Eloise: Sammelband zur düster-romantischen Fantasy-Serie »Eloise« - Jessica Wismar - E-Book

Eloise: Sammelband zur düster-romantischen Fantasy-Serie »Eloise« E-Book

Jessica Wismar

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Beschreibung

**Kämpfe für das Gute und werde zur Heldin** Eloise lebt in einer rauen und unerbittlichen Welt, in der jeder Tag ein Kampf ums Überleben ist. Doch sie hat ein Geheimnis, von dem nur sehr wenige wissen: Stets darauf bedacht, im Verborgenen zu wirken, setzt sie sich für die Armen ein, um ihnen in ihrem tristen Alltag ein wenig Hoffnung zurückzugeben. Dabei geht Eloise ein großes Risiko ein, und als sie schließlich enttarnt wird, scheint alles verloren. Doch gerade der Mann, der ihrer Existenz ein Ende bereiten könnte, ist ebenfalls viel mehr, als er zu sein vorgibt …  »Die rote Königin« meets »Robin Hood«   Jessica Wismar hat mit Eloise eine starke und entschlossene Heldin erschaffen, die bereit ist, für ihre Überzeugungen alles zu riskieren. Dieser Fantasy-Liebesroman ist ein Muss für alle, die gern packende und zugleich romantische Buchserien lesen.    //Dies ist der Sammelband zur düster-romantischen Fantasy-Serie »Eloise« bei Impress. Er enthält alle Bände der Reihe: -- Eloise 1. Hinter den Mauern des Feindes -- Eloise 2. Inmitten der Dunkelheit// Diese Reihe ist abgeschlossen.

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Impress Ein Imprint der CARLSEN Verlag GmbH © der Originalausgabe by CARLSEN Verlag GmbH, Hamburg 2020 Text © Jessica Wismar, 2020 Lektorat: Li-Sa Vo Dieu Coverbild: shutterstock.com / © aaltair / © DigiZCP / © Oliver Denker / Adobe Stock / © bereta Covergestaltung der Einzelbände: Dream Design - Cover and Art Gestaltung E-Book-Template: Gunta Lauck / Derya Yildirim Satz und E-Book-Umsetzung: readbox publishing, Dortmund ISBN 978-3-646-60620-1www.carlsen.de

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Die Macht der Gefühle

Impress ist ein Imprint des Carlsen Verlags und publiziert romantische und fantastische Romane für junge Erwachsene.

Wer nach Geschichten zum Mitverlieben in den beliebten Genres Romantasy, Coming-of-Age oder New Adult Romance sucht, ist bei uns genau richtig. Mit viel Gefühl, bittersüßer Stimmung und starken Heldinnen entführen wir unsere Leser*innen in die grenzenlosen Weiten fesselnder Buchwelten.

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Jessica Wismar

Eloise 1. Hinter den Mauern des Feindes

**Kämpfe für das Gute und wachse über dich hinaus!**Die Welt, in der Eloise lebt, ist rau und unerbittlich. Der Großteil der Menschen ist mittellos und lebt im Elend, Verrat und Verfolgung sind an der Tagesordnung. Doch Eloise hat ein gutes Herz – und sie ist eine Kämpferin. Stets darauf bedacht, im Verborgenen zu wirken, setzt sie sich für die Armen ein, auch wenn sie dabei ein hohes Risiko eingeht. Damit ist sie schon lange zu einer Legende geworden, deren wahre Identität kaum jemand kennt. Eines Tages aber geschieht das Unvermeidliche: Eloise wird enttarnt. Und obwohl auf ihre Taten die Todesstrafe steht, scheint es einen Mann zu geben, der das Urteil abwenden kann.

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Vita

Anhang

Danksagung

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© Annika Kitzmann

Neujahr 1990 wurde Jessica Wismar als zweite von vier Töchtern geboren. Was mit dreizehn Jahren als emotionales Ventil diente, wurde über die Jahre zu einer Leidenschaft und Texte, die zunächst nur für sie selbst bestimmt waren, dürfen jetzt auch andere begeistern. Als Mittlere war es für Jessica schon immer wichtig auch die andere Seite zu verstehen, was sie in ihre Charaktere einfließen lässt. Dadurch werden die Figuren facettenreich, was einen bis zum letzten Wort mitfiebern lässt.

Ich widme diesen Roman der Liebe meines Lebens, weil du mich jeden Tag etwas besser machst.

Kapitel 1

Der Umhang wehte hinter ihr her. Einen Haken um die Kisten in der Gasse schlagen, dann mit dem Fuß gegen die Wand treten, um sich in die entgegengesetzte Richtung zu bewegen, ohne das Tempo drosseln zu müssen. Sie hatte gelernt, wie man um Häuserecken herumkam, ohne langsamer zu werden. Sie hatte es lernen müssen. Das Knattern, das ihr Umhang im Luftzug ihres Sprints machte, war ein vertrautes Geräusch, eines, das sie gerne hörte. Ein leichtes Schmunzeln schlich sich in ihre Mundwinkel und schon ging es um die nächste Ecke. Wie sie in diese Situation gekommen war? Wie immer natürlich.

Sie huschte in ein Geschäft, nahm in einer fließenden Bewegung den Umhang ab und faltete ihn so, dass die hellblaue Innenseite ihres grauen Umhangs nach außen über ihrem Arm lag. Die Idee mit den zweifarbigen Kleidungsstücken hatte sie von den Reichen. Diese liebten es, ausgefallene Kleidung zur Demonstration ihres Reichtums zu tragen. Über so modischen Mist musste sie sich wirklich keine Gedanken machen. Sie hatte ganz andere Probleme. Aber diese Idee mit dem wendbaren Mantel war genial für sie, wenn sie mitten in der Masse untertauchen wollte. Das Verschwinden direkt vor deren Augen hatte sie inzwischen perfektioniert. Es war viel einfacher, mitten in der Öffentlichkeit unsichtbar zu werden als in einer dunklen Gasse. Mitten in der Menge rechnete niemand damit.

»Junge Dame, das ist kein Geschäft für Leute wie dich«, empfing sie einer der Verkäufer und trat hinter seiner Kasse am Tresen vor. Er trug ordentliche Kleidung, kein Fleck, nicht einmal ein Fussel war auf seinem dunklen Herrenanzug. Im Gegensatz zu dem Fetzen, den sie trug.

In ihrem speckig grauen Shirt waren überall kleine Löcher, der Saum war ausgefranst und Dreck hatte das gute Stück auch nicht wenig abbekommen. Ihre Jeans sah fast noch schlimmer aus. Offene Knie, notdürftig geflickte Löcher, die bereits wieder einrissen, und Schlammspritzer sogen sich an den Hosenbeinen fest.

»Ich wollte es mir nur mal ansehen«, erklärte sie sich und tat so, als würde sie sich für die Ware interessieren. Feine Mode für die Reichen der Gesellschaft. Das war doch sehr authentisch …

Sie sah aus wie ein Gossenmädchen, dessen Rolle sie sehr gerne spielte. Kein Geld, um sich täglich etwas zu essen zu leisten, und so mager, dass man ihr die neunzehn Lebensjahre nicht ansah.

Aber selbst wenn man ihr wahres Alter erkannte, würde niemand sie für die große Ketzerin halten. Deren Reden, Weisheiten, Weitsicht und kluge, besonnene Herangehensweise hatten das Bild einer gestandenen Frau in die Köpfe der Menschen gepflanzt; und ihre Anhänger schürten dieses Bild, wann immer sie konnten.

In diesem Moment rannten die Ordensbrüder draußen am Geschäft vorbei. Sie spannte sich an. Würde er den Zusammenhang begreifen? Die Schritte der kleinen Gruppe, die eigentlich gerade hinter ihr her war, waren noch nicht verhallt, da warf der Verkäufer ihr schon einen wissenden Blick zu. Verdammt.

Dieser hier war leider etwas scharfsinniger als die meisten anderen. Er hob eine Augenbraue und schaute demonstrativ hinter ihr auf die Straße. »Ich denke, ich rufe einen Nicolaner. Vielleicht will sich der auch nur mal ansehen, was du so an deinem Körper versteckt hast.«

Sie schnaubte. Kleider machten eben Leute, besonders in der heutigen Zeit. Zum Glück hatte niemand auch nur die geringste Ahnung, was sie vor ihnen verbarg. Das hieß, das stimmte nicht ganz.

»Security!«, rief er und sofort kam der Wachmann vom Eingang auf sie zu.

Bevor dieser sie mit seinen Pranken fassen konnte, duckte sie sich drunter hinweg, sodass er die Luft umarmte. Sie war flink und wendig. Flinker und wendiger, als sie sein sollte, als irgendjemand sein sollte. Aber man lernte die außergewöhnlichsten Dinge, wenn man Hunger hatte.

Eloise ließ sich tiefer in den Laden treiben. Der Verkäufer huschte hinaus vor die Tür und entzündete einen vorbereiteten Holzhaufen, der sofort anfing heftig zu rauchen. Auf diese Weise wurden die Nicolaner auf den Ort eines Verbrechens aufmerksam gemacht. Das war ein Kommunikationssystem, das sich in den letzten zehn Jahren etabliert hatte. Die Organisation, die frühere Generationen als Polizei kannten, war auf ein Minimum zusammengeschrumpft, und nach der großen Katastrophe hatten staatliche Organisationen wie die Polizei einfach kein Standing mehr gehabt. Sie waren dem Erdboden gleichgemacht worden und durch eine an Hass grenzende Ablehnung innerhalb der Gesellschaft auch nie wieder neu entstanden. Sie waren nach der großen Katastrophe niedergemacht, ihre Autos und Gebäude niedergebrannt und jeder, der mit einer Uniform herumlief, war angegriffen worden.

In den ersten zwanzig Jahren nach der Katastrophe waren alle staatlichen Organisationen, die versucht hatten Ordnung in das zu bringen, was übrig geblieben war, von den Menschen angegriffen worden. Selbst die Armeen. An die Stelle des Staats war schließlich der Glaube getreten.

Sie wartete hinter einem Kleiderständer darauf, dass der Wachmann auf sie zukam, doch er stand nur da und sah sie grimmig an. Sein adretter Anzug im Marineblau der Diener der Reichen spannte über den dicken Muskeln des Mannes. Er würde von seiner Statur eher ins Hafenviertel passen als hier in einen Laden der Reichen.

Sie federte auf ihren Fußballen und machte sich bereit zu reagieren, doch dann wurde ihr klar, dass der Wachmann lediglich vorhatte den Ausgang zu sichern, bis die Nicolaner hier waren. Das trieb ein wildes Grinsen auf ihr Gesicht.

Diese Idioten. Wussten sie denn nicht, dass sie ein weitläufiges Netz an Fluchtwegen in der Stadt hatte? Unter den Armen war es allgemein bekannt. Wie ignorant musste man sein, um die niedere Bevölkerung so zu unterschätzen?

Eloise zog sich rückwärts in eine Umkleidekabine zurück und achtete nicht auf die Frau, die sich panisch das Kleid vor die Brust hielt und schrie. Ihre Rundungen und die scheinbar makellose Haut interessierten Eloise wenig, aber was dahintersteckte … Keine Narben von Krankheiten, gegen die sie behandelt worden war. Keine hervorstehenden Knochen, da sie täglich ausreichend zu essen bekam.

Dank der Katastrophe war der Spalt zwischen Arm und Reich noch größer geworden. Während die Reichen sich extravagante Luxusgüter leisteten, kämpften die Armen in ihren Dreckslöchern ums Überleben und fühlten sich manchmal mehr wie Sklaven denn wie freie Menschen.

Eloise stemmte Arme und Beine gegen die Kabinenwand aus glattem Kiefernholz und kletterte den kurzen Abstand bis zur Decke. Dort hob sie eine Zierleiste an, der man zuvor nicht angesehen hatte, dass sie lose war. Sie hievte sich durch das Loch in die Zwischenebene. Eigentlich ein dämlicher Schachzug, denn die abgehängten Decken in den Geschäften hielten keine Last aus. Aber sie konnten alle nicht wissen, dass hier ein Zugang zu einer ihrer Fluchtstraßen war.

Ihr Gewicht auf den Stützstreben balancierend hob sie ihre Beine bis hinauf zur Betondecke, in der ein durch die abgehängte Decke verborgenes Loch war, der Zugang. Sie schob sich hinauf durch das Loch im Beton, stützte sich dabei an den rostigen, rauen Stahlstreben ab, die aus der Masse in das Loch ragten, und kroch dann den Gang entlang, den es eigentlich gar nicht gab. Damit verriet sie ihnen zwar einen ihrer Fluchtwege, aber für Situationen wie diese waren die Wege schließlich angelegt worden. In Notfallsituationen musste sie dann ab und zu einen ihrer Wege verraten, das ließ sich nicht vermeiden.

Eloise robbte auf ihren Unterarmen den niedrigen Gang entlang. Schon um zu krabbeln war dieser Gang nicht hoch genug. Sie passte kaum hindurch und bei der kriechenden Bewegung kam natürlich neuer Schmutz auf ihre Kleidung und der Mantel, den sie immer noch festhielt, war ganz schön lästig in dem engen Schacht. Ständig blieb das gute Stück an der rauen Oberfläche oder weiteren Metallstreben hängen. Sie musste penibel darauf achten, dass ihr Mantel nicht an den rauen Oberflächen oder Metallstreben hängen blieb und riss. Zumindest hatte es den Vorteil, dass die Nicolaner, die sie so gern verfolgten, nicht hinterherkamen. Einmal war einer in einem der Fluchtgänge stecken geblieben und wäre darin auch verreckt, wenn sie nicht eine ihrer Mäuse losgeschickt und einen Pöbel verursacht hätte, der dann den entscheidenden Tipp in seine Rufe eingebaut hatte.

Das Richtige zu tun bedeutete, ihre Hilfe jedem Menschen anzubieten auch jenen, die sie jagten und töten wollten. Eloise hatte vor sieben Jahren entschieden einfach nur das Richtige tun zu wollen, damit ein paar mehr Menschen die Chance auf Gerechtigkeit hatten und das hatte sie dann auch getan. Sie hatte sich nicht von Angst und Gefahr bremsen lassen. Ihr Leben, es war nichts wert gewesen. Wovor hätte sie also Angst haben sollen und für was sollte es eine Gefahr geben?

Natürlich konnte es passieren, dass das Richtige zu tun nicht die Gerechtigkeit nach sich zog. Denn Gerechtigkeit war etwas anderes als das Richtige. Jeder Mensch bestimmte subjektiv für sich selbst, was er für richtig hielt. Moral und Ethik dagegen sagten einem, was gerecht war. Nur hatten diese Werte in der heutigen Zeit wenig Platz in der Gesellschaft. Die Werte ihrer Zeit waren je nach Viertel sehr unterschiedlich, aber immer auf das Ich zentriert.

Ja, so hatte es damals angefangen, mit dem inbrünstigen Wunsch, für mehr Gerechtigkeit zu sorgen. Damals hatte sie nichts zu verlieren gehabt. Sie hatte nie eine Legende werden wollen, hatte sie wirklich nicht.

Aber jetzt war das anders. Sie hatte etwas bewegt. Sie stand für Hoffnung. Jetzt gab es Dinge, die sie fürchtete, Dinge, für die ihr Handeln eine Gefahr darstellte. Das machte es schwerer, das Richtige zu tun. Aber sie behielt ihre Überzeugung bei und kämpfte weiter. Alles, was sich geändert hatte, war, dass sie Hilfe brauchte. Allein konnte sie nicht gegen einen ganzen Glauben und seine Anhänger ankämpfen. Aber sie fand Freunde. Fand Menschen, die dachten wie sie. Viele Menschen. Arme Menschen.

Eloise kam am Ende an und ließ sich auf die Mülltonnen gleiten. Sie sprang runter in die Gasse und schlenderte dann zu ihrem Versteck im Westviertel. Sie hatte in jedem Viertel einen Unterschlupf und mehrere sichere Häuser, in denen sie zur Not untertauchen konnte.

Gemütlich schlenderte sie durch einen Hintereingang in ein Lokal. Sie grüßte die Menschen in der Küche, die wie immer in hektischer Betriebsamkeit durch den Raum wuselten. Die Leute hier waren an ihren Anblick gewöhnt und ahnten vermutlich auch, wer sie war. Aber es war einfacher nur ein Gossenmädchen in ihr zu sehen, das irgendwie mit der großen Ketzerin zu tun hatte. Wer würde schon gerne zugeben, dass ein hageres neunzehnjähriges Mädchen alles in dieser Stadt auf den Kopf stellte? Und da die große Ketzerin vor sieben Jahren das erste Mal in Aktion getreten war, müsste es im Grunde noch ein Kind gewesen sein, das gegen die Ungerechtigkeit aufgestanden war, die ihnen allen widerfuhr. Man glaubte lieber an ein Bild einer Person, als sich einzugestehen, dass man von einem Kind gerettet wurde.

»Hallo«, grüßte Ernie, der Küchenjunge, als sie durch den Hintereingang in die Küche trat. Der Junge trug eine dreckige Schürze um seine Hüfte und das ehemals weiße Hemd war voll mit Flecken, die vor allem nach Tomatensoße aussahen. Seine roten Haare standen wirr von seinem Kopf ab und ein feiner Schweißfilm ließ seine Stirn glänzen.

»Ernie.« Sie nickte ihm zu.

»Hunger?«

Sie hob eine Augenbraue und musterte ihn neugierig.

»Der Schlachter hat seine Reste gebracht«, erklärte Ernie.

»Noch Brauchbares dabei?«

»Diesmal schon …« Ernie grinste verhalten und sie erwiderte es.

»Echt? Cool.«

»Das war sie«, erklärte Ernie mit diesem Strahlen in den Augen, das sie alle hatten, wenn sie von der großen Ketzerin sprachen.

»Davon gehe ich aus«, bestätigte Eloise. »Schließlich ist das ihre Aufgabe.«

Er nickte groß. »Aber sie kann auch nicht jede Ungerechtigkeit rächen. Da ist es toll, dass sie so schnell bei uns eingegriffen hat.«

»Nicht schnell genug«, seufzte sie so leise, dass er es nicht hörte, da er sich gerade zur Köchin umdrehte, die nach ihm gerufen hatte.

Sie hatten Ernies Mutter und zwei weitere aus der Belegschaft des Shine verloren. Die letzte Lieferung des Metzgers hatte viel verdorbenes Fleisch enthalten. In ihrem Hunger hatten sie es dennoch für ihre eigene Versorgung zubereitet und drei waren an den Folgen gestorben. Die Belegschaft bekam sowieso nur einmal die Woche Nahrungsmittel für sich selbst, alles andere ging in den Restaurantbetrieb. Wenn jemand Essen verlor, das für den Betrieb gedacht war, sei es auch nur durch einen Unfall und gar nicht durch Mundraub, so wurde derjenige beim ersten Mal ausgepeitscht. Beim zweiten Mal bekam er die Hand abgehackt und beim dritten Mal dann den Kopf. Diese Regeln waren der blanke Irrsinn.

Meistens ersetzten sie also irgendwie Essen, das verbrannt oder durch ein Versehen heruntergefallen war, damit niemand diese grausamen Strafen ertragen musste. Das machte sie noch ärmer, als sie sowieso schon waren, aber immerhin hielten sie fest zusammen und retteten einander. Die Reste des Metzgers, der diesen Laden belieferte, waren alles, was sie für sich hatten, um nicht zu verhungern. Ernie war mager, weit magerer als es ein Junge vor der Pubertät sein sollte. So konnte er nicht richtig wachsen und reifen.

»Ich bringe dir eine Portion«, verkündete er.

Eloise schüttelte ihren Kopf. »Du weißt doch, dass ich nichts von euch möchte.«

»Aber du bist so dünn«, beschwerte er sich.

Eloise zuckte mit den Schultern. Es wäre vernünftig sich immer erst selbst zu stärken, damit sie auch Kraft hatte, für andere einzustehen. Damit sie rennen und fliehen konnte. Aber das würde sie über andere erheben und das fand sie nicht richtig. Also nahm sie niemals von denen, die selbst nichts hatten. Das bedeutete aber, dass sie selten etwas bekam, denn jene, die hatten, waren auch nicht bereit zu geben.

Also ging sie wieder einmal hungrig die abgetretenen Stufen hinauf und ließ sich auf die alte Matratze fallen, die auf den staubigen Holzplanken des Dachbodens lag. Ein Zustand, den sie inzwischen gewöhnt war. Eloise seufzte.

Wie so oft lag sie nach ihrer Tour in einem ihrer sicheren Verstecke und dachte auch jetzt darüber nach, was sie noch tun konnte. Darüber wie sie zum Beispiel Ernie helfen konnte die Nahrung zu bekommen, die er eigentlich so dringend brauchte und kam wie immer bei diesem Problem zu keiner befriedigenden Lösung. Ihre Gedanken schlugen eine andere Richtung ein. Wie seltsam fehlplatziert dieser bullige Wachmann in diesem Geschäft der Reichen heute gewirkt hatte. Aber auch hier verweilte sie nicht lange. Wie so oft kam sie bei grundlegenderen Dingen an. Dabei, was die Leute aus ihr gemacht hatten. Die Legende und all die Dinge, die sie angeblich wollte und dachte, erstaunten sie immer wieder. Sie war den Menschen nicht böse. Sie verstand es. Die Leute wollten hoffen können. Also hatten sie aus ihr eine Rebellin gemacht. Eine Ketzerin, die den Glauben verabscheute.

Wieder seufzte sie schwer. Wenn es doch nur so einfach wäre.

»Na du alte Socke«, erklang eine neckende Stimme, die sie schmunzeln ließ, aus den Schatten bei der Tür.

»Hallo, Mac.«

»Ich habe von deinem kleinen Stunt heute gehört. Nette Nummer. Aber der Tunnel dürfte jetzt verloren sein.« Mac setzte sich neben ihre Matratze auf die Holzplanken in den Schneidersitz.

»Ich weiß, aber ich hatte keine Wahl. Ein Inquisitor war auf der Straße, nicht weit von dem Laden.« Sie richtete sich auf, stellte die Beine neben der Matratze auf den Boden und legte ihre Unterarme auf ihren nackten Knien ab, die durch die Löcher ihrer Jeans drückten.

»Ich weiß. Den Berichten nach war er dir dicht auf den Fersen. Wie konnte das passieren?«, wollte Mac wissen. Er sah sie mit seinen hellen Augen an und forderte mit seiner ganzen Körpersprache eine Antwort ein. Das leicht gereckte Kinn und die verschränkten Hände verrieten seine Einstellung zu den Dingen, die sie heute getan hatte.

»Die Umstände haben sich geändert«, erwiderte sie nur.

»Du und dein scheiß Herz«, schnaubte er. Was anderes hatte sie nicht erwartet. Allerdings ließ sie seinen Ausbruch wie immer unkommentiert – an seine provozierende Wortwahl hatte sie sich längst gewöhnt und er hatte seine feste Meinung zu ihren Beweggründen.

Aber es war schließlich ihr Herz gewesen, dass das alles begonnen hatte. All das hier, alles, was sie in diesen sieben Jahren zustande gebracht hatte, war durch ihr Herz entstanden.

Mac war einer der wenigen, die Bescheid wussten. Damals, als er ihr das Leben gerettet und herausgefunden hatte, wer sie war, hatte er es nicht glauben können, war enttäuscht gewesen und beleidigte sie seither in einer Tour.

Das Leben zeichnete sie alle. Einen jeden von ihnen und jeder ging anders damit um. Mac war zynisch geworden. Er trug den Hass wie ein Schutzschild. Nur durch ihre Anwesenheit und die Hoffnung, für die sie stand, hatte er aufgehört sich ständig zu prügeln. Seit jenem Tag hatte er keine Schlägerei mehr angefangen und auch nicht mehr mit den Fäusten seine Meinung vertreten. Er war ruhiger geworden. Nicht weniger zynisch, aber ruhiger. Er war nicht mehr von ihrer Seite gewichen. Auf seine kaputte Weise war er ein treuer Gefährte.

Neben ihm gab es noch Lis. Sie wusste nicht nur, dass Eloise die große Ketzerin war, als Heilerin hatte sie alle Geheimnisse entdeckt. Geheimnisse, die sie das Leben kosten konnten, wenn die falschen Leute sie herausfanden. Geheimnisse, die unter die Haut gingen.

»Ich sage es den Tunnlern«, fuhr er mit ihrem ursprünglichen Thema fort. Er ließ es zu, dass sie ihre Unstimmigkeit nicht ausdiskutierten. Jeder hatte seine Meinung und würde den anderen nicht überzeugen. Das wussten sie beide.

»Woher wusstest du, dass ich in dieses Versteck kommen würde?«, wollte sie wissen.

»Es war eines von drei möglichen und da war die Sache mit dem Metzger. Du musstest dich doch überzeugen.« Er zuckte mit den Schultern während er mit seinem Finger im Staub vor sich Formen zeichnete.

Eloise nickte nur. Er kannte sie eben. Er kannte sie sogar so gut wie niemand sonst in dieser Welt. Er war treu und er mochte sie. Es war nicht fair, das Leben. Das wusste sie und hatte es akzeptiert. In einer anderen Situation, in einer anderen Welt, da könnte sie den Mann vor sich mit diesen schönen grünen Augen lieben. Sie könnte ihm näherkommen und sich ihm öffnen. Aber sie lebten nun einmal in dieser Welt. Und in dieser Welt war der ganze verdammte Orden inzwischen hinter ihr her.

Sie durfte niemanden nah an sich heranlassen, den sie im Falle eines Falles mit in den Abgrund ziehen würde. Ihr Herz, so großer Antrieb es auch für ihre Sache war, war schließlich auch ihre Schwachstelle. Wenn die das irgendwann einmal verstanden, würde es nicht mehr lange dauern, bis sie sie erwischten. Sie hatte das Gefühl, dass dieser Tag nicht mehr so weit entfernt war.

Der neue Omni des Kriegerhauses war zu klug. Er würde sie sicher bald analysieren. Wenn die Inquisitoren sich an ihn wandten, würde er sie binnen weniger Monate festsetzen.

Deshalb ließ sie ihn beobachten. Sie musste wissen, was er machte. Die Berichte allerdings malten ein seltsames Bild. Eines, das sie wirklich nicht von einem der Anführer des Ordens erwartet hatte. Sie hatte sich daraufhin ein eigenes Bild machen müssen und konnte seither nicht mehr schlafen, ohne an ihn denken zu müssen.

»Der Metzger wird es andernorts versuchen«, erklärte sie im Aufstehen, um nicht mehr an den Omni des Hauses der Krieger denken zu müssen.

»Dann wirst du ihn wieder besuchen.«

Eloise schüttelte ihren Kopf.

»Ich hasse es, wenn du das tust«, warf er ihr vor und ballte seine Hände zu Fäusten. Er war wütend auf sie, vermutlich sogar enttäuscht. Aber sie konnte nicht von ihren Prinzipien abweichen, nur, weil er das nicht auf die Kette bekam. Sie wandte sich ab und starrte an die Dachschräge vor sich. Zwischen den Holzbalken hingen diverse Spinnenweben, die verdeutlichten, wie wenig dieser Raum genutzt wurde.

»Ich weiß.« Sie hätte ihm gern mehr gegeben. Verständnis oder sogar ihr Einlenken. Aber das ging nicht. Er war nicht wichtiger als die Sache. Niemand war wichtiger als die Sache. Seufzend verschränkte sie die Hände hinter ihrem Rücken und hob ihren Kopf. Sie schaute hinauf zum Giebel, wo die Decke marode und teilweise löchrig war. Das leise Trappeln von Nagetieren erklang in der Stille, die zwischen ihnen entstanden war.

Sie hörte ihn hinter sich aufstehen. »Sie sind Abschaum«, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hindurch. Die Abscheu ließ ihn seine Stimme erheben.

»Nicht alle, Mac«, erklärte sie sanft, während sie sich wieder zu ihm umdrehte. Sie wusste, es war leichter, die Dinge zu verallgemeinern, nicht zwischen den Übeltätern, die laut und auffällig waren, und jenen zu unterscheiden, die gutherzig waren. Aber einfacher bedeutete eben nicht richtig und schon gar nicht gerecht.

Was die Menschen wohl sagen würden, wenn sie wüssten, was sie wirklich alles tat? Würden sie wie Mac zwischen Abscheu und Anerkennung schwanken? Würden sie irgendeinen großen Plan in ihr Verhalten interpretieren? Der Mob konnte brutal und ungerecht sein. Sie würden sie sicher hassen.

»Wenn du den Metzger durch Nicolaner festsetzen lässt, werden Ernie und die anderen nichts mehr zu essen bekommen«, wandte Mac ein, der versuchte ihr ein schlechtes Gewissen zu machen. Das hasste sie. Aber es war nichts Neues, weshalb sie jetzt auch keine Wut empfand, sondern Resignation.

Eloise seufzte. In Momenten wie diesen fühlte sie sich wie die Vierzigjährige, für die man sie hielt. Es kam ihr so vor, als könnte sie gar nichts bewegen. Sie schaffte es ja nicht einmal, ihrem treusten Begleiter die Augen zu öffnen, obwohl sie es immer und immer wieder versucht hatte. Erfolglos, wie sich herausstellte. Der Hass und der Neid auf jene, die es so viel besser hatten, saß einfach zu tief.

»Wir finden eine andere Lösung«, entschied sie. Es war leichter ihn von seinem Hass abzulenken, als ihn zu überzeugen.

»Warum? Du könntest –«

»Nein!« Sie streckte ihm ihre Hand auf halber Höhe abwehrend entgegen und sah ihn fest an. Sie war mit ihrer Geduld am Ende. »Warum müssen wir das immer wieder diskutieren? Wir machen das nicht. Das ist Erpressung und Korruption. Das ist falsch! Ich habe ihm eine zweite Chance gegeben. Wenn er sie wegwirft, muss er bestraft werden. Wo kommen wir hin, wenn niemand eine Strafe befürchten muss? Oder wenn, wie du nicht müde wirst mir vorzuschlagen, ein ausgewählter Kreis an Anhängern keine Strafen befürchten muss. Das ist organisiertes Verbrechen, Mac. Das ist das Gegenteil von dem, wofür ich stehe!«

Mac murrte nur leise vor sich hin. Er wusste das im Grunde. Sie hatten das schließlich mehr als nur einmal durchgekaut. Deshalb verstand sie nicht, warum er es wieder vorschlug.

Es klopfte und dann trat eine ihrer Mäuse ein. Mia war eines von vielen verwaisten Kindern dieser Stadt. Kinder, die früher aufgrund von Hunger und Krankheit oft den Tod gefunden hatten. Bis sie irgendwann Teil von ihrem Netzwerk geworden waren. Erst waren es nur wenige gewesen, die nur geblieben waren, weil sie ihnen zu essen gegeben hatte, wann immer sie konnte. Doch dann war mehr daraus geworden. Die Mäuse hatten begonnen sich zu organisieren und waren jetzt die wichtigste Säule ihres Netzwerkes. Aber für Eloise waren sie inzwischen mehr als das. Sie waren das, was einer Familie für sie am nächsten kam.

Das kleine Mädchen war außer Atem, es musste gerannt sein. Die Maus kam zu ihr gehuscht und warf Mac einen nervösen Blick zu. Eloise ging in die Hocke, als die Maus zu ihr trat und ihr sofort zuflüsterte, was sie zu berichten hatte.

»Marktplatz. Inquisitor und drei Nicolaner. Willi und Berta.« Ein kurzer Bericht, der ihr alle Informationen lieferte, die sie brauchte. Eloise stand auf, um sich zu bewaffnen und ihren Mantel zu tauschen.

»Der Mann mit Herz ist in der Menge aufgetaucht. Getarnt.«

Sie wirbelte herum. Verdammt. Das war gefährlich. Sie durfte diesem jungen Omni von sich nur so wenig wie möglich preisgeben. Wenn sie auftrat, musste sie das Gossenmädchen spielen. Sie durfte keine Unterstützung haben und keinen grandiosen Fluchtweg.

»Ernie hat Essen«, sagte sie zur Maus und wollte aufbrechen.

»Ich begleite dich«, entschied die Maus.

»Ich auch«, brummte Mac.

Sie sah von der Maus zu Mac. Sie hatte keine Zeit zu streiten. Also kehrte sie die Anführerin heraus. Sie sah ihm fest in die Augen. »Nein!«

»Wag es ja nicht, heute Abend nicht nach Hause zu kommen«, verlangte er. Wenigstens diskutierte er nicht. Sie war offenbar autoritär genug aufgetreten.

Sie nickte und spürte wieder den vertrauten Schmerz darüber, dass sie ihn nicht in ihr Herz lassen durfte.

Einen kurzen Moment noch sahen sie einander in die Augen, dann preschte sie los, der kleinen Maus, die schon vorgerannt war, hinterher. Mia gehörte zu den klügsten Mäusen. Das Mädchen hatte die Entscheidung wahrgenommen, noch ehe sie Mac ihr Nein an den Kopf geschmissen hatte.

Sie huschten durch die Gassen der Hinterhöfe und rannten um Ecken, als wären es gerade Gassen. Wie schon vorhin auf ihrer Flucht nutzte sie die Wände der engen Gassen, um sich im Rennen mit ihrem Fuß daran abzustoßen und so schneller um die Kurven zu kommen. Seitdem die Mäuse ihren Laufstil nachgeahmt und erlernt hatten, war keine von ihnen mehr erwischt worden, obwohl ihre kindlich kurzen Beine sie eigentlich langsamer machten als die ausgewachsenen Nicolaner.

Die Menschen, die sie vorbeirennen sahen, wandten ihre Köpfe schnell ab. Eloise wusste nicht, ob es war, weil man lieber nichts wusste, oder ob ihnen klar war, dass sie zur großen Ketzerin gehörte und deshalb geflissentlich wegsahen. Sie hoffte auf zweites. Sie versuchte ihnen allen durch ihre Handlungen als große Ketzerin klarzumachen, wie wichtig es war zusammenzuhalten, wie die Menschen in Ernies Küche. Gemeinsam konnten sie das Leid besser ertragen, sie konnten besser überleben.

»Fünfzig«, keuchte die Maus und sie verfielen in einen locker schlendernden Gang, als würden sie rein zufällig hier auftauchen. Als wären sie nicht gerade zehn Minuten im Vollsprint bei dieser sengenden Mittagshitze gerannt.

Fünfzig Meter, um runterzukommen. Nicht viel Zeit, aber genug. Sie war so gut trainiert, wie kaum ein Mensch in dieser Stadt. Sie konnte zehn Minuten rennen, ohne langsamer zu werden. Sie konnte sich in fünfzig Metern so weit herunteratmen, dass ihr Puls und ihre Atmung dem Ruhezustand glichen. Das war wichtig, um zu überleben und so viele wie möglich zu retten. Eine Motivation, jeden Tag über seine Grenzen hinaus zu trainieren. Wenn es Leben retten konnte, war der Schweinehund so leicht zu überwinden. Und der Schweiß, der ihren Rücken hinunterrann, war bei der feuchtheißen Luft, die fast immer in der Stadt herrschte, auch nichts Ungewöhnliches.

Die Maus zog sich die Kapuze in die Stirn und tauchte in der Menge unter. Eloise dagegen spielte das verwirrte Gossenmädchen, das neugierig wissen wollte, was hier vor sich ging. Dabei war sie so aufdringlich, dass sie immer weggeschubst wurde. Das löste eine Unruhe aus, bei der man sie immer weiter beiseitestieß. Die Menge geriet in Bewegung und am Ende fiel sie auf alle viere, mitten auf den Platz, auf dem das Schauspiel stattfand.

Sie motzte über ihre aufgeschürften Hände und tat so, als hätte sie nicht begriffen, wo sie gerade hineingestolpert war.

»Steh auf!«, befahl ein Mann direkt vor ihr.

Sie hob mit geschocktem Blick ihren Kopf und bekam große Rehaugen, als sie seine Robe erkannte.

»Herr, ich verstehe nicht«, stammelte sie und sah sich ängstlich um.

»Du hast hier nichts zu suchen. Geh zu dem Gesindel zurück, das dich losgelassen hat, oder ich peitsche dich aus«, drohte er.

Eloise spielte ihre Rolle perfekt. Sie jammerte voller Panik und gestikulierte wild und ängstlich. Aber im Grunde scannte sie nur die Situation. Aus irgendeinem, sicherlich fadenscheinigen Grund war Willi an den Peitschenpfahl gebunden und Bertie kniete vor dem Hinrichtungsbalken. Da musste etwas eskaliert sein. Egal was der Grund war, sie musste die beiden retten.

»Ich schwöre, ich habe nichts getan. Ich bin streng gläubig«, versicherte sie panisch weiterhin in ihrer Rolle. Der Nicolaner durfte nicht erkennen, warum Willi und Bertie sie so interessierten.

Der Nicolaner verdrehte genervt die Augen. »Das sind die beiden da auch.«

»Was haben sie gemacht?«, hauchte sie schockiert, als wäre die Tat beinahe zu böse, um danach zu fragen. Wenn sie gläubig waren und trotzdem wie Ketzer behandelt wurden, musste es schließlich schlimm sein.

»Die Frau hat den Inquisitor angegriffen!«

»Nein!«, hauchte sie und hob in gespieltem Entsetzen die Hand vor den Mund. Angegriffen? Bertie war ein Herz von einer Seele. Sie war gerecht und achtete nur darauf, dass sich niemand an ihrem Marktstand vordrängelte.

»Und der Mann da?« Eloise blickte zu Willi hinüber.

»Der musste festgebunden werden, weil er ihre gerechte Strafe verhindern wollte. Wenn er sich nicht besinnt, wird er ausgepeitscht werden!«, verkündete der Nicolaner überzeugt.

»Ihr seid eine Schande für den Glauben«, rief Bertie plötzlich in das Gemurmel der Zuschauer hinein, was sie alle zum Schweigen brachte.

Der Nicolaner neben Eloise wirbelte fassungslos herum und ging auf Bertie zu. Die Gelegenheit nutzend heftete sie sich scheinbar neugierig an seine Fersen und näherte sich so Bertie und Willi.

»Blasphemie!«, schrie der Inquisitor, der neben dem Hinrichtungsbalken stand. Es war derselbe Mann, der sie vorhin gejagt und nicht erwischt hatte. Sicher war er deshalb besonders reizbar. »Du wirst dein Haupt verlieren, Ungläubige!«

Der Nicolaner vor Eloise ging auf wenige Meter heran. Wie eine Motte, die vom Licht angezogen wurde, folgte sie ihm. Damit sie nah genug war, um einzugreifen. Sie schlich weiter, als der Nicolaner stehen blieb, und begaffte Bertie. Erst jetzt bemerkte der Nicolaner sie.

»Hey, du Gossenmädchen. Was machst du hier?« Er packte sie grob am Arm.

»Fesseln!«, befahl der Inquisitor zornig.

Die beiden anderen Nicolaner kamen auf sie zu, aber sie schlug wild um sich und verhedderte sich mit dem ersten Nicolaner. Sie stolperte in Berties Richtung und sie fielen zusammen. Im Fallen klammerte sie sich am Richtblock fest, an den Bertie gebunden war und löste scheinbar in tollpatschiger Unabsichtlichkeit die Kette. Wie aus dem Nichts tauchten zwei Mäuse auf und schafften Bertie fort. Sie tauchten schneller in der Menge ab, als irgendjemand begreifen konnte.

Eloise rangelte immer noch mit dem Nicolaner in gespielter Panik. Schließlich packte der Mann sie und zwang sie auf die Knie.

»Beim Herrn. Sie ist weg! O weh, die große Ketzerin ist bestimmt hier«, hauchte sie mit starrendem Blick auf den Richtblock gerade laut genug, dass die Umstehenden sie hören konnten.

Daraufhin brach ein großes Durcheinander aus. Die Menge geriet in Bewegung, schrie durcheinander und sorgte so dafür, dass wirklich jeder von Berties Flucht und der Einmischung der großen Ketzerin erfuhr. Die Menschen rannten in alle Richtungen.

Im Gewusel befreite jemand auch Willi, während der Inquisitor Befehle brüllte und die drei Nicolaner verzweifelt versuchten diese auszuführen. Aber immer wieder wurden sie angerempelt. Das war der richtige Zeitpunkt. Eloise kam auf die Beine und bahnte sich ihren Weg. Es war schwer, nicht eine sichere Route einzuschlagen, sondern das Chaos als Fluchtweg zu nutzen.

Tatsächlich kam sie nicht sehr weit. Sie wurde aus dem Strom heraus in eine Seitengasse gerissen, als sie gerade den Knoten gelöst hatte, mit dem der Nicolaner sie gefesselt hatte, und wurde gegen eine Wand gepresst. Sie keuchte überrascht, als sie ihn erkannte. Der Mann mit Herz, wie ihre Mäuse ihn getauft hatten. Er hatte sie zielsicher aus der Menge herausgezogen. War der Tag bereits gekommen? Hatte sie sich mit dieser Aktion enttarnt?

»Das Gossenmädchen«, murmelte er und musterte sie eingehend. »Bist du etwa noch dünner geworden?«

Das überraschte sie jetzt aber. Sie hatte ja viel erwartet, wenn er sie letztlich einmal stellte, diese Aussage in diesem Ton wirkte allerdings eher wie Sorge. Wie oft hatte er sie denn schon gesehen, dass er das überhaupt beurteilen konnte? Sie biss zornig ihre Zähne zusammen.

»Also nicht mehr so redselig und tollpatschig wie gerade auf diesem Platz.« Sie wandte sich zur Seite und versuchte ihm in die Hand zu beißen, doch er war natürlich auf eine Reaktion gefasst gewesen.

Im Bruchteil einer Sekunde zog er seine Hand zur Seite und hielt sie an ihrem Oberarm fest, außerhalb der Reichweite ihrer Zähne. Als Krieger war er stark und schnell. Es hatte sicher einen guten Grund, warum so ein junger Kerl Omni des Kriegerhauses geworden war.

Er lachte. »Spiel nur die Gossenratte. Ich weiß längst, dass mehr hinter dir steckt.«

Sie versuchte sich loszumachen, obwohl seine Worte sie entsetzten, doch sein Griff war fest.

»Warum hast du mich beschatten lassen?«, fragte er.

Das haute sie jetzt wirklich um. Sie vergaß sogar völlig sich gegen seinen Griff zu wehren. Fest presste sie ihre Lippen aufeinander und schluckte, um ihre Überraschung zu verbergen. Wieso wusste er das? Wie hatte er das überhaupt bemerken können? Sie musste herausfinden, was er wusste. Sie war so angespannt, dass es beinahe wehtat.

»Ah, das sah nach echter Überraschung aus. Du hast nicht geglaubt, dass ich es wusste.« Er betrachtete sie mit seinen graublauen Augen. Augen, die sie plötzlich bannten. »Also warum hast du mich beschatten lassen?«

Sie schluckte schwer. Dann fand sie endlich ihre Stimme wieder. »Ihr müsst Euch am Kopf gestoßen haben, Herr. Seht mich doch an. Ich bin ein Gossenmädchen. Wie sollte ich jemanden bezahlen?«

»Diese kleinen Kinder, die ganz eindeutig im Schatten für die große Ketzerin arbeiten, die haben nur auf deine Aktion auf dem Marktplatz gewartet. Sie haben auf dich gewartet. Ich habe die letzten Wochen bemerkt, wie sie mich beschattet haben. Und ich habe dich gesehen, viele Male. Zufällig an Orten in meiner Nähe. Für meinen Geschmack zu viele Zufälle. Sie haben mich für dich ausspioniert. Die einzige Alternative wäre, dass ihr alle für die große Ketzerin arbeitet und mich für sie ausspioniert«, schloss er.

»Ich arbeite für niemanden«, entgegnete sie impulsiv, weil das ein rotes Tuch für sie war. Sie hatte sich nie für etwas verkauft und das hatte sie verdammt viel gekostet. Das Einzige, was sie hatte überleben lassen, war der Schutz, der es einem brachte, sein eigener Herr zu sein. In einer Welt wie der ihren war dies der einzige Weg, um vor Übergriffen durch die Mächtigeren sicher zu sein.

»Das habe ich mir schon gedacht«, flüsterte er nahe bei ihr. Eloise hielt die Luft an. Er war so nah. Ein irritierender Impuls jagte durch ihren Körper. Er war der Feind, das durfte sie nicht vergessen. Auch wenn sein frischer, männlicher Duft ihr gerade in die Nase stieg und etwas in ihr auslöste, das sie so noch nie empfunden hatte.

»Also wieso lässt du mich beschatten, Gossenmädchen?«, wiederholte er.

»Wenn sich ein Omni in die Gossen schleicht und dann auch noch in Klamotten eines Bettlers getarnt, dann muss ein gutes Gossenmädchen doch herausfinden, was er vorhat«, erklärte sie.

Er hatte schon begriffen, dass sie mehr war als das einfache Gossenmädchen. Dann konnte sie ihn auch durch ihr Wissen verunsichern. Sie hatte sich zu unterlegen gefühlt. Das mochte sie nicht. Er sollte ruhig wissen, dass sie keinesfalls die Schwächere in dieser Szene war.

Er schmunzelte. »Und wenn ein Omni herausfindet, dass er beschattet wird, muss er herausfinden warum.«

Eloises Augen weiteten sich. Er war ihr, wirklich ihr und nicht dem Gossenmädchen, dichter auf den Fersen, als sie für möglich gehalten hatte.

»Ich muss zugeben, du bist eine gute Schauspielerin und sehr geschickt darin, so eine Situation wie gerade auf dem Marktplatz scheinbar zufällig zu lösen.«

»Ich weiß nicht, was Ihr meint, Herr«, erwiderte sie fest und fand zu ihrer Form zurück.

»Ich habe dich genau beobachtet. Du hast die Menge genutzt und mit diesen Kindern zusammengearbeitet. Du hast die Nicolaner mit ihren eigenen Waffen geschlagen. Ich bin beeindruckt«, gestand er. Kurz war sie durch sein Lob geschmeichelt. Aber sie durfte sich nicht umsäuseln lassen. Sie musste wachsam bleiben und ihre Rolle aufrechterhalten. Egal, wie viel er möglicherweise schon wusste. So konnte sie ihn vielleicht sogar in seiner Interpretation verunsichern.

»Warum tarnt Ihr Euch, Herr?«, verlangte sie von ihm zu erfahren.

Er lachte leise. »Wir beide wissen warum. Du hast mich schließlich beobachten lassen.«

Eloise schluckte. Also war ihr Eindruck richtig. Er hatte ein großes Herz und tat Dinge für die Leute, die er als Omni eigentlich nicht tun sollte. Verdammt. Er war einer von den Guten.

Plötzlich trat ihm jemand unerwartet die Beine weg. Eloise wusste, es war eine ihrer Mäuse und so zögerte sie nicht. Sie rannte. Die Kleine überholte sie und wies ihr den Weg. Der Marktplatz war an der Grenze zwischen Arm und Reich errichtet. Sie rannten also ins Nordviertel, weg vom Orden und dem Mann mit Herz. Wieder rannten sie so lange wie nötig.

Erst als sie sich unbeobachtet fühlten, schlüpften sie in ein sicheres Haus hier im Nordviertel.

Kaum dass sie im Inneren war, wandte sie sich an die Maus.

»Jetzt musst du aber was essen.«

Die Maus lächelte und wollte schon wieder davonhuschen, da packte Eloise das Mädchen am Kinn und schaute ihm fest in die Augen.

»Danke, Mia«, flüsterte sie und die Maus lächelte schüchtern.

Eloise ließ sie wieder los. Dann kehrte sie zu ihrem Alltag zurück. »Du hast dich aber nicht an die Regeln gehalten. Er weiß jetzt, dass er recht hat. Vorher war es nur ein Verdacht.«

»War es nicht und das weißt du. Er wusste es, also konnte ich dich auch befreien. Du hast dich nicht selbst befreit, also wird er nicht auf die Idee kommen, dass du sie bist. Er glaubt jetzt nur, dass du dich ihrer Mäuse bedienen kannst.« Mia zuckte mit den Schultern.

Eloise nickte schließlich zögerlich und gab ihr recht. »Aber wenn ich wirklich gefangen genommen werde …«

»Ich weiß. Wir alle wissen es und wir haben es geschworen. Heißt nicht, dass wir es richtig oder klug finden, aber wir wissen es«, murrte sie, dann verschwand sie. Die Maus würde sicher nichts mehr essen heute Abend, genauso wie sie selbst.

Eloise seufzte und ging dann die Stufen hinunter in den Keller, wo sie sich wieder auf eine ihrer Matratzen fallen ließ und die Beine anzog. Schlafen half gegen den Hunger, also versuchte sie das zu tun. Es blieb bei einem Versuch, denn der Mann mit Herz ging ihr natürlich nicht mehr aus dem Kopf. Er war besser als sie befürchtet hatte. Ja, er war einer von den Guten, aber er war ihr schon viel zu nah. Er würde bald herausfinden, wer sie war, und sie dann auch stellen. Er war besser als sie. Besser vernetzt, besser ausgebildet, womöglich auch ein besserer Kämpfer. Er würde sie schnappen, das wurde ihr klar. Sie hatte nicht mehr lang, um zu bewegen, was sie noch bewegen musste.

Eloise stand wieder auf und ging zu einem der Geheimverstecke in der Mauer des Kellers. Sie umschloss mit ihren Fingerkuppen einen Backstein, fummelte ihn aus der Mauer heraus und holte dann Kohlestift und Papier aus der kleinen Kammer dahinter hervor. Mehr stand ihnen nach dieser Katastrophe nicht mehr zur Verfügung. Sicherlich gab es noch rare Güter, wie Kulis zum Beispiel, aber diese kosteten unermesslich viel, da sie nicht nachproduziert werden konnten. Also konnten sich auch nur die Reichen der Gesellschaft solche Güter leisten. Und die Armen mussten sich mit Kohlestiften zufriedengeben. Aber das war es nicht, was Eloise bewegen wollte, auch wenn jemand eines Tages dafür kämpfen sollte, diese Ungleichheit zwischen Arm und Reich zu verringern. Es ging in ihrem Kampf nicht um Gleichberechtigung zwischen arm und reich oder Mann und Frau oder gläubig und ungläubig. Davon waren sie zu weit entfernt, als dass sie diesen Kampf in der Zeit führen könnte, die ihr noch zur Verfügung stand. Bei ihrem Kampf ging es um Menschenrechte.

Um jene Rechte, die für alle gelten sollten, aber in der Gesellschaft nach der Katastrophe schnell nur noch für die Reichen gegolten hatten. Jetzt wurde Recht gekauft und nicht mehr gesprochen. Das war es, was sie ändern wollte. Das war es, wofür sie kämpfte. Also schrieb sie, denn Worte waren eine Waffe, gegen die der Orden nichts ausrichten konnte … Die einzige Waffe dieser Art.

Kapitel 2

Mia schlenderte die Gassen entlang und nutzte die Schatten, wie es ihr die große Ketzerin beigebracht hatte. Es gab sie, solange Mia denken konnte, weshalb sie eines der wenigen Kinder war, die mit Hoffnung aufgewachsen war. Sie hatte keine Eltern wie die meisten Gossenkinder. Aber sie hatte etwas Besseres, sie hatte die große Ketzerin, eine große Schwester, die sich um alle kümmerte, die Hilfe brauchten. Diese Frau gab denen zu essen, die hungerten, und half allen, die Hilfe brauchten. Sie kämpfte gegen Ungerechtigkeit und löste Streit und Konflikte jeder Art. Außerdem lehrte sie Barmherzigkeit und Nächstenliebe. Zwei Güter, die in dieser Stadt nicht existiert hatten, als Mia geboren worden war.

Sie erinnerte sich nicht an diese Zeit. Sie kannte die Stadt VK nicht. Es war eine neue Zeit angebrochen, als diese Frau begonnen hatte zu handeln. Die Älteren teilten daher die Zeit ein in VK und MK – vor der Ketzerin und mit Ketzerin. Das hatte sich etabliert und doch hatten es die Nicolaner immer noch nicht begriffen. Sie hatten ihre große Schwester einmal als Bedrohung gesehen. Erst als sie einen weiteren Namen bekommen hatte, erst als man sie Rebellin nannte, hatte der Orden begonnen sich mit ihr zu beschäftigen. Das war so lächerlich, wo sich doch zu diesem Zeitpunkt rein gar nichts geändert hatte. Mia verstand nicht einmal, warum man sie Rebellin nannte.

Sie hatte viele Namen. Die meisten waren gute Namen. Die Hoffnung. Das war ihr Lieblingsname. Das Herz. Das war ihr erster Name gewesen und auch dieser gefiel Mia wirklich gut. Die Mäuse nannten sie alle am liebsten große Schwester. Mia auch. Es war ein schöner Gedanke, eine große Schwester zu haben, die sich um einen kümmerte.

Mia huschte in die dunkle Seitengasse und ließ sich dann in den Kanal hinab. Sie schmunzelte immer, wenn sie in den Tunneln unter der Stadt verschwand. Der Orden selbst hatte sie auf die Idee gebracht. Das und das Training ihrer großen Schwester hatte dafür gesorgt, dass sie seit fast zwei Jahren niemanden mehr verloren hatten. Vorher war ihre Zahl immer etwa gleich geblieben. Sie hatten so viele an den Orden verloren, wie sie neue dazugewonnen hatten. Jetzt aber wuchsen sie stetig weiter an.

Mia hörte die anderen Mäuse noch nicht, obwohl sie kaum noch hundert Schritte von ihrem Lager entfernt war. Sie hatten etwas entdeckt, draußen in den alten Ruinen, das richtig eingesetzt den Schall davon abhielt, ihr Lager zu verraten. Es war einer der Rohstoffe der alten Welt, die den Verfall über die Jahre überlebt hatten. Metall und viele Baumaterialien wurden mit der Zeit spröde und rissig. Plastik aber nicht. Daher gab es beinahe unerschöpfliche Vorkommen draußen in den Ruinen und die Mäuse hatten entdeckt, wie man es sinnvoll nutzen konnte.

Die Tunnel unter der Stadt waren ein weitläufiges Netzwerk, das vor allem unter der alten Ruine gigantische Ausmaße annahm. Es war wie eine Stadt unter der ehemaligen Stadt. Die Tunnler hatten dieses Netz erkundet und einige verschüttete Wege wieder so weit stabilisiert, dass man sie als Fluchtwege nutzen konnte. So waren die Mäuse in der Lage, jederzeit überall zu verschwinden und andernorts wiederaufzutauchen.

Daher konnten sie die Plastikvorkommen in der alten Ruine in aller Seelenruhe abtragen und hier unten nutzen. Sie hatten entdeckt, dass manches Plastik gut schmelzbar war und nutzten dieses als Verbindungsmittel zwischen den Plastikflaschen, die sie als Wand aufgeschichtet hatten. Es war wirklich perfekt für ihre Zwecke nutzbar.

Mia schritt die Gleise entlang. Mia, wie auch alle anderen Menschen ihrer Zeit, hatten nie eine U-Bahn fahren sehen. Aber das Netz unter der zerstörten Stadt, dessen Ausläufer bis unter ihre neu errichtete Stadt reichten, war Zeugnis dieser alten Technik. Ab und an verschlug es Tüftler hier herunter, die einen Weg suchten, die liegengebliebenen und oft verschütteten Wagons in irgendeiner Form doch noch zu nutzen, doch sie alle scheiterten. Die Wagen waren viel zu massig, um sie zu bewegen, und schon vor langer Zeit geplündert worden. Die Tunnler hatten ihr einmal erklärt, dass die Wagen früher von selbst gefahren waren. Das konnte sie sich nicht vorstellen. Wie sollte irgendetwas diese Wagen bewegen? Doch auf dem Schwarzmarkt hatte sie einmal von Elektrizität gehört, die Maschinen antreiben konnte. Mia hielt das für ein Hirngespinst. So etwas gab es nicht. Jedenfalls hatte sie so was noch nie gesehen und auch sonst niemand, den sie kannte.

Mia und die Mäuse liebten es in den Wracks zu spielen, aber da die Wagen das Einzige waren, was Anhänger des Ordens mal nach hier unten verschlug, mieden sie die alten Wagen die meiste Zeit. Doch Besuche des Ordens waren hier unten sehr selten, ihre Interessen lagen mehr an der Oberfläche, vermutlich weil sie keine Ahnung hatten, was sich hier unten alles abspielte.

Der Orden … früher hatten sie immer gesagt, sie hätten eine Maus an den Glauben verloren, aber ihre Schwester hatte ihnen nach und nach beigebracht, dass nicht der Glauben, sondern böse Menschen, die den Glauben nur vorschoben, sie holten. Nach und nach hatte sich ihre Begrifflichkeit geändert. Das und ihr Verhalten in den letzten zehn Monaten erweckten ein Bild, das keiner aussprach. Die Mäuse wussten es alle. Aber keiner sprach es aus, weil alle Angst vor der Wahrheit hatten. Wenn man es nicht aussprach, konnte auch niemand dieser Wahrheit lauschen und sie verbreiten. Sie hatten alle Angst, was in den Straßen los sein würde, wenn das erst einmal herauskam.

»Hey, Mia, ist sie sicher?«, wollte Luke wissen. Er hatte ihr vorhin auf dem Platz geholfen Bertie rauszuschleusen.

»Ja«, erwiderte Mia.

»Gut«, brummte Murat, der im Feuer stocherte. Sie drei waren die ältesten Mäuse. Nicht vom Alter her, sondern von der Zeit her, die sie hier waren. Der Orden hatte sie als Ratten bezeichnet. Ihre Schwester hatte erklärt, dass sie eher ihre Mäuse waren, denn der Begriff Ratte wäre viel zu negativ geprägt für das, was sie ihr bedeuteten. Ein Gedanke, den Mia sehr schön fand. Außerdem hatte ihre große Schwester ihnen erklärt, dass Mäuse neugieriger seien als Ratten und selbst an scheinbar unerreichbare Orte gelangen könnten. Mäuse wären eine unterschätzte Tierart, da man sie für schwach hielt. Deshalb, da stimmte Mia ihrer großen Schwester zu, war der Begriff der bessere für sie. Für den Orden waren sie sicher Ratten. Sie waren eine Pest für den Orden, ein Schädlingsbefall, den sie einfach nicht in den Griff bekamen. Und da Ratten in den Kanälen lebten, waren sie schließlich hierhergezogen. So hatte der Orden dafür gesorgt, dass sie an einen sicheren Ort gingen und sich ihm entziehen konnten. Das war ironisch und die Form von Zusammenhang, die Mia sehr genoss.

»Ich habe den Mann mit Herz im Chaos verloren«, motzte Leanne.

»Ich weiß«, seufzte Mia und ließ sich auf den Haufen Stoff fallen, der ihr Bett war. Sie war eine der Letzten, die nicht auf einer Matratze schlief. Ihre große Schwester stattete sie so gut aus, wie sie konnte. Wann immer sie eine Matratze in die Finger bekam, gab sie sie ihnen. Manche hatten sie auch aus den Ruinen geborgen, wenn die Reichen ihre ausgemusterten Luxusgüter durch ihre Diener dorthin bringen ließen.

»Das wird nicht wieder vorkommen«, versprach die Achtjährige. Sie gehörte zu den Besten, obwohl sie so jung war.

»Schon gut. Wir haben alle versagt.«

»Was meinst du damit?«, fragte Luke aufgebracht.

»Der Mann mit Herz hat bemerkt, dass wir ihn beschattet haben und nach heute die Verbindung mit unserer großen Schwester erkannt«, gestand sie ihnen und sie alle schwiegen.

Die Erwachsenen glaubten immer, sie würden viele Dinge nicht verstehen. Die dachten immer, sie wären noch zu jung, um die Zusammenhänge zu verstehen. Nur sie wusste, zu was die Mäuse imstande waren. Und wie es außer ihrer großen Schwester niemand erwarten würde, begriff ein jeder hier, wie gefährlich die Situation geworden war.

»Sie hat es geahnt«, flüsterte Leanne leise.

Den Verdacht hatte Mia auch schon gehabt.

»Denkst du?«, wollte Murat wissen.

Kurz zögerte Leanne, doch dann nickte sie. »Ja. Sie ist anders geworden. In den letzten zehn Monaten hat sie sich verändert«, gab Leanne ihre Gedanken preis.

Also sah Leanne die Sache genauso wie sie. Die Kleine hatte es auch begriffen. Ihre große Schwester hatte von Anfang an gesehen, dass dieser eine gefährlich werden konnte. Leanne und sie selbst hatten es nur begriffen, weil sie beide die Hoffnung aller so oft sahen und ihr so oft dienten. Und sie waren die ersten Mäuse.

Die Jungs hatten es schließlich noch nicht begriffen. Das war beängstigend. Keiner hatte es kommen sehen, keiner außer ihr selbst. Es hatte schon seinen Grund, weshalb sie erreicht hatte, was sie erreicht hatte. Kaum einer sah die Dinge so klar wie ihre große Schwester. Das machte sie mächtig, weit mächtiger, als sie gerne sein wollte. Mia folgte ihr genau deshalb so bedingungslos. Wer Macht hatte, gierte meist nach mehr davon. Sie nicht. Sie nutzte ihre Macht für das Rechte, aber niemals für etwas Eigennütziges. Und sie strebte nicht nach mehr. Das mochte Mia.

»Zehn Monate … ist das nicht der Zeitpunkt gewesen, als er Omni seines Hauses wurde?«, überlegte Luke mit gerunzelter Stirn.

»Ist also der Tag gekommen«, murmelte Murat.

»Was für ein Tag denn?«, hakte Leanne herausfordernd nach.

Die Jungs schauten sich kurz gegenseitig an. Der Blick, den sie tauschten, war unheilverkündend. Das war nicht gut. Sie hatten etwas vor, etwas Dummes. Normalerweise würde Mia nun sofort zu ihrer Schwester eilen, ein paar Worte tauschen und dann untertauchen für drei oder vier Tage. Aber ihr Instinkt warnte sie. Sie musste mehr wissen. Ihre Schwester würde mehr Informationen brauchen. Sie hatte die Jungs schon einige Male vor Dummheiten bewahrt. Dabei hatte Mia keine Ahnung, woher ihre Schwester immer wusste, was die Jungs planten.

Mias Blick huschte zu Leanne. Vielleicht war sie ja nicht die Einzige, die ihre Mitmäuse schützte, indem sie petzte.

»Was für ein Tag?«, wiederholte Leanne streng. Manchmal vergaß Mia, dass Leanne drei Jahre jünger war. Es war mehr, als wäre sie genauso alt. Sie verstand die Dinge in einer eigentümlichen und manchmal beängstigenden Klarheit.

Die Jungs schwiegen.

»Ihr wollt ihn umbringen«, schnaubte Leanne. »Das ist so typisch Junge und so dumm.«

Mia blieb beinahe die Luft weg. Sie übte sich darin, nicht zu reagieren, aber das war angesichts der wütenden und ertappten Mienen der Jungs schwer.

»Sie würde es euch nie verzeihen. Ihr wärt die längste Zeit Mäuse gewesen«, eröffnete ihnen Leanne.

»Na und? Wenn wir sie dadurch retten, dann zahle ich diesen Preis gerne«, blaffte Luke.

Diese tiefe Treue und Loyalität. Mia hatte nie gesehen, wie ein anderer Mensch als ihre Retterin das in einem von ihnen wachgerufen hatte. Straßenkinder waren vernachlässigte, gezeichnete Charaktere voller Wut und Unverständnis. Die große Schwester aber hatte sie nicht nur alle gerettet, sondern eine tiefe Bindung zu jedem Einzelnen aufgebaut. Jeden behandelte sie individuell. Jedem gab sie das, was er brauchte, wonach er sich sehnte. Sie war alles, für jede einzelne Maus. Mia verstand nicht, wie sie das bei ihrer stetig wachsenden Zahl immer noch hinbekam. Aber jeder sah sie einmal die Woche mindestens.

»Wenn sie den Mann mit Herz tot sehen wollte, hätte sie das heute selbst tun können«, warf Mia ein, was den heftigen Streit, der gerade zwischen Luke und Leanne entbrannt war, sofort erstickte.

»Soll heißen?«, fragte Murat ruhig.

»Er hat sie aus der Menge in eine Gasse gezerrt. Ich habe sie ganze fünf Minuten beobachtet, bevor ich eingegriffen habe. Sie hat nicht nur bestimmt zehn Gelegenheiten verstreichen lassen, ihn kaltzumachen, sie hat auch ihre Rolle des Gossenmädchens weitergespielt«, berichtete sie den anderen.

»Das würde sie nur tun, wenn sie damit rechnet, ihm noch weitere Male zu begegnen. Sie will ganz offensichtlich, dass er lebt«, begriff Leanne.

Mia nickte nur.

Die Jungs bissen ihre Zähne zusammen.

»Er ist eine Gefahr für sie«, beharrte Luke.

»Und das weiß sie«, wandte Mia ein und fixierte Luke. »Wenn du ihn ausschaltest, ohne dass sie es will, könntest du einen Plan, der womöglich seit zehn Monaten Bestand hat, zunichtemachen. Überleg doch mal. Sie hat uns ihn bewachen lassen. Beinahe ein halbes Jahr. Nur uns vier. Sie vertraut uns. Sie weiß um seine Fähigkeiten, sonst hätte sie nicht nur die Fähigsten von uns geschickt. Sie kennt ihn durch unsere Berichte vermutlich besser als die Bastarde in diesem Orden ihn kennen. Sie hat die Konfrontation in Kauf genommen, weshalb sie als Gossenmädchen kam und nicht als große Ketzerin. Sie plant etwas mit ihm. Also hüte dich einzugreifen!«

»Mal ganz davon abgesehen, dass ihr alles, was sie ist mit Füßen tretet, wenn ihr einen gütigen Menschen ermordet, nur weil er eine Gefahr sein könnte. Sie achtet das Leben und bestraft nur die Ungerechten. Niemals würde sie damit leben können, wenn ihr einen Unschuldigen umbringt«, ergänzte Leanne. »Egal welchen Preis für sie zu zahlen ihr bereit seid, damit ladet ihr unserer Schwester diese Schuld auf die Schultern. Ihr könntet unsere Retterin mit so einer Aktion brechen. Gerecht zu sein ist alles für sie. Wenn ihr beide in ihrem Namen ungerecht seid, was meint ihr, was das alles für Konsequenzen hat … für sie … und für eure Brüder und Schwestern«, ergänzte Leanne.

Luke, der gerade eben noch mit gerecktem Kinn und geballten Fäusten selbstsicher Leannes herausforderndem Blick begegnet war, gab seine Angriffshaltung auf und ließ sich nun neben Murat vors Feuer fallen. Die beiden starrten trübsinnig in die Flammen. Sie fühlten sich jetzt so hilflos, wie Leanne und sie schon seit einigen Augenblicken, seit sie begriffen hatten, dass der Mann mit Herz eine große Gefahr war. Eine Gefahr, der sich ihre große Schwester vollkommen bewusst war, die sie aber nicht zu bekämpfen gedachte. Mia hatte Angst. Angst um die anderen Mäuse, Angst um ihre Sicherheit. Aber vor allem Angst um ihre große Schwester, ihre Retterin. Etwas lag in der Luft und es schmeckte nach Gefahr.

***

Er saß an dem kleinen Tisch in seinem Schlafzimmer seinem Freund gegenüber und wusste nicht, wie er dieses Gespräch beginnen sollte, wenn er es denn überhaupt führen wollte. Es war sehr gefährlich, die Dinge auszusprechen, die in seinem Kopf herumgingen. Gefährlich für ihn und sein Haus. Aber er brauchte jemanden, mit dem er sprechen konnte. Er hätte mit Leonie gesprochen, immerhin war sie seine Frau und vermutlich die Einzige, der es egal wäre, dass der Orden in Gefahr war. Aber sie beide hatten es nie über eine oberflächliche Freundschaft hinausgeschafft. Deshalb lebte Leonie auch bei seiner Familie und nicht mit ihm zusammen im Ordenshaus in seinen Gemächern.

»Sagst du mir jetzt, was du willst?«, forderte Kagar ihn auf. »Du druckst schon seit Tagen herum.«

Kastor hob seinen Blick und sah seinen ältesten Freund unverwandt an. Sie saßen einander gegenüber an dem kleinen Tisch in seinen privaten Räumen. Was er vielleicht gleich aussprechen würde, durfte nicht an fremde Ohren gelangen. Diese Worte waren, wenn überhaupt, nur für seinen engsten Freund bestimmt. Kastor versuchte immer noch herauszufinden, ob er diese Dinge aussprechen sollte oder nicht.

Da seufzte Kagar genervt auf, stellte sein Weinglas vor sich auf den Tisch und lehnte sich vor. Er stützte seine Unterarme auf seinen Beinen ab und verschränkte seine großen Hände zwischen den Knien. »Du trägst etwas mit dir herum, alter Freund. Seit Wochen, wenn nicht gar Monaten. Du wirst es mir anvertrauen, wenn du so weit bist. Ich will nur, dass du weißt, dass mir klar ist, dass es um eine unangenehme Wahrheit geht, um etwas mit weitreichenden Folgen, denn sonst hättest du nicht so lange gebraucht, um dich mir anzuvertrauen. Ich weiß das, Kas. Wenn du bereit bist, werde ich es auch sein.«

Kastor musterte seinen Freund und ein Teil der Last fiel von seinen Schultern ab. Kagar hatte einige Dinge ungesagt gelassen, aber es war klar, wie er zu diesen Dingen stand. Er würde, egal wie erschütternd die Wahrheit womöglich war, ein treuer Freund sein und Kastor nicht verraten. Die Angst vor dem Verrat war ihm bis zu diesem Moment gar nicht klar gewesen.

»In der Zwischenzeit kann ich dir von einem interessanten Vorfall heute erzählen. Erinnerst du dich an Vapor?«

»Natürlich. Er gehört unserem Haus an«, murrte Kastor.

Kagar lachte leise. »Du hast recht. Das vergesse ich gerne mal. Der Typ ist so lächerlich.« Kagar grinste und rang damit auch ihm ein Schmunzeln ab.

Vapor war lächerlich. Und er hasste Kastor dafür, dass er Omni geworden war und nicht Vapor selbst. Der wurde nur Inquisitor. Dennoch war er ehrgeizig und die Berufer hatten ihn heute Morgen zum Hausinquisitor ernannt.

Ein höchst ärgerlicher Umstand, mit dem Kastor sich noch befassen musste. Der Hausinquisitor stand in manchen Dingen sogar über dem Omni des jeweiligen Hauses. Nicht überm Rat der Omni, aber über einem einzelnen schon. Das passte diesem Emporkömmling natürlich herzlich gut, aber Kastor befürchtete, dass Vapor völlig ungeeignet für so viel Verantwortung war. Das hatte sich auch heute direkt gezeigt. Die Szene auf dem Marktplatz war eine Schande für den Orden. Seit dem Ende seiner Ausbildung versuchte er in der Stadt das Bild und das Ansehen des Ordens zu verbessern, aber Vapor vernichtete seine mühseligen Bemühungen mit Aktionen wie heute.

»Der Kerl hat heute tatsächlich eine Marktständerin hinrichten lassen wollen. Einfach nur weil sie ihn nicht sofort bedient hat, als er an ihren Stand kam. Aus sicherer Quelle heißt es, dass sie ihm erklärt hätte, er müsse warten, bis er dran sei. Das hat er als Angriff gewertet und sie zum Hinrichtungsblock bringen lassen.« Kagar lachte laut.

Kastor konnte darüber nicht lachen. Dass es ein so alberner Grund war, beunruhigte ihn mehr, als er sagen konnte.

»Komm schon, das ist lustig«, animierte ihn Kagar.

»Ist es nicht. Er beschmutzt das Ansehen des Ordens in der Stadt.«

Kastor konnte seine Wut kaum noch beherrschen.

Kagars Lachen war wie weggewischt. »Gefährliche Worte, mein Freund.«

Das wusste er selbst, das musste sein Freund ihm nicht sagen. Kastor spürte, wie seine Schultern leicht herabsanken. Er fühlte sich ohnmächtig gegen dieses Gefühl der Wut. Er konnte nichts ausrichten und sollte es nicht einmal wollen. Doch er konnte es nicht ändern, er verabscheute, was Vapor in der Stadt anrichtete.

Erst schien Kagar noch etwas sagen zu wollen, doch dann wurde seine Miene wieder heiter und er erzählte weiter, als hätte Kastor nicht unverblümt gesagt, dass er das Verhalten des Inquisitors missbilligte. Der Einzige, der das durfte, war der oberste Inquisitor … Vapors Vater.