Elisabeth Wandscherer - Joseph von Lauff - E-Book

Elisabeth Wandscherer E-Book

Joseph von Lauff

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Beschreibung

Von Lauffs Historienroman erzählt aus der Perspektive eines Münsteraner Mönchs von der Geschichte der Wiedertäufer in dieser Region. Lauffs umfangreiches literarisches Werk besteht vorwiegend aus Romanen, Erzählungen und Theaterstücken. In seinen Prosawerken behandelt er meist Themen aus seiner niederrheinischen Heimat.

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Elisabeth Wandscherer – Die Königin

Joseph von Lauff

Inhalt:

Joseph von Lauff – Biografie und Bibliografie

Elisabeth Wandscherer – Die Königin

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebentes Kapitel

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel

Zehntes Kapitel

Elftes Kapitel

Zwölftes Kapitel

Dreizehntes Kapitel

Vierzehntes Kapitel

Fünfzehntes Kapitel

Sechzehntes Kapitel

Siebenzehntes Kapitel

Schluß

Elisabeth Wandscherer – Die Königin, J. von Lauff

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

86450 Altenmünster, Loschberg 9

Deutschland

ISBN:9783849638733

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

Joseph von Lauff – Biografie und Bibliografie

Dichter, geb. 16. Nov. 1855 in Köln als Sohn eines Juristen, besuchte die Schule in Kalkar und Münster, wo er das Abiturientenexamen bestand, trat 1877 als Artillerist in die Armee ein, wurde 1878 zum Leutnant, 1890 zum Hauptmann befördert und wirkte, einer persönlichen Aufforderung des Kaisers folgend, 1898–1903 als Dramaturg am königlichen Theater in Wiesbaden, wo er noch jetzt lebt; gleichzeitig wurde ihm der Charakter eines Majors verliehen. L. begann seine schriftstellerische Tätigkeit mit den epischen Dichtungen: »Jan van Calker, ein Malerlied vom Niederrhein« (Köln 1887, 3. Aufl. 1892) und »Der Helfensteiner, ein Sang aus dem Bauernkriege« (das. 1889, 3. Aufl. 1896), denen später folgten: »Die Overstolzin« (das. 1891, 5. Aufl. 1900); »Klaus Störtebecker«, ein Norderlied (das. 1893, 3. Aufl. 1895), »Herodias« (illustriert von O. Eckmann, das. 1897, 2. Aufl. 1898), »Advent«, drei Weihnachtsgeschichten (das. 1898, 4. Aufl. 1901), »Die Geißlerin«, epische Dichtung (das. 1900, 4. Aufl. 1902); er schrieb fernerhin die Romane: »Die Hexe«, eine Regensburger Geschichte (das. 1892, 6. Aufl. 1900), »Regina coeli. Eine Geschichte aus dem Abfall der Niederlande« (das. 1894, 2 Bde.; 7. Aufl. 1904), »Die Hauptmannsfrau«, ein Totentanz (das. 1895, 8. Aufl. 1903), »Der Mönch von Sankt Sebald«, eine Nürnberger Geschichte aus der Reformationszeit (das. 1896, 5. Aufl. 1899), »Im Rosenhag«, eine Stadtgeschichte aus dem alten Köln (das. 1898, 4. Aufl. 1899), »Kärrekiek« (das. 1902, 8. Aufl. 1903), »Marie Verwahnen« (das., 1.–6. Aufl. 1903), »Pittje Pittjewitt« (Berl. 1903) sowie die Lieder »Lauf ins Land« (Köln 1897, 4. Aufl. 1902). Als Dramatiker trat er zuerst hervor mit dem Trauerspiel »Inez de Castro« (Köln 1894, 3. Aufl. 1895). Von einer Hohenzollern-Tetralogie sind bisher erschienen und wiederholt ausgeführt »Der Burggraf« (Köln 1897, 6. Aufl. 1900) und »Der Eisenzahn« (das. 1899); ihnen sollen »Der Große Kurfürst« und »Friedrich der Große« folgen. Lauffs neueste Dramen sind das Nachtstück »Rüschhaus«, das vaterländische Spiel »Vorwärts« (beide das. 1900) und das nach dem Roman »Kärrekiek« verfaßte Trauerspiel »Der Heerohme« (das. 1902, 2. Aufl. 1903). Während L. in seinen Romanen echtes Volksleben des Niederrheins poetisch festhält und in seinen epischen und lyrischen Dichtungen trotz wortreicher Diktion ein starkes Talent verrät, greift er in seinen Dramen, namentlich in den höfisch beeinflußten Hohenzollern-Stücken, oft zu unkünstlerischen Mitteln und erweckte entschiedenen Widerspruch. Vgl. A. Schroeter, Joseph L., ein literarisches Zeitbild (Wiesbad. 1899); B. Sturm, Joseph L. (Wien 1903).

Elisabeth Wandscherer – Die Königin

Erstes Kapitel

Eine dumpfe, langatmige, grausige Glocke schlug an – hoch von Sankt Lamberti herunter.

Dann eine Stimme, als hätte der furchtbare Thomas von Celano seine eigene Weise gesungen:

»Dies irae, dies illa Solvet saeclum in favilla, Teste David cum Sibylla.«

Hierauf Stille, atemberaubende Stille. Aber sie währte nicht lange, denn aus dem Kirchspiel Über dem Wasser tönte es gleichfalls herüber, nur schwerer und unbarmherziger.

Dann aufs neue das Psalmodieren:

»Tuba mirum spargens sonum Per sepulchra regionum, Coget omnes ante thronum.«

»Dum, ding, dong!«

Auch von Sankt Ludgeri schaukelte sich der Ruf einer heulenden Glocke über die Stadt hin, die unter diesem mißfarbigen Läuten erschauerte: »Dum, ding, dong! Dum, ding, dong!« und in dieses mißfarbige Läuten hinein wiederum und zum letzten Male die Stimme, die Stimme des furchtbaren Thomas von Celano:

»Mors stupebit et natura Cum resurget creatura, Judicanti responsura ...«

und es war, als wenn sich die Sonne verfinsterte, die Vögel im Laubgewind irre wurden und die Äpfel, die an den Bäumen reiften, zu Sodomsäpfeln wurden und in Staub und Asche zerfielen.

Ich weiß nicht, wo ich mich befinde, woher ich komme. Ich weiß nur: ich bin allein und sitze in einem geräumigen Zimmer, das nackt und kahl ist wie die Hand des Todes. Nichts heimelt mich an. Jegliches ist von einer müden Traurigkeit eingebettet. Es riecht nach Krepp und faden Kirchhofsblumen. Es ist öde und leer um mich wie in der Thebais, wo selbst die Steine nicht wissen, was sie mit ihrem trostlosen Dasein anfangen sollen. Kein Mobiliar, keine Schildereien an den fahlen Tapeten, nichts, was imstande wäre, die Sinne zu erfreuen und eine freundliche Note in die Seelen und die Herzen der Menschen zu tragen. Nur an der mir gegenüberstehenden Wand hängt ein Spiegel, in dessen Scheibe matte Reflexe wohnen und düstere Schatten zu wandeln scheinen, aber es ist mir so, als wären aus diesem Spiegel die grausigen Glockentöne gekommen, als hätte inmitten des unheimlichen Glases Thomas von Celano gestanden und sein erschütterndes, niederziehendes und dennoch gewaltiges › Dies irae, dies illa‹ gesungen.

Nein, ich weiß nicht, wo ich mich befinde, woher ich gekommen. Es ist alles und jedes verwunschen um mich, mit dunklen Floren umhangen, von dem Hauch der Verwesung umschauert. Nur weiß ich: ich befinde mich irgendwo in Münster, der Bischofsstadt, der Stadt mit den vielen Kapellen und Kirchen, den hochgegiebelten Häuserzeilen, dem Pumpernickel, den endlosen Firmelkindern und Rosenkränzen, die nicht müde werden, ihre Pockholzkügelchen gegeneinander klimpern zu lassen ... aber ich ahne nicht, in welcher Straße ich bin, welches Haus ich bewohne, in welchem Zimmer ich mich aufhalte und was die dumpfen Glockenschläge und die traurigen Weisen des Thomas von Celano vorstellen sollen.

Ich bin wie im Traume, in einem Zustand zwischen Schlafen und Wachen, und dieser Zustand zwischen Schlafen und Wachen wird von langsamen, fahlen Larven durchkrochen. Es ist ein Ziehen von Prozessionsraupen, ein Dahinschleichen ohne Anfang und Ende. Eine graue, quälende, herzbeklemmende Dämmerhelle liegt um mich, jene Dämmerhelle, die in den arktischen Kreisen wohnt, wo die Sonne bei Tages- und Nachtzeit sich am tiefen Horizont herumschleicht, ohne die Kraft aufzubringen, sich wieder gen Himmel zu schrauben. Mein Geist ist entangelt, meine Seele formt Bilder und Spiegelungen, denen ich nicht mehr zu folgen vermag. Trotzdem sehe ich mit Augen, die alles Gegenständliche deutlich erkennen lassen, und höre mit Ohren, die imstande sind, das Fallen der kleinsten Stecknadel in sich aufzunehmen.

Eine eigenartige Stumpfheit ergriff mich. Ich ähnelte dem heiligen Dionysius Areopagita, dem letzten Endes nichts weiter übrigblieb, als seinen abgehauenen Kopf unter den Arm zu nehmen und damit nach St. Denis in Paris zu pilgern. Um mich schlängelten sich schattenhafte Kreise, Wandelsterne, Feuerfliegen. Ich wollte mich erheben, an das matterleuchtete Fenster treten, um mich zu vergewissern, in welchem Stadtteil, in welcher Straße ich mich eigentlich befände, aber meine Glieder verlähmten. Ich dachte daran, meine Stimme zu erheben, nötigenfalls zu rufen, um Hilfe zu schreien, allein meine Zunge versagte, wie sie dem Hohenpriester Zacharias am Brandaltare des Herrn versagte, als sein Weib ihm dartat, sie sei schwangeren Leibes geworden.

Endlich gelang mir's, einen Schrei auszustoßen, von dem ich wähnte, er könne wie ein Mauerbrecher Türme ins Wanken bringen, Berge versetzen, und dennoch war dieser Schrei nur ein Nichts, ein winziger Hauch, kaum fähig, das langgestielte Blatt einer Espe auf die andere Seite zu legen. Dafür begann es aufs neue von Sankt Lamberti zu läuten, mit den nämlichen Intervallen wie kurz zuvor: mit denselben Greueltönen, die einem die Seele zerfleischten, als stießen furchtbare Schaufarenrufe hoch von Sion herunter. »Sion! Sion!« Die Dämmerhelle verlor sich, wurde zum Dunkel, das Dunkel zur Finsternis. Ich sah keine Hand mehr vor Augen. Gleichzeitig begann es in der mit gegenüberstehenden Spiegelscheibe aufzubegehren. In ihrer Tiefe flämmerte eine zehnpfündige Wachskerze auf einem messingenen Kirchenleuchter, eine bleiche, tropfende Wachskerze, die sich langsam vorwärts bewegte. Sie trat aus dem Spiegel, wandelte über die Dielen, drängte sich dicht an meine Seite, um dort stehenzubleiben. Ein mattes Licht zehrte am Docht, brachte aber so viel Helligkeit auf, die taube Finsternis aus dem grauen Zimmer zu scheuchen. Das karge Armseelchen knisterte mit dem Knistern eines Sargdeckels, bei dessen Anfertigung der Schreiner allzu frische Tannenbretter verwandt hatte ... und in dieses Knistern hinein – nochmals die Weise des furchtbaren Thomas von Celano:

»Liber scriptus proferetur, In quo totum continetur, Unde mundus judicetur.«

Meine Starre ließ nach. Neben mir hob es sich auf. Ich spürte einen heißen Atem über mich gehen, die unangenehme Berührung von kalten Fingerspitzen. Als ich den Kopf wandte, sah ich in das bleiche, strenge Gesicht eines Mönches hoch mir zu Häupten. Er trug weißes Habit, darüber schwarze Kutte und schwarze Kapuze. Es mußte ein Dominikaner sein, ein Schirmer der Inquisition, denn neben ihm standen zwei Doggen, die Zeichen des Ordens, ähnlich denen, wie sie die Wappenzimiere der Grafen von Zollern aufweisen.

Der Wachsstock erhob sich hoch im Raume, gespensterte mit seinem mageren Flämmchen, als wäre am Docht das Zünglein einer Natter gebunden.

Der Mönch regte sich nicht.

Mir grauste in seiner Nähe, denn er kam mir vor, als hätte er mir irgendeine Botschaft von Peter von Arbues oder Torquemada zu überbringen. Ich irrte mich. Er war nicht von Peter von Arbues oder Torquemada entsendet. Sein Gesicht war ein Cherubsgesicht, das eines heilig Gesprochenen, nur entstellt von dem Schmerze der Welt und ihren unbarmherzigen Geschehnissen.

Drei oder vier Minuten vergingen.

Mir war es, als wenn ich auf einem Marterstuhl säße, als sänke der Boden unter mir fort, als griffen Dämonen nach mir, um mich rettungslos in eine purpurblaue Tiefe zu ziehen. Dabei brüllte es aus weiter Ferne herüber: »Sion, Sion! Tut Buße! Der Tag des Gerichts ist gekommen!«

Gleichzeitig fingerte es mit Totenlampen von der Decke herunter, legte sich mir eine eisige Hand auf die Schulter.

Ich glaubte mich dem Wahnsinn nahe zu sein. Ich sah das Haus mit den eisernen Stäben vor den Fenstern, das graue, düstere Haus, wo die Unseligen wohnen, die Grimassen und Gesichter schneiden, die im Geiste mit Prinzessinen Buhlschaft treiben, mit Zepter und Kronen spielen und sich für Könige halten ... und war ein Grausen um mich wie das Grausen zwischen den gekalkten Wänden dieses grauen und furchtbaren Hauses.

»Rettet mich! Helft mir!«

Der Mönch beugte sich vor, immer tiefer und tiefer.

Sein kalter Atem hauchte mich an.

Dann sprach er: »Schweige, du Erdenwurm. Hundert Jahre sind mir wie ein Tag. Ich bin mit Sinnen begabt, die die übrigen Menschen nicht haben. Ich sehe Gesichter, die mit Tränen überschüttet sind. Entzündet wie rote Wunden sind meine Erinnerungen. Sie haften mir an wie die roten Wunden am gekreuzigten Leib des Erlösers. Hörst du: Sion, Sion! Tut Buße! Der Tag des Gerichts will kommen! Das ›Dies irae‹ posaunt über Münster. Die Vergangenheit reißt die Augen auf vor eitel Entsetzen. Ich sage dir nochmals: Hundert Jahre sind mir wie ein Tag. Ein Ahasver – ich ging durch diese Jahre hindurch, nur, ich habe den Herrn nicht von meiner Türe verwiesen, habe mich nicht geweigert, sein Kreuz auf mich zu nehmen, bin schuldlos durch all diese Jahre gegangen ... und so möchte ich dir eine kleine Geschichte aus der großen Geschichte erzählen, als der Prophet und König von Sion das Kruzifix umkrallte, es gegen die Wolken stieß und dem Volke gebot: Auf die Knie und betet an den Gesalbten des Herrn, der da gekommen ist, die Welt zu befreien! Willst du sie hören,denn ich bin Zeuge dieser Geschichte gewesen?!«

»Ich höre.«

»Und willst du das Weib sehen, das durch diese Geschichte ging, schön wie der junge Morgen auf den Bergen, das Diadem um die weißen Schläfen gezirkt, mit Hermelin und Purpurmantel umkleidet, auf dessen blonder Flechtenkrone das Tageslicht und das Scheinen des Abends länger verweilte, als auf den blonden Flechtenkronen anderer Weiber?«

»Auch dieses.«

Der Mönch reckte sich auf. Sein Gesicht war zu einer Maske geworden. Er stammelte, und es war mir so, als wenn sich in dieses Stammeln Tränen verlören.

Endlich sagte er: »Und willst du wissen, was mit diesem Weibe geschehen?«

»Ich will es.«

»So horche«, und er deutete mit der Hand in die Tiefe des Raumes.

Der Wachsstock bewegte sich dieser Tiefe entgegen. Das matte Flämmchen begann stärker zu leuchten, erregter zu flackern.

»Und sehen sollst du!«

Die Stimme des Mönches war heiser geworden, aber in dieser heiseren Stimme lag die grenzenloseste Not und das tiefste Leid aller Tage und Zeiten.

»Siehe und horche!«

Noch einmal erging die dringlichste Mahnung.

Da sah ich: ich sah das Haupt eines Weibes, und dieses Haupt war von unsagbarer Schönheit. Es hatte ein Medaillengesicht wie nicht mehr zu finden. Ich sah entblößte Schultern und Brüste, von einem zarten Goldflaum umgittert ... und die Brüste waren wie die, von denen es heißt: sie verstören die Sinne und lassen Vater und Mutter und alle Wonnen der Erde vergessen.

Das Weib kniete am Boden. Rauhe Fäuste hatten Brust und Schultern blank und bloß gelegt. Der weiße Nacken blühte gleich dem Kelch einer Lilie.

Mit Sternenschönheit ging es über sie, und dennoch war es kein Flimmern von Sternen, sondern das kurze Aufblitzen eines breitgelegten Schwertes, scharf wie eine Rasierklinge. Und das Licht auf dem Wachsstock erlosch, erlosch, als hätte es niemals zwischen Decke und Dielen geflämmert.

Um mich lag die Finsternis mit den schweren Gliedmaßen eines furchtbaren Tieres. Aus solchen Finsternissen werden Götzenbilder geschaffen.

Nun mußte etwas Entsetzliches kommen, ein Geschehen, fähig, einem das Gesicht in den Nacken zu drehen ... und also geschah es.

Ein nadelfeines Sirren durchzischelte den düsteren Raum, der kein Leben mehr hatte.

Ich fühlte gleich: das war die Sichel des Todes gewesen.

Dann war es mir so, als begänne es schwer und langsam zu tropfen.

Es erinnerte an das Tropfen von geschmolzenem Blei in eine Messingschale, die den Schall seltsam verstärkte ... und eine Stimme ertönte, die Stimme des Mönches: »Das ist das Blut der Elisabeth Wandscherer, der erwählten Königin von Sion. Und diese Elisabeth Wandscherer ...«

Er hielt plötzlich inne, als bangte er sich, den Schleier von einem furchtbaren Geschehen zu nehmen.

Ich lag in Totenstarre. Dann wachte ich auf. An der Seite des Mönchs schritt ich durch die Straßen Münsters.

Zweites Kapitel

Wir gingen durch verlorene Gassen, durch Schnirkelecken, Stiegen und Winkel, bis wir nach langem Wandern, dem ich kaum zu folgen vermochte, auf den Prinzipalmarkt gelangten.

Ich glaubte nur Lemuren zu sehen, nur Schatten, nur wesenlose Gestalten, die unter einem schleierfeinen Aschenregen zergingen.

Es war seltsam und schaurig bei diesem Gehen und Schreiten. Auch hingen noch immer die Posaunenstöße und Glockenrufe zwischen Himmel und Erde; nur weniger grausam, gemäßigter, im Abklingen begriffen.

Der Mönch stieß mich an.

»Wir sind zur Stelle«, sagte er mit der gleichen Betonung jedes einzelnen Wortes.

Etwas unendlich Trauriges ging über die Häuserzeilen, über die Pflastersteine, über die Kirche von Sankt Lamberti, die den weitgestreckten Markt wie ein unheimliches graues Phantom nach Norden begrenzte, und durch dieses unendlich Traurige vernahm ich die Worte: »Es gibt keine Richter für mich. Ich bin mein eigener Richter. Ich erkenne keine Schranken an, es sei denn, es sind die Schranken, die ich mir selber setzte in den Tagen der Freude und in denen des Schmerzes. Aber zumeist: die Zeit vermachte mir die Müheseligkeiten und Leiden Hiobs, sowie Jakobs Gram und Tränen. Ich erkannte längst, daß der Wohlstand meiner Seele zu einem Mißstand geworden war. Ihr Reichtum hatte sich in Armut verkehrt. Die Wundmäler der Lebensmarter haften mir an, als hätte ich sie erst gestern empfangen. Ich habe mir selber das ›De profundis‹ gesungen, und sing' es noch heute, und werde es singen bis zur Stunde, wo ich mir sagen kann: Du hast deine Ruhe gefunden. Du hast sie gefunden durch den Willen des Allmächtigen, Allgütigen, der da ist der Bringer der Freuden, der Vernichter der Wonnen und der Bevölkerer der Totenäcker. Wann ich sie finde, steht noch dahin, denn mein Leid ist ein unermeßliches Leid, und vor diesem Leid sind hundert Jahre wie ein Tag. Sie reihen sich aneinander wie die Grabsteine auf einem unermeßlichen Friedhof, ohne alle zu werden. Lasset uns beten ...«

Wir standen vor einem Giebel, der sich nicht wesentlich von den anderen abhob. Nur schien er reicher gegliedert, stolzer und freier in den Himmel zu wachsen.

»Hier beginnt meine Geschichte«, sagte der Mönch. »Durch diese Geschichte schreitet ein Weib, ähnlich der Himmelskönigin, hoheitsvoll und versonnen, schön wie die Prinzessinnen von Hochburgund oder die Frauen, die in Dalekarlien wohnen. Ich sah sie zum letzten Male vor dem Rathaus in Münster, im Angesicht der Arkaden und Bogengänge, reichgeschmückt, mit goldenen Pantoffeln angetan. Sie kniete am Boden, das Haupt vornübergeneigt. Ihre jungen Brüste lagen bis zu den Spitzen entblößt. Dann fiel ein blutrünstiger Nebel über mich her, und ich fand keinen Ausweg. Ich fand ihn nicht, obgleich ich heiß und bitterlich suchte, denn ich hatte immer nur Blut vor den Augen ... und als mein kärglich bestelltes Öllämpchen dem Erlöschen nahe war, was blieb mir da übrig? Nichts, als Dominikaner zu werden, als Ahasver durch die Zeiten zu wallen, den Wind einzufangen, um mit ihm meine heißen Schläfen zu kühlen. Dabei halte ich Herzeleide, die Königin, noch immer in meinen Armen, obgleich sie tot ist. Ich bin selber gestorben und dennoch gezwungen, Gottes Odem zu atmen und Gottes Sonne zu trinken. Mein Leben ist lange zu Ende, und doch muß ich leben. Das klingt widersinnig und ist mit Narrenschellen umwispert. Aber jedes Narrenschellchen klingelt die Wahrheit. Ich kann es nicht ändern. Die Geschehnisse in der Apokalypse sind furchtbar zu sehen, aber die Dinge, die sich in Sion abspielten, erinnern an die unerhörte Tat eines Großen auf Erden, der sein eigenes Weib, die schöne Herzogin, zwang, aus dem Schädel ihres Buhlen purpurroten Burgunder zu trinken.

Er machte eine kurze Handbewegung.

»Lassen wir das. Treten wir ein. Knipperdolling, der Schwertträger des Königs, der Mann über Leben und Sterben, hat heute Empfangstag.«

Ebenerdig, links vom eingedunkelten Hausflur, lag ein eichenholzgetäfeltes Gemach mit niedrigem Hängewerk.

Wir pochten nicht an, machten keine Anstalten, uns bemerkbar zu machen. Wie auf ein stummes Geheiß gingen die beiden Flügel sacht auseinander. Nur ein leises Seufzen der Angeln ließ sich vernehmen. Mit dem Schweigen einer Sterbekapelle fiel es über uns her.

Der Raum war von einer eigenartigen Dämmerhelle durchgeistert.

An einer düsteren Tafel saßen drei Männer. Vor ihnen lagen Schreibgeräte, Urkundenbündel, Bibel und Babel.

Niemand kehrte sich an uns. Die Männer sahen uns nicht und hörten uns nicht, oder sie wollten nicht sehen und wollten nicht hören. Wir selber vernahmen unseren eigenen Schritt nicht, nicht den geringsten Laut unter den Füßen. Wir waren eben zu Schemen geworden, zu Lebewesen, die keinen Stoff und keinen Schatten mehr haben.

»So wären wir fertig«, sagte einer der Männer, noch in den besten Jahren, hager und mager, mit einem Schwärmergesicht, so eine glutheiße steinichte Wüste mit ihrem Sonnenbrand ausgedörrt hatte. Dabei legte er die schmale, aber energische Hand auf die Bibel.

»Rottmann, fertig – warum?«

»Weil ich denke, Schwertträger des Königs, die Glocken und Posaunen von Sion haben Feierabend geboten. Das ewige Schaffen zermürbt. Des Tages Last war groß. Das Fleisch will nicht mehr, übergroßes Wirken und Denken bringt Verkehrtheiten auf, Dinge, die sich mit dem gesunden Verstande nicht ins Einvernehmen setzen. Also laßt mich. Ich sehne mich heute nach Ruhe.«

So Rottmann, geboren zu Stadtlohn, einem kleinen Städtchen im Bistum Münster, an dessen mitternächtlicher Seite der Fluß Berckel vorbeifließt und einige Kornmühlen treibt, ein abtrünniger Pfaff, vor kurzem noch Prediger an Sankt Mauritz und nunmehr berufen, das Wort Gottes bei den Anabaptisten hoch und heilig zu halten. Seine eisengrauen Augen stachen wie Kardendisteln. Sie gingen schnurgeradeaus und versenkten sich tief in die Knipperdollings.

»Hm!« sagte dieser. »Gewißlich, die Glocken und Posaunen haben Feierabend geboten. Seele und Leib sind der Ruhe bedürftig. Recht werdet Ihr haben. Schon fünf Stunden hintereinander kamen und gingen die Menschen. Wir hörten und sahen, und halfen den Bresthaften, und hielten den starren und widerhaarigen Köpfen die Faust gegen die Schläfen. Nur eins steht noch an«, und die Rechte des Gewaltigen rumpelte schwer auf die Tafel: »Nein, wir sind noch nicht fertig.«

»Warum nicht, Gestrenger?«

Knipperdolling spreizte die Beine, legte sich breit zurück und scheitelte den krausen Vollbart scharf auseinander.

»Rottmann und Wandscherer, auf daß ihr es wisset: Ich habe Botschaft empfangen. Johannes Leydanus, der Herr und Gebieter über alle Reiche und Welten, hatte in der verflossenen Nacht wieder hohe Gesichte.«

»Gesichte ...?!« rief der Asket, verkrampfte die Hände und richtete die eisengrauen Blicke strahlend zur Decke. Seine Stimme schwoll an: »Lobet und preiset den Vater der himmlischen Heerscharen, denn wir haben sie nötig – diese Gesichte. Ich gedenke des Tages, da der Gesandte des Herrn, der Prophet unter den großen Propheten, da Dusentschuer den Mund auftat und sagte: Ihr christlichen Mitbrüder, mir wurde kund und befohlen, daß Johann Bockelson von Leyden, der heilige und streitbare Mann, soll herrschen über den Weltkreis, über Kaiser und Könige, Fürsten und Grafen, Herzöge, Kardinale und Prälaten, so diese Erde bewohnen. Nimm hin das Schwert der Gewalt und bediene dich seiner, nimm hin den Purpur, um deine Lenden zu schürzen, nimm hin das Recht, die Menschheit gen Himmel zu führen oder ihr den Kopf gegen die Pforte der Hölle zu stoßen. So will es der Herr, und so mögest du in seinem Namen König von Sion werden.«

Alles Müde und Müheselige war ihm wie Bettlergelumpe von den Schultern gefallen. Unter seinen Brauen begann es zu leuchten, aufzubegehren, mit dem grausamen Aufbegehren eines frischabgezogenen Rasiermessers.

»Als König von Sion ...« zog er scharf durch die Zähne, warf seine Lichter auf Wandscherer, dann auf den gewaltigen Knipperdolling, um weiter zu sprechen: »Und also geschah es. Von Gott gewollt, ist er König geworden, von Gott gewollt, trägt er Zepter und Krone, regiert er die Völker, trägt er die große und heilige Sache der Anabaptisten über den Erdkreis, von Gott gewollt und im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes ...« und die hagere und doch nervige Hand des düsteren Predigers umkrampfte die des Statthalters wie mit eisernen Kettenschaken, »und von Gott gewollt, hatte er in der verflossenen Nacht wieder hohe Gesichte ...?«

»Rottmann, Ihr sagt es, und eins dieser Gesichte, unheilig wie Galgenholz und doch heilig wie die tausendfach begnadete Lehre von der Wiedertaufe, machte ihn zittern und zagen und dennoch jubilieren zu den Freuden der ewigen Anschauung.«

Da ließ Rottmann die Hand des Statthalters fahren, reckte sich auf, daß seine hageren Gelenke knackten und seufzten gleich dem dürren aufgeschichteten Holz in einer Tannenbeige.

»Knipperdolling, und dieses Gesicht ...?«

Seine Augen gluteten, als wäre ein Feuerbrand in ihre Tiefen geworfen.

Der Statthalter des Königs erhob sich. Alles war schwarz an ihm, Gewand und Haupthaar, der kurz verschnittene, gescheitelte Bart, die Lichter unter der rückfliehenden Stirne. Mit der Linken umgriff er den goldenen Wiedertäuferpfennig, der ihm an einem feinen Kettlein auf der Brust ruhte.

Die vorgestoßene Kinnlade öffnete sich. Feierlich begann er zu sprechen, geruhsam, aus tiefster Seele heraus, mit dem ernsten Gehabe eines Propheten und Sehers: »Es war um die Mitternacht. Die Steine kreisten über Münster. Sieben von ihnen standen, einer Krone ähnlich, über der königlichen Pfalz. Da fühlte er das Nahen der Stunde. Ein Engel des Lichtes erschien ihm, mit leiblichen Augen zu sehen, mit leiblichen Ohren zu hören, mit leiblichen Händen zu greifen – ein Cherub von den obersten Thronen, angetan mit siebenfältigen Schwingen. Der sagte: Wes Mund voll Galle und Bitternis ist, dem steht es nicht an, die lydische Flöte zu spielen. Mein Mund ist voller Galle und Bitternis und das Herz des himmlischen Vaters voller Sorge um Sion. Viel ist geschehen. Aber es mangelt noch vieles. Der Bischof steht draußen. Seine Fuß- und Stückknechte mehren sich täglich wie Wüstensand. Der wandelt gegen uns an, und aus dieser Trombe staubigen Sandes rumpelt die ketzerische Trommel: Ergebt euch! dum dirre, dum deine ...! Noch fußt das Reich nicht auf granitenem Fels, ist seine Kuppel nicht sattsam verankert und soll doch bestehen für ewiglich. Noch lagert Franz von Waldeck, der ketzerische Nimmersatt und Vielfraß, in befestigter Stellung, und soll doch geworfen werden durch die Schärfe des Schwertes. Viertausend streitbare Männer, mit Einschluß der Zugeströmten und Landstörzer, hausen in Münster, satt und genug, dem verfluchten ›Dum dirre, dum deine‹ in die Parade zu fahren und Gegenpart zu halten, satt und genug, um auf Jahre hinaus den heiligen Glanz zu erhalten. Aber was dann? Draußen mehren sich die gegnerischen Völker, zeugen wie die Karnickel in offener Wildbahn. Wir hingegen bleiben im Hintertreffen, gehen den Weg allen Fleisches ... und drum ist es der Wille des himmlischen Vaters: Dem wird Einhalt geboten. – So der Engel des Lichtes, und seine Schwingen rauschten wie Sturmgefieder.«

Knipperdolling hielt inne.

Er trug Schaum vor dem Munde.

»Dem Baalspfaffen und seinem lästerlichen Anhang«, murrte er stumpf vor sich hin, »ist der Fäustling unter die Kinnladen zu stoßen, daß sie das Lachen verlernen, dazu Zähne und Blut vomieren.«

Er stampfte auf.

»So richtig, dann verliert auch das Kalbsfell des Belialpriesters sein gottverfluchtes ›Ergebt euch! dum dirre, dum deine‹, dann wird der König des neuen Tempels Luft, Atem und gute Gewohnheit beziehen – für immer und bis zu der Stunde, wo die Sonne abirrt und die Sterne sich in anderen Bahnen bewegen. So und nicht anders.«

Mit einem dumpfen Laut brach er ab und stierte durch die bleigefaßten Scheiben, hinter denen die gegenüberliegenden Häuserzeilen bereits eindunkelten, als würde ein Musselinschleier darüber gezogen.

Rottmann war dicht an seine Seite getreten.

»Noch fehlt die Botschaft«, sagte er heiser. »Träger des Schwertes, wollet nicht abwegig werden. Wo ist der Engel des Lichtes geblieben? Wo ist sein Wort und die Tiefe des Wortes? Knipperdolling, besinnt Euch.«

Und Knipperdolling besann sich. Sein Blick trat aufs neue in ein prophetisches Leuchten. Er sagte: »Und also sprach der Engel des Lichtes: Meine Tagsatzung, die ich bringe, ist im Kerzenglanz des Himmels sowie der Ewigkeiten geboren und an dich gerichtet, Johannes Leydanus. Nehmet sie auf, wie Gott sie gegeben. Laßt Euch nicht betören, geht durch die Strahlengarbe der großen Offenbarung nicht wie ein ungläubiger, sondern wie ein gläubiger Thomas. Drum höret auf mich, den Engel des Lichtes und den Cherub mit den siebenfältigen Schwingen, denn dieses ist der Wille des Vaters, und also gebietet der Herr über Leben und Sterben, über Tod und Verwesung.«

Rottmann hatte die Hände gefallen.

»Sprecht weiter, Schwertträger des Königs. Wir hören.«

Und Knipperdolling sprach weiter. Dabei erfüllte er den Raum durch sein mächtiges Ich und die Gewalt seiner Rede.

»Eine Ähre des Feldes gibt alljährlich eine dreißigfältige Ernte, das menschliche Weib ihre Frucht nur einmal im Jahre, und deshalb spricht der Herr über den Wolken: Ihr sollt den Acker einer gottwohlgefälligen Ehe besser und ausgiebiger bestellen, ihm reichlichere Betätigung abgewinnen. Die Wiedertaufe tut es allein nicht. Sion muß wachsen. In einspänniger Liebes- und Leibesgemeinschaft geschieht das nimmer und niemals. Ich sagte schon eben: viertausend Männer halten Tag- und Nachtwacht dahier, aber was ich nicht sagte, ist dieses: zehntausend mannbare Weiber harren noch immer eines gesegneten Leibes und ersehnen mit heißem Blut die gebenedeiten Worte: Ego conjungo vos in matrimonium. In nomine patris et filii et spiritus sancti ... und da sich nur viertausend wehrhafte und streitbare Männer in Münster befinden, Sion aber wachsen soll gleich den goldenen Bienenschwärmen unter der Hut des großen Zeidelmeisters, so sei auch den beweibten Männern geboten, das ›Ego conjungo vos in matrimonium – in nomine patris et filii et spiritus sancti‹ mehrfältig über sich ergehen zu lassen, auf daß das Reich sich mehre und Frucht trage bis an das Ende der Tage.«

Knipperdolling schwieg.

Er warf den Stiernacken zurück und stand in Verzückung.

Rottmann lag auf den Knien. Seine Lippen stammelten: »Herr, nun mag ich getrosten Sinnes dahinfahren, denn meine Ohren hörten, und was sie hörten, kann Berge versetzen und Strömen gebieten, ein anderes Bette zu suchen.«

Seine Stimme erhob sich: »Nun werden die brachliegenden Parzellen umgebrochen und sorglich bestellt, die sonst kein Pflugmesser hatten und keinen Samen empfingen.«

Sein Wort jubilierte: »Heil dir, du Stadt der Gerechten, heil dir, mein Sion! Nun ist dir das Brot des Lebens und das Schwert der Stärke gegeben für ewiglich. Deine Feinde werden dahingehen wie Rauch vor dem Winde, deine Tempel werden das Opfer bringen mit Flammen, die die Sterne berühren.«

Seine Stimme brannte gleich einer feurigen Lohe:

»Wachset und mehret euch, ihr Töchter und Männer von Sion, auf daß ihr die Welten erfüllet durch die Kraft und Herrlichkeit eurer Lenden. Ego conjugo vos in matrmonium. In nomine patris et filii et spiritus sancti.«

»Amen«, respondierte der Träger des Schwertes.

Nur einer saß stumm an der Tafel, stumm wie ein Fisch aus der Tiefe des Meeres.

Das war Hermann Wandscherer, der reiche Tuchherr aus dem Kirchspiel über dem Wasser. Er zählte zu den angesehenen Geschlechterherren in Münster. Sein Name hatte einen langen Arm. Er reichte weit und griff über die Meere. Als Vorsteher des Wollweberamtes, hatte er bis zu den jetzigen Wirren seinen Wohlstand gemehrt, dem münsterischen Handel und Wandel eine ausgeprägte Note gegeben. Seine Kontore und Faktoreien lagen zwischen der Jüdenfelder- und Hollenbeckerstraße. Von hier aus wurden emsige Beziehungen mit Flandern, Seeland, Brabant und dem fernen Osten unterhalten, die sich teils auf besondere Verträge und Privilegien, teils auf die Rechte und Verpflichtungen des hanseatischen Bundes stützten ... und wo es hieß: die Tuche Hermann Wandscherers sind wieder auf Lager, erzielten die aufgestapelten Waren doppelte und dreifache Preise. Aber kein Hochmut warf ihn aus der schlichten Bahn des Lebens, beredete ihn, die steile Leiter des Unerreichbaren zu erklimmen. Er blieb, was er war: der einfache, wenn auch selbstbewußte Mann vor Gott und seinem eigenen Gewissen.

Des Hände lagen verkrampft auf der Tafel. Des Auge hatte die Starre des Todes angenommen. Des bleiches und glattrasiertes Gesicht war noch bleicher und glattrasierter geworden. Seine Blicke gingen ins Leere, ins Wesenlose hinein, als müßte sich dort ein gegensätziges Wunder aus dem Unermeßlichen ringen.

Knipperdolling maß ihn mit suchenden Blicken und wog seine Gedanken. Sie kamen ihm zu leicht vor. Die Gewichte, mit denen sie wogen, schienen ihm keine zuständigen Gewichte.

Er trat auf ihn zu und legte ihm die Hand auf die Schulter.

»Was habt Ihr, Bruder in Christo? Warum fiel Euch nicht bei, das ›Amen‹ zu sprechen? Es ist doch also der Brauch unter Gleichgesinnten in Sion.«

»Knipperdolling, ich komme mir vor, als wäre ich auf einem sandigen, menschenleeren und toten Eiland gestrandet. Dort kann ich nicht leben. Im übrigen – erspart mir die Antwort.«

»Es wäre schon besser. Ihr hieltet mit Euren Gedanken nicht hinter dem Berge. Unter Gleichgesinnten blendet man nicht Herz und Laterne ab.«

»Ich sage noch einmal und bitte darum: Erspart mir die Antwort.«

»Warum das?«

»Man soll gegen die Gesichte des Königs nicht angehen.«

»Wie soll ich das nehmen?«

Da erhob sich der Tucher, der Mann, der als der Gerechtesten einer die neue Lehre durchpilgerte, um an den Quell der Erkenntnis zu gelangen und lauteres Wasser aus dem Felsen zu schlagen.

Das scharfgemeißelte Antlitz stand ehern im Raum.

Eckig und spröde fielen ihm die Worte vom Munde: »Träger des Schwertes, das mit dem Engel des Lichtes ... Ich glaube sn den Engel des Lichtes, wie ich an die Bibel und die Auferstehung des Fleisches glaube, aber das mit der Botschaft ...«

»Was soll's mit der Botschaft?!«

»Ich meine, da Ihr nach einer Antwort gelüstet: Ich bin anderer Ansicht.«

»Wieso das?«

Um die Mundecken Knipperdollings zogen sich unwirsche Kanten.

»Träger des Schwertes, möglich, der Satan hat die Worte des Cherubs verstört, sie umgeprägt und Falsches in die Ohren des Königs getragen.«

Da hob sich Rottmann vom Estrich.

Sein Blick war wie der eines Stieres, dem ein rotes Tuch in der Koppel begegnete.

»Wandscherer«, rief er mit heißem Atem, »wie kommt Ihr zu dieser Auslegung, wo wir herzenseinig gingen bis zu dieser Stunde? Glaube! Nur so sind wir dem Göttlichen nahe. Nur so wird der Leib durch die Seele geknechtet. Alles übrige ist Nürnberger Tand oder eine mißtönige Schelle. Die Frage ist dringlich und läßt sich nicht abweisen: Seid Ihr Anabaptist oder seid Ihr kein Anabaptist?«

»Mit Herz und Mund und aus tiefster Seele habe ich auf die neue Lehre geschworen, so wahr mir Gott helfe.«

»Aber Ihr zweifelt?«

»Rottmann, Ihr sagt es.«

»Jeder Zweifel kommt aus trüber Gesinnung.«

»Bei mir ist das anders. Mein Denken ist lauter. Mit beiden Füßen wurzele ich in gläubiger Erde. In Glaubens- und Handelssachen habe ich stets mit ehrlicher Elle gemessen. Die Evangelien und die Apostelgeschichte zeugen für mich.«

»Gott offenbart seine Gesetze, und Gott hat die Macht und Befugnis, sie hinwegzunehmen oder ihnen eine andere Deutung zu geben.«

Rottmanns Schwärmerantlitz gefiel sich in einem bitteren Lächeln. Es war herber denn Wermuth, schlimmer denn ein Aufguß von Schlehenwasser.

»Ihr bangt wohl als Witwer davor, ein neues Weib oder mehrere an Euer Herdfeuer zu setzen, um Sion zu dienen?«

»Das weniger. Ich bin über die Jahre hinaus. Meine Tage sind mehr oder weniger gezählt, schreiten bereits durch das Leuchten des Abends. In meinem Hause ist kein Raum mehr für eine freudenreiche Ehegemeinschaft. Mein Bett steht schon siebenzehn Jahre verwaist.«

»Was fürchtet Ihr denn?«

»Rottmann, ich habe eine mannbare Tochter.«

»Das weiß ich, und diese Tochter ist schön wie eine Blume des Feldes. Sie ist ein versiegelter Garten und eine verschlossene Quelle. Drum freut Euch doch, daß ein Mann ihr beiwohne.«

»Tue ich auch und harre der Stunde des Aufgebotes, denn sie ist mit dem Erbmann Raban von Bischopink von und zur Getter versprochen. Aber ich will, daß sie einspännig bleibe, daß ihrem zukünftigen Gatten nicht beikommt, sich ein zweites oder gar drittes Weib in ehelicher Gemeinschaft an die Seite zu legen; denn es ist ein Greuel vor dem Herrn.«

»Wandscherer, wahrt Eure Zunge. Ihr hörtet doch die Botschaft des Cherubs mit den siebenfältigen Schwingen?«

»Ich hörte sie, aber ich sagte schon vor wenigen Augenblicken: Möglich, der Satan hat die Worte des Engels verstört, sie auf einer nichtswürdigen Präge umgemünzt, ihnen eine anfechtbare Deutung gegeben und so Falsches in die Ohren des großmächtigen Königs getragen.«

Seine Hand hob sich und senkte sich wieder.

»Denn wisset: die Vielweiberei ist die Sittenlosigkeit von Ninive und Babel, die Belialwirtschaft von Arbela, die Unzucht von Amathont, wo die Weiber ohne Gürtel und Schleier unter den Ölbäumen sitzen und die Fremdlinge im Namen Melittas erwarten, sie der Verstörung anheimgeben. Sie ähnelt dem Weib in der geheimen Offenbarung Johannis, des Theologen, das da reitet auf einem mißfarbenen Tier, voll der Lästerung, bekleidet mit Scharlach und Rosinfarbe, mit Golde, Perlen und Edelsteinen, und trägt einen Becher in der Hand, voll Greuel und Unsauberkeit ihrer Hurerei, auf daß es die Menschheit verderbe und die Glorie des neuen Tempels hinwegnehme. So steht es geschrieben.«

»Mensch«, schrie da der Prediger auf, »welch unreines Gefäß wagt es, seinen Inhalt in die Vorhalle des Herrn auszuleeren?«

Mit starrem Griff umklammerte er die Rechte des Sprechers.

»So also denkt Ihr vom Gesicht des Königs, Ihr, einer von den Zwölfen im Rat, den wir höher stellten denn viele im neuen Jerusalem? Aber meine Augen haben nichts gehört, meine Ohren sind taub geblieben wie die Brennnesseln, die keine Hitze mehr absondern; denn hätten meine Augen gesehen und meine Ohren gehört ...« und er schnürte die eingefangene Hand mit der Faust eines Herrenmenschen. »Nein, mein Ohr sei verschlossen, meine Zunge sei stumm gleich der des Zacharias am Brandaltare des Allerhöchsten. Ich bin tot in dieser Stunde, denn wär' ich es nicht – es könnte immer geschehen ...«

Er gab die Rechte frei.

»Ich will nicht sehen und hören, nicht wissen und wollen; nicht um Euretwillen, nicht um des Bruders wegen in Christo des rosinfarbigen Weibes gedenken, denn täte ich es ...«

Und wieder das furchtbare Schweigen.

Knipperdolling hatte sich abgekehlt. Er bangte um ein kostbares Leben. Seine Blicke gingen in den Abend hinaus, dessen spärliche Lichter sich immer mehr ins Diesige verloren.

»Denn täte ich es ...«

Hinter ihm hub Rottmann aufs neue an, mit verhaltenen Worten, mit Tränen und Bitternis in der Stimme: »Wandscherer, drohende Schatten stehen wider Euch auf, bedecken Euch, wollen Euch mit schwarzen Tüchern ersticken. Tut Buße, denn was den Patriarchen zustand, was David und sein Folger im Amte als gottwohlgefällig erkannten, da sie bei Harfenbegleitung in ihrer Herzenseinfalt anhuben zu singen: Sechzig ist der Königinnen, achtzig und mehr ist der Kebsweiber und der Jungfrauen; aber die nach unserer Umarmung Gelüste tragen, ist keine Zahl ... da wollt Ihr Euch auflehnen gegen die Botschaft des Abgesandten mit den siebenfältigen Schwingen? Bedenkt Euch. Wir stunden die Antwort, stunden sie um Euretwillen, um des Friedens willen im Reiche des Vaters.«

Die einzelnen Worte fielen ihm hart, fast grausam von der Zunge, und dennoch: über das strenge Gesicht des Predigers zogen sich die Runen des Mitleids und die der Barmherzigkeiten.

Hoch standen sich die beiden Männer gegenüber.

Knipperdolling trat zu ihnen.

»Wandscherer, zeigt Eure Handfläche – aber die rechte.«

Seine Worte zerbrachen vor Erregung und tiefem Schmerz. In den fast erstorbenen Augen glimmerten die golddurchsprenkelten Pupillen wie die eines erregten Tieres.

Die Handfläche lag zwischen Dielen und Decke.

»Bedenkt Euch. Aber nicht lange. Die Zeichen sind bitter für Euch. Schuld und Schwert hausen dicht nebeneinander. Also bedenkt Euch.«

Da zuckte Wandscherer zusammen, wenn auch nur für eine Augenblicksspanne.

»Ich will es«, sagte er mit blutleeren Lippen.

Erhobenen Hauptes verließ er das Zimmer.

Die beiden sahen ihm nach, verstört und wortlos.

Die grauen Fäden des Abends spannen sie ein.

Sie wurden zu Schatten und zergingen wie Schatten.

Stille umlagerte den getäfelten Raum bis in die äußersten Ecken. Nur draußen ging gedämpft die Trommel der Scharwache, genau so wie die des Bischofs, der weit vor den Toren sein Feldlager aufgeschlagen hatte:

»Halliro! dum dirre, dum deine, Halliro! dum dirre, dum dum ...« und in dieses dumpfe Pochen hinein die Stimme Knipperdollings: »Wandscherer, möge der Herr es anders fügen, aber ich fürchte, du trägst bereits das Totenhemd unter der Ratsherrnschaube. Dir ist kaum noch zu helfen. Lasset uns beten ...«

Drittes Kapitel

Ja, lasset uns beten ...!

Die neue Lehre hatte Jahre um Jahre gleich einem wohlgemästeten Nagerpaar ein beschauliches Dasein in irgendeiner verlorenen Ecke gefristet, bis es sich als Männlein und Weiblein erkannte, ein Nagerpaar mit Rattenäugelchen und Rattenschwänzen, und Ratten vermehren sich wie die Heuschrecken des fernen Ostens, wie die Sterne unter dem blauen Kattun des Himmelreiches. Und die Brut gedieh unter der Emsigkeit der Tiere ins Unermeßliche, ging auf die Wanderschaft, um allüberall ihr Wachstum zu pflegen und neue Nester zusammenzutragen.

Ratten! Was Ratten ...?! Nicht Ratten waren's, sondern Propheten, suchende Männer, führende Geister und Schwärmerköpfe, die auszogen für Gleichheit und Gütergemeinschaft, für den gebenedeiten Lohn, ihren heimgesuchten Brüdern durch Predigt und Wiedertaufe das Reich Gottes zu bringen ... und sie mehrten sich wie die Geschöpfe mit den klebrigen Schwänzen ... und pilgerten nach allen Gegenden der Windrose. Sie kamen aus Thüringen, aus Schwaben, aus Ostfriesland und Holland ... und ihre Zahl war maßlos, ihre Rede süßer denn Traubenbeeren, bitterer als Wermut mit Galle versetzt – alles in einem Atem genommen ... und wie der Bischof von Münster auch wetterte, Himmel und Erde in Bewegung setzte – die neue Lehre war nicht mehr aus seiner Diözese zu bannen.

Da erhob sich Carolus, seines namens der Fünfte, in wachsendem Unmut und schrieb an den Infulträger, der nicht fähig war, sich der großen Not zu erwehren:

»Wir von Gottes Gnaden, Carl der Fünfte, erwählter römischer Kaiser, zu allen Zeiten Mehrer des Reiches. Unsere Gnade und alles Gute zuvor.

Lieber Getreuer.

Es ist Uns zuverlässig versichert worden, daß die Bürger der guten Stadt Münster gegen Unser wohlgemeintes und heilsames Edikt, ingleichen gegen die auf der letzten Tagung zu Augsburg gegebenen Reichs-Verordnung abtrünnige Priester und sonstige Leute in Deine Stadt aufgenommen haben, so das unerfahrene Volk durch ungeheuerliche Reden von dem wahren Wort Gottes ab- und in Irrtümer führen, sowie hierdurch Haß, Feindschaft und Aufruhr erregen. Solches treibet zu Mord, Schwächung der Weiber und blutigen Wirren. Da es aber Unser Amt von Uns fordert, diesem Übel durch klugen Rat und zeitigen Mitteln zuvorzukommen, so wollen und befehlen Wir ernstlich, daß Du, der Du Bischof der münsterischen Diözese bist, auf das, was in besagter Stadt vorgehet, genau acht gebest, die aufrührerischen Prediger nicht nur ihrer Ämter entsetzest, sondern sie auch an Hals und Kragen belangest, und die rebellischen Bürger mit der gebührenden Strafe belegest, auf daß die Unbeteiligten in Friedfertigkeit und Ruhe dahinleben mögen.

Wir verbleiben Dir in Kaiserlichen Gnaden und allem Guten zugetan.

Carolus.«

Aber auch dieses verfing nicht. Es war zu spät. Der mächtige Heerzug ging vorwärts, unaufhaltsam, mit dem Weiterfluten eines unbekümmerten Stromes, dem es gelüstete, Gottes Wasser über Gottes Acker und weit ins Binnenland zu tragen. Thomas Münzer lag bereits auf der Strecke. Aus seinem Blut erhoben sich neue rebellische Köpfe. Die Bauern schlossen sich an. Ihr trauriges Lied dröhnte weit durch die Provinzen:

»Reich wollen wir werden, Daß Gott erbarm! Was wir hatten, han wir verloren; Jetzt sind wir arm!«

Es war nicht mehr zu helfen, kein Halten und Bannen mehr. Das bleiche Haupt der täuferischen Kirche stierte schon lange über die Mauerkronen und Zinnen von Münster.

Während dieser Zeit standen die Herolde der Welt über den Wolken, angetan mit dem Gewand eines Leviten, weiß in gold und mit klingenden Silberschellen an den Ärmelstauchen.

Sie waren wie Engel, ihre Gesichter wie Sonnen, ihre Haare gleich flammenden Feuergarben.

Man erblickte nichts Höheres und Ehrfurchtgebietenderes zwischen Himmel und Erde.

Und der erste Engel posaunete.

Da erschauerte das Land Westfalen und die Hauptstadt in ihm, die Bischofsstadt mit den vielen Türmen und Kirchen, die ihresgleichen nicht hatten.

»Darum sollt ihr vollkommen sein, gleichwie der Vater aller irdischen und überirdischen Welten vollkommen ist von Ewigkeiten zu Ewigkeiten.«

So die Posaune.

Und die Posaune verstummte.

Und als sie verstummte, siehe, da geschahen erschreckliche Zeichen und Wunder, die die Menschheit verstörten und von denen der Chroniste im Kirchspiel des heiligen Lamberti also erzählte: »Im Jahre des Herrn 1532 ließ sich im September etliche Wochen hindurch ein Schwanzstern sehen, der unter dem hellen Stern unter der Brust des Löwen, so man den Basilisk nennet, zuerst sichtbar wurde und durch die Jungfrau bis zur Wage seinen Lauf nahm. Sein Schweif ähnelte dem Reiherbusch, den die Großen unter den Sarazenen an ihrem Turban tragen, nur ins Tausendfältige und Abertausendfältige hinein, dazu glühender als die Flammen im Rachen des Behemoths, des Ungeheuers unter den Ungeheuern. Dieser nun wandelte sich im Laufe der Tage, nahm die Gestalt eines züngelnden Zweihänders an, dessen Spitze sich gegen Münster kehrte. Dann weiter: ein Hase, ein Geschöpf zwischen den Ackerfurchen, das sich sonst vor den Menschen fürchtet, des ferneren sich nur kümmerlich von den Gräsern und Dickwurzen des Feldes ernähret, kam aus freien Stücken durch eine der Torburgen und ließ sich dort greifen. Die Hühner ahmten die Hähne und die Hähne die Hühner nach, und die drei Sonnen, die plötzlich und ganz unversehens erschienen, täuschten die drei Religionen, die katholische, die evangelische und die wiedertäuferische, ebenso vor, als jene drei Sonnen – nach dem Tode Julius Cäsars – das Triumvirat. Und das nicht allein. In Harlem, einer Stadt in Holland, fand sich fast gleichzeitig ein toter Fisch, dessen Maul dreizehn Ellen an Maß hielt, an das Ufer geworfen. An selbiger Stätte nun war Johann Matthisson gebürtig, ein Anabaptiste vom reinsten und lautersten Wasser. Der reiste in Gemeinschaft mit seinem Weibe, der schönen Divara, ins Land der Roten Erde, um in Münster die neue Lehre unter die Menschen zu tragen. Ebenso machte sich Johann Bockelson aus Leyden auf die Strümpfe, ein Mann mit hohem Flug und stolz an Einbildung, ähnlich denen, die auf den Brettern tragieren und den Komödianten abgeben – woraus ersichtlich, was für ernste Bedeutung dem toten Fische zukam, dessen Maul dreizehn brabantische Ellen an Maß hielt. Kurz, es waren Zeichen und Wunder, die nicht zu den gewöhnlichen zählten.«

Und der zweite Engel posaunete.

»Tut Buße, der Tag des Gerichtes will kommen! Wer böse ist, der sei fernerhin böse; wer unrein ist, der sei fernerhin unrein. Aber wer fromm ist, der sei fernerhin fromm, und wer heilig ist, der sei fernerhin heilig. Denn Gott hat's ihnen gegeben in ihr Herz, zu tun seine Meinung, und zu tun einerlei Meinung, und zu geben ihr Reich dem Tier, bis daß vollendet werden die Worte Gottes.«

So die Posaune.

Und die Posaune verstummte.

Der Chroniste von Sankt Lamberti aber verkündete weiter: »In damaliger Zeit standen sich Rat und der streitbare Bischof von Münster als Widersacher scharf gegenüber. Katholiken und Protestanten hieben in die nämliche Kerbe. Unfried und Zuchtlosigkeit an allen Ecken und Enden. Der Sittenmangel des Klerus schrie durch die Wolken. Die Sauglocke in allen Tonarten zu läuten, gefiel ihm besser, als das schlichte, christkatholische, seligmachende Messeglöckchen zu ziehen und ihm allein die Ehre zu geben. Gutes und Böses fanden sich in ein und demselben Hexenkessel zusammen. Nonnen entsprangen den Klöstern, gaben ihre Rosenkränze und Skapuliere preis und erfreuten sich der gewonnenen Lustbarkeiten. Das Domkapitel war machtlos dagegen. Beelzebub regierte, fiederte den Freien und Unfreien die Bolzen, blies mit vollen Backen in den Hader hinein, in den entsetzlichen Hader, dem Rat und Bischof immer mehr zum Opfer fielen. Schwärme von Wiedertäufern kamen ins Land, erfüllten Gassen und Straßen mit drohenden Rufen: ›Bekehrt euch! Alles geht den Wandel der Krebstiere. Der Tag der gerechten Rache will kommen! muß kommen! ist schon im Anmarsch begriffen!‹ und immer so fort, bis sich die Stunde erfüllte.