auch unser Vermögensstand. Als er dann in meinem elften Jahr starb, war keine Rede mehr vom Studieren, ich blieb in der Dorfschule bis zur Konfirmation. Mein Lehrer Beutel war ein ernster, pflichttreuer Mann und machte es sich zur Aufgabe, seine Schüler in Gottes Wort einzuführen, so dass ich ziemlich viel Bibelkenntnis bekam. Durch ihn wurden auch die ersten Missionsgedanken in mir geweckt, die nie wieder verschwanden, sondern von meinem zehnten Jahr immer von neuem in mir aufwachten.

Er machte uns auch früh auf das Herzensgebet aufmerksam, wofür ich ihm heute noch danke. Mit der Rechenkunst stand ich einige Jahre auf Kriegsfuß. Meine Schwester war aber eine sehr gute Rechnerin und half mir nach. Ich ahnte damals nicht, dass ich in meinem späteren Leben so viel werde zu rechnen haben und die schwierigsten Kopfrechnungen mit Lust lösen werde. Das mag manchen ermutigen, der vor dem Einmaleins gar zu viel Respekt hat. Im Übrigen war ich fast immer der Erste in meiner Klasse. Auf den Konfirmandenunterricht schaue ich mit Wehmut zurück. Unser Pfarrer Lang war in damaliger Zeit krank und starb. Auf ihn folgte ein sittenloser Pfarrverweser, der sich so weit vergaß, dass ihn unsere Jünglinge bei Nacht durchprügelten. Das Konsistorium entließ ihn nachher.

Vom Konfirmandenunterricht weiß ich kein Wort, außer dem Versprechen des Pfarrverwesers, er wolle uns das Lied lehren: „Jetzt gang i ans Brünnele, trink aber net.“ Aber – unser Gott ist ein wunderbarer Gott: Dieser unwürdige Mann gab mir folgenden herrlichen Denkspruch:

Unvergesslich bleibe dir die Stunde,Da du sprachst: treu will ich ewig sein!Weiche nie von diesem heil'gen Bunde,Folge deinem Heiland, Ihm allein.Sieh, wie Er dich sucht, dich liebt und leitet.Dich bewahren will, sein Eigentum,Wie Er dir ein ew'ges Glück bereitet.Nun so lebe denn auch Ihm zum Ruhm.

Diese Worte nahm ich am Konfirmationstag unmittelbar vom Herrn; sie wurden mir in den gefährlichsten Jahren Stecken und Stab und dienten mir sehr oft zur Ermunterung und Bewahrung. Dem Herrn sei Lob und Dank dafür!

Schaue ich auf meine ganze Schulzeit zurück, so darf ich einen Einfluss auf mein Herz nicht unerwähnt lassen. Meine Gemeinde gehört zum Dekanat Tuttlingen, wo damals der gottselige Dekan Heim stand, der eine vortreffliche Erklärung des ersten Buches Mose geschrieben hat. Dieser geheiligte Mann visitierte unsere Schule, war mir bei meinem Vater vor allem Gottesfurcht und unbestechliche Gerechtigkeit entgegengetreten, so sah ich in Dekan Heim die erste geheiligte Persönlichkeit, in der Christus eine Gestalt gewonnen hatte. Er machte dem Knaben einen tiefen Eindruck. Außer einem frommen Schuhmacher gab es damals in Hausen keine Gemeinschaftsleute. Um so eindrucksvoller war mir die Persönlichkeit des Herrn Dekan. Der genannte fromme Schuhmacher ging nie zur Kirche, weshalb man ihn Separatist nannte. Er wurde sehr alt. Mit neunzig Jahren bestieg er noch den östlich vom Dorf gelegenen bewaldeten Berg, verirrte sich gegen Abend und fiel einen Abhang hinunter. Unten angekommen, betete er und sang noch ein Lied. Dann legte er sich in einem Kartoffelacker schlafen. Am darauffolgenden Morgen erschien er unversehrt mit seinem Stock im Dorf. Schade, dass dieser Mann allein stand und auswärts Gemeinschaft suchen musste! Zwanzig Jahre später hätte er Gemeinschaft gehabt. In der Umgegend von Hausen waren lebendige Gemeinschaften, in welchen auch der Missionssinn gepflegt wurde, so dass eine ganze Reihe von gläubigen Jünglingen in den Dienst der Basler Mission traten. Auch unter den Geistlichen waren mehrere lebendige Zeugen. Aber ich wusste von alledem nichts, weil in meiner Gemeinde der geistliche Tod herrschte.

Nach meiner Konfirmation handelte es sich bei mir um die Wahl eines Berufes. Das war aber nicht leicht. Durch die lange Pflege meines kranken Vaters, verbunden mit viel anderer Arbeit, brach die sonst kräftige Konstitution meiner Mutter völlig zusammen, so dass alle Arbeit im Haus und auf dem Feld auf mir und meiner Schwester lag; mein Bruder war noch schulpflichtig. Ich war also fast unentbehrlich. Zwar hatten wir nicht mehr so viel Land wie früher; mein Vater verkaufte so viel, dass unser Besitz nach seinem Tod völlig schuldenfrei war. Dabei ging es uns aber wie vielen anderen Landleuten: wir hatten reichlich Nahrung, aber oft wenig bares Geld. In dieser Tatsache lag für mich eine Aufforderung, etwas zu verdienen. Ich arbeitete daher vom vierzehnten bis zum fünfzehnten Jahr viel im Wald, machte Holz, band Besen und war hocherfreut, 48 Mark heimzubringen. Das war damals eine große Summe, denn das Geld hatte mehr wert als jetzt, und die Verhältnisse waren noch einfacher.

2. Hinter dem Ladentisch

Meines Vaters letzter Wunsch war, ich möchte sein kleines Warengeschäft weiterführen, und so entschloss sich meine Mutter, mich in eine kaufmännische Lehre zu tun. Am 16. Februar 1847 verließ ich meine todkranke Mutter und meine Geschwister und trat bei Kaufmann Johann Conrad Martin in Tuttlingen in eine vierjährige Lehre ein. Bei uns Menschenkindern bleibt in allen Lebensverhältnissen etwas zu wünschen übrig; so war es auch mit meiner Lehre; aber im Ganzen war doch die Wahl dieses Lehrherrn eine freundliche Fügung Gottes, für die ich heute noch dankbar bin. In religiöser Beziehung vermisste ich schon insofern vieles, als sich niemand meiner persönlich annahm. Mein Prinzipal hatte nicht viele religiöse Bedürfnisse; er lebte ganz seinem Geschäft und brachte im Sommer die Sonntagvormittage oft im Garten zu.

Mit mir redete er während meiner Lehrzeit nie über Religion. Seine Frau stand besser; aber sie behielt ihr Christentum mehr für sich, wir saßen manchen Winterabend arbeitend an einem Tisch; aber nie redete sie mit mir über mein Seelenheil, und doch wäre ich empfänglich gewesen für Zuspruch. Mit Wehmut und Überraschung hörte ich nach ihrem Tod, sie habe mit anderen auf den Knien gebetet. Hätte sie doch auch mit mir gebetet! Ich glaube, ich würde mich schon damals bekehrt haben, wenn mir jemand den Weg gezeigt hätte, wollen wir unser Licht leuchten lassen vor den Leuten, so müssen wir uns der Verantwortung klar bewusst sein, unseren Hausgenossen Gelegenheit zu geben, den Heiland zu finden, wenn sie ihn suchen wollen, wieviel wird von manchen Herrschaften in diesem Stück an jungen Leuten versäumt und gesündigt!

Zur predigt und zum heiligen Abendmahl ging ich aus eigenem Antrieb regelmäßig und hörte noch einige Zeit den seligen Dekan Heim; allein ich kam innerlich zu keiner Entscheidung, weil mir jede persönliche Berührung mit lebendigen Christen fehlte. Die geistliche Luft war damals in Tuttlingen überhaupt nicht günstig für junge Leute. Die Bevölkerung war sehr materiell gerichtet; Sonntagsarbeit war leider an der Tagesordnung, der Kirchenbesuch daher mäßig. Mit der dortigen Gemeinschaft hatte ich keine Berührung, sie war mir während meiner Lehrzeit völlig unbekannt. Ich war geschäftlich sehr angespannt und hatte keine Zeit zum Verkehr mit anderen, was insofern sein Gutes hatte, als ich bewahrt blieb vor sehr vielen Versuchungen. Tuttlingen war nicht nur reich an Messer-, Schuh, und Strumpfwarenfabrikation, sondern besonders auch an Brauereien und darum auch reich an Wirtshäusern.

Blicke ich zurück auf meine vierjährige Lehrzeit, die für Jünglinge so gefährlichen Jahre, so habe ich Gott für drei Stücke besonders zu danken: l. Ich wurde von meinem Prinzipal sehr streng gehalten. Meine zwei letzten Vorgänger waren Diebe; den einen brachte seine Genusssucht dazu, den anderen seine Eitelkeit. Deshalb durfte ich nur alle Monate einen Spaziergang von zwei bis drei Stunden machen. Das war gesetzliche Zucht auf Christus hin. 2. Gott hat mich in äußerer Kirchlichkeit und in einer gewissen Gottesfurcht bewahrt, so dass mir ein äußerlich rechtschaffenes Leben zur anderen Natur wurde und ich nie in grobe Sünden fiel. 3. Ich blieb in zarter Anhänglichkeit an meine kranke Mutter, schränkte mich aus freiem Antrieb in allen Ausgaben ein, ging nie über meinen Stand hinaus und machte meiner Mutter keine Sorgen. Dabei war ich aber leider sehr selbstgerecht und meinte, ich sei ein Christ, während mein Herz voll Sünde war. Ich war einer der vielen jämmerlichen Kirchenchristen, der vielen soliden Menschen, ohne den Heiligen Geist, ohne Wiedergeburt, ohne eigenen Heiland. Ich stand im Vorhof und kannte das Heiligtum nicht. Einmal bekam ich in jenen Jahren einen tieferen Eindruck. Prälat (Generalsuperintendent) Rapff kam nach Tuttlingen zur Visitation und predigte über die Zeitsünden. Sein Wort packte mich; aber zu innerer Klarheit und Entscheidung kam ich nicht. Eigentliche Liebe zu Gottes Wort und Trieb zum Gebet hatte ich wenig; doch hörte das Gebet nie ganz auf, ich war nie ohne Arbeit des Geistes Gottes an meinem Herzen. Auch die Missionsgedanken kamen mächtiger als früher; ich wies sie aber ab, weil ich entschlossen war, erst meiner Mutter durch materielle Hilfe beizustehen. Im Ganzen kann ich, was meine innere Stellung betrifft, nur mit Schmerz auf meine Lehrjahre zurückblicken. Doch muss ich auch loben und danken, dass der Herr mich nicht weiter von sich abkommen ließ.

Günstiger sah es aus in meiner geschäftlichen Stellung. Herr Martin, mein Prinzipal, war ein tüchtiger, sehr solider Kaufmann, kein Spekulant, er ging immer Numero sicher. Seine Buchführung war musterhaft, das Geschäft gut. Da es ein gemischtes Warengeschäft war, so konnte ich mir sehr viele Warenkenntnisse aneignen, was mir für mein ganzes Leben zugutekam. Wir hatten Manufaktur-, Farb, und Kolonialwaren; daneben führten wir alle Messerschmiedeartikel, Ebenholz, Perlmutter, Elfenbein, Neusilber, Messing, Nickel, Stahl, Messer, Gabeln usw. Meine erste Arbeit war das Kopieren eines Wechsels; wir hatten nämlich auch ein kleines Wechselgeschäft, was für meine künftige Laufbahn sehr wichtig war. In den ersten Tagen schwindelte es mir beim Anblick der vielen Artikel, und ich fragte mich: wie sollst du alle die Preise in deinen Kopf bekommen? Nach einem halben Jahr war aber die größte Schwierigkeit überwunden, und ich lebte mich immer mehr in das ganze Geschäft ein. Das zweite Jahr meiner Lehrzeit fiel in das Jahr 1848. Auch in Tuttlingen war damals viel Unruhe; lebten wir doch an der badischen Grenze, was zur Folge hatte, dass wir für kurze Zeit auch Militär bekamen. Ich wunderte mich damals, wie respektlos einzelne Soldaten sich gegen ihre Offiziere benahmen. Das Neueste erfuhr ich jeden Morgen durch unseren freisinnigen langen Briefträger, der es mir immer in Kraftausdrücken mitteilte. Ein Tag jenes Jahres bleibt mir stets in Erinnerung, es ist der Tag des „Franzosenlärms“. Eines Nachmittags kam die Botschaft: „Die Franzosen kommen!“ Abends spät hieß es: „Sie sind schon in Thalheim!“ – der Heimat von Schneckenburger, des Dichters der „Wacht am Rhein“, zwei Stunden von Tuttlingen entfernt. Vom Balkon des Rathauses wurde verkündet: „Ströme von Blut sind geflossen!“ Ich musste gewaltig arbeiten an jenem Tag; mein Prinzipal hatte Vorsorge getroffen, im Falle einer Revolution sein Manufakturwarenlager in Sicherheit bringen zu können. Das geschah. Als diese Arbeit vollendet war, machten wir uns mit den Kindern zur Flucht bereit; jeder hatte sein Bündel. Der Prinzipal konnte nichts essen, wir anderen aber aßen uns noch tüchtig satt. Die Kinder hatten viel Backwerk und verzehrten es mit Lust. Ich sehe heute noch den sorgenvollen Vater und die vergnügten, naschenden Kindergesichter. Als die Franzosen nicht erschienen, übermannte uns gegen Morgen der Schlaf, dem wir uns überließen, um bald friedlich aufzuwachen. Es war weit und breit kein Franzose zu sehen. Nachher hieß es, die Regierung habe den Lärm Veranstaltet, um zu sehen, ob das Volk treu oder franzosenfreundlich sei.

Herr Martin hatte die Eigentümlichkeit, seinen Lehrlingen in der Kontorarbeit wenig Anleitung zu geben, man musste alles selbst lernen. So nahm ich denn vor dem Frühstück alle Geschäftsbücher vor und lernte die doppelte Buchführung. Mein Kollege verklagte mich, ich stöbere alle Bücher durch; die Antwort war: „Lieber Freund, mach's auch so!“ In jener guten alten Zeit hatte man noch keine Kopiermaschinen, die Lehrlinge mussten jeden Brief abschreiben. Ich hatte damals keine Ahnung, dass dieses viele mühsame Briefabschreiben eine herrliche Vorbereitung sei für die viele Korrespondenz, die ich als Missionar und Evangelist bekam. Unser Leben besteht nicht nur in losen Abschnitten; jeder Lebensabschnitt ist eine unmittelbare Vorbereitung auf fernere Lebensaufgaben, wenn wir uns von Gott führen lassen. Wie außerordentlich viel habe ich z. B. beim Verkauf im Laden gelernt für künftige Seelsorge! Wir hatten oft eine Menge Menschen im Laden, besonders an den Sonntagen. Da kamen natürlich allerlei Leute, auch Diebe. Unwillkürlich lernt man da jedes Gesicht fixieren und bekommt im Laufe der Jahre viel Menschenkenntnis. Einige Zeit kam immer eine Dame am Sonntagmorgen in den Laden, solange ich allein war, und ließ sich teure Artikel vorlegen, wie z. B. Wiener Schals, wenn ich die Leiter hinaufstieg, musste ich sie unausgesetzt im Auge behalten, wenn ich nicht bestohlen werden wollte. Ich weiß nicht, wie ich fertig geworden wäre in meinen Sprechstunden als Evangelist, wo ich oft von zwanzig, dreißig Menschen belagert war, wenn ich nicht als Kaufmann beim Ladenverkauf gelernt hätte, die Gesichter zu studieren.

Endlich kam der Schluss meiner Lehrzeit, und ich freute mich von Herzen, sie hinter mir zu haben. Heute würde niemand mehr auf eine vierjährige Lehrzeit eingehen und dazu noch 300 Mark Lehrgeld zahlen; denn nach einem halben Jahr verdient ein Lehrling sein Brot. Aber die damalige Art hatte gewiss ihr Gutes; die Schultern wurden breiter zum Tragen als heutzutage, das Wort des Jeremias wurde in die Praxis umgesetzt: „Es ist ein köstlich Ding einem Manne, dass er das Joch in der Jugend trage.“ (Klagel. 3, 27.) Mein Prinzipal nahm es genau mit dem Lehrling: Kein Nagel, den man aus einer Kiste zog, durfte verschleudert, kein Kistendeckel zerbrochen werden. Jeden Morgen mussten die Ladentische blank sein. Auch im Magazin war stramme Ordnung, was nicht immer leicht war, weil wir so vielerlei Artikel führten. Dazu war die Arbeit sehr anstrengend Die Kaffeeballen, die Stahlbündel, das Eisenblech, die Ebenholzblöcke, die Salzsäcke waren oft recht schwer für so ein kleines Männchen, wie ich es war. Der Höhepunkt der Magazinarbeit war das Kaffeefärben, das mir übergeben war. Ganze Tage färbte ich Kaffee. Die Frauen wogten ja gern grünen Kaffee haben, und den stellt man her mit grüner Erde. Zum Glück ist sie nicht schädlich; aber ich rate doch den lieben Leserinnen dieser Zeilen, Kaffee mit Naturfarbe zu kaufen; sie brauchen ihn dann nicht zu waschen und ersparen dem Magazinier die Mühe. Auch die Kontrolle des Schnupftabakschneidens war mir übertragen, da Herr Martin keinen Geruchssinn hatte. Am meisten Freude hatte ich an den Manufakturwaren; wenn im Frühjahr die großen schönen Sendungen von Dämmstoffen kamen, so lebte ich auf. Früher brachte ich meine Zeit ja ganz in Feld und Wald zu, der Wald war meine Lust; und jetzt war der Laden, das Magazin, der Salzschuppen und das Kontor die kleine Welt, in die ich jahrelang eingeengt war, die ich nur alle vier Wochen auf zwei bis drei Stunden verlassen durfte, um etwas frische Luft zu genießen. Da kam mir ein schönes Stück Kattun mit geschmackvollem Dessin wie Poesie, wie ein Gruß aus der Natur vor.

Wenn ich aber gemeint hatte, nun bald in die weite Welt hinaus auf eine neue Stelle zu kommen, so täuschte ich mich. Mein Prinzipal bat mich, länger bei ihm zu bleiben mit einem Jahresgehalt von 140 Mark; heute lacht man darüber. Ich ging auf seinen Wunsch ein und blieb noch ein Jahr als Kommis; lernen konnte ich natürlich nichts mehr. Als er aber nach diesem Jahr keine Miene machte, mir eine Stelle zu verschaffen, weil er mich behalten wollte, so legte ich meine Schüchternheit ab und fing an, eine Stelle zu suchen, denn ich war jetzt fünfeinhalb Jahre auf meinem ersten Posten gewesen, und das war lang genug.

3. Mancherlei Versuchung und Bewahrung

Wenn man fünfeinhalb Jahre in einem Geschäft ist, so lernt man eine große Anzahl Reisende kennen und steht dem einen und anderen auch näher; das kam mir zugute, als Herr Martin sich gar nicht für mich bemühte. Durch einen Handelsreisenden aus Freiburg i. B. fand ich eine Stelle in dem Eisen, und Kolonialwarengeschäft von Franz Lachers Ww. in Donaueschingen (Baden), wo ich am 24. Juni 1852 eintrat. Hier hatte ich das ganze Geschäft in meiner Hand. Zu Lebzeiten von Herrn Lacher hatte das Eisenwarengeschäft geblüht, aber nach seinem Tod ging es zurück, besonders unter meinem Vorgänger, der eine gräuliche Unordnung in der Buchführung zurückgelassen hatte, so dass ich gleich im Anfang den ganzen Schwarzwald bereisen und unsere alten Kunden besuchen musste, um klar zu werden über die Ausstände.

Meine Stellung in Donaueschingen war so verschieden von der in Tuttlingen wie Tag und Nacht, wäre ich in Tuttlingen nicht fünfeinhalb Jahre in den engen, unnatürlichen Schranken gestanden – denn es ist unnatürlich für die Entwicklung eines jungen Menschen, monatlich nur einen Spaziergang machen zu dürfen –, so wäre ich vielleicht in Donaueschingen für immer zugrunde gegangen, denn das dortige Jahr war das versuchungsreichste meines Lebens. Die Dame, deren Geschäft ich führte, war streng katholisch. Sie war eine Schwester von Herrn Ganter, dem Besitzer des Gasthofs „Zur Linde“. Auch die Familie von Herrn Ganter war streng katholisch, parterre in der „Linde“ war mein Laden und das Kontor; das Magazin war eine Schussweite von der „Linde“ entfernt. In der ersten Etage war eine sehr besuchte Wirtschaft, in der sich verschiedene Beamte des Fürsten von Fürstenberg und andere Gäste, z, B. ein katholischer Pfarrer, fleißig einfanden. Im zweiten Stock war ein großer Saal für Konzerte und Theater. In diesem Haus wohnte ich mit Frau Lacher. An meinem Vorgänger war man es gewohnt, ihn jeden Abend in der Wirtschaft zu sehen. An stark besetzten Abenden, wie Konzert-, Theater, und Gesangabenden, spielte er auch den Kellner; eine angenehme Hilfe für die vielbeschäftigten Wirtsleute.

Selbstverständlich ließ ich mich in der ersten Zeit nie in der Wirtschaft sehen, sie ging mich ja nichts an. So nach und nach bekam ich aber ein näheres Verhältnis zur Familie Ganter. Die Wirtin war eine fromme, ernste Katholikin. Als sie merkte, „ich habe auch Religion“, wurde sie freundlich und zutraulich. Einmal war sie krank und bat mich, ihr aus katholischen Legenden vorzulesen; ich wurde Hausfreund. Dazu kam ich auf eigentümliche Weise in nähere Beziehung zu den fürstlichen Beamten, die abends die „Linde“ besuchten. In meinem Geschäft gab es auch Zigarren. Mein Vorgänger hatte das Zigarrengeschäft sehr vernachlässigt; als ich aber merkte, es lässt sich unter diesen Beamten ein gutes Geschäft machen, wandte ich mich an die Zigarrenfabriken, die ich auf meiner ersten Stelle kennengelernt hatte, und bestellte Muster. Bis dahin hatte ich wenig geraucht, obschon ich zwanzig Jahre alt war. Nun aber musste ich die Muster probieren. Als ich das erste Mal etwa sechs brennende Zigarren nebeneinander liegen hatte, wurde ich kreideweiß und seekrank – auf dem Schwarzwald. So nach und nach gewöhnte ich mich aber an das Rauchen und bekam durch die Gäste der „Linde“ ein gutes Zigarrengeschäft. Natürlich wurde ich so persönlich mit ihnen bekannt.

Nun war es Frau Lacher und ihren Geschwistern fast unerträglich, dass ich abends immer einsam auf meinem Zimmer saß und nie in der Wirtschaft erschien. Da hieß es immer wieder: „Herr Karl! Kommen Sie doch herauf und setzen Sie sich zu den Herren! Sie brauchen ja nichts zu trinken. Sie werden gewiss noch schwermütig.“ – wenn man mich fragt, warum ich in Donaueschingen auf einmal Karl hieß, so lässt sich das auf einfache Weise erklären: Herr Martin, mein erster Prinzipal, hatte wohl trotz meines alemannischen Gesichts Angst, man könnte mich für einen Juden halten, wenn er in mein Zeugnis den altmodischen Namen Elias schreiben würde; darum schrieb er „El“. Ich musste das Zeugnis vor meiner Anstellung einsenden, und da machten die guten Donaueschinger Karl daraus; dabei blieb es ein Jahr lang trotz der Korrektur des Elias. – Ich sträubte mich einige Zeit, in die Wirtschaft zu gehen; endlich ging ich, setzte mich aber nicht unter die Gäste, sondern zur Familie Ganter. Nun kamen aber die arbeitsvollen Abende, an denen meine Wirtsleute gehetzt wurden bis lange nach Mitternacht. Da hatte ich Mitleid mit ihnen, half mit und wurde Kellner. Entsetzlich! wird mancher Leser denken. Die Sache sieht schlimmer aus, als sie ist. Wenn es nötig gewesen wäre, mich von der Wirtschaft zu bekehren –es war aber durchaus unnötig – so hätte man mich zum nächtlichen Kellner machen müssen.

Da lernte ich die ganze Öde des elenden Wirtshauslebens kennen, wie tief fühlte ich oft mit den beiden Wirtstöchtern, wenn sie bis nachts 2 Uhr zu einigen Stammgästen hinsitzen und unter Seufzen das leere Gerede anhören mussten! Oft sagte ich: „Ich könnte alles Mögliche werden, nur kein Wirt.“ Häufig sind aber die Wirte besser als die Gäste. Vor einigen Jahren arbeitete ich in einer süddeutschen Stadt. Die Wirte der Stadt hatten eine Bitte um eine frühere Polizeistunde beim Stadtrat eingereicht, mit dem Zusatz: „Wir Wirte möchten auch Nachtruhe haben.“ Die Stadtväter verweigerten aber die frühere Polizeistunde, waren also schlimmer als die Wirte. Ich kann nur sagen: Die Wirtschaft hat mir nicht geschadet, ich habe fast nichts getrunken, rate aber heute jedem aus Erfahrung: Halte dich fern von den Wirtschaften und werde in deinem Leben kein Wirt! Hätte ich damals dem Herrn angehört, so hätte er mich wohl gar nicht nach Donaueschingen geführt.

Hat schon mancher Leser den Kopf geschüttelt über den Kellner, so wird er noch entsetzter sein, wenn ich ihm von weiteren Dingen erzähle, die ich in Donaueschingen lernte, aber allerdings nachher nicht praktizierte. Wie ich bereits bemerkte, war in der „Linde“ ein großer Saal für Gesangvereine, Konzerte und Theater. Der katholische Gesangverein, zu dem auch einer der beiden Priester gehörte, sang sehr schöne Stücke.

Da war für mich keine Gefahr, wenn bei dem Abschied des Priesters vor seinem Umzug auf eine andere Pfarrei derselbe bei einem Sologesang stecken blieb, weil er zu tief ins Glas geschaut hatte, so nahm ich nicht teil am Gelächter des Vereins, sondern bedauerte, dass ein Priester sich so benehmen durfte, ohne seinen Beichtkindern Ärgernis zu geben. Auch die Konzerte boten keine Gefahr für mich; sie wurden gegeben von Mitgliedern der fürstlichen Kapelle, die damals unter dem berühmten Direktor Kalliwoda stand; ich hörte also wirkliche Künstlermusik. Anders stand es mit dem Liebhabertheater, bei dem ich nicht nur auf die Bühne, sondern auch hinter die Kulissen sah. Da waren die leitenden Persönlichkeiten nicht gerade ein Vorbild für einen jungen Mann. Die Herren kamen aber zu mir in den Laden, und als sie für ein Stück aus dem Dreißigjährigen Krieg jemand brauchten, ließ ich mich überreden, eine Rolle zu übernehmen. Es war ja durchaus kein anrüchiges Stück; aber ich fühlte doch, zumal hinter den Kulissen, dass die Herren sich gehen ließen, dass ich auf schlüpfrigem Boden stand, und spielte nie mehr mit. Überhaupt besuchte ich von dort an das Theater nur noch einmal in meinem Leben, als gerade Goethes „Faust“ gegeben wurde.

Da die völlige Leitung des Geschäfts in meiner Hand lag, so wünschte die Besitzerin, dass ich sie bei verschiedenen Veranlassungen vertrete, z. B. bei Hochzeiten. Dann waren auch Wirte unsere Kunden; bei diesen sollte ich zuweilen ein Glas Bier trinken. Das waren aber für mich sehr unangenehme Ansprüche. Es ging nicht lange, so fragte mich Frau Lacher: „Herr Karl, können Sie tanzen?“ „Nein.“ sagte ich. „Das geht nicht“, erwiderte sie, „denn Sie müssen mich auf Hochzeiten vertreten.“ Der Tanzlehrer kam, und der Kursus begann; ich wartete aber noch acht Tage und wollte nicht teilnehmen. Endlich gab ich nach und lernte tanzen. Mit dem Tanzunterricht war Anstandslehre verbunden, die ich mir schon gefallen lassen konnte; aber für das Tanzen – ich musste acht Tage nachholen – waren meine Beine etwas steif.

Ich hatte aber angefangen, und um mitzukommen und die vielerlei Bewegungen machen zu können, musste ich meine Beine täglich mit Franzbranntwein einreiben. Ich schämte mich vor mir selber bei diesen Einreibungen. Ich lernte tanzen; aber mein bisheriges Leben war absolut keine Vorbereitung zum Tanzen, und so war etwas in meiner ganzen Haltung, was die jungen Damen nicht anzog, wir lernten auch französische Tänze; beim Kontertanz mussten die Damen ihre Tänzer wählen, was geschah. Sie ließen mich stehen, es wählte mich keine. Das war heilsam; ich bekam den bestimmten Eindruck: Da gehörst du nicht hin! Und als der Schlussball kam, blieb ich schön daheim, ich nahm nicht teil. Nachher vertrat ich Frau Lacher ein einziges Mal bei einer Hochzeit und machte da eine kurze gymnastische Übung. Damit war meine Tanzperiode für mein ganzes Leben abgeschlossen ohne irgendwelchen Schaden für meine Seele. Ich hatte die Sache nicht gesucht und wurde nicht begeistert dafür. Mein Nachbar, auch ein junger Kaufmann, nahm Schaden in jener Zeit.

So lernte ich in Donaueschingen die Welt aus Erfahrung kennen, was für mein ganzes Leben, für meine Kinder und für meinen künftigen Beruf ein bleibender Gewinn war. Ich danke heute noch Gott dafür. Damals stand ich in der Welt; aber Gott in Seiner Barmherzigkeit bewahrte mich, dass ich innerlich nicht selber Welt wurde. In Tuttlingen hatte ich keine Bibel bei mir trotz meines Kirchenbesuches. In Donaueschingen, inmitten der mich umgebenden Welt, die das Herz so leer lässt, erwachte in mir ein tiefes verlangen nach Gottes Wort. Ich bat meine Schwester, die den Herrn schon kannte, mir meine Bibel zu senden, und fing an, sie wieder zu lesen. Ich merkte aber zu meinem Schrecken, dass meine Augen in den fünfeinhalb Jahren in Tuttlingen nicht heller, sondern dunkler geworden waren; ich verstand die Schrift weniger als in meiner Jugend und hatte in jener Zeit mehr Segen von den Liedern des Württembergischen Gesangbuches als von Gottes Wort. Es war besondere Treue des Herrn, dass er in jenem versuchungsreichen Jahr ohne Menschenzutun geistlichen Hunger in mir erweckte, von außen hatte ich ja keinerlei geistliche Versorgung. Während des ersten halben Jahres war evangelischer Gottesdienst im Schloss; die damalige Fürstin war evangelisch. Ich besuchte ihn regelmäßig, erinnere mich aber nicht, je einen tieferen Eindruck empfangen zu haben; ich begegnete in Donaueschingen auch keinem lebendigen evangelischen Christen, wollte ich mit jemand über innere Fragen reden, so hatte ich nur die katholische Wirtin. Sie beriet mich auch, als damals mit dem inneren Erwachen die Missionsgedanken wieder mit Macht in mir auftauchten. Sie meinte aber, ich sei zu alt, um Missionar werden zu können. So schickte ich mich an, Kaufmann zu bleiben; ich hatte ja Freude meinem Beruf.

Im zweiten Halbjahre meines dortigen Aufenthaltes hatten wir keinen evangelischen Gottesdienst, und so besuchte ich regelmäßig den katholischen. Das war für mich nichts Unvermitteltes. Ich hatte von Jugend auf viel Berührung mit Katholiken gehabt, weil meine Heimatgemeinde umgeben war von katholischen Gemeinden, die immer durch Hausen pilgerten nach dem Wallfahrtsort auf dem Dreifaltigkeitsberg. Wir waren auch in geschäftlicher Beziehung angewiesen auf die benachbarte katholische Stadt Spaichingen. Meine Jugend fiel in die Zeit, in der katholische Priester noch viel Verkehr hatten mit evangelischen Geistlichen, was durch Papst Pius IX. mit einem Schlag anders wurde. So kannte ich in Spaichingen einen frommen katholischen Dekan. Als ich einst in meiner Jugend das Bedürfnis hatte, zu beichten, wandte ich mich an ihn. Er durfte aber nur im Beichtstuhl Beichte anhören, und dieser war einem Evangelischen verschlossen. Er entließ mich freundlich mit den Worten: „Ich wünsche, dass Sie unserer Kirche immer näher kommen.“ Ich war also dazu vorbereitet, eine katholische Predigt zu hören. Es standen damals zwei katholische Priester in Donaueschingen, ein frommer ultramontaner Tiroler und ein weltlicher, national gerichteter Badener.

Letzterer trank regelmäßig seinen Schoppen in der „Linde“, sang auch jenes Solo, in dem er stecken blieb. Er war ein guter Redner. Es versteht sich von selbst, dass ich im katholischen Gottesdienst nicht viel holen konnte. So war in meiner ganzen Stellung und Lage nichts, was mich hätte veranlassen können, lange in Donaueschingen zu bleiben, als etwa das bequeme Leben. Ich hatte einen vorzüglichen Tisch, so dass ich korpulent und unwohl wurde; dabei war die Arbeit mäßig, und ich war gehalten wie ein Familienglied. Aber gerade in diesem Umstand lag wohl für mich die größte Gefahr, hängen zu bleiben und später mit der jüngeren Wirtstochter das Geschäft zu übernehmen. Daran dachte ich aber nicht im Entferntesten. Das Geschäft suchte ich zu heben, so gut ich konnte; aber es ist immer schwer, ein älteres, herabgekommenes Geschäft wieder in die Höhe zu bringen, umso mehr, wenn die Lokalitäten und das Betriebskapital bescheiden sind. Lernen konnte ich nicht viel, und ich sehnte mich nach einem Prinzipal. Diesen sollte ich schneller bekommen, als ich erwartete.

4. Die Lebensentscheidung reist

Derselbe Reisende, der mich seinerzeit auf die Stelle in Donaueschingen hingewiesen hatte, teilte mir mit, dass die Herren Gebrüder Mez in Freiburg einen Gehilfen suchten; es werde aber keiner engagiert, der sich nicht persönlich vorstelle. So reiste ich nach Freiburg, und die Folge war, dass ich die Stelle bekam, am 17. August 1853 in Donaueschingen austrat, um am August in Freiburg anzutreten. Mit Tränen entließ mich Frau Lacher; aber der Wechsel war für mich geboten. Als ich im Postwagen von Donaueschingen nach Freiburg fuhr, hatte ich keine Ahnung von der Bedeutung, die Freiburg für mein künftiges Leben haben werde, wie in meinem ganzen Leben, so offenbarte sich besonders in meiner Freiburger Anstellung das gnadenvolle Walten meines Gottes. Ich hatte keine Empfehlung als mein ehrliches Gesicht und das Zeugnis meines ersten Prinzipals, und dennoch erhielt ich jene Stelle in einem der ersten Geschäfte Süddeutschlands nach einer kurzen Unterredung. Oft fragte man mich nachher: „Wer hat Ihnen diese Stelle verschafft?“ Ich musste sagen: „Gott.“

Hatte ich in Donaueschingen keinen Prinzipal gehabt, so bekam ich in Freiburg drei, die Herren Carl, Gustav und Christian Mez. Die ersteren zwei Herren hatten die Seiden- und Bandfabrikation in der Hand. Die Fabrik lag eine Viertelstunde vor der Stadt, draußen im schönen Dreisamtal; mit ihr standen eine ganze Reihe von Filialen auf dem Land in Verbindung. Christian Mez war Leiter der Bank in der Stadt, mit der ein Engros- und Detailgeschäft von Seide, Faden, Garn, Bändern usw. verbunden war. In letzteres Geschäft trat ich ein, und Herr Christian Mez war mein Vorgesetzter. Die drei Herren waren in jeder Beziehung sehr verschieden. Carl, der Gründer der Seidenfabrik, war der allseitig begabteste und ein entschiedener Christ. Gustav war ein gemütlicher Weltmann. Christian war Bankier von Kopf bis zu Fuß, Geschäftsmann durch und durch, Kirchenältester, aber Rationalist; bei ihm wohnte ich.

Das ganze Geschäft wurde auf gemeinsame Rechnung der drei Teilhaber geführt; aber jeder derselben war in seinem Gebiet völlig selbständig. Das musste ich in meiner Stellung bald erfahren. Obschon mein Chef Kirchenältester war, so blieb doch unser Laden an Sonn- und Festtagen geöffnet, was mir und meinen Kollegen oft schwer wurde. An einem Karfreitag hatten wir einen Erlös von 60 Pfennigen, so dass jeder der drei Millionäre 20 Pfennige bekam. Nach meinem Abgang wurde der Laden an Sonn- und Festtagen geschlossen. Auch im Bankgeschäft war einzelnes, wodurch ich mein Gewissen beschwert fühlte, ohne es ändern zu können. Die ersten Monate verliefen für mich mit Einarbeiten in das Engros- und Detailgeschäft.

Bald verließ uns aber der Buchhalter, und ich übernahm seinen Posten. Von da an gehörte meine Zeit fast ganz dem Bankgeschäft. Dasselbe war sehr ausgedehnt; wir hatten Verbindung mit allen größeren europäischen Städten, wie auch mit New York. Da konnte und musste ich viel lernen, wofür ich sehr dankbar war. Mit den Familien unserer Prinzipale hatten wir Angestellte fast keine Berührung, da wir uns die Kosthäuser selber zu suchen hatten; ich speiste mit katholischen Studenten bei einer Witwe. In den ersten Wochen verkehrte ich mit einigen jungen, soliden Kaufleuten, in deren Kreis unser Reisender mich einführte. Es war ein ganz anständiger Verkehr, bei dem aber für mein Herz nichts zu gewinnen war. Es sollte aber bald anders kommen.

In dem Kontor, in dem ich arbeitete, lief die Post für das ganze Geschäft ein. Jeden Morgen kam ein junger Mann in die Stadt und holte bei uns die Post für die Fabrik. Dieser Mann fiel mir auf durch sein ausgeprägt jüdisches Gesicht. Ich fragte unseren Hausknecht Rifer: „Wie kommt denn dieser Jude in das Haus von Herrn Carl Mez?“ Er antwortete: „Alexander ist kein Jude mehr, er wurde getauft in Karlsruhe und will Missionar werden.“ Letzteres war für mich eine große Überraschung. Missionar werden! Der war ja so alt wie ich. Seit bald einem Jahr hatte ich den Missionsgedanken auf die Seite gelegt, weil ich dachte, ich sei zu alt, nun rückte er mir wieder näher. Am folgenden Morgen fragte ich Alexander, ob er wirklich Missionar werden wolle und ob er nicht zu alt sei. Er antwortete: Ja, er wolle Missionar, werden, und in seinem Alter nehme man junge Männer am liebsten auf, weil man voraussetze, sie wüssten, was sie wollten. Er war wie ich 22 Jahre alt. Es gab also auch für mich eine Hoffnung, meine Missionsgedanken in die Tat umzusetzen.

Ein Hindernis, das mir früher im Wege stand, verschwand je mehr und mehr. In Tuttlingen und Donaueschingen gab ich meiner Mutter einen großen Teil meines Gehalts. In Freiburg, wo ich viel besser gestellt war, konnte ich ihr noch mehr geben, so dass ihre Auslagen für mich reichlich zurückerstattet wurden und sie keinerlei Mangel hatte. So fragte ich sie um die Erlaubnis, Missionar werden zu dürfen. Erst antwortete sie: „Ja.“ Aber bald kam ein Brief mit einem entschiedenen „Nein“ und der Bemerkung, ich könne Gott überall dienen. Dazu schrieb mir ein Onkel, der mich vor dem Missionsgedanken warnte und mir das bekannte Schreckgespenst vorhielt, ich werde gewiss noch schwermütig.

Ich schäme mich, bekennen zu müssen, dass ich zunächst eine große Freude hatte über das Nein meiner Mutter; ich hatte ja jetzt eine vorzügliche Stelle mit schönen Aussichten für die Zukunft. Die Firma Gebrüder Mez war eine vortreffliche Empfehlung für junge Leute, so dass meine Vorgänger sehr gute Stellen bekommen hatten; deshalb wäre ich gern auf meinem Posten geblieben, um den so viele junge Kollegen mich beneideten. Die Freude über meiner Mutter Nein sollte aber nicht lange währen. Kurze Zeit nach meiner ersten Unterredung mit dem Proselyten Alexander bekam ich auf einen Sonntagabend eine Einladung zum Abendessen von dem gläubigen Carl Mez, dem ich vorher nicht nähergetreten war. Ich folgte ihr dankbar und blieb an jenem Abend auch bei der Hausandacht. Diese machte auf mich einen wunderbaren Eindruck; war es doch die erste lebendige Familienandacht in meinem Leben, der ich beiwohnen durfte in einer gebildeten, reich begabten Familie. Schon der Gesang ergriff mich. Man sang das Lied „Ach, bleib mit deiner Gnade“ nach der schönen Hohenloheschen Melodie und nachher das Lied „Die Gottesseraphim erheben ihre Stimm.“ Der Gesang mit Klavierbegleitung war in hohem Grade gemütvoll, und es war mir, als wäre ich im Vorhof des himmlischen Jerusalem. Dann folgte ein Bibelabschnitt mit praktischer Erklärung, und zum Schluss betete Herr Mez mit der ganzen Familie kniend. Das alles packte mich tief, und mein Herz sprach zu allem „Amen“.