Emmas Laden - Annika Hennebach - E-Book

Emmas Laden E-Book

Annika Hennebach

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Beschreibung

Die 31-jährige Emma schneidert Dessous, die sie in ihrem kleinen Laden in Berlin-Kreuzberg verkauft. Emmas Kunden wissen nichts von ihrem kreativen Erfolgsrezept: Sie malt sich aus, wie andere Menschen in ihrer Wäsche Sex haben. Was Emma fehlt, ist der Mann in ihrem Leben, der sie liebt, mit all ihren Macken und Verschrobenheiten. Zwar gibt es Rick, den Fotografen, mit dem sie ziemlich guten Sex hat. Aber der flüstert ihr lüsterne Verheißungen ins Ohr, während er gleichzeitig auf die Blondine am Nebentisch schielt. Außerdem gibt es da etwas im Bett, das sie sich sehnlich wünscht und Rick ihr stets verweigert. Es ist an der Zeit, einen Schlussstrich zu ziehen. Eines Tages taucht ein attraktiver Lockenkopf in Emmas Laden auf und heizt Emmas Fantasien kräftig an. Sie möchte ihn unbedingt kennenlernen. Nur wie stellt man das an, wenn er bei ihr Unterwäsche für seine Verlobte kauft?

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Annika Hennebach

Emmas Laden

Roman

Für Stefan

Prolog

Es verging lange Zeit kaum eine Woche, in der Emma Wilmers sich nicht irgendwo umschaute, um sich inspirieren zu lassen. Gleich bei ihr um die Ecke im Görlitzer Park, wo sich Kopftuchschönheiten, blonde Rastalockenträgerinnen und Frauen mit kurzen Jungshaarschnitten oder hohen Pferdeschwänzen vergnügten. Auf der Kastanienallee, wo stilsichere Tourimädchen aus Skandinavien mit engen Jeans und Vokuhila-Frisuren auf und ab liefen und stets sehr attraktive Mittefrauen ihre neuesten Errungenschaften präsentierten – Klamotten, Handtaschen, Männer, Kinder.

Oder Emma setzte sich in die Cafés am Stutti in Charlottenburg, wo ganz andere Frauentypen zu sehen waren. Sie trugen kantige Brillen in Schwarz oder Bunt, dunkle Leinengewänder in Ökochic, dicke Holz- oder teure Perlen an den Ohren und Hälsen und gelegentlich führten sie auch eine neue Nase oder sogar einen jüngeren Liebhaber vor. Wenn Emma dann mit einem Buch oder einer Zeitung getarnt ihre Blicke schweifen ließ, bis eine der Anwesenden ihre Aufmerksamkeit erregte, fragte sie sich nicht, wer diese Frau war oder wie sie lebte. Sondern, wie sie liebte. Und welche Wäsche zu ihr passen würde.

Zurück in ihrem kleinen Atelier im Wrangelkiez, das hinter dem Laden unter ihrer Wohnung lag, entwarf und schneiderte sie – meist gleich anschließend, manchmal auch Tage oder Wochen später – das Teil, das sie in ihrer Fantasie an der Frau gesehen hatte. Von dem sie dachte, dass es ihrem Typ am besten entsprach. Dabei spielten die Bewegungen, die Stimme, die Kleidung, die Ausstrahlung der Frau eine Rolle. Und vor allem ihr Sex. Denn der war in Emmas Vorstellung vielfältiger, aufregender und vor allem erfüllender als ihr eigener.

1. Kapitel

Inspiration

»Au!« Emma zuckte zusammen, mehr des Schrecks als des Schmerzes wegen, und starrte auf ihren Zeigefinger. Dort, wo sie sich mit der Nadel tief in die Kuppe gepikst hatte, bildete sich sofort ein kleiner roter Punkt. »Au, au, au!«, fluchte sie weiter und leckte sich das Blut vom Finger, bevor es auf den kostbaren Stoff tropfen würde. Das war ihr aber lange nicht passiert. Wo war sie denn bloß mit ihren Gedanken? Ach ja, hier: Statt sich auf das Nähen zu konzentrieren, war Emmas Blick an dem Foto an ihrer Pinnwand hängen geblieben, auf dem sie in Nahaufnahme am Ostseestrand, ganz braun gebrannt und mit gepunktetem Kopftuch im Haar in die Kamera lachte. Das hatte Tom gemacht, vor etwa vier Jahren.

»Pfff!«, pfiff Emma abschätzig durch ihre Lippen, als sie aufstand, um den immer noch blutenden Finger zu verarzten – irgendwo hatte sie doch ein paar Pflaster gehabt. In der Schublade unter dem Waschbecken fand sie welche mit kleinen bunten Dinosauriern drauf. Damit versorgte sie die verletzte Fingerkuppe. Sie wollte gerade das Foto von der Wand reißen, um es endgültig in einer Kiste im Keller verschwinden zu lassen, als ihr geliebtes, orangefarbenes Wählscheibentelefon klingelte. »Wäsche von Wilmers, hallo?«

»Emma, ich bin’s, Julia. Hallo!«

Julia – oder für manche Jule – war Emmas beste Freundin, auch wenn sich die beiden in den letzten Monaten ein wenig aus den Augen verloren hatten. Das lag zum einen an ihren Jobs: Emmas kleiner Wäscheladen boomte und sie kam mit dem Dessousnähen kaum noch hinterher. Julia steckte mit Matthias, ihrem Mann in spe, mitten in den Vorbereitungen für die Eröffnung ihres Restaurants in Neukölln. Es lag aber auch daran, dass Julia kaum noch alleine anzutreffen war. Julia treffen bedeutete für Emma ein Pärchen treffen. Noch dazu ein glückliches. Und das war kaum auszuhalten, vor allem, wenn man selbst kein Pärchen, geschweige denn ein glückliches, war.

»Gehen wir am Wochenende mal wieder aus, tanzen?«, fragte Julia hoffnungsvoll. Schließlich waren die beiden einst Profis gewesen, was das Nachtleben anging. Während ihres Studiums hatten sie viele Jahre feiernd verbracht. Dafür war Berlin in den Neunzigern ja quasi gemacht. Aber seit ihrer beider Selbstständigkeit war kaum noch Zeit dafür da. Emma machte sich nur ganz selten zu Recherchezwecken auf in die Nacht. Und das am liebsten allein. So war es einfacher, sich ganz auf das weibliche Publikum zu konzentrieren, das sich in den Clubs der Stadt herumtrieb. In Clärchens Ballhaus oder in der Panorama Bar.

»Och bütte!«, jaulte Julia. Sie wollte wohl noch mal einen oder eher mehrere richtig draufmachen, bevor sie sich mit Matthias in vier Monaten verheiraten würde. Das ganz große Ding, das eigentlich irgendwo auf einem heruntergekommenen Schloss in Brandenburg hätte stattfinden sollen, war aus finanziellen und organisatorischen Gründen leider auf keinen Fall drin. So blieb den beiden nur übrig, das Restaurant bis dahin fertig zu haben.

»Du musst auch echt mal wieder unter Leute, Emma. Nicht nur unter Kundinnen. Du arbeitest doch nur noch!«

»Ich komme unter Leute. Mach dir keine Sorgen«, erwiderte Emma leicht genervt.

»Ja, ich weiß. Aber ich meine auch mal wieder mit Leuten reden. Nicht nur gucken. Außerdem haben wir uns auch schon ewig nicht mehr getroffen«, sagte Julia. Sie machte sich langsam Sorgen um Emma, die sich seit der Trennung von Tom mehr und mehr in ihrem Wäscheladen eingeigelt hatte. Von Wilmers läuft prima, keine Frage. Ist ja auch ein toller Laden, dachte Julia. Aber mit Emma läuft irgendwas schief. Sie hatte keine Lust auf Treffen in größerer Runde, lebte nur noch für ihre Dessouswelt und schneiderte wie eine Verrückte. Außerdem war sie so viel allein. Und schlimmer noch: Sie stellte sich andere Leute beim Sex vor, wie ihr Emma selbst vor Monaten bei Rocco’s mit zu viel Rotwein intus erzählt hatte!

Früher, da hatten sie über ihr Sexleben gesprochen, heute schien es für Emma nur noch das der anderen zu geben. (Julia sah es genau vor sich: Das Sexleben der anderen. Ein Film von Emma Wilmers.) Und das lief jetzt schon seit über zwei Jahren so. Diese lange Dürreperiode hatten nur zwei unbedeutende One-Night-Stands kurz unterbrochen, das war’s, soweit Julia wusste. Sie fand es viel zu schade um ihre Freundin, die doch großartig war, kreativ und attraktiv – wenn vielleicht auch etwas eigen manchmal. Was Julia jedoch nicht wusste, war, dass Emma tatsächlich unter Leute kam und auch nicht vollkommen vertrocknet war.

»Nein, ich kann am Wochenende nicht. Ich habe einen Termin mit einem Fotografen, der meine Wäsche für eine größere Produktion fotografieren will. Tut mir leid, Jule. Ein anderes Mal, ja?«, sagte Emma aufrichtig zu ihrer Freundin. Wer der Fotograf wirklich war, das verriet sie nicht.

»Schade. Aber dann lass uns doch mal versuchen, dass wir uns die nächste Woche auf einen Kaffee treffen. Alles Gute trotzdem für den Auftrag!«, wünschte ihr Julia.

Nachdem sie das Gespräch beendet hatten, setzte Emma erst mal einen Kaffee auf, steckte sich einen großen Haferkeks in den Mund, dann noch einen, und nahm den grünen Seidenstoff mit den Paradiesvögeln wieder zur Hand. Er war ganz besonders glänzend und farbintensiv. Von hervorragender Qualität.

Sie hatte ihn vor etwa einem Jahr ziemlich günstig auf einem Markt in der Provence von einer alten Frau erstanden, zusammen mit sechs kleinen Pastisgläsern und einer Karaffe. Die Gläser standen jetzt auf dem Regal über ihrem großen Arbeitsbereich. Emma nutzte sie für die Etiketten, die in ihre Entwürfe eingenäht wurden, von denen es jedes Mal nur ein paar für ein Modell gab. Der Exklusivität wegen und auch weil Emma einfach nicht in Massen produzieren konnte. Dafür war ihr Laden zu klein.

Das helle Grün der Seide passt genau zu der rothaarigen Frau, dachte Emma. Um nicht weiter über Julia zu grübeln, deren Anschubsversuche in Richtung Männer ihr schon seit langem gehörig auf die Nerven gingen – am schlimmsten fand sie bisher die Verkupplungsversuche mit dem unfassbaren Langweiler Jens oder der unattraktiven Laberbacke Vito –, setzte sie sich wieder an die Arbeit. Sie konnte das: einfach so umschalten. Ein Geheimnis ihres Erfolgs auf geschäftlicher Ebene war das ganz sicher.

Sie nahm sich eine Tasse Kaffee mit Milch, machte es sich in ihrem riesigen Drehstuhl aus hellbraunem Leder bequem und ließ den Stoff durch ihre Finger gleiten. Dann erinnerte sie sich an die Frau, die ihr vor ein paar Tagen aufgefallen war. An ihre etwas üppigeren Formen, die milchweiße Haut mit den leicht durchschimmernden Sommersprossen. Und an den deutlich älteren Mann an ihrem Tisch, der zärtlich über diese wahnsinnig schönen, langen roten Haare strich, während sie ihre Köpfe zusammensteckten.

Er hätte ihr Vater sein können, war aber trotz des offensichtlichen Altersunterschieds überhaupt nicht unattraktiv. Groß, glatt rasiert, mit gewelltem, vollem und vor allem elegant graumeliertem Haar. Passend zu der silbernen Designer-brille auf seiner Nase, die Emma sofort erkannt hatte – ein paar ihrer ehemaligen Kommilitonen von der Universität der Künste stellten diese Modelle sehr erfolgreich her. Alles in allem war er so ein frisch gebliebener Professor oder Architekt, bei dem man noch deutlich den Jungen im Mann erkannte. Voller Charme.

Der Chinese in Charlottenburg war nur spärlich beleuchtet gewesen, aber Emma saß direkt neben dem Paar, sodass sie, statt in der Zitty zu lesen, die vor ihr lag, immer wieder unauffällig zu jenem Tisch hinüberschielte, um die beiden genau zu beobachten. Über die Jahre war sie eine Meisterin auf dem Gebiet der Observation geworden.

Das ungleiche Paar war schon fertig mit dem Essen, als Emma sich hingesetzt hatte, blieb aber weiter auf seinem Platz. Die beiden guckten sich in die Augen, hielten Händchen und redeten kein Wort. Bis der Grauhaarige der Roten etwas ins Ohr flüsterte. Emma meinte sogar ein paar Worte zu verstehen: »… dich … riechen.« – Jedenfalls war es das, was sie heraushörte.

Der Typ winkte die kleine, trippelnde Chinesin zum Tisch heran, orderte die Rechnung und bezahlte – für beide natürlich. Dann ging er Arm in Arm mit der Rothaarigen an Emma vorbei aus dem Restaurant. Emma fiel dabei das selbstsichere und fast triumphale Lächeln der Frau auf, die trotz ihrer jungen Rosenrotschönheit auch etwas Dunkles, Unheimliches an sich hatte. Emma konnte den Blick nicht von ihr abwenden, bis das Paar durch die Tür in den Abend verschwunden war.

Ihre Augen waren hellgrün gewesen. So grün wie der Seidenstoff mit den bunten Paradiesvögeln, die mit einem goldenen Faden durchwirkt waren. Wunderschön. Emma stellte sich vor, wie sich der Stoff von der weißen Haut der Frau abhob, wie der Grauhaarige es kaum erwarten konnte, den BH zu den weichen Brüsten zu lupfen oder das Höschen zu heben – um sie endlich riechen zu können.

Auch wenn Emma nicht wusste, wie und ob Rothaarige wirklich besonders dufteten, stellte sie sich doch vor, wie ein erdig-süßer, überaus betörender Geruch ähnlich wie Opium aus ihrer Muschi strömte, bei dem Männern die Sinne schwanden. Sie stellte sich vor, wie der grauhaarige Typ über ihr lehnte, ihr das Kleid auszog, die hellgrünen, seidigen Träger von ihren weißen, sommersprossengesprenkelten Schultern zog, ihren runden Bauch küsste und sogar da ein paar Sprossen entdeckte.

Bis er schließlich kurz davor war, seine Nase und seinen Mund zwischen ihren Schenkeln zu vergraben und ihren holzig-zuckrigen Saft aufzulecken. »Mmmmmmmhhhhhh«, machte er, und »mmmmmmmmmmmhhhh«, machte sie, und »mmmmmmhhhh«, machte Emma.

Das Leder unter ihrem Po quietschte, als sie ein bisschen tiefer rutschte, um besser in ihren Hosenbund und zwischen ihre Beine greifen zu können. Sie war ganz feucht geworden, merkte sie freudig, als sie sich anfasste. Fühlte sich gut an. So schlüpfrig. Sie hatte die Augen geschlossen und hielt den grünen Stoff noch in der rechten Hand, während sie sich mit ihrer Linken bearbeitete. Die war sanfter und fremder als ihre Gebrauchshand.

Sie sah die beiden ganz genau vor sich, kurze, schnelle Sequenzen, wie er sie leckte, ihre weiße Haut streichelte, seinen Schwanz aus der Hose befreite. Wie gerne wäre sie an ihrer Stelle gewesen. Und so wurde in Emmas Vorstellung ihre Muschi zur Muschi der Rothaarigen und sie war es jetzt, die dem Grauhaarigen die Sinne schwinden ließ. Ihr Finger war seine Zunge, seine rosa Schwanzspitze, sein Schwanz.

Emma stellte sich vor, wie er in sie eindrang und sie nahm, hart und fordernd, kurz und heftig, danach war ihr jetzt. Mit festem Druck machte sie es sich selbst, bewegte ihre Finger an der richtigen Stelle kreisend vor und zurück, bis sie stöhnend kam und den Stoff in ihrer rechten Hand mit aller Kraft umschloss. Sie meinte, den Geruch von Nelken und Vanille zu atmen, als sie die Hand aus ihrer Hose zog und sich wieder aufrichtete.

Es dauerte kurz, bis sie sich wieder gesammelt hatte, angenehm befriedigt und erlöst. Rosa Spitze ist perfekt zu der Seide, ging es Emma durch den Kopf, als sie sich den Paradiesvogelstoff in ihrer Hand noch einmal genauer anguckte. Sie wusch sich die Hände mit der groben Lavendelseife, machte das Dinopflaster ab – sie blutete nicht mehr – und zeichnete einen Entwurf. Dann fand sie tatsächlich in einer kleinen Kiste noch etwas von dieser altrosa Spitze, die sie in Italien bestellt hatte und die sich unglaublich gut verarbeiten ließ.

Und so nähte Emma noch in dieser Nacht ein Ensemble, das fast in das Kitschbecken fiel, aber durch den schlichten Triangelschnitt des Oberteils und das Hipsterhöschen sehr elegant wieder aufgefangen wurde. Nachdem sie für die nächsten Exemplare ein Schnittmuster gemacht hatte, stickte sie mit ihrer Maschine noch in schwungvoller Schrift das Etikett: »Von Wilmers. Inspiration.« Gold auf weiß. Fertig.

Die hellblaue Küchenuhr über dem Nähtisch stand bereits auf vier Uhr morgens, draußen dämmerte es. Emma hatte die Zeit vollkommen vergessen, ihr Magen knurrte und sie machte die Ateliertür zum Hof auf. Die Luft war frisch und klar, die ersten Vögel fingen an zu zwitschern, es war Sommer in Berlin.

*

Ausschlafen war nicht drin. Emma legte vorsichtig das neue Wäscheensemble in die oberste, offene Schublade des Retrovitrinenschranks, den sie in ihr Ladenschaufenster gestellt hatte, drapierte es und räumte noch ein bisschen rum, bevor sie um elf Uhr aufmachte. Magdalena, eine ältere Meisterschneiderin, die ihr zwei Mal in der Woche half, hatte einiges aufgearbeitet, was Emma nicht geschafft hatte. Sie hatte sich auch schon bereit erklärt, ihr bei der geplanten Fotoproduktion unter die Arme zu greifen. Wenn ich die nicht hätte, dachte Emma – und meinte Magdalena. Dann musste sie lächeln, denn es bezog sich genauso auf die Fotoproduktion. Sie freute sich nicht nur über den Zusatzverdienst, den sie ihr bringen würde.

Rick, den Fotografen, von dem der Auftrag kam, kannte sie schon seit vielen Jahren. Bevor Emma mit Tom zusammengekommen war, hatten sie ein Techtelmechtel gehabt und von ihm aus hätte es damals auch mehr werden können. Sie wollte aber nicht. Jetzt war es zwar nicht andersherum, aber Emma hatte ihn vielleicht gerade ein bisschen nötiger als er sie. Das wusste sie nur noch nicht.

Als sie sich vor ein paar Wochen an einem Samstag im Kirk wiedergetroffen hatten, war Emma gerade auf Inspirationstour und beobachtete die Kellnerin. Sie dachte, wie gut klassische schwarze Spitze zu ihr passen würde, und grübelte über den nötigen kleinen Kick, als Rick sie an der Bar erblickte und ansprach. Emma kriegte nichts davon mit. Wie immer in solchen Situationen war sie nicht offen für anderes als Ladys und Wäsche, registrierte es nicht mal, wenn sie Männern ins Auge fiel, so wie ihr die anderen Frauen auffielen.

Emma liebte es, Dessous für sie zu machen. Sexuell fühlte sie sich zu Männern hingezogen, studieren wollte sie aber Frauen. Sie bewunderte ihre Schönheit, ihre Wirkung – auch auf Männer. Manchmal wollte Emma so sein wie die Beobachteten. Sie wirkten so leicht und selbstbewusst, so in sich ruhend auf sie. Diese Kellnerin zum Beispiel war keine Schönheit im klassischen Sinne, aber sie trug ihre Nase, ihren Körper, ihre schwarzen Haare mit einem Stolz, der sie wunderschön machte. Und ihre Nase, ihren Körper und ihre Haare auch.

Und so zuckte Emma regelrecht zusammen, als Rick ihren Namen jetzt lauter sagte, zum dritten Mal bereits, und sie dabei auf den Arm tippte, der auf dem Tresen neben dem Rotweinglas lehnte. Emma schmiss fast das Glas um, hielt es gerade noch fest und wandte ihm endlich ihren Kopf zu. Sie erkannte Rick sofort. Er sah genauso aus wie früher. Auch nach über sechs Jahren. Und es war offensichtlich, dass er das Gleiche über sie dachte. Komisch. Woran lag es bloß, dass man annahm, man hätte sich verändert, und dann war alles so wie immer, wenn man vor einem alten Freund stand?

»Rick! Mensch, ich dachte, du bist weg aus Berlin?«, fragte Emma, nachdem sie ihn etwas unbeholfen umarmt hatte. Sie wusste noch nicht genau, wie sie das Wiedersehen finden sollte. Am Ende ihres »Etwas« hatte sie sich einfach nicht mehr bei ihm zurückgemeldet, hatte das Ganze im Sande verlaufen lassen, weil sie sich jedes Mal wieder furchtbar über ihn aufregen musste – um doch wieder mit ihm im Bett zu landen. Und dann kam Tom und sie sah Rick nie wieder. Vor etwa fünf Jahren hatte ein gemeinsamer Bekannter ihr nach einem Volksbühnenstück erzählt, dass er sogar ganz aus Berlin weggezogen sei.

Aber es zeigte sich schon nach dem zweiten Getränk – er trank Bier, Emma weiter Rotwein –, dass er kein Problem mit ihr hatte und sie auch keins mit ihm. Und vielleicht war er auch erwachsener geworden? Rick war die paar Jahre in New York gewesen, hatte ein Kind gezeugt und war dann nach Berlin zurückgekehrt, ohne Kind. »Er heißt Lucius – das war ihre Idee, sag nichts – und ist jetzt fast vier. Drei Mal im Jahr darf ich ihn sehen, irgendwann vielleicht auch mal für länger«, meinte Rick und versuchte so cool wie möglich zu bleiben, doch dann ging er sofort vor die Tür, um eine Zigarette zu rauchen – er wollte lieber an die frische Luft als ins Kaminzimmer. Die Tische draußen waren alle besetzt, es waren die ersten warmen Abende des Spätfrühlings.

Als Emma ihn durch das große Fenster rauchen sah, diesen kräftigen Kerl mit abstehenden Ohren, Tolle und dicken Koteletten, da wusste sie, dass sie sich freute, ihn wiederzusehen. Während er an seiner Kippe zog, ging eine hübsche Blondine aus der Bar zu ihm raus und sprach ihn an. Emma beobachtete, wie er sein Zippo zückte, um ihr Feuer zu geben, sie sah, wie er sie anlächelte und wie die hübsche Blondine mit dem schrägen Pony zurücklächelte, so was von offensichtlich mit ihm flirtete. Und da fiel es ihr wieder ein, und Emma musste schmunzeln: Rick hat noch nie etwas anbrennen lassen. Schon damals nicht. Er war verrückt nach Frauen gewesen, und die Frauen verrückt nach ihm. Auch da hatte sich nichts geändert.

Rick zündete sich noch eine Zigarette an, winkte kurz durch das Fenster hindurch der faszinierten Emma zu und zeigte mit dem Zeigefinger auf seine Kippe, wahrscheinlich, um ihr zu sagen, dass er danach wieder reinkommen würde. Emma tat extra lässig und winkte ab, von wegen: kein Problem. Dann beobachtete sie, wie Rick sich wieder der Ponyfrau zuwandte, ihr irgendwas erzählte. Sie lachte und warf dabei ihren hübschen Kopf mit den langen blonden Haaren zurück. Wie aus einem Ratgeber fürs Flirten. »Punkt eins: Lächeln Sie. Punkt zwei: Fragen Sie ihn nach Feuer. Punkt drei: Fahren Sie sich durchs Haar. Punkt vier: Geben Sie ihm das Gefühl, wahnsinnig witzig und unterhaltsam zu sein, und werfen Sie Ihren Kopf lachend zurück. Punkt fünf: Geben Sie ihm Ihre Telefonnummer.«

Doch bevor es zum fünften Punkt kommen konnte, ließ Rick die Lady draußen alleine weiterrauchen und kam wieder an die Bar zu Emma. Kurz darauf startete er seine typische Charmeoffensive bei ihr, und Emma konnte und wollte sich dem nicht entziehen. Dezent, aber geschickt fallengelassene Bemerkungen wie »Ich mag es so, wenn du lachst« oder sogar das übliche Blabla wie »hab vergessen, wie schön du bist« – gepaart mit seiner eigentlich kernigen und völlig unromantischen Art, den richtigen Blicken und Gesten und vor allem der ständigen Wiederholung ihres Namens – trafen genau in Emmas hungriges Herz – und Höschen.

Rick und sie fingen an, Whiskey zu trinken und über alte Zeiten zu reden. Als sie die Nächte in Berlin durchgemacht hatten, immer auf der Suche nach dem nächsten Kick, dem nächsten Bild, dem nächsten Berlin-Klischee. Montagsbar, Dienstagsbar und so weiter, Galerie Berlin-Tokyo, St. Kilda, Ibiza, das erste 103 oder die Sea-U-Site, immer schön breitgefächert, sich bloß nicht festlegen lassen. Was gab es noch? Ach so viel, es waren eben die fetten Jahre. So jung kommen wir nicht wieder zusammen, war das Motto. Damals. So alt kommen wir nicht wieder zusammen, könnte es heute heißen, dachte Emma und giggelte.

Rick brachte sie zum Lachen – er war wirklich witzig – und bald fing er an, dreckige Witze zu reißen. Emma fand ihn trotzdem lustig. Er legte seine Hand auf ihrem Oberschenkel ab und ließ sie länger verweilen. Emma war schon ziemlich betrunken und wollte geküsst werden. Darin war Rick immer gut gewesen, das wusste sie noch genau. Alles andere war ihr jetzt egal.

Und so wenig Initiative sie in der letzten Zeit bei Männern gezeigt hatte, so sehr traute sie sich jetzt zum Ziel zu kommen. Bei Rick hatte sie nichts zu verlieren, dachte sie. Er wirkte auf sie wie ein Ego-Booster. Also legte sie ihm einen Finger auf den Mund, als er von seinem Chef in New York erzählte, der die komische Angewohnheit hatte, ihm am Pissoir ganz deutlich auf den Schwanz zu gucken – in diesem Moment war das völlig uninteressant –, und brachte ihn zum Schweigen.

»Lass uns gehen«, sagte sie und schaute in die kleine Whiskeypfütze in ihrem Glas, um sie in ihrem Mund verschwinden zu lassen. Sie fühlte sich richtig gut, so fordernd und selbstbewusst. Rick übernahm die Rechnung und freute sich über ihren Vorstoß. Er hatte schon in dem Moment Lust auf sie bekommen, als er sie da so verloren an der Bar gesehen hatte. Die Emma. Und so nahm er einfach ihre Hand und zog sie aus der Bar in die Nacht. Sie stand auf Männer, die wussten, was sie wollten, das hatte sie doch eben noch so vorlaut verkündet. Kann sie haben, dachte er. Sie fuhren schweigend und Händchen haltend mit dem Taxi zu ihm in die Körtestraße; schön fühlte sich das an und verheißungsvoll. Sie taumelten die Treppen hoch und piksten einander auf dem Weg nach oben in den Po – je nachdem wer vorne war, wurde zum Opfer.

Ganz oben angekommen, staunte Emma über den riesigen offenen Raum mit einem fantastischen Blick über Berlin. Rick war Werbefotograf und machte einen Haufen Geld zurzeit, was sich auch in seinem aufgemotzten Fabriketageheim niederschlug. Der Fernsehturm blinkte in der Ferne, tausend kleine Lampen blitzten in der Dunkelheit, Emma konnte in die vielen hellen Fenster sehen, hinter jedem eine Geschichte – mindestens, dachte sie angesäuselt und gefiel sich in der Rolle der umworbenen Frau. Rick legte Musik auf – Johnny Cash im Gefängnis – und baute eine Tüte. Früher hätte er sicher noch eine Line gezogen, aber die Zeiten schienen vorbei zu sein.

Sie setzten sich einander gegenüber auf seine alte Cordcouch, das einzige Möbelstück mit einer Geschichte in dem Zimmer. Alles andere schien neu und kalt, teuer und eckig zu sein, dachte Emma. Sie zogen abwechselnd an dem Joint und schwiegen. Und dann wurde Emma ganz plötzlich furchtbar schlecht. Ihr drehte sich alles und da war dieses Gefühl, kalkweiß zu sein. Man spürt das ja. Heute war nicht mehr an Knutschen oder mehr zu denken, Emma wollte sich nur noch hinlegen und frische Luft um ihre Nase haben. Bloß nicht kotzen, nicht hier, nicht in der Fremde.

»Mir ist total übel. Ich vertrag das Zeug nicht mehr – vor allem nicht mit Alkohol. Tut mir leid.«

»Kein Ding«, sagte Rick und brachte ihr eine Decke, öffnete die Fenster, sodass ein Luftzug entstand, und streichelte kurz über ihren Kopf. So was Blödes aber auch, dachte Emma. Sie konzentrierte sich auf die frische Luft, unterdrückte die Übelkeit und die Kotze, bevor sie schwindelnd in einen unruhigen Schlaf fiel.

Sie wachte im Morgengrauen auf. Ihr war ein bisschen übel, der Kopf tat ihr weh und sie musste dringend auf die Toilette. Rick war nirgends zu sehen. Emma guckte auf ihr Mobiltelefon, 5:32 Uhr, und taumelte durch den Raum zur Eingangstür. Irgendwo dort musste doch auch das Klo sein, dachte sie. In der Fabriketage zweigte sich ein weiterer Raum hinter der Küchenzeile ab, da drin stand ein großes Bett, das leer war – wo ist er hin? Daneben ein weiterer Raum, das Bad. Was für ein Wahnsinn, ging es Emma durch den Kopf. So viel Wohnung und so wenig Mensch.

Nachdem sie gepinkelt hatte, sah sie sich im Bad um. Da standen allerlei Mädchensachen um den Spiegel drapiert, teure Chanel-Reinigungsmilch und anderes Luxuszeug. Schmiert er sich so was ins Gesicht? Sie wusch sich mit kaltem Wasser und benutzte die teure Milch, um ihre verschmierte Wimperntusche zu entfernen. Praktisch. Als sie sich gewaschen hatte und sich etwas frischer fühlte, durchwanderte sie noch einmal die beiden großen Räume – nirgends eine Spur von Rick. Nur ein paar Schallplatten, eine große weiße Arbeitsplatte mit fettem Mac, zwei Vergrößerer, Foto-Utensilien. Klamotten auf einer Stange und einem Regalbrett, ein weißes Designerbett, eine Chromdesignerküche, aber keine Bilder an den Wänden. Rick musste erst vor kurzem hier eingezogen sein.

Als sie genug gesehen hatte, zog sich Emma schließlich ihre Schuhe an, warf sich das Tuch über und ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen. Draußen zwitscherten schon wieder die Vögel. Ansonsten waren nur ein paar versprengte Partygestalten unterwegs und eine ältere Frau mit zwei kleinen Pinschern oder etwas Ähnlichem. Es hatte noch kein Kaffeeladen offen, und kühl war es. Emma vergewisserte sich noch mal auf ihrem Handy, ob sie nicht einen Anruf oder eine Mitteilung verpasst hatte – nichts –, und lief fröstelnd durch den Graefekiez zu sich nach Hause. Was für eine Nacht, dachte sie zuhause angekommen und legte sich noch mal für ein paar Stunden aufs Ohr.

2. Kapitel

Strip, Strip

Nach diesem ersten Wiedersehen mit Rick stürzte sich Emma wieder in die Arbeit. Ihre einzigen Highlights in diesem schönen Mai bestanden aus den Restaurantbesuchen, nachdem sie ihr Geschäft geschlossen hatte. Jeden Abend ging Emma essen. Allein. Sie wollte sich etwas gönnen, wenn sie schon keinen Sex hatte. Essen ist der Sex des Alters, so sagt man doch, dachte Emma. So alt bin ich also schon geworden.

Sie ging ins Jolesch, zu Cuno, saß im Mir, To Loc, Spätzle Express oder draußen direkt an der Skalitzer beim Burgermeister. Sie ging nicht auf der anderen Seite des Wassers bei Julia und Matthias vorbei, guckte nicht, wie weit die beiden mit ihrem Restaurant waren. Emma suhlte sich in ihrer Einsamkeit, störte sich nicht daran, irgendwo alleine zu sein. Schließlich gehörte das ja zu ihrer Arbeit, war Teil ihrer Inspiration!

Aber zum Frauenbeobachten und Entwerfen hatte sie gerade gar keine Lust. Und wenn sie am Kirk vorbeikam – was ziemlich oft passierte –, musste sie an Rick denken. Sie hörte nichts von ihm, und sie meldete sich auch nicht bei ihm. Wäre ja auch gar nicht gegangen – sie hatten ihre Nummern nicht ausgetauscht. So plätscherten die Tage dahin. Emma stand im Laden, bediente Kundinnen, spazierte morgens und am Wochenende durch Kreuzberg und setzte sich ans Wasser an Spree oder Kanal. Sie rief niemanden an und war sauer, dass niemand sie anrief. Julia nicht und auch keine ihrer anderen Freundinnen, Molly oder Katharina zum Beispiel, die sie eh schon viel zu lange vernachlässigt hatte. Die einzigen Personen, die sie zu Gesicht bekam – außer den Kundinnen natürlich –, waren Magdalena und ihre Praktikantin Elisa. Und mit denen drehte sich alles nur um das Geschäft.

Drei Wochen später kam plötzlich eine Mail von Rick (im Absender stand sein richtiger Name: Richard Grau / Grau-Fotografie). Er hatte sie ihr über die Homepage von Wilmers-Wäsche geschickt, ganz businessmäßig. Er schrieb, dass er sie einer befreundeten Redakteurin der Zeitschrift Zoé empfohlen habe, die eine Modestrecke über Berliner Designerinnen mache. Eigentlich sei alles schon in trockenen Tüchern, wenn Emma wolle. Sie müsse nur vier exklusive Wäscheensembles für die Produktion zur Verfügung stellen. Seine Kontaktdaten waren anbei und das Budget konnte sich einigermaßen sehen lassen.

Emma freute sich. Nur eine Sache fiel ihr in der Mail etwas unangenehm auf: Rick tat so, als hätte es ihr Wiedersehen gar nicht gegeben. So gar nicht. Er war förmlich und professionell – der reine Fotograf. Sie hatte ihn gleich, nachdem sie seine Mail zuende gelesen hatte, auf seinem Handy angerufen, sie konnte es nicht lassen. Zum einen, weil sie die Einzelheiten klären wollte. Zum anderen, weil sie wissen wollte, was mit ihm ging. Was er wollte. Er war doch an dem Abend eigentlich ganz entzückend gewesen, dachte Emma. Da hatte sie sich schon begehrt gefühlt und auch selbst begehrt.

Beide verloren kein Wort über die Nacht, die im Kirk gestartet und mit der bekifften Emma auf seinem Sofa und einem verschollenen Rick geendet hatte. Kein Wort. Sie verabredeten sich für den kommenden Samstag. Da wollte er bei ihr im Laden vorbeikommen, damit er sich ein paar von ihren Entwürfen ansehen konnte, wie er sagte. Er war freundlich und fast verbindlich. Emma musste sich lange am Kopf kratzen, so verwirrt war sie nach dem Gespräch. Sie wurde nicht schlau aus ihm. Andererseits: Was wollte sie denn von ihm? Ach, sie wusste es auch nicht. Eben begehren – und vor allem begehrt werden.

*

Es war Samstag. Der Samstag, an dem Rick sich die Wäsche ansehen wollte. Eine Handvoll Frauen kam bis zum Nachmittag ins Geschäft. Sie schauten sich um, drei probierten etwas an und als Emma gerade bei einer Kundin mit sechs Wäscheteilen – BHs, Hemdchen und einer Korsage – in der Umkleide stand, hörte sie schon wieder die Türglöckchen bimmeln. Sie schnürte der attraktiven Frau mittleren Alters mit dem prächtigen Busen noch schnell die Korsage fest zu, bevor sie nach vorne in den Laden ging. Dort sah sie aber nur noch einen dunklen Lockenkopf aus der Tür verschwinden. Ein Mann.

Entweder wieder einer von diesen Kerlen, die sich nur in den Laden trauen, wenn keine Kundin zu sehen ist, oder er hat was geklaut, dachte Emma. Ihre Kasse war unter dem abschließbaren Fünfzigerjahretresen gesichert – ihr ging es vielmehr um die Wäsche. Aber nachdem sie schnell ihren kleinen Ladenraum mit den Augen abgetastet hatte, überwog das gute Gefühl. Nee, ein Dieb war das nicht gewesen. Also ein verschüchterter Voyeur. Sie ging zurück zu der Kundin.

»Die sind ja alle ganz wunderbar – jedes einzelne Teil! Ich weiß gar nicht, was ich nehmen soll«, sagte die Dunkelhaarige gerade, als Emmas Handy klingelte. Ganz passend, natürlich.

»Entschuldigen Sie mich bitte«, sagte sie zu der Frau. Und ins Telefon: »Wäsche von Wilmers, hallo?«

»Hallo, hier ist Rick. Du, ich schaffe das heute doch nicht, tut mir total leid, Emma. Mir ist was dazwischengekommen, aber Montag gegen Mittag, ginge das auch?«

Emma war enttäuscht. Aber das wollte sie Rick nicht wissen lassen – warum eigentlich? »Ja, das geht. Bis dann, tschüs«, sagte sie und legte schnell wieder auf. Und ärgerte sich über sich selbst. Verfügbarkeit war ein Graus, aber noch schlimmer war es, wenn diese für selbstverständlich erachtet wurde. Selbst schuld, Emma Wilmers, selbst schuld!, dachte sie kopfschüttelnd. Andererseits freute sie sich wirklich über diese Fotoproduktion, beschwichtigte sie sich selbst, als die Kundin gerade mit den Oberteilen aus der Kabine kam. Sie legte gleich drei auf einmal auf das Glas des Tresens: Strip, Strip, Neverending Love und Only Me.

*

Welches von den dreien ziehe ich bloß nachher an?, fragte sich die brünette Frau, als sie den kleinen Wäscheladen hinter sich gelassen hatte und in die Sorauer einbog, wo ihr geliebter Mercedes 300 SEL stand, mit dem es zurück nach Wilmersdorf ging. Ihre Heilpraktikerin aus Kreuzberg hatte ihr Emmas Dessous empfohlen. Nichts trage sich angenehmer und sei von so guter Qualität bei sehr ausgefallenem Design, hatte sie gesagt. Und mit den Augen zwinkernd hinzugefügt: »Und die Wirkung bleibt nicht aus, das sage ich Ihnen.« Genau darauf hoffte Alice Schwertmann jetzt.

Sie warf die lindgrüne Wilmers-Wäsche-Tüte auf den Rücksitz und legte den ersten Gang ein, der schon seit Jahren klemmte. Am Abend würde sie mit ihrem Rechtsberater essen gehen – und hoffentlich nicht nur essen. Dafür würde sich wohl die Korsage Strip, Strip am besten eignen, stellte sie sich vor, während sie sich durch den nervigen Sechs-Uhr-Verkehr ihren Weg bahnte.

Nach einem hervorragenden roten Curry mit Ente im Moon Thai und größtenteils geschäftlichen Besprechungen über den Ausbau ihrer Künstleragentur gingen Alice Schwertmann und John Becker gemeinsam auf einen Cocktail ins Gainsbourg am Savignyplatz. Unter der Woche versammelte sich dort bei schummerigem Licht die typische Charlottenburger Bohème – ohne all die reichen Grunewaldkinder, die sich am Wochenende stilvoll für viel Geld betranken. Jungs mit feisten Gesichtern und über die Schultern geworfenen Pullis, Mädchen mit stets frisch duftendem Pferdeschwanz und einer Longchamptasche in der Hand.

Sie setzten sich an die leere Bar und Alice bestellte einen Hemingway Sour und er nahm das Gleiche. Das verwirrte sie etwas. Ein Mann sollte doch von alleine wissen, was er trinkt, einen eigenen Geschmack haben, aber so war das wohl mit den heutigen Jungspunden: keine Ahnung von Cocktails.

»Die alte Schwertmann«, wie sie von ihren Angestellten heimlich genannt wurde, schlug ein Bein über das andere und spürte den angenehm festen Sitz der Korsage unter ihren Brüsten. John Becker hatte schon beim Curry angebissen. Da war ihr nämlich fast der eine Busen aus dem scharfen Teil gefallen, das er unter der massig weichen Haut und der tief aufgeknöpften Bluse erahnen konnte. Seine Chefin ging ganz schön ran, hatte John da bereits zum zweiten Mal gedacht. Aber sie hatte ja auch nichts zu verlieren – und er genauso wenig. Denn er würde ihr sowieso kündigen und zurück nach London gehen. Das wusste sie nur noch nicht. Also konnten ihre Avancen nur bedeuten, dass es ihr ernst war – ob sie wohl in der Lage war, Geschäftliches vom Privaten vollkommen zu trennen?, ging es John durch den Kopf.

In Wirklichkeit war es Alice ganz egal, was später sein würde. Daran verschwendete sie nicht einen Gedanken. Sie hatte sich in John Becker verliebt, oder zumindest in das, was sie in dem gebürtigen Engländer sah: den jungen Kerl, der mit 26 Jahren fast halb so alt war sie und der ihr 49-jähriges Blut in Wallung brachte wie lange nichts mehr. Dass sie einen Mann hatte, war ihr auch ganz egal. Der war eh die meiste Zeit in Asien auf Geschäftsreisen. Obwohl sie sich nicht sicher sein konnte, ging sie davon aus, dass er sie schon seit Jahren betrog. Sie hingegen war ihm treu geblieben – bis jetzt.

Ihre Künstleragentur, die sie 2004 von Charlottenburg nach Mitte verlegt hatte, war ihr Ein und Alles. Und seit einem guten Jahr gehörte John dazu und war ebenso zu ihrem Ein und Alles geworden. Sie freute sich jeden Morgen darauf, zur Arbeit zu gehen, was unter anderem an ihm lag, ihrem Berater. Er war witzig, gut aussehend, aber nicht zu schick; mit einem herrlichen Oxfordenglisch-Akzent – und er konnte tanzen. Tanzende Männer hatten Alice schon immer beeindruckt. Es gab nur wenige von der Sorte, und wenn, waren sie meist arg eingebildet oder schwul. In ihrer Generation hatte sie zumindest diese Erfahrung gemacht.