Emotionales Erbe - Galit Atlas - E-Book

Emotionales Erbe E-Book

Galit Atlas

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Beschreibung

Die Menschen, die wir lieben, und diejenigen, die uns großgezogen haben, leben in uns; wir erleben ihren emotionalen Schmerz, wir träumen ihre Erinnerungen, und ihre Erfahrungen formen unser Leben auf eine Weise, die wir nicht immer erkennen. In diesem bahnbrechenden Buch geht es um unser Emotionales Erbe, das tiefenpsychologisch wie epigenetisch in uns und auf unsere Leben wirkt. Ob das die unbeirrbare Resilienz unserer Großmutter ist oder ein dunkles Familiengeheimnis, das uns daran hindert, unser volles Potenzial auszuschöpfen: Unser Emotionales Erbe erzeugt Muster. Die preisgekrönte Psychoanalytikerin Dr. Galit Atlas verwebt die Geschichten ihrer Patient*innen mit ihrer eigenen Lebenserfahrung und jahrzehntelanger Forschung, um uns zu helfen, die Verbindungen zwischen unseren wiederkehrenden Lebensthemen und dem emotionalen Erbe, das wir alle in uns tragen, zu verstehen. Denn nur wenn wir den Spuren folgen, die unsere Vorfahren hinterlassen haben, können wir unser Schicksal wirklich ändern.

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Seitenzahl: 325

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»Dr.Atlas erklärt mit einfachen Worten, wie wir unser psychologisches Erbe verstehen und überwinden können.«

Juliet Rosenfeld

Die preisgekrönte Psychoanalytikerin Dr.Galit Atlas verwebt die Geschichten ihrer Patient*innen mit ihrer eigenen Lebenserfahrung und jahrzehntelanger Forschung, um uns zu helfen, die Verbindungen zwischen unseren wiederkehrenden Lebensthemen und dem emotionalen Erbe, das wir alle in uns tragen, zu erkennen. Denn nur wenn wir den Spuren folgen, die unsere Vorfahren hinterlassen haben, können wir unser Schicksal wirklich ändern.

»Wunderschön, kunstvoll und elegant. Man kommt nicht umhin, über seinen eigenen Weg nachzudenken.«

Bruce D. Perry

© Nir Arieli

Galit Atlas ist Psychoanalytikerin und klinische Supervisorin. Sie hat zudem eine private Praxis in Manhattan und ist Fakultätsmitglied des New York University Postdoctoral Program in Psychotherapy and Psychoanalysis. Galit Atlas hat drei Fachbücher sowie zahlreiche Artikel veröffentlicht, die sich vor allem mit Gender und Sexualität befassen. Sie ist führend auf dem Gebiet der relationalen Psychoanalyse und wurde mit dem André François Research Award und dem NADTA Research Award ausgezeichnet. Galit Atlas unterrichtet und hält Vorträge.

Monika Köpfer war viele Jahre lang als Lektorin tätig und übersetzt heute aus dem Englischen, Italienischen und Französischen. Zu den von ihr übersetzten Autor*innen zählen u.

GALIT ATLAS

EMOTIONALES ERBE

Eine Therapeutin, ihre Fälle und die Überwindung familiärer Traumata

Aus dem Englischen vonMonika Köpfer

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel ›Emotional Inheritance. A Therapist, Her Patients, And The Legacy Of Trauma‹ bei Little, Brown Spark, New York City, einem Imprint von Little, Brown and Company, der zur Hachette Book Group, Inc. gehört.

Copyright © Galit Atlas 2022

eBook 2023

© 2023 für die deutsche Ausgabe: DuMont Buchverlag, Köln

Alle Rechte vorbehalten

Übersetzung: Monika Köpfer

Lektorat: Kerstin Thorwarth

Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln

Umschlagmotiv: © plainpicture/Anke Doerschlen/ Kollektion Rauschen

Satz: Fagott, Ffm

eBook-Konvertierung: CPI books GmbH, Leck

ISBN eBook 978-3-8321-8290-8

www.dumont-buchverlag.de

Dieses Buch ist dem Gedenken an Lewis Aron gewidmet.

In jenen Tagen sagt man nicht mehr:

»Die Väter haben saure Trauben gegessen

und den Söhnen werden die Zähne stumpf.«

EINE SPUR IN DER PSYCHE

Jede Familie trägt die Geschichte eines Traumas in sich. Das jeweilige Trauma kommt in jeder Familie auf ganz eigene Weise zum Tragen und hinterlässt auch bei jenen, die erst noch geboren werden, emotionale Spuren.

Im letzten Jahrzehnt ist auf dem Gebiet der zeitgenössischen Psychoanalyse und der empirischen Forschung die Literatur zu Epigenetik und vererbtem Trauma stetig angewachsen. Die Wissenschaft richtet dabei den Fokus darauf, auf welche Weise das jeweilige Trauma von einer Generation an die nächste weitergegeben wird und wie es sich in unserem Bewusstsein und unserem Körper als unser eigenes manifestiert. Im Hinblick auf die intergenerationelle Übertragung untersuchen die klinischen Forscher und Forscherinnen, wie das Trauma unserer Vorfahren als emotionales Erbe überliefert wird und eine Spur nicht nur in unserem Bewusstsein, sondern auch dem künftiger Generationen hinterlässt.

Emotionales Erbe handelt von stillgelegten Erfahrungen, die nicht nur wir selbst, sondern auch unsere Eltern, Großeltern und Urgroßeltern gemacht haben, und davon, wie sie unser Leben beeinflussen. Genau diese verborgenen Mechanismen hindern uns oft daran, unser Potenzial voll auszuschöpfen. Sie beeinträchtigen unsere mentale und physische Gesundheit und führen zu einer Diskrepanz zwischen dem, was wir erreichen wollen, und dem, was wir erreichen können – sie suchen uns wie Geister heim. Dieses Buch beschreibt die Bindungen, die es zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gibt, und fragt: Wie können wir vorankommen?

Von früher Kindheit an lernten meine Geschwister und ich, worüber man nicht reden durfte. Wir stellten nie Fragen zum Tod. Wir vermieden es, über Sex zu sprechen, und wir wussten, es war besser, nicht traurig, sehr wütend oder enttäuscht zu sein – und auf gar keinen Fall durften wir zu laut sein. Meine Eltern belasteten uns nicht mit Traurigkeit, sie glaubten an Optimismus. Wenn sie uns ihre Kindheit schilderten, waren es stets in wunderschönen Farben gemalte Geschichten, die ihr jeweiliges Trauma, ihre Armut und das mit Rassismus und Immigration verbundene Leid aussparten.

Sowohl meine Mutter als auch mein Vater war noch klein, als ihre Familien alles hinter sich ließen und nach Israel emigrierten, mein Vater aus dem Iran und meine Mutter aus Syrien. Beide wuchsen jeweils mit sechs Geschwistern in armen Wohnvierteln auf und hatten nicht nur mit Armut zu kämpfen, sondern auch mit Vorurteilen, weil sie einer ethnischen Gruppe angehörten, die in den 1950ern in Israel als sozioökonomisch unterlegen galt.

Ich wusste, dass mein Vater zwei Schwestern gehabt hatte, die im Kleinkindalter an einer Krankheit gestorben waren, noch bevor er geboren wurde, und dass er selbst ebenfalls erkrankt war und fast gestorben wäre. Sein Vater, mein Großvater, war von Geburt an blind, sodass mein Vater ihn als Junge zur Arbeit begleiten musste – er verkaufte Zeitungen auf der Straße. Als Kind war ich mir dessen bewusst, dass mein Vater keine Schule besucht hatte und von seinem siebten Lebensjahr an hatte Geld verdienen müssen, um seine Familie zu unterstützen. Weil er wollte, dass ich eine Ausbildung erhielt, die er sich selbst nicht hatte leisten können, lehrte er mich, hart zu arbeiten.

Genau wie mein Vater hatte auch meine Mutter als Säugling mit einer lebensbedrohlichen Krankheit zu kämpfen. Mit zehn verlor sie ihren ältesten Bruder – ein einschneidendes Trauma für die ganze Familie. Meine Mutter hatte nicht viele Kindheitserinnerungen, weswegen auch ich nur wenig darüber weiß. Ich bin mir nicht sicher, ob meine Eltern je erkannt haben, wie ähnlich ihre Herkunftsgeschichten waren und dass das Band zwischen ihnen stillschweigend durch Krankheit, Armut, frühe Verluste und Scham gefestigt wurde.

Wie viele andere Familien kam auch unsere unausgesprochen überein, dass Schweigen die beste Möglichkeit war, alles Unangenehme zu tilgen. Damals dachte man, dass das, woran man sich nicht erinnerte, einem auch nicht wehtun könne. Aber was ist, wenn das, woran man sich nicht erinnert, in Wahrheit doch erinnert wird, auch wenn man sich noch so sehr dagegen wehrt?

Ich war das erste Kind meiner Eltern, und ihre traumatische Vergangenheit lebte in meinem Körper fort.

Dort, wo ich meine Kindheit verbrachte, gab es Kriege, und daher hatten wir Kinder häufig Angst; uns war nicht wirklich bewusst, dass wir im Schatten des Holocausts aufwuchsen und dass Gewalt, Verlust und unendliches Leid unser nationales Vermächtnis waren.

Als der Jom-Kippur-Krieg, der fünfte Krieg seit 1948, ausbrach, war ich erst zwei Jahre alt. Meine Schwester wurde am ersten Tag dieses Kriegs geboren. Wie alle Männer wurde auch mein Vater zum Militärdienst eingezogen. Als sich meine Mutter ganz allein zur Entbindung ins Krankenhaus aufmachte, ließ sie mich bei einer Nachbarin zurück. Die massiven Angriffe auf Israel kamen so überraschend, dass auf einen Schlag sehr viele verwundete Soldaten in die Krankenhäuser eingeliefert wurden und für Frauen, die entbinden mussten, kein Platz mehr war. Also verfrachtete man sie auf die Flure.

Ich erinnere mich kaum an diesen Krieg, aber wie es Kindheitserfahrungen in der Regel an sich haben, nahm ich alles vermutlich als ziemlich normal wahr. In den folgenden Jahren wurde in der Schule einmal im Monat eine »Kriegsübung« abgehalten. Wir Kinder trainierten, ruhig und geordnet zu den Schutzräumen zu gehen, und freuten uns, wenn wir, statt lernen zu müssen, uns dort die Zeit mit Brettspielen vertreiben oder uns scherzhaft ausmalen konnten, wie Raketen über uns einschlagen oder bewaffnete Terroristen uns als Geiseln nehmen würden. Man brachte uns bei, dass es nichts gab, was wir nicht irgendwie meistern könnten, dass Gefahr ein normaler Bestandteil unseres Lebens sei und dass wir einfach nur tapfer bleiben und unseren Sinn für Humor bewahren sollten.

In der Schule hatte ich nie Angst; nur nachts fürchtete ich mich davor, dass ein Terrorist ausgerechnet in unser Haus eindringen könnte und ich nicht in der Lage wäre, meine Familie zu retten. Im Geiste ging ich all die geeigneten Orte durch, an denen sich die Menschen im Holocaust versteckt hatten: den Keller, den Speicher, eine Nische hinter der Bücherwand, den Schrank. Das Kunststück dabei war, immer mucksmäuschenstill zu sein.

Aber ich war nicht so gut darin, still zu sein. Als Teenager begann ich, Musik zu machen, und fragte mich, ob ich einfach nur viel Lärm veranstalten und mir Gehör verschaffen müsste. Wenn ich auf einer Bühne stand, war Musik die Zauberformel. Sie gab mir eine Stimme, eine Möglichkeit, das auszudrücken, was ich sonst nicht laut sagen konnte. Sie war mein Protest gegen das Unausgesprochene.

1982 brach der Libanonkrieg aus, und ich war alt genug, um zu erkennen, dass etwas Schreckliches passierte. An der Gedenkmauer der Schule wurden immer mehr Namen hinzugefügt, diesmal welche von jungen Menschen, die wir kannten. Eltern, die ihre Jungen verloren hatten, kamen am nationalen Gedenktag in die Schule. Ich war stolz, diejenige zu sein, die für sie singen durfte; ich blickte ihnen direkt in die Augen und achtete darauf, nicht zu weinen, denn dann wäre das Lied ruiniert gewesen und jemand anders hätte meinen Platz hinter dem Mikrofon einnehmen müssen. Jedes Jahr beendeten wir die Zeremonie mit »Shir LaShalom« (»Lied für den Frieden«), einem der bekanntesten israelischen Lieder. Aus tiefstem Herzen sangen wir für den Frieden. Wir wollten einen Neuanfang und eine befreite Zukunft.

Ich wuchs mit dem Versprechen unserer Eltern auf, dass es, wenn die Kinder achtzehn wären und ihren Armeedienst leisten müssten, keinen Krieg mehr geben würde. Aber es wurde bis zum heutigen Tag nicht eingelöst. Ich diente als Musikerin in der Armee und betete für den Frieden, während ich von einem Stützpunkt zum nächsten fuhr, dabei immer wieder Grenzen passierte und für die Soldaten sang. Als der Golfkrieg begann, war ich eine neunzehnjährige Soldatin.

Wir waren ständig unterwegs und spielten so laute Rock-’n’-Roll-Musik, dass wir aufpassen mussten, damit wir die Sirenen nicht überhörten und rechtzeitig zu den Schutzbunkern laufen konnten, um unsere Gasmasken aufzusetzen. Irgendwann beschlossen wir, bei Sirenenalarm Masken und Schutzbunker links liegen zu lassen und stattdessen auf eines der Dächer zu steigen, um die im Irak abgeschossenen Raketen zu verfolgen und zu erraten, wo sie landen würden. Nachdem sie krachend irgendwo eingeschlagen waren, kehrten wir zu unseren Instrumenten zurück und spielten noch lauter als vorher.

Wir sangen für die Soldaten, die auch unsere Freunde aus Kindheitstagen, Nachbarn und Geschwister waren. Und wenn ihnen die Tränen kamen, was häufig geschah, spürte ich die Kraft, jemandes Herz mit meinem eigenen zu berühren, indem ich das Unaussprechliche zum Ausdruck brachte. Unsere Musik drückte so viel von dem aus, was niemand laut sagen konnte: dass wir Angst hatten, das aber nicht einmal vor uns selbst zugeben durften; dass wir noch zu jung waren und am liebsten nach Hause gehen, uns verlieben und durch die Welt reisen würden. Dass wir ein normales Leben wollten, aber gar nicht wussten, was »normal« bedeutete. Musik zu machen und laut zu singen, war bedeutungsvoll und befreiend. Es war der Beginn meiner Suche nach Wahrheiten, meines Versuchs, das emotionale Erbe, das in mir schlummerte, offenzulegen.

Ein paar Jahre später verließ ich dann mein Heimatland, zog nach New York City und begann, das Unaussprechliche zu studieren – all jene stillgelegten Erinnerungen, Gefühle und Wünsche, die außerhalb unserer Wahrnehmung existieren. Ich wurde zur Psychoanalytikerin, die das Unbewusste erforscht.

Die Analyse der Psyche ist, ähnlich einem Krimi, Ermittlungsarbeit. Wir wissen, dass Sigmund Freud, der berühmte Ermittler des Unbewussten, ein großer Fan von Sherlock Holmes war und eine umfangreiche Sammlung von Detektivromanen besaß. In gewisser Weise borgte sich Freud Holmes’ Methode: Beweise sammeln, unter einer oberflächlichen Wahrheit nach einer tieferen Wahrheit fahnden, verborgene Realitäten ausfindig machen.

In Detektivmanier versuche ich gemeinsam mit meinen Patientinnen und Patienten, den Zeichen und Hinweisen zu folgen, zu hören, was sie uns mitzuteilen haben, aber auch den Pausen dazwischen zu lauschen, der Musik dessen, was uns unbekannt ist. All das – das Sammeln von Erinnerungen an die Kindheit, an das, was gesagt oder getan wurde, das Horchen auf Auslassungen und unerzählte Geschichten – ist eine hochsensible Arbeit. Während wir nach Anhaltspunkten Ausschau halten und sie zu einem Bild zusammenfügen, fragen wir: Was ist wirklich passiert – und wem?

Die Geheimnisse der Psyche beinhalten nicht nur unsere eigenen Lebenserfahrungen, sondern auch jene, die wir unwissentlich in uns tragen: die Erinnerungen, Gefühle und Traumata, die wir von vorausgegangenen Generationen erben.

Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg machten sich Psychoanalytiker daran, die Auswirkungen eines Traumas auf die nächste Generation zu erforschen. Viele dieser Analytiker waren Juden, die aus Europa geflüchtet waren. Ihre Patientinnen und Patienten waren Holocaust-Überlebende und später dann Nachkommen dieser Trauma-Überlebenden, Kinder, die unbewusste Spuren des Leids ihrer Vorfahren in sich trugen.

Seit den 70ern bestätigen die Neurowissenschaften die psychoanalytische Erkenntnis, dass die Traumata von Überlebenden – selbst die dunkelsten Geheimnisse, über die sie nie gesprochen haben – reale Auswirkungen auf das Leben der Kinder und Enkel hatten. Diese relativ neuen Studien konzentrieren sich auf die Epigenetik, die nicht genetischen Einflüsse und Modifikationen der Genexpression. Die Forscherinnen und Forscher analysieren, wie sich die Gene in den Nachfahren von Trauma-Überlebenden verändern, und untersuchen, auf welche Weise die Umwelt, und insbesondere ein Trauma, chemische Spuren in der DNA hinterlassen kann, die wiederum an die nächste Generation weitergegeben werden. Diese empirische Forschung unterstreicht die bedeutende Rolle, die Stresshormone für die Entwicklung des Gehirns spielen, und damit für die biologischen Mechanismen, durch die ein Trauma von einer Generation auf die nächste übertragen wird.

Die umfangreichen Forschungsarbeiten, die Dr.Rachel Yehuda, Direktorin der Abteilung für traumatische Stressstudien, mit ihrem Team der Icahn School of Medicine am Mount Sinai Hospital in New York City durchgeführt hat, offenbaren, dass die Nachkommen von Holocaust-Überlebenden niedrigere Cortisolwerte aufweisen – ein Hormon, das dem Körper nach einem Trauma hilft, sich wieder zu erholen. Sie fanden heraus, dass Nachfahren von Menschen, die den Holocaust überlebten, andere Stresshormonprofile aufweisen als die jeweilige Kontrollgruppe, wodurch sie womöglich anfälliger für Angststörungen sind. Die Forschungslage deutet darauf hin, dass gesunde Nachfahren von Holocaust-Überlebenden sowie von versklavten Menschen, Kriegsveteranen und Eltern, die ein schweres Trauma erlebten, eher Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) entwickeln, nachdem sie selbst ein schweres Trauma erlitten haben oder Zeugen eines brutalen Gewaltakts geworden sind.

In evolutionärer Hinsicht könnte der Zweck dieser epigenetischen Veränderungen darin bestehen, Kinder auf eine Umwelt vorzubereiten, die jener ähnelt, in der ihre Eltern gelebt haben, und ihnen so das Überleben zu erleichtern. Doch in Wirklichkeit treten bei ihnen häufiger Symptome eines Traumas auf, das sie selbst gar nicht erlebt haben.

Diese Forschungsergebnisse sind für uns, die wir den menschlichen Geist ergründen, nicht weiter erstaunlich. Während unserer klinischen Arbeit beobachten wir, wie sich traumatische Erfahrungen auf die Psyche der Folgegeneration auswirken und sich auf unheimliche und oft überraschende Weise bemerkbar machen. Die Menschen, die wir lieben und die uns großgezogen haben, leben in uns; wir erfahren ihren emotionalen Schmerz, wir träumen ihre Erinnerungen, wir wissen Dinge, die uns nicht explizit übermittelt wurden, und all dies prägt unser Leben auf eine Weise, die wir nicht immer verstehen.

Wir erben Familientraumata – selbst jene, von denen uns niemand etwas erzählt hat. Die aus Ungarn stammenden Psychoanalytiker Maria Torok und Nicolas Abraham, die in Paris mit Holocaust-Überlebenden und deren Kindern arbeiteten, umschrieben mit dem Wort »Phantom«, auf welch vielfältige Weise die zweite Generation die Verstörung und Verluste der Eltern spürte, selbst wenn die Eltern nie darüber sprachen. Die ererbten Gefühle der unverarbeiteten Traumata ihrer Eltern waren die Phantome, die in ihnen lebten, die Geister des Ungesagten und des Unsagbaren. Es sind diese »geisterhaften« Erfahrungen – nicht wirklich lebendig, aber auch nicht tot –, die wir erben. Sie dringen auf sichtbare und konkrete Weise in unsere Realität ein; sie lauern im Hintergrund, hinterlassen Spuren. Wir wissen und fühlen Dinge und erkennen nicht immer deren Ursprung.

In Emotionales Erbe verwebe ich von psychoanalytischer Warte aus und im Lichte der neuesten psychologischen Forschung die Geschichten meiner Patienten und Patientinnen mit meinen eigenen Geschichten über Liebe und Verlust, persönliche und nationale Traumata. Das Buch beschreibt die vielen Möglichkeiten, wie wir die Geister der Vergangenheit, die uns hemmen und unser Leben beeinträchtigen, lokalisieren können. Alles, was wir nicht bewusst wahrnehmen, durchleben wir erneut. Es ist in unserer Psyche und unserem Körper gefangen und macht sich durch das, was wir »Symptome« nennen, bemerkbar: Kopfschmerzen, Obsessionen, Phobien, Schlaflosigkeit – all das kann auf Dinge hindeuten, die wir in die hintersten Winkel unseres Bewusstseins verdrängt haben.

Wie erben, bergen und verarbeiten wir Dinge, an die wir uns nicht erinnern oder die wir nicht selbst erlebt haben? Wie schwer wiegt das, was präsent, uns aber nicht in Gänze bewusst ist? Können wir wirklich Geheimnisse voreinander bewahren, und was geben wir an die nächste Generation weiter?

Diese und weitere Fragen erkunden wir, während wir uns daranmachen, jene Teile unseres Selbst freizusetzen, die durch die Geheimnisse der Vergangenheit in Gefangenschaft gehalten wurden.

Dieses Buch wurde auf der Couch geboren, im intimen Dialog zwischen meinen Patienten und Patientinnen und mir. Mit deren Erlaubnis schildere ich ihr emotionales Erbe – Traumata, die sie sich nicht hätten vorstellen können, und verborgene Wahrheiten –, aber auch mein eigenes, während wir über das Vermächtnis des Traumas hinausgehen. Ich erforsche Gefühle, die verboten sind, Erinnerungen, die unsere Psyche vergisst oder bagatellisiert, und Bruchstücke unserer Geschichte, die zu wissen oder zu erinnern uns die Loyalität gegenüber unseren Liebsten nicht immer gestattet. Jede Geschichte erzählt von einem einzigartigen Weg, die Vergangenheit zu untersuchen und einen optimistischen Blick in die Zukunft zu werfen. Wenn wir bereit sind, unser Erbe auszupacken, sind wir in der Lage, uns den Geistern, die wir in uns tragen, zu stellen.

In diesem Buch beschreibe ich die vielen Facetten eines ererbten Traumas, seine Auswirkungen und mögliche Strategien, um es zu überwinden. Der erste Teil konzentriert sich auf die dritte Generation von Überlebenden: Er zeigt, wie sich das Trauma eines Großelternteils in der Psyche eines Enkels oder einer Enkelin darstellt. Ich lüfte die Geheimnisse einer verbotenen Liebe und betrachte die Verbindung zwischen Untreue und einem transgenerational weitergegebenen Trauma. Dann untersuche ich die Geister eines sexuellen Missbrauchs, die Auswirkungen eines Suizids auf die nächste Generation und die Überreste von Homophobie im Unbewussten. Ich erörtere Professorin Yolanda Gampels Theorie der »Radioaktivität des Traumas«, womit die emotionale »Einstrahlung« einer Katastrophe in das Leben der Nachfolgegeneration gemeint ist.

Der zweite Teil handelt von den verborgenen Geheimnissen unserer Eltern. Hier erkunde ich mit meinen Patienten und Patientinnen unaussprechliche Wahrheiten, und zwar aus der Zeit vor unserer Geburt oder während unserer Kindheit. Diese Wahrheiten prägen unser Leben, selbst wenn sie uns nicht bewusst sind. Wir untersuchen, wie der Verlust einer Schwester oder eines Bruders einen erstarren lassen kann, und ich beschreibe einen möglichen Zusammenhang zwischen der »Unerwünschtheit« von Kindern und deren Todeswunsch im Erwachsenenalter. Außerdem analysieren wir das Trauma eines Soldaten und maskuline Verletzlichkeit, die sich in der therapeutischen Beziehung offenbarte.

Der dritte Teil befasst sich mit den Geheimnissen, die wir vor uns selbst haben, Realitäten, die so bedrohlich sind, dass wir sie nicht wissen wollen oder nicht ganz verarbeiten können. Die hier versammelten Geschichten handeln von Mutterschaft, von Loyalität und Lügen, körperlicher Misshandlung, Freundschaft und schmerzhaftem Verlust und zeigen, wie oft wir von etwas Kenntnis haben, auch wenn wir es in den hintersten Winkel unserer Psyche verdrängt haben.

Geheimnisse vor uns selbst zu verbergen, dient dazu, uns zu schützen, weil dadurch die Realität verzerrt wird, und soll uns dabei helfen, unangenehme Informationen von unserem Bewusstsein fernzuhalten. Dabei bedienen wir uns diverser Abwehrmechanismen: Wir idealisieren Menschen, denen wir keine ambivalenten Gefühle entgegenbringen möchten, identifizieren uns mit dem Elternteil, der uns misshandelt hat, unterteilen die Welt in Gut und Böse, um uns einzureden, dass sie sicher und vorhersehbar ist. Wir projizieren in andere das, was wir nicht fühlen wollen oder was wir nicht über uns erfahren wollen.

Diese emotionalen Abwehrmechanismen bagatellisieren unsere Erinnerungen und negieren deren Bedeutung. Die Verdrängung schützt uns, indem sie eine Erinnerung von ihrer emotionalen Bedeutung abspaltet. In jenen Fällen wird ein Trauma im Bewusstsein als Ereignis gespeichert, das »keine große Sache«, »nichts Wichtiges« war. Die Trennung von Gedanken und Gefühlen kann uns davor bewahren, etwas Verheerendes zu empfinden; doch sie sorgt auch dafür, dass das Trauma abgeschottet und unverarbeitet bleibt.

Unsere Abwehrstrategien sind wichtig für unsere seelische Gesundheit. Sie regeln unseren emotionalen Schmerz und formen unsere Selbstwahrnehmung sowie die Wahrnehmung der Welt um uns herum. Ihre Schutzfunktion schränkt jedoch auch unsere Fähigkeit ein, unser Leben kritisch zu betrachten und unser Potenzial auszuschöpfen. Die Erfahrungen, die zu schmerzhaft für uns waren, um sie vollständig zu erfassen und zu verarbeiten, sind jene, die an die nächste Generation weitergegeben werden. Die Traumata, die unaussprechlich und so schrecklich sind, dass man sie nicht bewältigen kann, werden zu unserem eigenen Erbe und wirken sich auf unsere Kinder und deren Kinder aus, ohne dass die sie verstehen oder damit umgehen können.

Die meisten der persönlichen Geschichten, die ich hier erzähle, sind Berichte von verborgenen Traumata aus der Vergangenheit, über die Menschen Stillschweigen bewahrten, von belastenden lebensverändernden Ereignissen, die anderen nicht vollständig mitgeteilt wurden, über die sie aber dennoch auf rätselhafte Weise Bescheid wussten. Es sind die nie erzählten Geschichten, die unterdrückten Geräusche, die in uns ein Gefühl des »Unfertigseins« entstehen lassen. Ich lade Sie dazu ein, sich mit mir aufzumachen, das Schweigen zu brechen, die Geister, die unsere Freiheit einschränken, aufzuspüren und zu erforschen – dieses emotionale Erbe, das uns daran hindert, unsere Träume zu verwirklichen, schöpferisch zu sein, zu lieben und ein erfülltes Leben zu leben.

ERSTER TEIL

UNSERE GROSSELTERN

VON DEN VORGÄNGERGENERATIONEN GEERBTES TRAUMA

Wir alle haben unsere Phantome. Aber wie die Psychoanalytiker Maria Torok und Nicolas Abraham es formulierten: [1]»Nicht die Toten verfolgen uns, sondern die Lücken, die die Geheimnisse anderer in uns hinterlassen haben.« Sie bezogen sich dabei auf intergenerationelle Geheimnisse und unverarbeitete Erfahrungen, die häufig nicht mit einer Stimme oder einem Bild verbunden sind, aber dennoch in unserer Psyche lauern. Wir tragen emotionalen Ballast mit uns herum, der von unseren Eltern und Großeltern stammt und von Verlusten herrührt, von denen sie nie wirklich erzählt haben. Wir spüren diese Traumata, auch wenn sie uns nicht bewusst sind. Alte Familiengeheimnisse leben in uns fort.

KAPITEL 1

LEBEN UND TOD IN LIEBESAFFÄREN

Eve fährt zweimal in der Woche mit dem Auto zu ihren Sitzungen bei mir und braucht je eine Stunde hin und zurück. Sie erzählt mir, dass sie Autofahren hasst und wie sehr sie sich wünscht, jemand würde sie fahren und vor meiner Praxis warten, um sie dann wieder nach Hause zu bringen. Diese Person müsste sie auch gar nicht unterhalten; sie bräuchte nicht einmal zu reden. Ihr würde es genügen, neben dem Fahrer oder der Fahrerin zu sitzen und Musik zu hören.

Als Eve mir beschreibt, wie sie schweigend neben dem Fahrer sitzen würde, überkommt mich ein Anflug von Traurigkeit. Ich stelle mir das kleine Mädchen vor, das sie einst war, so darum bemüht, brav und leise zu sein, niemanden zu stören, keine Schwierigkeiten zu bekommen, so zu tun, als existierte es nicht.

In einer unserer ersten Sitzungen habe ich sie nach ihrer frühesten Kindheitserinnerung gefragt. Sie sagte: »Ich war fünf und wartete vor der Schule auf meine Mutter, die mich abholen sollte, aber sie hatte es vergessen. Ich wusste, dass ich dort warten musste, bis es meiner Mutter wieder einfallen würde. ›Du musst geduldig sein‹, sagte ich zu mir.«

Die früheste Kindheitserinnerung birgt oft die Hauptbestandteile einer künftigen Therapie. Häufig zeigt sie die Gründe auf, warum die Person eine Therapie machen möchte, und veranschaulicht, wie sich der Patient oder die Patientin selbst sieht. In jeder Erinnerung verbergen sich vorhergehende und später ebenfalls unterdrückte Erinnerungen.

Eves früheste Erinnerung vermittelt mir die Erfahrung, vergessen worden zu sein. Allmählich wird klar, dass sie oft ohne elterliche Aufsicht allein gelassen wurde und dass sie, als ältestes von vier Kindern, in einer Familie aufwuchs, in der Vernachlässigung und emotionale Leblosigkeit herrschten.

Ich fühle mich zu Eve hingezogen. Sie ist in den Vierzigern, ihre brünetten Haare reichen ihr bis zu den Schultern, ihre grünen Augen sind meist hinter einer dunklen Sonnenbrille verborgen. Eve kommt herein, nimmt die Sonnenbrille ab und setzt sich schnell auf die Couch. Als sie mich mit einem schüchternen Lächeln grüßt, fällt mir das Grübchen in der rechten Wange auf. Sie zieht die High Heels aus und setzt sich dann barfuß und im Schneidersitz auf die Couch. Eve ist schön, und manchmal, wenn sie mich mit den Augen eines jungen Mädchens anschaut, wirkt sie verloren.

Ich wüsste gern, ob Eves Mutter sie an besagtem Tag irgendwann abgeholt hat, und versuche mir vorzustellen, wie sich Eve gefühlt hat, während sie auf sie wartete und ihre Angst verbarg, ihre Mutter könnte niemals auftauchen.

Ich frage sie danach, aber Eve bleibt stumm. Sie erinnert sich nicht. In unseren Sitzungen wirkt sie oft dissoziiert, sieht zum Fenster hinaus, als wäre sie zwar bei mir, aber irgendwie auch nicht. Sie hat etwas Atemberaubendes, manchmal aber auch etwas Ausdrucksloses an sich.

Eve ist häufig abwesend; sie vermeidet es, intensive Emotionen auszudrücken, und verfällt mitunter in langes Schweigen.

Ich sehe sie an und frage mich, ob auch mir die Rolle ihrer Fahrerin zukommt – einer Erwachsenen in ihrem Leben, einer Person, die da ist, wenn sie sie braucht, die die Kontrolle übernimmt und sie dorthin fährt, wo sie hinmuss. Schweigend sitze ich da, und mir ist klar, dass es eine Weile dauern könnte, bis sie mich ansieht oder etwas sagt.

»Ich war gestern Nacht wieder mit ihm zusammen«, eröffnet sie die Sitzung und bezieht sich auf Josh, ihren Liebhaber, mit dem sie sich ein paarmal in der Woche trifft.

Gegen acht Uhr abends, wenn seine Kollegen gegangen sind, klickt er das App-Icon von Line an, einem japanischen Instant-Messaging-Dienst, den sie für Textnachrichten verwenden, und bittet sie, in sein Büro zu kommen. Sie hätten eine sichere Kommunikationsmöglichkeit gebraucht, erklärt mir Eve.

»Als Josh mir vorschlug, Line zu benutzen, habe ich zuerst ›Lying‹ verstanden und gedacht: Was für ein merkwürdig unangebrachter Name für eine App.« Sie lacht und fügt dann sarkastisch hinzu: »Ich finde, es sollte ein Netzwerk für Ehebrecher geben, vielleicht einen Chatroom, wo sie Informationen austauschen und sich gegenseitig Ratschläge geben können, so wie in diesen Chat-Gruppen für frischgebackene Mütter. Das wäre doch eine gute Geschäftsidee, glauben Sie nicht? Millionen von Menschen fühlen sich verloren und sind durcheinander, wissen nicht, wie sie den Ehebruch überleben sollen.« Sie lächelt, wirkt aber noch trauriger als sonst.

Sie sieht mich immer noch nicht an. »Josh und ich sind Mitglied bei SoulCycle geworden, Sie wissen schon, diese neuartigen Fitnessstudios, um ein Alibi zu haben, damit wir uns abends sehen können. Schwitzend nach Hause zu kommen und dann gleich zu duschen, das wirkt doch sehr glaubwürdig, nicht wahr?« Sie hält inne und fügt dann hinzu: »Es macht mich immer traurig, mir seinen Geruch vom Körper zu waschen. Ich würde mich viel lieber damit schlafen legen.«

Eve atmet tief durch, als versuchte sie, sich zu beruhigen, und sagt dann lächelnd: »Josh meint, SoulCycle könnte richtig Geld machen, indem sie ›Alibi-Pakete‹ verkaufen, also Scheinmitgliedschaften zum reduzierten Preis.«

Ich erwidere ihr Lächeln, auch wenn ich weiß, dass das Ganze überhaupt nicht lustig ist. Hinter ihrer geistreichen Art, mir etwas zu erzählen, verbergen sich so viel Verwirrung, Schuld und Angst. Mit einem Mal ist sie absolut präsent, und ich kann die Intensität ihres Schmerzes spüren. Sie ist voller Leben, denke ich und frage sie, ob sie mir ein wenig von ihrer Liebesaffäre erzählen möchte.

Bei unserer ersten Sitzung hat mir Eve berichtet, dass sie verheiratet ist und zwei Kinder hat. Ihre Tochter war gerade zwölf geworden, und ihr Sohn war neun. Sie sagte, sie habe beschlossen, eine Therapie zu machen, weil etwas Schreckliches geschehen sei, etwas, das ihr vor Augen geführt habe, dass sie Hilfe brauche. Dann erzählte sie mir von Josh.

Eve geht mehrmals die Woche zu Josh ins Büro. Josh ist ein Gewohnheitstier, und es läuft immer nach dem gleichen Muster ab: Zuerst haben sie Sex, dann bestellen sie sich etwas zu essen, und wenn sie gegessen haben, fährt er sie nach Hause.

Eve erzählt mir von ihrem Sex, zuerst zögerlich, dann in allen Einzelheiten.

»Wenn ich mit Josh zusammen bin, gebe ich die Kontrolle vollständig an ihn ab«, sagt sie und sieht mich an, um sich zu vergewissern, ob ich verstanden habe, was sie meint.

Sie fühle sich geborgen, indem sie sich ihm unterwerfe, erklärt sie. Sie hat das Gefühl, dass er alles über sie und ihren Körper weiß, und kann unter seiner Dominanz loslassen.

»Er holt mich ins Leben zurück – wissen Sie, was ich meine?« Sie wartet nicht auf eine Antwort.

Leben und Tod spielen in Eves Erzählung von Anfang an eine wichtige Rolle. Wir beginnen, die Verbindung zwischen Sex, Tod und Wiedergutmachung zu erforschen und zu überlegen, auf welch unheimliche Art all das mit Eves Familiengeschichte zusammenhängt. Ihre Großmutter mütterlicherseits, erfahre ich, starb an Krebs, als Eves Mutter vierzehn war. Zwei Jahre lang kümmerte diese sich um ihre todkranke Mutter, und ein Teil von ihr starb bei deren Tod mit. Allmählich wird Eve und mir klar werden, dass sie durch sexuelle Unterwerfung mit ihrer Sehnsucht, umsorgt zu werden, am Leben zu bleiben und eine traumatische Vergangenheit wiedergutzumachen, in Berührung kommt.

Eve schaut auf ihre Uhr und zieht die Schuhe an, denn die Sitzung ist gleich zu Ende. Dann lehnt sie sich zurück und sagt leise:

»Wenn Josh mich hinterher nach Hause fährt, werde ich immer rührselig. Ich liebe es, mit ihm zu schlafen, und ich liebe es, von ihm gefahren zu werden.«

Wieder herrscht einen Moment lang Stille, dann sagt sie fast flüsternd: »Wenn ich ihn sehe, wie er mit ernster Miene das Lenkrad hält, denke ich, er ist der bestaussehende Mann, dem ich je begegnet bin. Und ich möchte ihn küssen, weiß aber, dass das keine gute Idee wäre; schließlich sind wir nicht mehr in seinem Büro, und wir tun so, als wäre er der Chauffeur vom Fahrdienst.

Er lässt mich ein paar Häuserblocks von zu Hause entfernt aussteigen, und wenn ich Gute Nacht sage, bricht es mir fast das Herz. Ich möchte nicht nach oben gehen, zurück auf die Autobahn meines Lebens. Josh weiß genau, wie ich mich fühle, ohne dass ich es ihm erklären muss, und er sagt zu mir: ›Vergiss nicht, wie sehr ich dich liebe. Am Mittwoch sehen wir uns wieder. Das ist ganz bald; es geht viel schneller, als du denkst.‹

Ich ziehe eine Grimasse, und er weiß genau, dass es für mich eine gefühlte Ewigkeit ist und dass ich bis Mittwoch so viele Gefühle und Gedanken haben werde, die ich nicht mit ihm werde teilen können. Er sagt: ›Hey, ich bin auf unserer App erreichbar. Ich bin immer da, auch wenn ich nicht physisch bei dir bin.‹«

Sie setzt die Sonnenbrille auf. »In diesem Moment höre ich meistens auf, irgendetwas zu fühlen, und steige aus.« Mir wird klar, dass sie in solchen Augenblicken ihre Emotionen ausblendet, damit sie sich von ihm trennen kann, und genau das tut sie jetzt erneut, während sie mir davon erzählt. Sie entgleitet mir in ein langes Schweigen, ehe sie geht.

Viele meiner Patientinnen und Patienten kommen wegen meiner Veröffentlichungen und Lehrtätigkeit zum Thema Sexualität. Männer und Frauen suchen mich auf, weil sie sich durch die Affäre ihrer Partnerin oder ihres Partners zerstört fühlen; andere haben oder hatten eine Affäre, wieder andere waren Liebhaber oder Liebhaberin einer verheirateten Person. Ihre Geschichten wie auch ihre Motive sind unterschiedlich, aber all diese Menschen lassen erkennen, dass sie massiv unter ihren Geheimnissen oder unter denen ihrer Lebenspartner leiden.

Der wechselseitige Transaktionsaspekt jeder Liebesbeziehung ist mir zwar durchaus bewusst, ich glaube aber auch an die Liebe. Ich glaube an die Anziehungskraft zwischen zwei Menschen, an Treue als eines der Fundamente von Vertrauen und berücksichtige, dass auch destruktive und kreative Kräfte Teil jeder Beziehung sind. Wir lieben – und bisweilen hassen wir auch jene, die wir lieben; wir vertrauen ihnen, fürchten uns aber auch vor den Verletzungen und Schmerzen, die sie uns zufügen können. Eines der Ziele von Reife ist die Fähigkeit, positive und negative Gefühle miteinander zu vereinbaren: liebend zu hassen, zu lieben und gleichzeitig Momente der Enttäuschung und der Wut zu akzeptieren. Je besser wir unseren destruktiven Drang kennen und anerkennen, desto fähiger sind wir, wirklich zu lieben.

Bis zu einem gewissen Grad geht es im Leben immer um diese Spannung zwischen dem Wunsch zu zerstören – die Liebe, Güte und das Leben selbst – und Eros, der nicht nur für Sex steht, sondern auch für den Trieb, am Leben zu bleiben, zu erschaffen, zu erzeugen und zu lieben. Diese Spannung besteht in jedem Aspekt unseres Lebens, einschließlich unserer Beziehungen.

Psychologische Wahrnehmung hilft uns, diese Triebe und Wünsche zu erkennen und uns bewusst zu machen und die Entscheidungen, die wir treffen, und jene, die unsere Vorfahren getroffen haben, zu hinterfragen. Wenn es um Affären geht, ist dieser Prozess vielschichtig und der Unterschied zwischen Zerstörung und Tod, Überleben und Leben nicht immer offenkundig.

Ein wichtiger Grund, warum sich Menschen in Therapie begeben, ist ihre Suche nach verborgenen Wahrheiten über sich selbst. Diese Erkundung beginnt mit dem Bedürfnis zu wissen, wer wir wirklich sind und wer unsere Eltern waren, wobei immer auch die Furcht vor diesem Wissen mitschwingt. Warum hat Eve diese Liebesbeziehung mit Josh? Warum jetzt? Inwiefern geht es dabei um ihren Überlebensdrang, um Tod und Zerstörung und um ihren Wunsch, sich wieder ganz ins Leben zurückzuholen? Inwiefern spiegelt ihr gegenwärtiges Leben das Leben ihrer Vorfahrinnen und den Versuch, nicht nur sich selbst, sondern auch ihre verwundete Mutter und ihre sterbende Großmutter zu heilen?

Untreue ist destruktiv, weil sie einer Beziehung immer Schaden zufügt, auch wenn er zunächst nicht sichtbar ist. Aber Menschen haben Affären nicht nur, weil sie ihre Beziehung zerstören oder sich daraus lösen wollen; paradoxerweise steckt hinter der Untreue manchmal auch das Bestreben, eine Ehe aufrechtzuerhalten. Das Betrügen ist häufig der Versuch, das Machtverhältnis in einer Beziehung auszugleichen oder ungestillte Bedürfnisse zu befriedigen. Die Affäre kann dazu dienen, sich sexuell auszuleben sowie negative Gefühle wie Feindseligkeit und Wut indirekt auszudrücken, doch in vielen Fällen ist sie auch ein Mittel, die Ehe vor diesen Gefühlen zu beschützen, während man einen Status quo in der Beziehung aufrechterhält.

Durch Sex werden Gefühle, die in der eigentlichen Beziehung nicht erlaubt sind, vor allem Aggression, zum Ausdruck gebracht. Es ist nicht ungewöhnlich, dass Menschen außerehelichen Sex als gewalttätiger beschreiben und Sex in der Ehe als sanfter und »zivilisierter«. Da Partner einander unbewusst vor Aggression schützen, dämpfen sie die Beziehung. Wenn es keinen Raum für Aggression gibt, gibt es in der Regel auch keinen Sex.

Die gleiche dialektische Spannung zwischen Leben und Tod findet sich auch in sexuellem Begehren und vor allem in langfristigen Beziehungen. In seinem Buch Kann denn Liebe ewig sein? erörtert der US-amerikanische Psychoanalytiker Stephen A. Mitchell den Konflikt zwischen Abenteuer und Sicherheit im Sexualleben. Laut Mitchell sind Romantik, Vitalität und Sexualität Faktoren, die das Leben nicht nur lebenswert machen, sondern für die es sich auch lohnt, es zu pflegen und auszukosten. Eine Romanze hat seiner Ansicht nach sehr viel mit der existenziellen Begeisterung darüber zu tun, dass man lebt. Mit der Zeit verkümmert ein sexuelles Liebesabenteuer leicht zu etwas weniger Belebendem und bekommt womöglich sogar etwas Einschläferndes, weil es die Gefahr, das Geheimnisvolle und das Wagnis braucht, um zu gedeihen, und nicht die Sicherheit und Vertrautheit einer langfristigen Beziehung. Können wir weiterhin die Menschen begehren, mit denen wir uns am sichersten fühlen?, fragt Mitchell. Er vermutet, das Geheimnis einer langlebigen Beziehung bestehe in dem delikaten Gleichgewicht zwischen Sicherheit und Gefahr, Vertrautem und Neuem.

In ihrem bahnbrechenden Buch Wild Life: Die Rückkehr der Erotik in die Liebe beschreibt die Psychotherapeutin Esther Perel dieses Paradox von Häuslichkeit und sexuellem Begehren und hilft Paaren, sich einen spielerischen Raum für Abenteuer zu schaffen und damit für sexuelle Spannung in ihrer Beziehung. Indem sie diese und andere Themen weiterentwickelt, untersucht Perel die Komplexität von Untreue.

Eine psychoanalytische Erforschung ist eine komplexe und facettenreiche Expedition zum empfindlichen Herzen eines Menschen. Auf jeder dieser Reisen ins Unbewusste manifestieren sich Gefahr und Sicherheit, Zerstörung und Erschaffung, Leben und Tod sowie das Leid von mehreren Generationen auf unterschiedliche Weise.

Während unserer ersten Sitzung nimmt Eve die Sonnenbrille nicht ab. Sie sitzt im Schneidersitz auf der Couch und schluchzt.

»Ich habe mein Leben vermasselt«, sagt sie. »Wer weiß, vielleicht habe ich es bereits zerstört. Ich habe keine Ahnung, was ich machen soll.«

Sie erzählt mir, ihr Mann sei ein guter Mensch und sie führten eine zufriedenstellende Ehe.

»Ich liebe meinen Mann«, sagt sie. »Unsere Familie ist wunderbar, wir haben süße Kinder, sie sind genau so, wie ich es mir immer erträumt habe. Ich habe alles, was ich wollte, und vielleicht bin ich einfach nur zu gierig.« Dann erzählt sie mir von der Nacht, durch die ihr klar wurde, dass ihr die Kontrolle über ihr Leben entglitten ist.

»Wir treffen uns normalerweise in seinem Büro, aber an dem Wochenende war es anders, weil sowohl seine Frau als auch mein Mann weggefahren waren, und da dachten wir, es wäre eine prima Gelegenheit, die Nacht zusammen zu verbringen. Das hatten wir noch nie vorher gemacht, und ich glaube, er war genauso aufgeregt und ängstlich wie ich.«

Sie bat ihren Babysitter, bei den Kindern zu übernachten, und Josh reservierte ein Zimmer in einem Hotel gegenüber von seinem Büro. Eve sagt, wenn ihr Mann in die App geschaut hätte, in der die Aufenthaltsorte der Familienmitglieder angezeigt werden, wäre er ihr ohne Weiteres auf die Schliche gekommen. Sie hatten diese App Anfang des Jahres installiert, um damit ihre Tochter orten zu können, die gerade erst zwölf geworden war und angefangen hatte, allein zur Schule zu gehen.

»Diese App wurde zu einem Riesenproblem, denn mir war klar, dass meine Familie jederzeit sehen konnte, wo ich mich befand. Ich weiß, das klingt jetzt unglaubwürdig, aber ich hasse es wirklich, zu lügen«, sagt sie fast entschuldigend. »Ich gebe lieber gar keine Erklärung ab, als lügen zu müssen. Also habe ich an dem Abend das Handy ausgeschaltet, um auf die Frage, wo ich war, nicht lügen zu müssen.« Sie seufzt. »O Gott. Was für ein Schlamassel.«

Eve unterbricht sich, sie hat Tränen in den Augen.

»Die Nacht mit Josh war noch besser, als ich es mir vorgestellt hatte. Es ist schwer, meine Gefühle in Worte zu fassen, weil ich gar nicht wusste, dass es solche Gefühle überhaupt gibt. Endlich waren wir an einem friedlichen Ort, nur wir beide, und wir hatten scheinbar unendlich viel Zeit. Es fühlte sich an, als wären wir wirklich ein Paar, einander völlig hingegeben, ganz und gar ineinander versunken, sowohl körperlich als auch seelisch. Wir hatten stundenlang Sex, und ich flüsterte Josh immer wieder ins Ohr: ›Ich liebe dich. Du machst mich so glücklich.‹

›Ich weiß, Baby, ich bin auch glücklich‹, sagte er.