Emmanuel Macron - Michaela Wiegel - E-Book

Emmanuel Macron E-Book

Michaela Wiegel

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Beschreibung

Wer ist er nun, Sonnenkönig, Napoleon oder gleich Jeanne d'Arc? Kaum im Élysée-Palast, wird Emmanuel Macron, Frankreichs jüngster Staatschef, bereits mit den Geschichtsgrößen der Nation verglichen. Doch die französischen Grenzen sind dem Überflieger aus der Provinz seit Langem zu eng. Macron, Jahrgang 1977, ist nicht nur ein Kind des Euro, er träumt von den "Vereinigten Staaten Europas". Für die EU kennt er "nur Horizonte, keine roten Linien", wie Macron in seiner flammenden Grundsatzrede an der Sorbonne betonte. In Emmanuel Macron blickt Michaela Wiegel, FAZ-Korrespondentin in Paris, auf die europäische Vision des jungen Präsidenten und erklärt, warum diese gerade für Deutschland zur Herausforderung werden könnte. Kritisch nimmt Michaela Wiegel Macrons wichtigste Vorstöße unter die Lupe, der trotz Brexit und Separationstendenzen für eine Vertiefung der europäischen Beziehungen eintritt. Dabei macht sie deutlich, warum er vor allem seinen deutschen Nachbarn einiges zumutet: Denn mit Vorschlägen wie der Schaffung einer europäischen Einsatztruppe oder dem Aufbau einer funktionierenden Wirtschaftsunion hinterfragt Macron nicht nur deutsche Gewissheiten, sondern fordert zugleich mehr Solidarität von Europas führendem Mitglied jenseits nationaler wirtschaftspolitischer Interessen. Für ihr Buch über Europas derzeit mutigsten Visionär hat Michaela Wiegel mit zahlreichen Vertrauten, Mentoren und Familienangehörigen des jungen Präsidenten gesprochen – einschließlich großem Exklusivinterview mit Emmanuel Macron.

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MICHAELA WIEGEL

EMMANUELMACRON

EIN VISIONÄR FÜR EUROPAEINE HERAUSFORDERUNGFÜR DEUTSCHLAND

2. Aktualisierte eBook-Ausgabe 2022

© 2018 Europa, ein Imprint der Europa Verlage GmbH, München

Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich, unter Verwendung eines Fotos von © picture alliance / AA / Julien Mattia

Lektorat: Heike Gronemeier

Layout & Satz: BuchHaus Robert Gigler, München

Konvertierung: Bookwire

ePub-ISBN: 978-3-95890-212-1

Das eBook einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Nutzer verpflichtet sich, die Urheberrechte anzuerkennen und einzuhalten. Alle Rechte vorbehalten.

www.europa-verlag.com

Für Antoine, Maximilian, Antonia,Alexis und Leopold

INHALT

VORWORT

VORWORTZUR AKTUALISIERTEN TASCHENBUCHAUSGABE

Kapitel 1

FRANKREICH IM AUFBRUCH:

Wie Macron sein Land verändert und Europa gleich mit

Kapitel 2

EIN LEBEN ALS MODERNER BILDUNGSROMAN:

Jugend- und Lehrjahre in Amiens und Paris

Kapitel 3

DER PHILOSOPHENPRÄSIDENT:

Paul Ricœur und andere geistige Einflüsse

Kapitel 4

»ICH HÄTTE GERN NOCH EINEN KOFFERIN BERLIN«:

Macrons Verhältnis zu Deutschland

Kapitel 5

EUROPÄISCH, REFORMWILLIG UNDDEUTSCHLAND ZUGENEIGT:

Die Weggefährten des Präsidenten

Kapitel 6

EUROPA MON AMOUR:

Macrons europäische Überzeugungen

Kapitel 7

DIE MIGRATIONSFRAGE:

Ein strukturierendes Zukunftsthema Europas

ANHANG

Literaturverzeichnis

Danksagung

Über die Autorin

VORWORT

»Der einzige Weg aber, Frankreich zu lieben, ist es zu verstehen, das bedeutet zu versuchen, es zu verstehen.«

GEORGES BERNANOS, JULI 1942

Über Emmanuel Macron mag man denken, was man will. An einem Aspekt kommt man aber nicht vorbei: Macron zeichnet sich durch eine Hinwendung zu uns Deutschen aus, die ungewöhnlich ist. Jünger als Kennedy, liberaler als Blair, europäischer als Schröder, so habe ich den Kandidaten kurz vor der Stichwahl beschrieben, aber es fehlte ein entscheidendes Merkmal: germanophiler als seine Vorgänger. Doch warum Deutschland?

Emmanuel Macron ist der vierte Präsident, den ich aus der privilegierten Warte der Zeitungskorrespondentin in der französischen Hauptstadt beobachten darf. Nie zuvor erlebte ich einen Präsidentschaftskandidaten, der so sehr auf die deutsche Karte setzte. Eine seiner wichtigsten Wahlkampfreden hielt er an der Humboldt-Universität in Berlin. Noch vor seinem Sieg baute er vertrauensvolle Kontakte zu ganz unterschiedlichen Politikern auf – zu Wolfgang Schäuble und Sigmar Gabriel, zu Joschka Fischer und Angela Merkel. Unter seinen politischen Weggefährten sind viele, die Deutsch sprechen und unserem Land Sympathien entgegenbringen. Deutschland liegt auf Macrons persönlicher Landkarte ganz eng bei Frankreich, das hat sich auch nicht geändert, seit er in den Élysée-Palast eingezogen ist. Er wird nicht müde, die Deutschen mit Ideen zu bombardieren, sie anzusprechen und aufzurütteln. Macron wirbt so unverfroren wie keiner seiner Vorgänger um die Gunst in Berlin. So durfte die Bundeskanzlerin das Manuskript seiner »Initiative für Europa« gegenlesen, bevor er sie an der Sorbonne seinen Landsleuten enthüllte.

All das wäre vor zwanzig Jahren, als ich nach Paris übersiedelte, unvorstellbar gewesen. Damals lagen Bücher mit so vielsagenden Titeln wie »Vom nächsten Krieg mit Deutschland« und über »Die deutsche Versuchung«, Frankreich zu unterjochen in den französischen Buchhandlungen aus. Dem wiedervereinigten Land schlug unverhohlenes Misstrauen entgegen. Frankreich fürchtete sich vor einem »deutschen Europa«. Präsident Jacques Chirac zierte sich nach seiner Wahl, zum Antrittsbesuch nach Deutschland zu reisen; Bundeskanzler Helmut Kohl kam ihm im wahrsten Sinne des Wortes entgegen, und so fand die erste Begegnung in Straßburg statt. Philippe Séguin, der damals Chiracs Präsidentenpartei leitete, schleuderte bei einem meiner ersten Interviews wutentbrannt einen gefüllten Aschenbecher durch sein Amtszimmer, so sehr entrüstete ihn die Idee, seine Partei in die von der CDU/CSU dominierte Fraktion der Europäischen Volkspartei (EVP) im Europaparlament zu integrieren. Er werde vor den Deutschen nicht in die Knie gehen, verkündete er voller Rage. Auch Chirac widerstrebte es zutiefst, Deutschland entgegenzukommen. Beim EU-Gipfel in Nizza ließ er es auf ein Kräftemessen ankommen. Nächtelang musste weiterverhandelt werden, weil Chirac starrsinnig auf Stimmgleichheit mit Deutschland bestand. Erst die Aussicht eines amerikanischen Feldzugs im Irak führte dazu, dass sich Chirac und Gerhard Schröder zusammenrauften.

Unter Nicolas Sarkozy und François Hollande wurde das deutsch-französische Verhältnis nicht einfacher. Beide gehören der Nachkriegsgeneration (Jahrgang 1955 bzw. 1954) an, die Deutschland zur »benchmark« bestimmte, an der Frankreich gemessen wurde, ob bei der Geburtenrate oder beim Wirtschaftswachstum. Anders als in einem Konkurrenzverhältnis vermochten weder Sarkozy noch Hollande die Beziehung zu denken. Sarkozy fachsimpelte im Wahlkampf in deutlicher Anspielung auf Deutschland über die genetische Bestimmung, Völkermorde zu begehen, und bekundete, er fühle sich in Berlin »terrorisiert«. Als Präsident krachte er in Brüssel sofort mit dem damaligen deutschen Finanzminister Peer Steinbrück zusammen, weil er Sonderregeln für Frankreich aushandeln wollte. Das Paar »Merkozy« schließlich überdauerte den nächsten Wahlkampf nicht, weil Sarkozy die Kanzlerin als Wahlkampfhelferin kurzum auslud. Zu viel Nähe war nicht erwünscht. Mit Distanz zu Merkel warb auch François Hollande während seiner Kampagne. Als Präsident begann er mit Kraftmeierei gegenüber der Bundeskanzlerin, knickte dann aber ständig ein.

Es ist nicht bekannt, dass Chirac, Sarkozy oder Hollande jemals aus anderen als aus beruflichen Gründen nach Deutschland kamen oder Kontakte zu Deutschen pflegten. Warum aber fühlt sich Macron zu Deutschland hingezogen, und was schwebt ihm genau vor in der engen Zusammenarbeit zugunsten Europas? Diese Fragen werden die nachfolgenden Kapitel dieses Buches bestimmen. Die besten Antworten darauf hat Macron selbst gegeben, bei unserem Gespräch im Élysée-Palast. Die Macht hat ihn nicht verändert: Er ist genauso offenherzig und geistig alert wie bei unserer ersten Begegnung, als er im Wirtschaftsministerium den Austausch mit deutschen Korrespondenten suchte. Schon damals, im Frühherbst 2014, fiel er als unkonventioneller Querdenker auf, als einer, der sich durch nichts und vor allem nicht durch Denkverbote aufhalten lässt.

Als echter Zögling des Philosophen Paul Ricœur hätte er eine Unterredung für ein biografisches Buch eigentlich ausschlagen müssen, sagte er schmunzelnd im Élysée-Palast. Der große französische Denker empfing seinen Biografen erst, als dieser sein Werk schon veröffentlicht hatte. Doch Macron ist das Verhältnis zu Deutschland so wichtig, dass er einwilligt, auch persönliche Erinnerungen preiszugeben. Keinem seiner deutschen Bekannten hat er bislang erzählt, wie er als Schüler zwei Mal hintereinander nach Dortmund reiste und zu Gast in deutschen Familien eine gänzlich andere Lebensart entdeckte. Wichtiger noch als diese für seine Generation so typische Erfahrung ist ihm aber das Deutschlandbild, das er sich über viele Gespräche mit Ricœur, seiner Großmutter und über die Literatur und Philosophie erworben hat. Das macht vielleicht das Faszinosum Macron aus: Er gehört der Generation Euro an und teilt zugleich ganz altersungemäß das geistige Erbe der Kriegsgeneration.

»Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne«, hat Angela Merkel dem jungen Präsidenten bei seinem Antrittsbesuch in Berlin mit Hermann Hesse zugeraunt. Es ist ungewiss, ob der Zauber Bestand hat und sich Macron als europäischer Visionär in die jüngere Geschichte einschreibt. Aber wie es auch kommt: Sicher würde dem belesenen französischen Präsidenten ein deutsches Zitat dazu einfallen.

VORWORTZUR AKTUALISIERTEN TASCHENBUCHAUSGABE

Kann es noch Zweifel geben? Emmanuel Macron hat die vor sich hin dämmernde EU wachgeküsst. Auf seinen Ruf nach einem souveränen Europa in der Sorbonne-Rede antwortet der Berliner Koalitionsvertrag wie ein verspätetes Echo: »Unser Ziel ist eine souveräne EU.« Macron hat es geschafft, die Dringlichkeit einer europäischen Haltung, ob gegenüber dem systemischen Wettbewerber China oder der revisionistischen Macht Russland, ins Bewusstsein zu drängen. Nicht allen gefällt das, und der Präsident ging nicht immer sanft ans Werk. Am besten hat er das selbst ausgedrückt, als er sich in der Weinstadt Beaune im Burgund von Angela Merkel verabschiedete: »Persönlich möchte ich dir dafür danken, dass du mir so viel beigebracht und diesen ungestümen jungen Präsidenten akzeptiert hast, der alle aufrütteln wollte. Ich glaube, dass wir gemeinsam viel aufgerüttelt haben, und wir haben in den letzten Jahren viel für Europa getan (…). Du hast meine Energie, vielleicht manchmal meine Unverschämtheit, mit großer Freundlichkeit und Weisheit aufgenommen, und daraus habe ich gelernt, (…) dass es an unserer Fähigkeit liegt, das Gleichgewicht zwischen unseren beiden Ländern, zwischen verschiedenen Temperamenten und Geschichten zu finden, wenn wir andere überzeugen wollen.«

Doch deutlich geworden ist in den vergangenen fünf Jahren auch, dass der »europäische Visionär« Macron sich daheim auf dünnem Eis bewegt. Umfragen belegen regelmäßig, dass sich die skeptische Grundeinstellung einer Mehrheit der Franzosen gegenüber der EU seit dem Nein im Europa-Referendum 2005 kaum geändert hat. Zwar versprechen Macrons politische Gegner anders als 2017 nicht mehr, den Euro aufzugeben und einen »Frexit« anzustreben. Aber im Präsidentschaftswahlkampf 2022 gefielen sich von Valérie Pécresse über Eric Zemmour, Marine Le Pen bis Jean-Luc Mélenchon alle »großen« Kandidaten von rechts bis links darin, Missstimmung gegen Deutschland und Europa zu erzeugen. Hinter den Ressentiments verbergen sich meist Abstiegsängste. Die Sorge angesichts des wirtschaftlichen Niedergangs ist weit verbreitet. Das Gefühl, immer weniger Kaufkraft zu besitzen, war ein starker Motor für die Gelbwesten-Revolte. Dieser Aufstand, der über eine neue Öko-Kraftstoff-Steuer ausbrach, hat Spuren hinterlassen. Das politische Frankreich ähnelt einem Vulkan, vor dessen Eruption niemand sicher ist. Aber das Bild vom aufmüpfigen Franzosen stimmt nicht immer. In der ersten Phase der Pandemie haben Macrons Landsleute einen der härtesten Lockdowns nur leise murrend erduldet.

Mit dem europäischen Aufbauplan Next Generation EU ist Macron seinem Ziel einer europäischen Schicksalsgemeinschaft für Zukunftsinvestitionen näher gekommen, als er es je zu träumen wagte. Die französische Wirtschaft sollte nicht zu schnell abgeschrieben werden. Auch wenn die Rentenreform noch aussteht: Mit seinem kulturellen Kapital, der lebendigen Start-up-Szene, den starken Banken und einem gerade reformierten Berufsausbildungssystem entspricht Frankreich nicht dem Vorurteil des »kranken Mannes«. Das Wirtschaftswachstum ist stark. Auch andere Eckdaten sprechen dafür, nicht auf Frankreich herabzublicken: Die Lebenserwartung ist höher als in Deutschland, die Altersarmut niedriger und die durchschnittlichen Renten sind höher. Die Privathaushalte sind reicher als in Deutschland. Unter Macron macht Frankreich nicht alles falsch.

Dennoch bleibt der Satz gültig, den der Präsident in seinem Brief an alle Europäer schrieb: »Nie seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges war Europa so notwendig, und dennoch war Europa nie so in Gefahr.« Wer verstehen will, wie er das meinte, sollte dieses Buch lesen.

Michaela Wiegel, im Mai 2022

Kapitel 1

FRANKREICH IM AUFBRUCH:

Wie Macron sein Land verändertund Europa gleich mit

Wandel ist immer schwer zu fassen, aber in Frankreich hat er seit Mai 2017 sogar einen Klang: Ludwig van Beethovens »Ode an die Freude«. Die Hymne Europas ertönt, als Emmanuel Macron am Abend seines Wahlsieges am 7. Mai 2017 in einem Seitenhof des Louvre in Paris vor den Fernsehkameras der Welt erscheint. Einsam schreitet er im Halbdunkel über den leeren Platz, ein langer, langsamer Gang zur Musik Beethovens, bis er schließlich die Stufen erklimmt, hinauf auf die hell erleuchtete Bühne vor der Glaspyramide: »Deine Zauber binden wieder, was die Mode streng geteilt; Alle Menschen werden Brüder, wo dein sanfter Flügel weilt.« Ein Meer aus azurblauen Fahnen, auf denen der Kranz aus zwölf goldenen Sternen prangt, reckt sich zum Wahlsieger empor, dazwischen das Blau-Weiß-Rot der französischen Trikolore. So sichtbar, so symbolkräftig haben die Franzosen schon lange keinen Herrscherwechsel mehr erlebt. Vor der jubelnden Menge am früheren Königsschloss verkörpert Emmanuel Macron die neue Macht in Paris, und die will nicht nur französisch, sondern auch europäisch sein.

Der 1977 geborene Mann aus der Provinzstadt Amiens hat sich so schnell und so überraschend an die französische Staatsspitze katapultiert, dass der Philosoph Peter Sloterdijk von einer politischen »Erscheinung« sprach. Macron selbst hat den historischen Augenblick schon im Wahlkampf beschworen. Seinen Anhängern rief er mit Johann Wolfgang von Goethe zu: »Ihr könnt sagen, ihr seid dabei gewesen.« Den ersten Teil des auf die Kanonade bei Valmy zurückgehenden Goethe-Zitates unterschlug der Kandidat bei den Kundgebungen: »Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus.« Das Gefühl, einem historischen Aufbruch mit unbekanntem Ausgang beizuwohnen, begleitet seither viele. Mit Macron ist in Frankreich nach langem Stillstand etwas in Bewegung – »en marche« – geraten. Und ihm selbst liegt es keineswegs fern, sich eine historische Mission zuzuschreiben. Nach langer Krise und Stagnation, glaubt er, soll er Frankreich wieder besseren Zeiten entgegenführen. Er will das Land nicht als Einzelkämpfer, sondern getragen von einer Mehrheit von Grund auf verändern, den Wohlfahrtsstaat modernisieren und den Unternehmergeist stärken. Macron strebt im Einklang mit vielen seiner Landsleute an, den in den Krisenjahren verschütteten optimistischen Fortschrittsglauben wieder zutage zu fördern. »Das Beste liegt noch vor uns«, lautete sein Wahlkampfspruch. Dies gilt für ihn auch für Europa und für die deutsch-französische Beziehung. Wandel im Inneren und eine Vertiefung des europäischen Bündnisses bilden für ihn dabei eine Einheit.

Macron hat sich vorgenommen, die Geschichte des europäischen Einigungsprozesses fortzuschreiben, und sucht den Schulterschluss mit Deutschland. Ihn trägt die Überzeugung, dass sich ohne den deutschen Partner in Europa nichts ausrichten lässt. Deshalb ist er auf das Verhältnis zur Bundesregierung fixiert oder, wie es der Philosoph Pierre Manent spöttelnd sagte, in eine »amouröse Ekstase mit Deutschland getreten«. Macron will viel von Deutschland. Er will die Währungs- und Wirtschaftsunion vollenden, in der Klimaschutz-, in der Energie-, in der Sicherheits- und in der Einwanderungs- und Asylpolitik enger und europäischer zusammenarbeiten. »Ich bin davon überzeugt, dass wir uns auf die Finalität Europas verständigen müssen. Wohin streben wir? Was wollen wir gemeinsam machen?«, sagt er im Gespräch für dieses Buch, das er auf den Morgen nach seinem vierzigsten Geburtstag gelegt hat. Macron weiß, dass er ungewöhnlich viel erreicht hat in seinem Alter – er ist der jüngste französische Staatschef seit Napoleon Bonaparte. Er wird im Mai 2018 in die glorreiche Ahnenreihe großer Europäer aufgenommen, die mit dem Karlspreis ausgezeichnet wurden. Sein neues Lebensjahrzehnt soll ganz im Zeichen des deutsch-französischen Aufbruchs zugunsten Europas stehen.

Der junge Hausherr im Élysée-Palast ist damit zu einem fordernden Partner für die Regierenden in Berlin geworden, die sich während der vergangenen Jahrzehnte an ein ermattetes, ob der Reformzwänge kleinmütig gewordenes Frankreich gewöhnen mussten. Seit dem Mauerfall und den historischen Umwälzungen, auf die Präsident François Mitterrand (1981–1995) nach anfänglichem Zögern letztlich eine europäische Antwort im Maastrichter Vertrag fand, hat es sich Frankreich in einer nostalgischen Realitätsverweigerung bequem gemacht. Das Land gab sich mehrheitlich der Illusion hin, dass es vom Anpassungsdruck der Globalisierung verschont werden würde. Hatten nicht auch die Wolken nach dem Unfall im Atomkraftwerk Tschernobyl an der französischen Grenze haltgemacht, wie es die Regierenden in Paris damals ganz ernsthaft dem Volk weiszumachen suchten? Es gab in jedem Fall lange keinen Willen, den Lebenslügen zu entsagen und wie die Deutschen mit der Agenda 2010 Einschränkungen und Veränderungen bei den sozialen Sicherungssystemen zu akzeptieren. Das Savoir-vivre kommt schließlich aus Frankreich! Auf ihre lieb gewonnenen Gewohnheiten, ihre »Lebenskunst«, wollte eine Mehrheit der Franzosen nicht verzichten, auch wenn sie dafür den Preis einer chronisch hohen Arbeitslosigkeit zahlen musste. Keiner der drei auf Mitterrand folgenden Präsidenten – weder Jacques Chirac (1995–2007) noch Nicolas Sarkozy (2007–2012) und François Hollande (2012–2017) – vermochte es, die Reformblockaden im Land aufzulösen. Es war manchmal auch nicht sicher, ob sie es wirklich anstrebten.

Die Erstarrungserscheinungen im Inneren wurden von einer politischen Unfähigkeit begleitet, als gestaltende Kraft in Europa zu wirken. Französische Verantwortliche verlegten ihr gesamtes Geschick darauf, Sonderregeln für ihr Land auszuhandeln und selbst bei den bereits eingegangenen Verpflichtungen für den europäischen Haushalt zu tricksen. Sie legitimierten ihre Haltung mit dem Nein von annähernd 55 Prozent der Wähler beim Referendum zum europäischen Verfassungsvertrag im Mai 2005 und mit dem Erstarken der populistischen, europafeindlichen Kräfte im Land. Deutschland begann in jener Zeit, Frankreich als zuverlässigen Partner abzuschreiben.

Doch nun verlangt Macron von Europa, einen neuen Blick auf sein Land zu werfen. »Wir stehen heute ganz anders da. Wir haben Klarheit geschaffen und mit den Reformen begonnen. Die Arbeitsmarktreform liegt bereits hinter uns. Das erlaubt uns, eine ganz andere Rolle zu beanspruchen. Heute können wir Deutschland sagen: Wir haben die Arbeit aufgenommen, ihr könnt euch jetzt nicht auf den Status quo zurückziehen«, sagt er im Interview. Natürlich ließen sich die deutschen Bedenken nicht alle über Nacht ausräumen. Aber er drückt die Hoffnung aus, dass Deutschland wieder Vertrauen zu Frankreich fassen wird. In seiner Rede an der Pariser Universität Sorbonne hat Macron am 26. September 2017 einen großen europäischen Zukunftsentwurf gezeichnet und Deutschland einen neuen Freundschaftsvertrag offeriert. Anders als seine Vorgänger, die mindestens ein Jahr im Amt brauchten, um sich der Bedeutung der deutsch-französischen Beziehung bewusst zu werden, räumt er der Partnerschaft mit Berlin von Anfang an Priorität ein. Das privilegierte Verhältnis zu Deutschland überrage alle anderen historischen Beziehungen Frankreichs, sagte er bei einem Besuch in Rom.

Macron denkt in historischen Kategorien und ist zutiefst geprägt von Hegels Geschichtsphilosophie, über die er als Student eine Masterarbeit an der Universität Nanterre verfasste. Die »Phänomenologie des Geistes« wendet er auf das zeitgenössische Frankreich an. Seinen eigenen Blitzaufstieg sieht er als zeitgeistige Variante der »List der Vernunft«. Das erzählt er im Salon doré im Élysée-Palast, in dem seit Charles de Gaulle alle Präsidenten mit Ausnahme von Valéry Giscard d’Estaing ihr Arbeits- und Empfangszimmer eingerichtet haben. Salon doré heißt vergoldeter Salon, und tatsächlich prangen überall Goldbordüren und verschnörkelte goldene Ornamente. Unter den schweren Kristalllüstern, die von der hohen Decke herabhängen, stehen gepolsterte Louis-XIV-Sessel mit geschwungenen Füßen und Lehnen, die mit golden schimmernden Seidenstoffen bezogen sind. Dieses royale Ambiente erinnert jeden Präsidenten, und sei er noch so jung, täglich daran, dass er in der Nachfolge der französischen Könige steht. Tatsächlich sind einige Vorrechte fast direkt von der Monarchie auf die Präsidenten übergegangen. Der Präsident darf sich mit dem Titel des Domherrn der Kirche Saint-Jean-de-Latran in Rom schmücken und wird vom Heiligen Stuhl zurate gezogen, bevor Bischöfe ernannt werden. Bei ihm müssen alle Kandidaten für die Académie française vorstellig werden, um als »Unsterbliche« in die von Kardinal Richelieu 1635 begründete Akademie aufgenommen zu werden. Macron ist von Amts wegen Kofürst von Andorra und Grand maître der 1802 von Napoleon ins Leben gerufenen Ehrenlegion. Aber auch ohne diese Ehrentitel verfügt er über eine Machtfülle, wie sie in Westeuropa einzigartig ist.

Macron hat an der Politischen Hochschule »Sciences Po« in Paris studiert und kennt sich mit dem politischen System der 1958 begründeten V. Republik bestens aus. Anders als seine beiden Vorgänger, die sichtlich Mühe hatten, den ungeschriebenen Ansprüchen an einen »republikanischen Monarchen« zu genügen, schlüpfte Macron mit scheinbarer Leichtigkeit in seine neue Rolle. Es sieht ganz so aus, als habe er sich mit der stark auf Republikgründer Charles de Gaulle zugeschnittenen Verfassung sofort angefreundet. Die V. Republik entstand in den Wirren des Algerienkrieges, als das Bedürfnis nach starker Führung besonders groß war. Macron nutzt diese exponierte Stellung, um den Reformprozess anzutreiben. Er hat sich dabei auf die lange missachtete Regel de Gaulles besonnen, dass der Staatspräsident nur die »großen Linien« der Regierungspolitik vorgibt, das politische Tagesgeschäft jedoch dem Premierminister und den Ministern der Regierung überlässt. Macron hat diese Regel verinnerlicht, wiederholt äußerte er, »ich lasse das jetzt die Regierung machen«. In der Außen-, Europa- und Verteidigungspolitik hingegen nimmt er seine Privilegien in Anspruch. Der Präsident ist Chef der Armee und kann ohne vorherige parlamentarische Abstimmung Auslandseinsätze der Streitkräfte verfügen. Er hat auch die Entscheidungsgewalt über die »force de frappe«, die französische Atomstreitmacht. Im Keller des Élysée-Palastes befindet sich der Kommandobunker »Jupiter«, in den sich Macron im Ernstfall zurückziehen und über den Einsatz von Nuklearwaffen entscheiden kann. Der junge Präsident sucht das Untergeschoss derzeit jedoch lieber auf, um dort mit einem Trainer zu boxen. Ein Hobby, das er mit seinem Premierminister teilt. Zum Tennisspielen, seinem anderen Lieblingssport, fehlt dem Präsidenten meistens die Zeit. Aber wenn er sich am Wochenende in die Residenz La Lanterne auf dem Gelände der Schlossanlage von Versailles zurückzieht, findet er dort einen gepflegten Tennisplatz vor. Die zahlreichen Jagd- und Lustschlösser, die dem Präsidenten zur Verfügung stehen, zeugen ebenfalls vom Erbe der Monarchie. Doch viele, wie die Sommerresidenz Fort Brégançon an der Mittelmeerküste, müssten dringend renoviert werden. Auch für den Élysée-Palast hat der französische Rechnungshof aufwendige Modernisierungs- und Sanierungsarbeiten empfohlen. Je länger abgewartet werde, umso höher werde die Rechnung ausfallen.

Fürs Erste hat der junge Präsident Hand angelegt und sich eines Teils des Mobiliars im traditionellen Präsidentenbüro des Élysée-Palasts entledigt. So hat er die bauchigen Kommoden mit Intarsien und feuervergoldeten Beschlägen an die für die Verwaltung der historischen Möbel zuständige Sektion »Mobilier national« des Kultusministeriums zurückgegeben. Den ovalen Tisch, an dem er im Sommer 2017 mit Gewerkschaftsführern und Arbeitgebervertretern über die Ausführungsbestimmungen der Arbeitsmarktreform verhandelte, hat er durch eine moderne Sitzecke ersetzt. Ähnlich wie der Begründer der V. Republik de Gaulle scheint er an dem überfrachteten Palast nur wenig Gefallen zu finden. De Gaulle monierte einst, der Palast könne nicht gerade mit heldenhaften Ereignissen in Verbindung gebracht werden: »Die endgültige Abdankung Napoleons I., der Staatsstreich seines Neffen Napoleon III. und das Erbe der königlichen Mätresse Madame de Pompadour spiegeln die Majestät des französischen Volkes nur schlecht wider«, sagte er.

Macron hat begonnen, sich den Palast nach seinem Geschmack umzugestalten. Die Franzosen konnten vor allem einen Blick auf sein zweites Arbeitszimmer werfen, ein Eckzimmer mit doppelter Fensterfront. Dort ließ Macron sein erstes großes Fernsehgespräch aufzeichnen, auch bei seiner ersten Neujahrsansprache diente es als Kulisse. Der Raum ist als »Büro, das verrückt macht« in die jüngere Geschichte eingegangen, weil es nacheinander zwei Präsidentenberatern diente, die in Ungnade gefallen aus dem Dienst schieden; der eine wegen cholerischer Ausbrüche, der andere wegen seines Fimmels für blank geputzte Schuhe, weshalb er regelmäßig einen Schuhputzer kommen ließ.

Macron hat das Büro nun gänzlich neu dekoriert. An der Wand hängt ein Druck des amerikanischen Street-Art-Künstlers Frank Shepard Fairey (Künstlername: Obey), der eine mit den französischen Nationalfarben Blau, Weiß, Rot umrandete Marianne mit der Devise »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit« zeigt. Obey hatte dem Kandidaten Macron das Werk während des Wahlkampfs geschenkt. Der Künstler hat Erfahrungen mit Präsidentschaftswahlkämpfen: 2008 war er einer breiten Öffentlichkeit durch das ikonische Plakat »HOPE« für Barack Obama bekannt geworden.

Macron hat im Wahlkampf versucht, Obamas Erfolgsrezepte nachzuahmen. In einer Videoaufzeichnung sprach sich Obama kurz vor dem zweiten Wahlgang für den jungen französischen Kandidaten aus: »Er hat sich für liberale Werte eingesetzt. Er spricht die Hoffnungen der Menschen an, nicht ihre Ängste.« Der französische Intellektuelle Régis Debray sieht in Macrons Wahlsieg den Triumph eines »globalisierten Neo-Protestantismus«. Macron wolle Frankreich in einer euro-amerikanischen Zivilisation »auflösen«, in der alles der Wirtschaftlichkeit untergeordnet werde, kritisiert Debray. Vorwürfe wie diesen hat Macron an sich abprallen lassen. Aber es ist unübersehbar, dass er wie viele junge Franzosen seiner Generation manchen Traditionen der amerikanischen Demokratie einiges abgewinnen kann. So hat er sich von den amerikanischen Präsidenten abgeguckt, wichtige Gesetze vor laufenden Kameras in seinem hochherrschaftlichen Büro im Élysée-Palast zu unterzeichnen. Dies soll den Franzosen die Bedeutung der Gesetzesänderungen vor Augen führen. Zudem machte Macron sofort von seinem Recht Gebrauch, sich in einer Art französischen »State of Union«-Rede an die Nation zu wenden. Diese Neuerung nach amerikanischem Vorbild verdankt er Nicolas Sarkozy, der die Verfassung entsprechend ändern ließ. In Versailles sprach Macron vor den versammelten Volksvertretern, Abgeordneten und Senatoren. Jedes Jahr will der Präsident vor der Kulisse des früheren Königsschlosses auf diese Weise eine Rede an die Nation halten. Nach heftiger Kritik hat er allerdings aufgehört, beim Abspielen der Nationalhymne wie die amerikanischen Präsidenten die Hand ans Herz zu führen.

Medienauftritte, insbesondere im Fernsehen, sind für ihn Inszenierungen, mit denen er seine Botschaften verbreitet. Mal können die Fernsehzuschauer den in seinem Büro aushängenden Lieblingsspruch Macrons lesen: »Diejenigen, die glauben, es sei nicht möglich, werden gebeten, diejenigen nicht zu stören, die es versuchen.« Dann wieder zoomt die Kamera den Tisch heran, auf dem der Präsident einen blau-weiß-rot bemalten Kieselstein platziert hat, den ihm die Angehörigen der Toten von Nizza schenkten. Der Kieselstein soll an den Terroranschlag auf der Strandpromenade erinnern, bei dem am 14. Juli 2016 85 Menschen starben, darunter viele Kinder. Macron will damit zeigen, dass er sich des Terrortraumas bewusst ist, das seit dem Blutbad in der Redaktion der Satirezeitung Charlie Hebdo und der Geiselnahme im jüdischen Supermarkt in Paris im Januar 2015 auf dem Land lastet.

Macron hat sich angewöhnt, seine politischen Botschaften in Szene zu setzen. Nicht immer beweist er ein glückliches Händchen. Sein bis ins Detail durchinszeniertes Fernsehgespräch am 17. Dezember 2017 im staatlichen TV-Sender France 2 stieß auf heftige Kritik. 45 Minuten lang lustwandelte der Präsident durch den Élysée-Palast, zeigte die Räumlichkeiten und antwortete auf die anbiedernden Fragen des Journalisten Laurent Delahousse. »Ich will keine Leute, die herumsitzen und sich darüber freuen, dass sie einen Ministerposten innehaben. Ich will Leute, die handeln«, sagte Macron. Er selbst stellte sich als Workaholic dar, dem die in jedem Winkel und auf jedem Kaminsims tickenden Standuhren signalisieren, dass für die Veränderung nie genügend Zeit bleibt. Kritische Fragen an den Staatschef blieben aus. Der Journalist nickte ihm beim Gang durch die ehrwürdigen Hallen stets zustimmend zu und war vor allem bemüht, ihm Vorlagen zur Selbstbeweihräucherung zu geben. Er schlafe so wenig, sorgte sich etwa der TV-Moderator: »Es heißt, Sie schicken noch in der Nacht Kurznachrichten an Ihre Mitarbeiter!« Macron lächelte, er brauche halt nicht viel Schlaf, und so oft komme es auch nicht vor, dass er SMS zu nachtschlafender Zeit versende. Die ehrerbietende Haltung des Journalisten gipfelte in der rhetorischen Abschlussfrage: »Was möchten Sie den Franzosen sagen? Fürchtet euch nicht vor all den Revolutionen, die ich anzetteln werde?«

Als besonders »revolutionär« präsentierte Macron, dass er den Louis-XV-Schreibtisch mit der Arbeitsfläche aus rotem Leder, an dem schon Republikbegründer Charles de Gaulle arbeitete, ans Fenster gerückt hat. »Da stand er noch nie«, sagte der Präsident mit ernster Miene im Interview. Manchmal wirkt sein mit Symbolen ausgeschmückter Veränderungswille übertrieben. Seitdem sitzt Macron also mit dem Rücken zu dem großen Fenster, das den Blick auf die sorgsam gepflegten Gartenanlagen des Élysée freigibt. Vor dieser Garten-Perspektive entstand auch sein Amtsporträt, das inzwischen in allen Rathäusern, Botschaften und anderen Amtsstuben hängt. Macron lehnt an der Tischkante des Schreibtisches, eingerahmt von der französischen Trikolore und der Europaflagge. Auf dem Schreibtisch liegen zwei Smartphones und drei Bücher, eines davon ist aufgeschlagen. Modern und klassisch zugleich, so will sich der Präsident selbst sehen, und so sollen ihn andere sehen. Bei den Büchern handelt es sich um »Rot und Schwarz« (»Le rouge et le noir«) von Stendhal und um André Gides »Früchte der Erde« (»Les nourritures terrestres«). Aufgeschlagen ist eine Seite aus de Gaulles »Kriegsmemoiren«.

Das Amtsporträt hat Macrons Hoffotografin Soazig de la Moissonnière aufgenommen. Die junge Frau aus der Bretagne genießt als einzige das Vorrecht, den Präsidenten überallhin begleiten und fotografieren zu dürfen. Macron vertraut auf die Symbolkraft von Bildern. Sein Amtsporträt zeigt ihn als literarischen Schöngeist und Hightech-Freak zugleich. Zugleich, das heißt auf Französisch »en même temps«. So lautet sein Motto, das seinem Wunsch entspricht, ein neues Frankreich zu verkörpern, das sich seiner geistigen Wurzeln bewusst ist und es »en même temps« mit den Herausforderungen der Moderne aufnimmt.

Macron hat auf einer zierlichen gepolsterten Sitzbank Platz genommen, seine strahlend blauen Augen funkeln, als er seinen Einzug in den Élysée-Palast in unserem Gespräch rückblickend als »Ding der Unmöglichkeit« beschreibt. Noch Ende 2016 sei seine Kandidatur wie ein tollkühnes, zum Scheitern verurteiltes Projekt erschienen. »Aber ich habe immer geglaubt, dass meine Wahl möglich und sogar wahrscheinlich sei, weil sie dem tiefsten Verlangen des französischen Volkes entsprang«, sagt Macron und ergänzt: »Das Volk ist von einem Willen zu einem tiefen Transformationsprozess getragen.« Es habe sich zugunsten Europas aufgebäumt. Macron war der einzige der elf Präsidentschaftskandidaten, der die europäische Einbettung Frankreichs nicht nur bejahte, sondern sie zu verstärken versprach. Europa bildete sein Alleinstellungsmerkmal, dem er auch fortan Geltung verschaffen will.

Macron bekundet, er sei von Hegels Geschichtsphilosophie zutiefst überzeugt und sehe sich »als Instrument des Weltgeistes«. Er wolle seine eigene Bedeutung nicht überschätzen, aber er glaube, dass er mit seinem proeuropäischen Reformprogramm einer in langen Jahren herangereiften Überzeugung einer Mehrheit der Franzosen entspreche. Macron lächelt gewinnend: »Jetzt muss ich mich den Erwartungen des Volkes würdig erweisen. Die Aufgabe ist immens«, sagt er.

Am Vortag unseres Gespräches hat der Präsident in aller Diskretion seinen vierzigsten Geburtstag gefeiert. Ein 22 Jahre alter Nachwuchskonditor aus dem Alpenort Annecy hatte zusammen mit seinem Vater eine Geburtstagstorte aus Himbeer- und Haselnussmousse kreiert: In der Mitte von herumwirbelnden weißen Zuckerflocken und Rosenblättern prangten die Ziffern 40 aus Zuckerguss. Selbst das Kuchenstück ist dem Präsidenten Programm: Der junge Konditormeister Louis Agnellet hatte bei den Weltmeisterschaften der Berufe 2017 (»World Skills«) in Abu Dhabi den zweiten Platz errungen. Macron beauftragte ihn mit der Tortenfertigung, um die in Frankreich lange vernachlässigten Handwerksberufe aufzuwerten. Und zur Feierstunde am 21. Dezember 2017 im Élysée-Palast lud der Staatschef diejenigen ein, die ihm das Tagwerk erleichtern: Sekretärinnen und die Lakaien in schwarzer Livree, die im Élysée-Palast mit Ehrfurcht gebietender Stimme »Monsieur le Président de la République« ankündigen und auf silbernen Tabletts frische Getränke für die Besucher bringen. Auch einige Sicherheitsbeamte und Angehörige der Republikanischen Garde sowie seine engsten Mitarbeiter durften mit einem Glas Champagner auf sein neues Lebensjahrzehnt anstoßen.

Schon frühzeitig ist Macron durch sein Interesse an den Männern und Frauen aufgefallen, die in der stark hierarchisch organisierten französischen Gesellschaft oftmals übergangen werden. Während seines Studiums an der Hochschule für Politikwissenschaften »Sciences Po« hielt er täglich einen Schwatz mit dem jeweiligen Pedell, der am Eingang wachte. Im Bankhaus Rothschild hat sich Macron als besonders umgänglicher Mitarbeiter eingeprägt, der nicht nur seine Vorgesetzten freundlich begrüßte, sondern immer auch ein nettes Wort für die Sekretärinnen hatte. »Er tat etwas, was eigentlich normal sein sollte, aber was viele im Berufsleben vergessen: Er bedachte alle mit Wohlwollen und Freundlichkeit«, erinnert sich David de Rothschild.

Von einer neuen Arroganz der Macht lässt der Präsident in seinem hochherrschaftlichen Arbeitszimmer im Élysée-Palast nichts spüren. Macron versprüht einen mitreißenden Geist des Optimismus, mit dem er auch Deutschland anzustecken hofft. Gerade hat er sich von Palästinenserpräsident Mahmud Abbas verabschiedet, der nach der Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt Israels durch die Vereinigten Staaten von Amerika schwarzmalt und eine Friedensperspektive für den Nahen Osten für ausgeschlossen hält. Nach dem Gespräch reist der Präsident zu den französischen Truppen nach Niamey, die von dem westafrikanischen Land aus gezielte Antiterroraktionen gegen die unverändert kampfbereiten dschihadistischen Gruppen im Sahel-Gebiet unternehmen. Zwischen diesen beiden Krisenherden nimmt sich Deutschland wie ein beruhigender Hort der Stabilität aus.

»Deutschland habe ich mir zuallererst über die Literatur erschlossen. Für mich war es wichtiger, statt schnelllebiger Eindrücke eine echte literarische, philosophische und musikalische Beziehung zu Deutschland zu entwickeln«, erzählt Macron. An der Jesuitenschule La Providence, die er von der sechsten bis zur elften Klasse besuchte, lernte er Deutsch. Seine deutschen Sprachkenntnisse bräuchten Auffrischung, sagt er, aber sein diplomatischer Berater Philippe Étienne, der frühere französische Botschafter in Berlin, widerspricht heftig. Macron habe hervorragende Sprachkenntnisse, versichert er, was den Präsidenten zum Lachen bringt. »Angela Merkel verstehe ich ganz gut, sie drückt sich immer klar und deutlich aus«, gesteht er. Aber anderen Politikern, zum Beispiel Wolfgang Schäuble oder Horst Seehofer, könne er nicht folgen. In jedem Fall gehe er nicht wie Wladimir Putin vor, der dafür bekannt ist, dass er bei besonders brisanten Verhandlungen in deutscher Sprache auf Angela Merkel einredet.