En passant - Christoph Heiden - E-Book

En passant E-Book

Christoph Heiden

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Beschreibung

Stillstand! Nichts ist Sherlock Holmes mehr verhasst! Herausforderungen sind seine Muse, halten ihn am Leben. Dabei ist es nebensächlich, ob er einen Fall lediglich durchdenkt, aktiv ermittelt oder En passant in mysteriöse Angelegenheiten verwickelt wird. Ist erst einmal seine Neugier geweckt, bleibt kein Fall ungelöst, so verzwickt und rätselhaft dieser auch sein mag. Nur Stillstand, der darf es nicht sein, sonst ruft die siebenprozentige Lösung unerbittlich nach dem Meisterdetektiv… 17 neue Fälle finden sich in diesem Buch versammelt; mit Illustrationen von Detlef Klewer. Mit Geschichten von: Jürgen Bärbig * Richard Fliegerbauer * Christoph Heiden * Regine D. Ritter * Christian Endres * M.W. Ludwig * Norbert Schäfer * Anke Elsner * Detlef Klewer * Tanja Brink * Wolfgang Kemmer * Jens Arne Klingsöhr * Kai Bößneck * Monika Grasl * Alexander Klymchuk * Sarah Lutter * Christoph Grimm

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Seitenzahl: 495

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En passant


Die Reisen des Sherlock Holmes

 

Vollständige E-Book-Ausgabe der Druckausgabe

 

 

ISBN 978-3-946531-98-5 (Print Ausgabe)

ISBN 978-3-946531-99-2 (Epub)

 

© Burgenwelt Verlag | Jana Hoffhenke

Hastedter Heerstraße 103 | 28207 Bremen

Alle Rechte vorbehalten

 

Herausgeber: Sarah Lutter | Christoph Grimm

Lektorat: Christine Jurasek

Korrektorat: Julian Bodenstein

Umschlaggestaltung | Illustration: Detlef Klewer

Ebook-Realisierung: Eridanus IT-Dienstleistungen

 

Die besorgte Lady – Christoph Heiden

 

Nun, mein lieber Watson?«, durchbrach Sherlock Holmes sein frostiges Schweigen. »Was erhoffen Sie sich von einem Besuch bei diesem Schreiberling?«

Wir befanden uns in einem Zugabteil auf dem Weg nach Guildford, Grafschaft Surrey. Holmes saß mir gegenüber, gekleidet in einen Leinenanzug, die Beine übereinandergeschlagen und den Chronicle vor Augen. Allein seine Betonung des Wortes Schreiberling gemahnte mich, seine Laune nicht falsch einzuschätzen. Seit Tagen hatte das Wechselspiel von Lethargie und Ehrgeiz, das sonst das Leben meines Freundes bestimmte, einen klaren Favoriten offenbart: Eingekeilt in seinem Sessel, den Unterarm zerstochen, war er weder zu Gesprächen noch zur Nahrungsaufnahme willens gewesen. Mit einer Mischung aus Fürsorge und beharrlicher Penetranz hatte ich ihn schließlich dazu überreden können, mich aufs Land zu begleiten.

»Ich hoffe auf ein paar Einblicke in das Leben eines anderen Schriftstellers«, äußerte ich vorsichtig. »Dessen Heim und Wirkstätte dürften sich als inspirierend erweisen.«

Holmes lugte über seine Zeitung hinweg. »Sind Sie der Baker Street überdrüssig?«

»Das habe ich nicht behauptet.«

»Ah, verstehe. Ihnen genügen unsere kleinen Abenteuer nicht mehr; Sie wollen der Kriminalistik abschwören?«

»Das Leben besteht nicht nur aus Mord und Totschlag.«

»Mein lieber Watson, Sie entwickeln sich zu einem wahren Freigeist.«

Ich war nicht zu deuten imstande, ob aus seiner Erwiderung ein Lob, Desinteresse oder gar böser Sarkasmus sprach. Er tauchte hinter die Zeitung und seine dürren Finger krampften sich um das Papier, als läse er für ihn reservierte Hiobsbotschaften. Aber dem war nicht so, keinesfalls. Vielmehr quälten Tatenlosigkeit und Überdruss sein Gemüt.

»Sie können die Zeitung von den Schlagzeilen bis hin zum Kleingedruckten studieren«, gab ich zu bedenken. »Aber Sie werden nichts aufstöbern, was Ihren Geist stimuliert. Erfreuen Sie sich lieber an der Landschaft.«

Mit einem Nicken wies ich zum Fenster hinaus – auf das krautige Heideland, das sich über Hügel und Senken dehnte, bisweilen gesprenkelt mit Inseln leuchtend grüner Bäume, und nicht zuletzt die herrliche Morgensonne, die uns einen Tag fern der Londoner Tristesse versprach. Meine Gedanken drohten sich unter dem monotonen Geratter des Zuges zu verlieren, hätte Holmes mir nicht seine trübe Realität aufgezwungen.

»Watson, eine Welt ohne Verbrechen existiert nicht. Weder im antiken Griechenland noch unter Queen Victorias Krone.«

»Haben Sie schon erwogen, jemanden mit der Erschaffung eines Rätsels zu betrauen?«

Er lachte humorlos auf. »Eine solche Idee kann nur einer Dichterseele entspringen. Hoffentlich ist es Ihr Poeticus auch wert, dass wir ihm unsere Zeit opfern. Wie lautet doch gleich sein Name?«

»Ach, wie schön, Holmes. Sie geben sich interessiert.«

Kaum hatte ich ausgesprochen, formten seine Augen jenen Falkenblick, mit dem er einen Zeugen oder Klienten zu betrachten pflegte. Er deutete auf das Buch in meinem Schoß, und just in dem Moment, als er zu einer Rede anhob, öffnete sich die Tür zu unserem Abteil.

Ein Mann, höchstens fünfundzwanzig Jahre alt, trat ein und schloss hinter sich die verglaste Tür. Er trug die Uniform der London and South Western Railway: eine steife Mütze mit Emblem, blaue Jacke, blaue Hose und ein Paar frischgewichster Halbschuhe. Über seinen Lippen spross ein zierlicher Flaum, wie ich ihn sonst nur bei den Gassenjungen der Baker Street Division erblickte.

»Entschuldigen Sie die Störung, aber …«

»Sagen Sie nichts«, unterbrach Holmes ihn. »Sie kontrollieren normalerweise die Tickets.«

»Bravo, mein Freund«, kommentierte ich. »Diese Uniform wäre nicht einmal Lestrade entgangen.«

»Watson, Watson. Sicherlich ist Ihnen nicht entgangen, dass ich das Wort normalerweise bemühte. Nein, der junge Mann ist nicht wegen der Tickets hier.«

Er ließ die Zeitung auf sein Knie sinken und wandte sich dem Kon­trolleur gänzlich zu. »Mister Barry – so heißt denn unser Freund.« Holmes warf mir einen herausfordernden Blick zu. »Das haben Sie gewiss ebenso erkannt.«

»Ohne Frage, das Namensschild an seiner Jacke ist nicht zu übersehen.«

»Jedenfalls lässt einen Kontrolleur die tägliche Routine schon beim Eintreten zur Lochzange greifen. Eine Hand öffnet die Tür, die andere langt nach der Zange. Barrys Hände hoben sich jedoch zu einer Geste der Entschuldigung. Ein Kontrolleur, der sich für seine ehrenvolle Pflicht entschuldigen möchte? Sehr ungewöhnlich. Überdies schloss Barry hinter sich das Abteil. Nein, Watson, dieser Störung liegt ein anderes Motiv zugrunde. Ein viel wichtigeres!«

»Mr Holmes«, sagte Barry. »Sie sind ein Genie.«

»Zügeln Sie Ihr Urteil, noch sind wir nicht am Ende meiner Ausführung. Augenscheinlich trieb Sie die Sorge um einen anderen Fahrgast zu uns, jemanden, der nicht über Ihr Vorhaben unterrichtet wurde. Sie handeln gewissermaßen eigenmächtig. Wäre dem nicht so, stünde die betroffene Person jetzt neben Ihnen und trüge ihr Anliegen selbst vor.«

Barry öffnete seinen Mund, doch Holmes bedeutete ihm mit erhobenem Zeigefinger zu schweigen. »Der besagte Fahrgast reist im Premiumabteil, und Sie, verehrter Barry, haben nun die Sorge, ein dort aufgetretenes Problem könne der Eisenbahngesellschaft Schaden zufügen.«

»Jetzt schwingen Sie sich aber zu dichterischen Höhenflügen auf«, raunte ich ihm zu.

»Keine Sorge, Watson. Meine Fantasie hält sich in Grenzen.« Er widmete sich wieder dem jungen Mann. »Ihrem Verhalten entnehme ich, dass sie noch nicht lange im Dienst der Railway Company stehen. Sie scheinen mir über die Maßen um das Wohl der Fahrgäste, ja um das Prestige ihres Arbeitgebers besorgt zu sein. Sie werden von der Angst getrieben, ein Fehler Ihrerseits könnte Ihre Anstellung gefährden.«

»Kaum zu glauben, Sir«, erwiderte der Bursche. »Sie haben in allen Punkten Recht. Ich bin seit Anfang des Jahres im Dienst der Railway Company.«

»Alles eine Frage von Beobachtung und Deduktion«, erklärte ich.

»Ist das nicht mein Ausspruch, Watson?«

»Pardon, ich wollte Sie lediglich zitieren.«

»Und weshalb haben Sie ausgerechnet unser Abteil aufgesucht?«

»Vor kurzem las ich einen Artikel …«

»… über meine Arbeit«, beendete Holmes den Satz. »Versteht sich von selbst, dass mein Antlitz mittlerweile jedem Kind vertraut sein dürfte.«

»Und wem haben Sie diesen Umstand zu verdanken?«, flüsterte ich.

»Ja ja, Watson. Erst Ihre Ausschmückungen machen mich zu einem authentischen Meisterdetektiv. Nun, Barry, Sie dürfen sich einen Glückpilz nennen, denn gerade bin ich arbeitslos. Im Grunde bestieg ich den Zug nur, damit wir einander begegnen; also packen Sie die Gelegenheit beim Schopfe und fahren Sie fort!«

Der junge Barry bat, sich setzen zu dürfen, worauf Holmes auf die leeren Plätze verwies. Die Angst, die Holmes eingangs bei ihm konstatiert hatte, zeigte sich in seiner ganzen Haltung: steif und angespannt saß der Bursche da, während seine Augenwinkel vor Nervosität zuckten. Barry bestätigte Holmes’ Annahme, dass er direkt aus dem Premiumabteil hierhergeeilt sei. Neben seiner Tätigkeit als Kontrolleur habe er insbesondere die Verantwortung für das Wohlergehen der Premiumgäste.

»Das heißt, ich verstaue das Gepäck in den Bodenfächern«, er klopfte auf den Stauraum unter den Sitzen, »serviere Tee und Gebäck und informiere die Passagiere über die Reiseroute.« Er schnappte aufgeregt nach Luft. »Und heute bin ich niemand Geringerem unterstellt als Lord Edmund Lancaster und seiner Gattin Lady Sophia.«

»Lord Edmund aus Herford Mountain?« Ich vermochte kaum mein Erstaunen zu verbergen, was Holmes wiederum ein Grinsen entlockte.

»Ja«, sagte Barry. »Seine Lordschaft höchstpersönlich.«

»Und jetzt sind Sie hier, weil der Lord bestohlen wurde?«, fragte Holmes wissbegierig.

»Nein, Sir. Mein Problem stellt sich als weitaus schlimmer dar.« Ein Schatten verdüsterte sein knabenhaftes Antlitz. »Seine Lordschaft ist verschwunden. Spurlos.«

 

Ohne Umschweife begaben wir uns von der zweiten Klasse in den vorderen Waggon. In seiner Erregung öffnete Barry zweimal das falsche Abteil und brachte jeweils eine gestammelte Entschuldigung vor. Die Aussicht auf ein Denkspiel entflammte in Holmes einen Ehrgeiz, der nur wenig zu Barrys Beruhigung beitrug. In dem engen Gang versuchte ich mich zwischen die beiden Männer zu schieben, aber Holmes unterband mein Vorhaben, indem er seine hagere Gestalt aufplusterte wie ein Pfau sein Gefieder.

»Können Sie mir zusichern, dass mein eigenmächtiges Handeln keine negativen Folgen haben wird?«, fragte Barry nervös.

»Ruhig Blut! Bislang hat sich noch niemand über meine Interven­tionen beschwert.«

»Mit Ausnahme der Schurken«, kommentierte ich aus der zweiten Reihe.

»Wohl wahr, Watson. Verbrecherische Individuen hatten in unserer Karriere nichts zu lachen. Aber jetzt, wo Sie die Zusammenarbeit an den Nagel hängen wollen …«

»Wir sind da.« Barry stoppte und spulte im Flüsterton eine Laudatio auf seinen Arbeitgeber ab. »Ich darf behaupten, dass das Premiumabteil nicht nur das Schmuckstück unserer Linie ist, sondern der gesamten London and South Western Railway. Es wurde eigens für die gehobene Klasse entworfen.«

»Ein Hoch auf den Adel«, spottete Holmes und riss die Tür zum Abteil auf.

Beinahe wäre mir ob des komfortablen Inventars ein Ausruf der Bewunderung entschlüpft, hätte mir nicht Lady Sophias Anblick den Atem geraubt. Sie saß zusammengesunken am Fenster, die Stirn gesenkt und beide Arme um ihren Körper geschlungen, als würde sie bitterlich frieren. Tränen liefen ihr über die bleichen Wangen; ein Schluchzen entwich ihren Lippen. Es dauerte einen Moment, bis Lady Sophia unsere Gegenwart bemerkte, doch dann reckte sie sich aus dem Sitz zu stattlicher Höhe empor. Ihre Größe überragte die meine und konkurrierte knapp mit der meines Freundes.

»Meine Herren«, sagte sie empört. »Ich glaube, Sie haben sich im Abteil geirrt.«

»Verzeihen Sie, Eure Ladyschaft«, begann Barry. »Ich habe mir die Freiheit genommen, diese Gentlemen um Rat zu ersuchen.«

»Sie haben sich also die Freiheit genommen. Was erdreisten Sie sich?«

»Lady Sophia«, begann Holmes salbungsvoll. »Darf ich uns vorstellen? Mein Name ist Sherlock Holmes und das ist mein Freund und Kollege Dr Watson.«

»Mr Holmes, der Meisterdetektiv?«

»So pflegt mich zumindest mein Chronist Dr Watson zu nennen.«

»Ach, Mr Holmes.« Lady Sophie betupfte sich mit einem Taschentuch die Augen. »Mein Herz ist schier verrückt vor Sorge.«

»Wie mir berichtet wurde, scheint Seine Lordschaft unauffindbar.«

»Mir schwant ein großes Unglück. Dabei war ich lediglich fort, um mich zu erfrischen.«

Holmes hielt sich nicht lange mit Höflichkeitsfloskeln auf. Er bat Lady Sophia, Minute für Minute seit ihrem Zustieg zu rekapitulieren; gleichfalls versicherte er ihr, jedes noch so winzige Detail könne der Aufklärung dienen. Die Frau nickte eifrig, ehe sie zurück in den Sitz sank. Holmes und ich ließen uns auf die Samtpolster nieder, während Barry an der Tür ausharrte.

Laut Lady Sophia hatte Mr Barry ihr Gepäck und das ihres Gatten ins Abteil getragen und in den Fächern unter den Sitzen verstaut. Er hatte sie auf den Klingelzug oberhalb ihrer Plätze hingewiesen. Ein kurzes Ziehen, so erklärte Barry, und er wäre zur Stelle. Darauf wünschte er ihnen eine gute Fahrt und entschuldigte sich vielmals.

»Ein reizender Bursche«, sagte Lord Edmund.

»Und ein reizendes Abteil«, entgegnete Lady Sophia.

»Das ist es zweifellos, meine Teuerste. Ich muss den Eigentümer der Linie für diese Modernisierung beglückwünschen. Es ist beinahe so, als würde man in seinem eigenen Wohnzimmer reisen.«

Lord Edmunds Vater, der Duke von Herford Mountain, erkrankte letztes Jahr und zog sich mit seiner Gemahlin auf den Familiensitz nahe Guildford zurück; daher begaben sich der Lord und seine Gattin einmal im Monat nach Herford Mountain, wobei sie stets den Komfort der Eisenbahn in Anspruch nahmen. Wie die Boulevardblätter nicht müde wurden zu berichten, hegte Lord Lancaster von jeher eine große Begeisterung für die Errungenschaften der modernen Technik. So war er Ehrengast bei der Eröffnung der Midland Electric Company in Coventry gewesen oder unterstützte den Wagenbauer McFarlane finanziell in der Entwicklung motorisierter Kutschen. In Anbetracht dieser Neigung stellte sich nicht die Frage, ob sie für ihre Anreise die Eisenbahn oder eine altertümliche Kutsche nutzten.

»Eine Tasse Tee?«, fragte Lord Edmund, nachdem er sich sein transportables Sitzpolster unter den Leib geschoben hatte. Endlich auf Augenhöhe mit Lady Sophia ermunterte er sie, die Quaste zu benutzen. In naher Zukunft, so meinte er mit kindlicher Freude, könnten sie dem Speisewagen die Bestellungen gewiss telegrafieren. Die Welt sei im Umbruch. Lady Sophia hatte noch nicht die Finger von der Klingel gelöst, da war Barry bereits hinter dem Türglas erschienen. Binnen weniger Minuten hatte er ihnen feinsten Earl Grey und Gebäck von Londons berühmtester Dampfbäckerei serviert.

»Der Tee trieb mir die Hitze in die Glieder«, sagte Lady Sophia und errötete vor Scham. »Ich entschuldigte mich bei Edmund, worauf er mir sein gütiges Lächeln schenkte.«

Selbst einem Nichtmediziner musste Lady Sophias erhöhte Atemfrequenz auffallen. Die Leidgeplagte war im Begriff, zu kollabieren, und Holmes reichte mir sein offenes Notizbuch, das ich wiederum an Barry weitergab. Der Junge begann, der Frau Luft zuzufächeln.

»Bitte fahren Sie fort«, bat Holmes unbeeindruckt.

»Ich suchte die Toilette auf und tat jene Dinge, über die eine anständige Frau den Mantel des Schweigens legt. Als ich zurückkehrte, fand ich das Abteil leer vor. Ich glaubte zunächst, Lord Edmund vertrete sich die Beine; schließlich fehlten sein Hut und sein Jackett. Nach einer Weile trat ich in den Gang hinaus, aber Edmund war nirgends auffindbar. Ich wusste mir nicht zu helfen und klingelte nach Barry, dem ich den Vorfall schilderte.«

»Also hat Lord Edmund im Laufe der Fahrt sein Jackett abgelegt?«, fragte Holmes.

»Ja, es hing …« Lady Sophia brach ab, während ihr Zeigefinger wie eingefroren auf die Garderobe deutete.

Holmes bat sie um eine präzise Beschreibung der Kleidung, dann lauschte er stillschweigend ihren Worten, bis er plötzlich den Namen Claygate ausrief.

»Das war unsere letzte Station«, erklärte Barry, der unentwegt mit dem Notizbuch wedelte.

»Womöglich hat der Lord dort den Zug verlassen.«

»Nein, in Claygate stiegen nur die Arbeiter der Brikettwerke aus und ein.«

»Sie klingen so bestimmt, mein Junge.«

»Ich habe mich vorsorglich bei Morris, unserem Signalgeber, erkundigt.«

Nicht anders als ich es gewohnt war, verwehrte uns Holmes jeden übereilten Kommentar. Er schlug die Beine übereinander, stützte das Kinn auf die Fingerspitzen und schwieg. Ein Fremder hätte vermuten können, Holmes habe für das Schicksal der Lady lediglich die kalte Schulter übrig, aber weit gefehlt: Mein Freund war vor unseren Augen zu der Denkmaschine geworden, derentwegen man ihn über Englands Grenzen hinaus als Autorität bezeichnete.

»Ich bitte um Nachsicht«, flüsterte Barry, »aber meine Arbeit ruft. Wir erreichen in wenigen Minuten Cobham.«

»Laufen Sie ein weiteres Mal den Zug ab!«, sagte Holmes.

»Ja, Sir.«

»Und, Watson! Sie unterstützen Barry.«

»Sie meinen, ich soll ihn begleiten?«

»Vier Augen sehen mehr als zwei.«

Er ließ sich von Barry sein Notizbuch aushändigen und reichte es kommentarlos an mich weiter. Auch wenn es nicht das erste Mal war, dass er mir das Buch übertrug, erfüllte es mich dennoch mit Stolz, meine Beobachtungen neben den seinen festhalten zu dürfen.

Nachdem Barry und ich uns von Lady Sophia verabschiedet hatten, klapperten wir Waggon für Waggon, Abteil für Abteil ab. Dank meiner jahrelangen Begleitung von Sherlock Holmes wusste ich um das A und O einer ordentlichen Recherche.

»Augen und Ohren.« Ich zupfte Barry am Ärmel. »Verstehen Sie?«

»Nicht richtig, Sir.«

»Wir sollten die anderen Fahrgäste befragen.«

»Ihr Vorschlag in allen Ehren, aber glauben Sie nicht, dass dies unnötige Aufmerksamkeit erregen wird?« Aus seiner Stimme tönte eine gehörige Portion Verunsicherung. »Bis jetzt weiß niemand um das Verschwinden Seiner Lordschaft. Eine solche Nachricht könnte sich wie ein Lauffeuer verbreiten.«

»Wir sollten nichts unversucht lassen. Immerhin steht nicht allein das Prestige Ihres Arbeitgebers auf dem Spiel.«

»Sie meinen …« Er stockte und strich sich nervös über die Uniform.

»Ja, ich rede vom Leben Seiner Lordschaft.«

Als ich das Schlottern seiner Knie bemerkte, versuchte ich ihn zu beruhigen. Ich wolle den Teufel nicht an die Wand malen, sagte ich ihm. Würde er die Passagiere befragen, gäbe es mir die Möglichkeit, deren Reaktion zu studieren. »A und O«, wiederholte ich. »A und O«. Barry rang sich ein Nicken ab, bevor er die Tür zum nächsten Abteil öffnete.

Ein einzelner Fahrgast saß am Fenster und streckte seine Füße auf die gegenüberliegende Sitzreihe. Der gezwirbelte Bart und das mit Pomade gewachste Haare betonten die eiförmige Gestalt seines Kopfes. Auf seinem Schoß lag ein Stoß Fotografien, die er rasch zusammenklaubte und unter seiner Weste verbarg.

»Wollen Sie etwa nochmal das Ticket kontrollieren?«, fuhr er Barry wütend an.

»Anweisung von oben, Sir.«

»Wie, von oben?«

»Aus der Direktion.«

»Misstraut man neuerdings den Fahrgästen?«

»In den letzten Wochen stahlen sich Personen ohne Ticket in die Bahn. Sie fuhren praktisch auf Kosten der anderen Passagiere, und so ein Verhalten gehört unterbunden, meinen Sie nicht auch?«

»Ich habe mich wohl verhört«, echauffierte sich der Mann. »Ich reise nicht erster Klasse, um mit diesen Schmarotzern gleichgestellt zu werden. Belästigen Sie lieber das Gesindel in der Holzklasse.«

»Verzeihen Sie. Ich bemühe mich, meine Pflicht zu tun.«

»Ja, ja. Nicht denken, sondern handeln.« Er fischte aus seiner Westentasche einen Fahrschein.

»Eine letzte Frage, Sir.«

»Sie sind ja regelrecht im Rausch. Will sich Ihr Begleiter noch meinen Namen und meine Adresse notieren, ob ich vermählt bin oder in Ägypten das Empire verteidigt habe?«

Ohne auf seine Provokation einzugehen, befragte Barry ihn nach einem Mann mit Backenbart. Er sei ungefähr fünf Fuß drei Zoll groß und trage ein beigefarbenes Jackett sowie einen Boater.

»Das beantworte ich Ihnen gern. Aber vorher verraten Sie mir, wer der Bussard an Ihrer Seite ist. Der stiert mich an, als sei ich ein schmackhaftes Mäuschen.«

»Das ist Doctor …«

»Ah, ein Doctor. Falls Ihr Herz während der Kontrolle einen Infarkt erleidet?«

Barry schaute mich ratsuchend an.

»Ich bin von der Direktion beauftragt worden«, antwortete ich postwendend, »die Zugluft zu prüfen.«

»Die Zugluft?«

»Das Unternehmen will die Erkältungsgefahr drosseln. Das Wohl unserer Fahrgäste ist uns heilig.«

»Muss ich nicht verstehen, will ich nicht verstehen.«

»Sir?«, schaltete sich Barry ein. »Haben Sie nun?«

»Ja ja, dieses beigefarbene Jackett sprang mir tatsächlich ins Auge.«

»Wann und wo?«

»Vorhin. Es lief Richtung zweite Klasse.«

Auf Barrys Gesicht zeigte sich ein Anflug von Zuversicht, und ich schickte mich an, das Notizbuch zu schließen.

»Aber«, erklärte der Mann mit einem süffisanten Grinsen, »in dem Jackett steckte eine Frau.«

 

Ernüchtert über das Ergebnis unserer bisherigen Recherche befragten wir auch die Fahrgäste der zweiten Klasse. Die Angst vor Konsequenzen ließ Barry über sich hinauswachsen; er scheute sich weder, schlafende Passagiere zu wecken, noch bei zweideutigen Antworten nachzubohren. Ohne Gewissenhaftigkeit, so hatte Holmes mich gelehrt, wird jede Ermittlung zum bloßen Zeitvertreib.

»Der letzte öffentliche Waggon«, erklärte Barry. »Die dritte Klasse.«

»Über mehr Wagen verfügt der Zug nicht?«

»Das Ende bildet der Postwagen. Der ist jedoch allein für das Bahnpersonal und die Beamten der Königlichen Post zugänglich.«

Bisher hatte ich nicht registriert, wie sehr sich die erste Klasse von der dritten in Komfort und – wenn man das so sagen darf – Publikum unterschied. Im Gegensatz zum vorderen Bereich verursachte dieser Waggon den Eindruck, der Zug rolle auf Baumstämmen über Englands Gleise. Das Gehäuse ruckte und schuckelte, knackte und knirschte, sodass die Bezeichnung Holzklasse nicht nur wegen der ungepolsterten Sitzbänke zutreffend war. Hier standen die Menschen dicht beieinander oder lehnten bisweilen Rücken an Rücken, während ein paar Glückliche einen Platz auf den Seitenbänken ergattert hatten.

»Pardon, dürfte ich bitte durch«, kämpfte ich mich vorwärts.

»Immer mit der Ruhe«, protestierte eine Dame.

»Entschuldigen Sie …«

»Hey, Vorsicht, auch andere Menschen haben Knie«, lachte ein Mann.

»Oh, tut mir leid«, beruhigte ich den Fahrgast. »Das war nicht meine Absicht.«

»Schade«, rief eine Person aus der Menge und erntete dafür das Gekicher der Umstehenden.

Mir war es unbegreiflich, wie es Barry gelang, in diesem Gewühl die Fahrscheine zu prüfen. Ich spähte zwischen den anderen Passagieren hindurch und konnte so einen flüchtigen Blick auf ihn erhaschen. Die Spuren der letzten Minuten voller Angst und Sorge suchte man in seinem Gesicht vergebens. Das Gebaren dieser Leute schien ihn keineswegs einzuschüchtern, vielmehr verstand sich der Junge auf ihre groben Witze, ihr Gelächter, ihre Pöbeleien.

»Verzeihen Sie bitte«, sprach er eine Reisende an.

Ich schloss zu ihm auf und verharrte in Schweigen, was mir in Gegenwart der anmutigen Dame kaum schwerfiel. Sherlock Holmes hätte sich von einem solchen Anblick nicht beeindrucken lassen, gegebenenfalls wäre er sogar misstrauisch geworden, da seines Erachtens das weibliche Geschlecht ohnehin zur Geheimniskrämerei neigte. Mein sprunghaftes Herz hingegen war selbst für den keuschesten Wimpernaufschlag empfänglich.

»Ich bin angehalten«, sagte Barry, »Ihr Ticket zu prüfen.«

»Kein Problem, mein Herr.«

»Nur eine kleine Frage am Rande.«

»Ja, bitte.«

»Haben Sie einen Gentleman in einem beigefarbenen Jackett gesehen? Er trägt einen Backenbart …«

»… und ist kleiner als Sie oder Ihr Kollege?«

»Ja, genau.« Barrys Stimme überschlug sich. »Wo haben Sie ihn gesehen?«

»Er hetzte an mir vorbei.« Die Frau vollführte eine Vierteldrehung und zeigte zum Ende des Waggons. »In diese Richtung.«

»Sie meinen zum Postwagen?«

»Ich habe keinen Schimmer, was für ein Waggon sich dort befindet.« Sie lächelte verschüchtert. »Ich weiß nur, dass er dorthin rannte, als hätte er den Ausstieg verpasst.«

»Ich bin Ihnen zu Dank verpflichtet, Madame. Sie haben uns sehr geholfen.«

»Ihr Kollege scheint kein Freund des Wortes.«

»Oh, ich bitte um Entschuldigung.« Ich lüpfte meinen Hut. »Mein Name ist Dr John Watson.«

»Sehr erfreut, Dr Watson.«

»Die Freude ist ganz meinerseits.«

Jetzt war es Barry, der mich am Ärmel zupfte. »Doctor, ich glaube, uns ruft die Pflicht.«

 

Als wir den Postwagen erreichten, stand mir der Schweiß unter der Hutkrempe. Einerseits war ich dankbar, die dritte Klasse hinter mir zu wissen, andererseits schämte ich mich für diese Einstellung; nicht zum ersten Mal musste ich mir eingestehen, welch privilegiertes Leben mir in der Baker Street vergönnt war. Barry schob den Schlüssel ins Türschloss und stutzte.

»Sehr merkwürdig.«

»Was ist merkwürdig?«

»Es ist nicht abgeschlossen.«

Er hatte die Tür noch nicht komplett aufgeschoben, da brauste uns ein heftiger Wind entgegen. Die seitliche Verladetür stand so weit offen, dass der Luftstrom ungehindert im Frachtraum wüten konnte. Auf dem Boden lagen Briefe und Pakete verstreut, lose Papierbögen wirbelten zur Decke empor oder geradewegs nach draußen. Gebückt und unsere Hüte festklammernd strebten wir über die Schwelle in den Waggon. Sobald es uns gelungen war, die Schiebetür zu verriegeln, umhüllte uns graue Düsternis.

»Das habe ich noch nie erlebt«, keuchte Barry und entfachte eine Lampe. »Normalerweise wird die Tür von den Postbeamten am Bahnhof verschlossen.«

»Vielleicht ist hier Fahrlässigkeit am Werk?«

»Das glaube ich nicht. Ein Zuwiderhandeln hätte die sofortige Kündigung zur Folge.«

Ich machte mir eine Notiz und lauschte.

»Nicht auszudenken, was geschehen wäre, hätten wir den Wagen nicht aufgesucht. Stellen Sie sich vor, die Post all der Menschen, die uns ihr Vertrauen schenken, wäre fortgeweht worden.«

Mir Holmes’ Reaktion auszumalen, wenn seine Korrespondenz in den Sümpfen von Surrey landen würde, war ein Leichtes. Barry sank in die Hocke und begann die verstreuten Papiere einzusammeln. Der Zug treffe in acht Minuten am Bahnhof Cobham ein, schimpfte er. Bis dahin müsse die Post für den zweiten Distrikt sortiert sein. Angesichts seines Eifers fragte ich mich, ob er unseren eigentlichen Auftrag vergessen hatte. Ich packte ihn grob an der Schulter. »Lassen Sie alles an Ort und Stelle liegen.«

Er starrte mich entsetzt an.

»Es geht womöglich um Leben und Tod.«

Sein Blick veränderte sich nicht, worauf ich meine Warnung laut und deutlich wiederholte; dann erst bemerkte ich, dass seine Aufmerksamkeit nicht mir, sondern der hinter mir liegenden Verladetür galt. Ich wandte mich um, und gleichzeitig lenkte Barry den Lampenschein gegen die Tür.

»Dr Watson, sehen Sie das?«

»Was meinen Sie?«

»Dort am Türrahmen.«

»Oh, ein Fetzen Stoff.«

»Mein Gott«, entfuhr es Barry, und das hektische Flackern der Flamme verriet das Zittern seiner Hand.

 

Zurück im Abteil empfing uns das Porträt einer tapfer ausharrenden Dame. Ich hoffte inständig, meine Miene würde ihr die finstere Botschaft nicht auf dem Tablett servieren. Das Stück Stoff, das wir gefunden hatten, war von edler Art und erlaubte allenfalls zwei Vermutungen, von denen mich keine ruhig stimmte.

»Holmes«, flüsterte ich. »Dürfte ich Sie für einen Moment hinausbitten?«

»Aber Dr Watson!« Lady Sophia fuhr aus ihrem Sitz. »Ganz gleich, was Sie Ihrem Freund mitzuteilen haben, es sollte auch für meine Ohren bestimmt sein.«

»Verzeihen Sie«, antwortete Holmes mit nüchterner Höflichkeit. »Gespräche unter vier Augen sind Teil unserer Arbeitsweise.«

»Können Sie in dieser Situation keine Ausnahme machen?«

Holmes’ Miene blieb gleichermaßen kalt und unmissverständlich. Er griff nach seinem Strohhut, und wir entfernten uns den Gang hinunter. Ich zeigte ihm das Stück Stoff und berichtete, wo wir es entdeckt hatten. Holmes wendete das Gewebe mehrfach im Gegenlicht, dann bestätigte er unsere ärgste Befürchtung, indem er die Fasern dem Jackett Seiner Lordschaft zuordnete.

»Im Vertrauen, mein lieber Watson. Londons Stammtische sind Ihnen doch ein zweites Heim?«

»Wollen Sie mir einen Hang zur Trunksucht unterstellen?«

»Nein, nur Ihre Geselligkeit hervorheben.«

»In dieser Hinsicht bin ich nicht geselliger als andere.«

»Und im Vergleich zu meiner Eremitenseele?«

»Gut herausmanövriert, Holmes.«

Mein Freund rückte näher. »Ist Ihnen vielleicht zu Ohren gekommen, wie es um Lord Edmunds Ehe bestellt ist?«

»In einer Spelunke bei Tabak und Bier?«

»Gelegentlich plaudert das Dienstpersonal freimütig.«

»Klatsch und Tratsch interessieren mich nicht.«

»Und wie verhält es sich mit dem Gerücht, den Lord würden schwere Gedanken plagen?«

»Sie reden von Melancholie?«

»Ja, solcherlei Zustände.«

»Wie gesagt, Holmes. Klatsch und Tratsch …«

»Ist mir bekannt, Watson«, fuhr Holmes mir ins Wort. »Ich frage aus rein medizinischem Interesse.«

»Soweit ich informiert bin, ist das Haus Lancaster ein Ort ohne Skandale. Einzig …« Ich stockte, bis mich die unerbittliche Miene meines Freundes zum Weiterreden nötigte. Im Flüsterton erzählte ich ihm vom Unfall des jüngsten Sohnes Seiner Lordschaft. William Lancaster war bei einem Familienausritt vom Pferd gestürzt und den schweren Verletzungen erlegen; seitdem sollten den Lord dunkle Episoden heimsuchen.

»Sehr tragisch.« Holmes senkte die Lider. »Dann lässt sich eines wohl nicht ausschließen.«

»Sie meinen doch nicht …«

»Ich meine gar nichts, Watson. Ich ziehe eine Möglichkeit in Betracht.«

»Nein«, protestierte ich. »Weshalb sollte Lord Lancaster ausgerechnet auf einer Zugfahrt den Freitod wählen?« Diesen Verdacht laut geäußert zu haben, jagte mir einen Schauder über den Rücken. Innerlich aufgewühlt klopfte ich meine Jacke nach Tabak ab, bis Holmes mir über die Schulter strich.

»Sie müssen lernen, auch die dunkelste Möglichkeit auszuhalten.«

»Noch ist nichts bewiesen.«

Holmes schaute betroffen drein.

»Seine Lordschaft könnte gestoßen worden sein.«

»Etwa von fremder Hand?«

»Ja, der Pranke eines üblen Gesellen.«

Holmes wandte sich zum Fenster, doch seine Augen reflektierten weder das Grün der Landschaft noch das Tageslicht; sie waren so finster, als starrte er in einen versiegten Brunnen. »Warum sollte jemand den Lord während der Fahrt hinausstoßen und anschließend die Verladetür offen lassen?«

Seine Frage bedurfte keiner Antwort. Lord Edmund Lancaster musste seiner Existenz ein Ende gesetzt haben, und vielleicht würden wir nie seine Beweggründe erfahren. In lapidarem Tonfall erkundigte sich Holmes, ob mir dieser eigenartige Geruch im Abteil aufgefallen sei.

»Seine Lordschaft pflegte sicherlich zu rauchen.«

»Wie Sie wissen, habe ich eine Monographie über die Asche von 140 Tabaksorten verfasst. Die Gründlichkeit gebot mir, sämtliche Sorten zu testen, und ein solches Aroma reizte keinesfalls meine Nase.«

»Garantiert bevorzugte der Lord eine exquisite Marke.«

»Mag sein. Dennoch ist mir der Geruch nicht fremd.«

»Dann sollten wir Barry zurate ziehen.«

»Sie haben Recht. Wo ist der Junge überhaupt?«

»Ich denke, er beruhigt Lady Sophia.«

»Das klingt wahrlich nach einem Spiel mit dem Feuer.«

Holmes’ Mahnung war noch nicht verklungen, als ich einen gellenden Schrei vernahm.

 

Allein mein Zureden und die Erwähnung meines Doktortitels bewogen Lady Sophia dazu, wieder Platz zu nehmen. Langsam normalisierte sich ihr Puls, indes Barry ihr unermüdlich Luft zufächelte, diesmal mit meinem Hut.

»Ich konnte mich ihrer Bitte nicht erwehren«, gestand er. »Ich musste ihr alles erzählen.«

»Damit haben Sie uns keinen Gefallen getan«, erwiderte Holmes, dessen Augen nichts von ihrer Düsternis verloren hatten. Er rückte in seine gewohnte Pose, als wäre ihm die Sitzreihe ein willkommener Ersatz für seinen Lehnsessel.

»Niemals«, beteuerte Lady Sophia, »würde Edmund seinem Leben ein Ende bereiten. Niemals.« Sie schluchzte qualvoll. Wenn das Herz dieser Frau zuvor in heller Aufregung geschlagen hatte, so drohte es nun an dieser Tragödie zu zerbrechen. »Ich werde an der nächsten Station aussteigen«, teilte sie uns in einer Schärfe mit, die mich zutiefst erschrak.

»Lady Sophia«, sagte ich besänftigend. »Letztlich haben wir keine eindeutigen Beweise für unsere Annahme.«

»Dr Watson, sind Sie verheiratet?«

Ich schaute zu Holmes. »Nicht auf die übliche Art.«

»Jetzt stellen Sie sich vor …«, begann sie, ehe der Detektiv ohne jedes Mitgefühl in das Gespräch eingriff.

»Hören Sie, Lady Sophia. Trägt Lord Edmund seinen Rock auf die legere Art, wie man es auf dem Kontinent zeigt?«

»Was meinen Sie damit?«

»Schließt er beim Gehen die Knopfleiste seines Jacketts oder eben nicht?«

»Mr Holmes, Edmund ist durch und durch ein Gentleman.«

Lady Sophia starrte ihn irritiert an, aber mein Freund verweigerte ihr eine Erklärung; stattdessen forderte er von mir sein Notizbuch. Sichtlich von seiner Schroffheit erschüttert, versank Lady Sophia in resigniertes Schweigen.

»Ihr Blick ist der eines Fuchses«, sagte Holmes mit Blick auf meine Notizen. »Doch nicht der Blutdurst lenkt Ihre Augen, sondern Leidenschaft und Begierde.«

»Holmes, das geht nun wirklich zu weit.«

Das Pfeifen der Lokomotive drang in das Abteil, und Barry kündigte kleinlaut den nächsten Bahnhof an. Plötzlich erhob sich Lady Sophia zu voller Größe und stürzte an uns vorbei. Jedes Dagegenhalten unsererseits wäre vergebens gewesen, und sobald Barry ihr nachzueilen gedachte, hielt Holmes ihn zurück.

»Auf Sie wartet eine wahrhaft schwierige Mission.«

»Was soll ich tun, Sir?«

»Begleiten Sie Lady Sophia auf den Bahnsteig.«

»Aber Sir, ich darf meinen Posten nicht verlassen.«

»Vergessen Sie für zwei Stunden Ihre Pflicht. Sie müssen nun einer ungleich höheren Sache dienen.« Sherlock Holmes bäumte sich vor ihm auf und klopfte ihm auf die Brust. »Nämlich der Gerechtigkeit, mein Bester.«

Barry nickte voller Ehrfurcht.

»Draußen übergeben Sie Lady Sophia dieses Schreiben.« Er reichte ihm ein Blatt aus seinem Notizbuch. »Und drängen Sie die Frau, unseren Anweisungen Folge zu leisten.«

»Drängen, Sir?«

»Solche Situationen kennen weder Anstand noch Schicklichkeit.«

»Ich will Ihrem makellosen Ruf vertrauen, Mr Holmes.«

»Und wir Ihrer Überredungskunst. Nicht wahr, Watson?«

»Selbstverständlich.«

Der junge Bahnangestellte atmete durch, nickte uns beiden zu und rannte Lady Sophia hinterher.

»So.« Holmes rieb sich die Hände und schaute zufrieden drein. »Wir begeben uns zurück in unser Abteil.«

»Sie scherzen wohl?«

»Mein verehrter Freund, wie oft pflege ich zu scherzen?«

 

Der Zug fuhr in Cobham ein, und Holmes machte nicht den Anschein, irgendwelche Vorkehrungen zu treffen oder gar die tragischen Ereignisse um Lord Edmunds Verschwinden aufhellen zu wollen. Ich hingegen reckte meinen Hals gegen das Fenster und hielt Ausschau nach Lady Sophia.

Der Bahnsteig war beinahe menschenleer. Wenige Personen in heller, sommerlicher Kleidung sammelten sich vor den Waggons der zweiten Klasse. Der Bahnhofsvorsteher half den Passagieren bei ihrem Gepäck, und alles wirkte so alltäglich, dass ich mich in einer erbarmungslosen Fantasie gefangen glaubte. Dann erspähte ich die Lady in Gesellschaft unseres jungen Freundes.

»Sehen Sie, Holmes. Sie winken nach einer Droschke.«

»Wunderbar.«

»Wunderbar? Mehr fällt Ihnen dazu nicht ein?«

»Hält Lady Sophia ein Blatt Papier in den Händen?«

Ich rückte näher ans Fenster. »Ja, es scheint so.«

»Wunderbar«, wiederholte Holmes, als wollte er meine Erregung durch seine Wortwahl zusätzlich reizen.

Lady Sophia bestieg zusammen mit Barry die Droschke, und noch ehe der Kutscher die Zügel schlug, setzte sich die Lokomotive wieder in Bewegung.

»Jetzt gilt es, dem Burschen blind zu vertrauen«, sagte Holmes. »Barrys Geschick entscheidet über das Gelingen meines Plans.«

»Sie haben eine fremde Person mit der Umsetzung Ihres Plans betraut?«

»Eines Teils, Watson, eines Teils.«

»Ein Kuriosum in Ihrer Karriere; das muss ich mir sogleich notieren.«

»Am besten neben Ihren Notizen zum Fall der einsamen Radfahrerin. Sie erinnern sich? Damals übertrug ich Ihnen eine äußerst wichtige Aufgabe.«

»Seit wann sind Sie nachtragend?«

»Genauso wie Sie der Chronist meiner Erfolge sind, bin ich der Ihres Scheiterns.« Holmes kicherte leise, indes er sich wieder der Zeitung widmete.

»Dass Sie jetzt seelenruhig den Chronicle lesen können …«

»Soll ich die Zeitung etwa hektisch lesen?«

Ich stieß ein humorloses Lachen aus und spekulierte darauf, er würde die Imitation seines eigenen Gelächters heraushören. Zu meinem Bedauern hob er nicht einmal eine seiner Brauen.

»Es missfällt mir«, versuchte ich es erneut, »wenn Sie mir Ihre Pläne vorenthalten. Immer machen Sie ein Geheimnis, um am Ende mit der Auflösung brillieren zu können.«

»Haben Sie mich nicht gelehrt, man müsse den Lesern einen finalen Knalleffekt bieten?«

»Dem mag ich nicht widersprechen. Aber eine Erzählung ist wohl kaum das wahre Leben.«

»Schön formuliert. Wir nähern uns Guildford, der Endstation. Behalten Sie den Bahnhof im Auge!«

»Steigen wir nicht aus?«

»Nein, wir bleiben im Zug.«

»Und Sie lesen weiter den Chronicle?«

»Verehrter Freund«, er linste knapp an seiner Zeitung vorbei, »wollen Sie mit mir tauschen?«

»Als ob ich mich jetzt auf irgendeine Lektüre konzentrieren könnte.«

»Eben, Watson. Jeder, wie er kann.«

 

Die Dampfschwaden der Lokomotive verflüchtigten sich und die Strahlen der Sonne fächerten über den Bahnsteig. Einige Leute hatten sich auf der Plattform versammelt, um ihre Liebsten und Bekannten in Empfang zu nehmen; Gepäckträger, gekleidet in der Uniform der Railway Company, hielten sich bereit für die Reisegäste. Sowie die Waggontüren geöffnet waren, begann das emsige Treiben: innige Umarmungen, Hände, die einander gereicht und geschüttelt wurden, Koffer, die von einer Person zur anderen wanderten, und inmitten des ganzen Trubels ein Landstreicher.

Die arme Seele bewegte sich entlang der Waggons, als sei sie am verkehrten Bahnhof ausgestiegen, und das in volltrunkenem Zustand. Obgleich die Uhr noch nicht zwölf geschlagen hatte, brachte der Fusel seinen Gang ins Schwanken. Die Erinnerung an den Wagen der dritten Klasse lebte in mir auf, das dichte Gedränge, die Holzbänke, das freche Gelächter und Krakeelen besonders lebhafter Fahrgäste.

»Watson, brauchen Sie eine Einladung?« Holmes hatte sich offenbar von seiner Lektüre losgesagt und öffnete mit einer theatralischen Geste das Abteil. »Beute, Beute, rief der Räuber!«

Wie Diebe entschlüpften wir dem letzten Waggon und liefen ans östliche Ende des Bahnhofs. Eine Hecke begrenzte die Plattform, davor lud eine hölzerne Bank zum Verweilen ein. Geschwind huschten wir hinter die Hecke, um in deren Schutz das Gelände zu beobachten.

Mittlerweile hatte sich der Bahnsteig beinahe vollständig geleert. Bis auf eine führerlose Kutsche rollten sämtliche Gefährte vom Vorplatz und entschwanden unserer Sicht. Das Schnaufen der Lokomotive kündigte den Gleiswechsel an, damit sie am letzten Wagen angekoppelt werden konnte. Noch immer orientierungslos wankte der Landstreicher über das Pflaster, und meine Entrüstung verwandelte sich in leises Bedauern. Als wäre mein Wunsch um Beistand erhört worden, traten zwei Männer hinter dem Bahnhofsgebäude hervor, fassten dem Kameraden unter die Arme und stützten ihn brüderlich.

»Richtige Samariter«, kommentierte Holmes die Situation.

»Mit denen findet er gewiss heimwärts.«

»Watson, Ihr Vertrauen in die Menschheit ist sattelfest.«

Der größte der drei Männer mochte um die vierzig Jahre alt sein; seine Gestalt war kaum breiter als ein Laternenpfahl und die Wangenknochen zeichneten sich eindrücklich unter der Haut ab. Der zweite Mann war fast ebenso klein wie der Betrunkene, doch im Bauchumfang um ein Vielfaches fülliger. Langsam bewegte sich das Trio über den Bahnsteig, und als es nahe der Hecke anlangte, vernahm ich ein paar Gesprächsfetzen.

»Eine einsame Seele in einer einsamen Gegend«, sagte der Hagere mit unverkennbar deutschem Akzent. »Ihr Glück, dass wir uns um Sie kümmern.«

»Wer sind Sie?«, stammelte der Mann in der Mitte. »Und überhaupt, wo bin ich?«

»Dein Kopf wird uns reich machen«, zischte der Dicke zurück.

»Halt die Schnauze, Ferguson. Das wird unser Schmuckstück noch frühzeitig erfahren.«

Zweifellos gefiel dem Betrunkenen die Ansage nicht. Sein Versuch, sich aus der Umklammerung zu befreien, war allerdings zum Scheitern verurteilt.

»Wir haben genug gesehen«, flüsterte Holmes. »Spannen Sie Ihren Revolver.«

»Mein Revolver liegt in der Baker Street.«

»Ausgezeichnet, Watson. Soll sich etwa Mrs Hudson damit amüsieren?« Holmes richtete seinen Strohhut, umrundete die Hecke und trat den Männern mit einem Lächeln entgegen. »Werte Gentlemen, wohin so eilig?«

»Kümmern Sie sich um Ihre Angelegenheiten«, erwiderte der Hagere.

»Der Herr zwischen Ihnen ist meine Angelegenheit.«

Holmes und ich verharrten zwischen den Männern und dem Ausgang; es war allzu offenkundig, dass das Trio die letzte verbliebene Kutsche zum Ziel hatte.

»Wenn Sie einen Funken Verstand besitzen, dann suchen Sie schleunigst das Weite«, legte der Hagere nach. »Oder wollen Sie mehr kassieren als harsche Worte?«

»Mein Name ist Sherlock Holmes, und Sie, meine Herren, brechen in diesem Augenblick das Gesetz.«

»Mir war nicht bekannt, dass ein Treffen unter Kameraden verboten ist.«

»Ich würde den Gentleman nicht als Ihren Kameraden bezeichnen.«

»Das sehen wir anders. Und unser Freund stimmt uns zu, nicht wahr?« Der Hagere packte den Betrunkenen am Hinterkopf und nötigte ihm ein Nicken ab. »So, Mister. Lassen Sie uns passieren.«

»Ich denke, Lord Edmund ist in unserer Gesellschaft besser aufgehoben«, sagte Sherlock Holmes streng. Er machte einen Ausfallschritt und stemmte die Arme in die Hüfte.

»Ferguson, schaff den eitlen Gockel fort«, befahl der Hagere, worauf der Dicke ein Schnappmesser zückte und sich Holmes mit tänzelnden Schritten näherte. Auch wenn sein Doppelkinn träge schaukelte, sprang die Klinge flink von der rechten in die linke Faust und wieder zurück. Holmes beugte leicht die Knie, und im selben Moment, den der Dicke zum Ausholen verwandte, hebelte er ihn mit einer geübten Bewegung zu Boden. Fergusons Aufschrei war dermaßen laut, dass er in den Grabstätten von Westminster Abbey widerhallen musste.

»Baritsu wird diese Kampftechnik genannt«, erklärte Holmes dem Niedergestreckten. »Sie eignet sich perfekt für drittklassige Angreifer.« Er kickte das Messer in die Hecke und glättete anschließend sein Jackett. »So, und jetzt zu Ihnen, Stark. Oder soll ich Sie Fritz nennen?«

»In meinem Business ist es schwer, seinen wahren Namen nicht zu vergessen.«

»Colonel Lysander Stark soll mir auch recht sein.«

Der Name des Schurken belebte sofort die Erinnerung an einen früheren Fall, der einen Ingenieur einen Daumen und ein saftiges Honorar gekostet hatte. Anscheinend hatte Starks Bande die falschen Lehren aus dem damaligen Misserfolg gezogen.

Holmes bekräftigte seine Forderung, von Seiner Lordschaft abzulassen. »Oder soll ich Ihnen auch ein paar fernöstliche Griffe demonstrieren?«

»Bleiben Sie stehen«, ertönte es hinter uns. »Oder soll ich Ihnen die Wirkung einer Revolverkugel demonstrieren?«

Keine zwei Armlängen von uns entfernt stand jene Frau, auf deren Geheiß Barry und ich den Postwagen aufgesucht hatten; in ihren Fingern glänzte ein Revolver.

»Ja, mein lieber Watson. Mithilfe eines Wimpernaufschlags wurden Sie auf eine falsche Spur gelockt. Ohne diese Dame wäre die offene Tür im Postwagen lediglich eine offene Tür gewesen, ein simpler Verstoß gegen die Dienstvorschrift.«

»Elisa, auf dich ist Verlass!«, rief Colonel Stark.

»In guten wie in schlechten Zeiten.« Sie schenkte ihm ein eiskaltes Lächeln und schritt, ohne den Revolver zu senken, an uns vorbei.

»Ihr Ehegelübde können Sie in den Zellen von Scotland Yard auffrischen«, sagte Holmes. »Schließlich planten Sie die Entführung eines unschuldigen Menschen.«

»Woher erfuhren Sie von unserem Plan?«, fragte Stark mit affektierter Freundlichkeit. »Welcher Vogel hat gesungen?«

»Ein Vögelchen, anmutig und verräterisch.«

»Liebster«, fuhr die Frau dazwischen, »dieser Mann will bloß Zeit schinden.«

»Sei ruhig! Ich will hören, was er zu sagen hat. Es soll das Letzte sein, was er auf Erden spricht. Also bitte, Mr Holmes.«

Mein Freund öffnete seine Handflächen zu einer einladenden Geste, und ich kam nicht umhin, mich zu fragen, weshalb er eine solche Gelassenheit ausstrahlte. Allesamt weilten wir auf dem Bahnsteig wie Akteure auf einer Freilichtbühne, mit Ausnahme von Mr Ferguson, der sich unverändert zu unseren Füßen krümmte.

»Zunächst ein Lob meinerseits«, begann Holmes. »Ihr Plan, Lord Edmund zu betäuben und ihn nichtsahnend in die Arme seiner Entführer laufen zu lassen, grenzt an ein Wunder. Ein Wunder schon deshalb, weil der Plan anscheinend Ihrem Hirn entsprang.«

»Danke für die Blumen, Mr Holmes. Meine Frau kann Sie auch auf der Stelle ins Jenseits befördern.«

»Bitte, keine Hektik auf dem schönen Lande.«

Sherlock Holmes zufolge hatte die Bande in Erfahrung gebracht, dass Lord Edmund samt Gattin einmal im Monat die Linie London – Guildford zu benutzen pflegte. Doch erst das eigens für betuchte Insassen entworfene Premiumabteil hatte Starks Plan ermöglicht. Sobald Lady Sophia den Raum verlassen hatte, stürmten die beiden Männer hinein und betäubten den Lord, bevor er hätte Alarm schlagen können; dann wechselten sie seine Kleidung und verstauten den Bewusstlosen im Gepäckfach unterhalb der Sitze.

»Ihr Narren«, lachte Colonel Stark. »Ihr habt die ganze Zeit auf ihm gehockt wie Glucken auf ihren Eiern.«

Holmes quittierte dessen Gelächter mit einem kaum merklichen Grinsen. »Leider ist Ihnen hierbei der erste Fehler unterlaufen. Sie hätten den Eigengeruch des Narkotikums kaschieren müssen, zum Beispiel mit dem Aroma von Tabak oder Parfüm.«

»Wir haben nix gerochen.«

»Sie verfügen auch nicht über die untrügliche Nase eines Sherlock Holmes. Sie und Ihr Gehilfe verließen eine Station später den Zug, und an dieser Stelle«, Holmes rang sich ein anerkennendes Nicken ab, »spielten Sie Ihren größten Trumpf aus. Ihre Gemahlin warf sich das Jackett Seiner Lordschaft über, durchquerte darin den Zug und platzierte einen Fetzen Stoff im Postwagen. Nun musste die Dame nur noch auf einen besorgten Kontrolleur warten, der sich durch einen vermeintlichen Hinweis in die Irre führen ließ. Unzweifelhaft eine originelle Idee. Der gute Barry vermutete sogleich, Lord Edmund hätte seinem Leben ein Ende gesetzt, und sicherlich wäre auch die Polizei zu dieser vorschnellen Ansicht gelangt. Statt weiter den Zug zu durchsuchen, hätte man sich bei der Ermittlung auf den Abschnitt zwischen Heathland und Claygate konzentriert. Allerdings haben Sie, meine Verehrte, in der Eile oder weil es weniger Kraft erforderte, die Innentasche aus dem Jackett gerissen.« Holmes zerrte das Stück Stoff hervor und hielt es für alle sichtbar hoch. »Wie uns Lady Sophia glaubhaft schilderte, ist der Lord ein Gentleman alter Schule.«

»Und?«, blaffte Stark ihn an. »Was soll das beweisen?«

»Wäre Lord Edmund tatsächlich aus dem Zug gesprungen, wäre kaum das Innenfutter an der Tür hängengeblieben. Nicht bei einem zugeknöpften Jackett.«

Colonel Stark schenkte seiner Frau einen finsteren Blick.

»Doch damit nicht genug«, fuhr Holmes fort, »denn Sie haben Ihre Rechnung ohne die rege Beobachtungsgabe meines Freundes gemacht. Oder sollte ich sagen: ohne das rege Herz meines Freundes.«

Ich verkniff mir jeden Kommentar und wartete auf das, was kommen mochte.

»Dr Watson beschrieb emsig die Garderobe jener Frau, die seine Aufmerksamkeit über die Maßen fesselte. Dieses edle Kostüm passt ganz und gar nicht in die dritte Klasse, vor allem nicht zwischen die graue Montur der Lohnarbeiter. Watsons Auge war geradezu berauscht von Mrs Starks Erscheinungsbild.«

»Ich habe dir gesagt, du sollst dich nicht in Schale werfen!«, herrschte Colonel Stark seine Gattin an.

»Liebster, die Garderobe einer Bediensteten ist mir zuwider; immerhin bin ich die Frau des größten Verbrechers von England.«

»Demnächst wohl eher die Frau des größten Verbrechers von Pentonville, dem Zuchthaus Londons.«

»Schluss mit dem Geschwätz!«, rief Stark kaltschnäuzig. »Knien Sie nieder und schicken Sie Ihr letztes Gebet zum Herrgott.«

»Bitte, tun Sie uns nichts!« Unvermittelt erwachte Lord Edmund aus seiner Benommenheit. »Ich zahle Ihnen alles Geld der Welt, wenn Sie uns allesamt verschonen.«

»Sparen Sie Ihr Geld für schlechte Zeiten auf«, riet Holmes. »Colonel Starks Einfall, dem Zug mit einer Kutsche nachzujagen, um dann hier die Beute abzugreifen, verdient Respekt. Ich bin zuversichtlich, der Trick funktioniert auch ein zweites Mal.«

Holmes hob das Kinn, spähte die angrenzende Landstraße hinauf, und die Augen aller folgten seinem Wink.

»Wer zum Teufel ist das?«, fragte Colonel Stark.

»Lady Sophia in Begleitung der Polizei.«

Über das Pflaster jagte ein zweispänniges Gefährt nebst drei Uniformierten zu Pferde; sobald das Signalhorn vom Kutschbock ertönte, bezweifelte niemand mehr Holmes’ Ankündigung.

»Los!«, rief Stark seinen Komplizen zu. »Lasst uns verduften.«

»Nein, Lysander«, protestierte seine Frau und richtete den Revolver auf Holmes. »Dieser Bastard hat unseren Plan durchkreuzt. Dafür soll er büßen.«

»Wird Ihre Munition auch für eine achtköpfige Gruppe reichen?«

»Sie wird für dich reichen, das soll mir genügen.«

Noch heute erfüllt es mich mit Erstaunen, wenn ich daran denke, wie schnell die nächsten Augenblicke vorbeirasten. Während ich buchstäblich zu einer Salzsäule erstarrte und das Ende meines Freundes erwartete, musste Holmes seinen Strohhut gleich einem Diskus auf Mrs Stark geschleudert haben. Er traf die Frau am Kopf, sodass sie vor Schreck die Waffe fallen ließ. Ihr Versuch, nach dem Revolver zu langen, wurde von Holmes vereitelt, indem er seinen Fuß auf den Lauf stellte.

»Geben Sie auf«, sagte er gnädig. »Die Beute ist entflohen.«

Der Bande blieb nur die Flucht. Colonel Stark, seine Frau und der verletzte Ferguson rannten zum Vorplatz und erklommen die führerlose Kutsche. Das infernalische Knallen der Peitschenhiebe schallte bis zu uns herüber.

Nachdem aus dem Mannschaftswagen der Polizei drei Personen geklettert waren, nahm der Rest die Verfolgung auf. Wir, die Zurückgebliebenen, wurden mit der Wiedersehensfreude von Lord Edmund und Lady Sophia belohnt. Holmes, der solche Gefühlswallungen eher belächelte, zeigte sich dankbar für das Interesse des Inspectors. Allein Barrys unerschütterliche Vehemenz hatte die Beamten der Ortspolizei überzeugt, dass der Verfasser des Briefes auch wirklich Sherlock Holmes war. Ohne den eifrigen Burschen, meinte der Inspector, wäre Lord Edmund gewiss in Gefangenschaft dieser Bande geraten.

»Mr Holmes, eine Frage treibt mich noch um.«

»Bitte, Inspector. Ich bin ganz der Ihre.«

»Warum hat die Bande den Zug verlassen?«

»Stellen Sie sich vor, das Narkotikum hätte nicht wunschgemäß angeschlagen und Seine Lordschaft wäre früher erwacht. Zweifellos hätte das Dienstpersonal Alarm gegeben und im nächsten Bahnhof die Türen bis zum Eintreffen der Polizei verschlossen gehalten. Zwei markante Gestalten wie Colonel Stark und Mr Ferguson wären durch keine Kontrolle gelangt; außerdem werden sie in einem anderen Fall bereits steckbrieflich gesucht. Insofern handelte die Bande wohlüberlegt.«

Der Inspector schüttelte pausenlos den Kopf – entweder aus Abscheu wegen der ungeheuerlichen Tat oder aus Bewunderung für einen klugen Geist.

 

Als Sherlock Holmes und ich endlich über das Heideland von Surrey wanderten, wärmte uns die Sonne und ein stilles Lächeln im Gesicht meines Freundes stimmte mich milde.

»Mein verehrter Freund«, sagte Holmes. »Der Nachmittag gehört ganz Ihnen und Ihrem Schreiberling.«

»Ich nehme an, dass Sie ebenfalls zufrieden sind.«

»Watson, an Ihrer Seite bin ich stets zufrieden; da macht es keinen Unterschied, ob wir Schurken jagen oder uns gemeinsam an der herrlichen Landschaft erfreuen.«

»Vergessen Sie nicht, ich kann Sie jederzeit zitieren. Auch dann, wenn Sie in Ihrem Sessel schmollen und mich mit Schweigen bestrafen.«

»Aha, Watson. Wer ist nun nachtragend?«

»Touché, Holmes. Touché.«

»Verraten Sie mir lieber, was Ihr Dichter zu schreiben pflegt. In Anbetracht Ihres schnell erregbaren Herzens tippe ich auf zarte Liebeslyrik.«

»Weit gefehlt, mein Freund.«

»Etwa Seemannsgeschichten?«

»Oh, da ist es schon«, rief ich beschwingt aus. »Das Anwesen Undershaw.«

 

 

Über den Autor

Christoph Heidens erste Berührung mit den Figuren Sherlock Holmes und John H. Watson fand bereits in Kindertagen statt: Die LP Das Zeichen der Vier vom Label LITERA rotierte allabendlich im Plattenspieler. Seitdem ist nicht nur seine Faszination für das Detektivduo gewachsen, sondern auch die Liebe zur Kriminalliteratur. Bislang wurden vier Kriminalromane von ihm veröffentlicht, von denen Zurück im Zorn auf der Shortlist für den Glauser-Preis stand. Aktuell arbeitet Christoph Heiden an seinem fünften Roman und produziert gemeinsam mit einem Freund den Podcast Kaffee, Kekse & Midnight Movies.

 

Besuch aus Ägypten – Jürgen Bärbig

 

London

Baker Street

Oktober 1890

 

E in kalter Wind und dauerhafter Regen hielten London schon seit Tagen in ihrem Griff.

Dicke Tropfen schlugen gegen die Fenster in der ersten Etage der Baker Street 221B.

In der Wohnung war es still und abgesehen vom Licht einer Petroleumlampe, die mit kleiner Flamme auf dem Wohnzimmertisch brannte, dunkel.

Ein unangenehmer Geruch lag in der Luft – eine Mischung aus kaltem Rauch aus dem Kamin und betäubendem Opium aus einer Pfeife, die auf einem Silbertablett lag.

 

Sherlock Holmes saß in einem der Sessel und starrte mit glasigem Blick aus dem Fenster. Er blinzelte nicht.

Auch hörte er die hastigen Schritte auf der Treppe nicht oder die Tür zu seiner Wohnung, die sich mit leisem Quietschen öffnete.

»Sherlock? Sind Sie hier?« Die Stimme einer Frau, die aus dem dämmrigen Halbdunkel zu ihm sprach. »Ich bin es, Mary. Mary Watson.«

Sie hatte ihn entdeckt und umrundete den Sessel. »Sherlock!«

»Hm?« Er hob den Kopf, sah sie an. Ihre zierliche Gestalt war nur ein Schatten und ihre Stimme glich dem Klirren von Glas.

»Kommen Sie zu sich. Ich brauche Ihre Hilfe. John ist verschwunden.«

»Was sagen Sie da?« Die Worte tropften wie zäher Sirup von seinen Lippen.

»Großer Gott, Sherlock, Sie sind ja nicht zurechnungsfähig!« Sie riss ein Fenster auf, ließ frische Luft und Regen herein. Dann fasste sie ihn bei den Armen und schüttelte ihn, was Holmes furchtbare Kopfschmerzen bereitete.

Es gelang ihm, ihre Hände abzustreifen und aufzustehen. Er wankte. »Es geht mir gut. Geben Sie mir nur einen Moment.«

Es ging ihm gar nicht gut, doch er beherrschte das Spiel der Täuschung, auch das der Selbsttäuschung. Er sorgte für mehr Licht, bot Mary einen Platz an und setzte sich ihr gegenüber.

In ihrem Gesicht las er Entsetzen. Er musste schrecklich aussehen.

»Erzählen Sie mir alles«, sagte er.

Mary kramte eine Fotografie aus der Handtasche. »Es geht um diesen Mann. Sir Basil Atherton. Der Leiter des Britischen Museums. Er ist verschwunden und einer der Wachleute ist ermordet worden.«

Holmes fasste sich an die gefurchte Stirn. »Was hat John mit diesem Mann zu tun?«

»Im Grunde genommen gar nichts, aber ich kenne Sir Basils Frau. Sie bat mich um Hilfe und John sollte Sie kontaktieren, aber das wollte er nicht.«

»Warum nicht?«

»Haben Sie das wirklich vergessen? Er war wütend auf Sie. Sie haben ihn eine Glucke genannt und ein nervtötendes Anhängsel.«

»Daran kann ich mich nicht erinnern.«

Ihr Blick fiel auf die Opiumpfeife. »Das glaube ich Ihnen gern.«

»Also schön, weiter bitte.«

»Sir Basil ist vor einer Woche verschwunden, vermutlich aus dem Museum entführt, und den Wachmann Dominic Howe fand man erstochen in Sir Basils Büro.«

»Niemand hat davon etwas mitbekommen?«

»Nein. Die anderen Nachtwächter waren in einem anderen Teil des Museums unterwegs.«

»Ist das alles?«

»Das sind Johns Aufzeichnungen.« Sie holte einen Umschlag aus der Tasche, den sie Holmes reichte. Ein Zeitungsausschnitt aus der Times rutschte heraus. Der Ausschnitt war eine Woche alt.

 

Besuch aus Ägypten, lautete die Überschrift.

Heute ist der Sarkophag des Parlemtep, eines der Hohepriester des Anubis, im Britischen Museum eingetroffen. Ab dem 20. November werden er und zahlreiche Kostbarkeiten in einer prachtvollen Ausstellung zu sehen sein.

Zur Eröffnung wird auch der berühmte Archäologe und Entdecker des Grabes Benjamin Pandington erwartet.

 

»Der Sarkophag wurde gestohlen, wie auch zahlreiche der Beigaben«, sagte Mary. »Ich mache mir große Sorgen um John. Er hat versucht zu denken und zu handeln wie Sie, Sherlock.«

»Das ist unmöglich. Niemand denkt …« Er verstummte, als Mary ihn mahnend ansah.

»Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?«

»Vor zwei Tagen. Er wollte nachdenken und dabei einen Spaziergang machen, aber von dem kam er nicht zurück.«

»Haben Sie die Polizei informiert?«

»Ich habe mit Inspector Lestrade gesprochen. Er wird alles in seiner Macht Stehende tun, um ihn zu finden.«

»Was nicht viel sein wird«, kommentierte Holmes.

»Finden Sie John! Er ist Ihr Freund. Vermutlich der einzige, den Sie haben. Lassen Sie ihn nicht im Stich!«

Sie stand auf. Als sie die Tür erreichte, sagte Holmes: »Ich verspreche es Ihnen. Ich finde ihn.«

Sie nickte, dann war sie fort, und sein Blick fiel auf einen Stapel Zeitungen, die Mrs Hudson gewissenhaft auf einem Stuhl gesammelt hatte. Er widmete sich Johns Aufzeichnungen und den Artikeln in der Times, die sich mit den Ereignissen im Museum befassten.

Die Nacht verging darüber und der neue Tag begann so grau, wie der alte geendet hatte. Holmes klappte die Aufzeichnungen zu und versank in seinen Gedanken.

John hatte alles akribisch und detailliert aufgeschrieben.

Das Schiff, auf dem der Sarkophag nach England gebracht worden war, hieß Duke of Exeter. Schwierigkeiten während der Überfahrt hatte es nicht gegeben. Auch der Transport vom Hafen ins Museum war ereignislos geblieben.

Holmes studierte die beigefügte Besucherliste von Sir Basils Büro im Britischen Museum. Ein Name fand besonders häufig Erwähnung: Dr Cavanaugh.

Holmes kannte ihn. Nicht persönlich, doch er wusste, dass es sich bei Cavanaugh um einen anerkannten Psychiater handelte, der eine Privatpraxis in Kensington betrieb.

Über den toten Wachmann Dominic Howe gab es nichts, außer dass er mit einem Messer ermordet worden war und eine Adresse, die John aber scheinbar noch nicht aufgesucht hatte.

Dort, so beschloss Holmes, würde er beginnen.

Doch zuvor sorgte er dafür, wieder wie ein Gentleman auszusehen.

Etwas später nahm er Deerstalker und Mantel und bestieg eine Hansom, welche ihn nach Osten brachte.

Eine halbe Stunde fuhren sie durch die regennasse Stadt. Trostlose, graue Hausfassaden zogen an Holmes vorbei, die von ebenso trostlosen, grauen Menschen bewohnt wurden. Sie glichen Geistern, so wie er sich selbst manchmal fühlte. Seine Hände zitterten – die Auswirkungen von zu wenig Schlaf und zu viel Opium.

»Whitechapel High Street«, rief der Kutscher. »Wir sind da, Sir.«

Holmes bezahlte die Fahrt und betrat das schäbige Haus mit den rußgeschwärzten Fenstern.

Er entschied, an der erstbesten Tür zu klopfen, um nach der Wohnung von Dominic Howe zu fragen.

Eine alte Frau gab ihm die gewünschte Auskunft, und er stieg die drei Etagen hinauf bis ganz nach oben.

In den Fluren hing Wäsche zum Trocknen. Pfützen hatten sich darunter gebildet. Es roch nach Seifenlauge.

Außer Atem erreichte Holmes die Wohnung und klopfte an. Die Tür war nur angelehnt, und er gab ihr einen vorsichtigen Stoß. In dem Moment schoss eine Gestalt auf ihn zu – ein Mann im Kutschermantel, mit einem Tuch maskiert.

Der überraschte Holmes bekam einen Schlag ins Gesicht, der ihn taumeln ließ. Instinktiv wehrte er sich und bekam seinen Angreifer zu packen. Bei dem Gerangel fiel ein blutverschmiertes Messer zu Boden.

Sein Gegner verfügte über außerordentliche Kräfte, und es gelang ihm, sich loszureißen. Holmes behielt nur einen abgerissenen Ärmel in der Hand zurück. Er wollte dem Mann nachstellen, aber dieser war flink wie eine flüchtende Ratte und gleich darauf aus dem Haus verschwunden.

Für Holmes blieb nur ein ungutes Gefühl, das zur Gewissheit wurde, als er das Messer aufhob und das Zimmer betrat.

Auf dem Bett lag eine junge Frau mit durchschnittener Kehle.

Das musste Sally Howe sein, Dominic Howes Witwe. Holmes setzte sich an den Küchentisch und legte das Messer und den abgerissenen Ärmel darauf ab. Er musste sich sammeln und seinen Atem beruhigen. Dabei fiel sein Blick auf ein Hochzeitsfoto mit einem Trauerflor, das auf dem Tisch stand. Die Howes sahen darauf glücklich aus.

Danach nahm er vorsichtig das Messer in die Hand. Blut klebte daran und es roch streng nach Fisch. Seinem Angreifer hatte der gleiche Geruch angehaftet.

Die Klinge war scharf, der Griff aus dunklem Holz wies ein Rillenmuster auf, damit er besser in der Hand lag. Er kannte diese Art Messer. Mit ihnen wurden Fische ausgenommen.

Am Ärmel entdeckte er bereits mit bloßem Auge eine Vielzahl von Spuren. Gerne hätte er Watson mit seinen Schlussfolgerungen wie üblich aus dem Konzept gebracht. Holmes schüttelte den Kopf und warf noch einen genaueren Blick auf den alten, abgetragenen Ärmel. Er roch nach Straße und Hafen und besonders nach Fisch, billigem Frauenparfüm und einer Nuance Whisky, schottischem.

Am Ärmelaufschlag steckte ein kunstfertig aus Holz geschnitzter Knopf. Da mit Goldfarbe bestrichen, sah er wertiger aus, als er in Wirklichkeit war.

Nachdem er an dem Ärmel keine Spuren mehr entdecken konnte, wandte er sich Mrs Howe zu. Ein einzelner Schnitt durch die Kehle hatte ihr den Tod gebracht.

Nirgendwo im Raum gab es Kampfspuren. Entweder kannte sie ihren Mörder oder er hatte sie überrascht. Die angelehnte Tür ließ ihn das Zweite annehmen.

Die Durchsuchung des Zimmers brachte nicht viel und erzählte nur von einem schlichten Leben in elenden Verhältnissen. Das Luxuriöseste war die Photographie.

Er hatte genug gesehen, nahm Messer und Ärmel an sich, verließ das Haus und ließ sich von einer Kutsche nach Kensington zu Doctor Cavanaughs Praxis bringen.

Unterwegs schrieb er eine Notiz an Inspector Lestrade, in der er ihn über die tote Mrs Howe informierte.

Als er sein Ziel erreichte, schickte Holmes den Kutscher umgehend zu Scotland Yard.

Bei Cavanaugh handelte es sich um einen kleinwüchsigen Mann im besten Alter – mit grauem, fast weißem Haar und Vollbart. Er trug eine Brille und besaß eine Vorliebe für ägyptische Altertümer, wie Holmes bereits aus Johns Aufzeichnungen wusste.

Mit zur Begrüßung ausgestreckten Händen umrundete er seinen großen Schreibtisch. »Der große Sherlock Holmes, ich fühle mich geehrt. Ihr werter Freund Dr Watson …«

»Ja, ich weiß, er hat Sie bereits aufgesucht.«

Sie setzten sich an den Kamin. Für Holmes war es unmöglich, die erschöpfende Sammlung archäologischer Artefakte zu übersehen, die jede Ecke des Raumes füllte. Ein aufrecht stehender Sarkophag, der durch einen Glaskasten geschützt neben dem Kamin stand, fiel Holmes gleich ins Auge. Die üppigen Malereien strahlten in leuchtenden Farben und erzählten vom Leben des Verstorbenen im Diesseits und dem ewigen Leben im Jenseits.

 

»Ich komme in der gleichen Angelegenheit zu Ihnen wie Dr Watson«, begann Holmes. »Wie gut kennen Sie Sir Basil?«

»Ich habe ihn ein paar Mal im Museum aufgesucht. Ich bin oft dort, müssen Sie wissen, und wir kamen ins Gespräch. Irgendwann lud ich ihn zum Tee ein. Ich wollte seine Meinung zu einigen Exponaten hören, die ich kurz zuvor erworben hatte. Sir Basil ist eine Koryphäe im Bereich der Ägyptologie, und seine Meinung war mir daher besonders wichtig. Es gibt kaum jemanden, der ihn in seiner Leidenschaft übertrifft, außer vielleicht dieser Benjamin Pandington. Von ihm hört und liest man ja inzwischen immer häufiger. Nun ja, ich schweife ab … Aus unseren zahlreichen Gesprächen wurde dann eine Freundschaft, würde ich sagen.« Cavanaugh redete viel, und während er das tat, studierte Holmes dessen Miene.

Seine Überzeugung war es, einen Lügner in wenigen Augenblicken entlarven zu können. In Cavanaugh entdeckte er keinen. Das Gespräch wurde zäh, und Holmes verlor das Interesse daran. Seine Gedanken galten John. Holmes wollte es sich nicht eingestehen, aber er sorgte sich um ihn. Es galt keine Zeit zu verlieren, denn er wähnte seinen Freund durchaus in Gefahr. Er brauchte Unterstützung und wusste, wo er die finden würde.

Eine Stunde später stieg Holmes die Stufen an der Blackfriars Bridge zum Themseufer hinunter.

Ein halbes Dutzend Straßenkinder lungerte dort herum und suchte im Uferschlamm nach Dingen, die sich verkaufen ließen. Als sie Holmes bemerkten, rotteten sie sich zusammen und umringten ihn.

»Jungs. Ich suche Wiggins. Könnt ihr mich zu ihm bringen?«

Er schnippte dem, der sich ihm breitbeinig und herausfordernd entgegengestellt hatte, einen Shilling zu und behielt einen zweiten in der Hand.

»Ich sag’s ihm.«

Holmes zeigte eine dritte Münze. »Es ist dringend.«

Ein Lächeln zeigte sich im Gesicht des Jungen, und er nickte. »Ich bring Sie hin.«

Inzwischen war es Abend geworden.

Wiggins saß nicht weit entfernt mit ein paar anderen in einem Hinterhof um einen wackeligen Tisch versammelt und spielte Karten.

Als er Holmes bemerkte, beendete er das Spiel und scheuchte die anderen davon. »Mr Holmes, Sir. Wie kann ich helfen?« Er lüpfte seine Mütze.

»Doctor Watson ist verschwunden.«

»Oh.«

»Hast du von dem Raub im Britischen Museum gehört, Wiggins?«

»Ja, hab ich, Sir. Hab mir schon gedacht, dass Sie kommen würden. Aber warum hat das so lange gedauert?« Er grinste. »Ich hätte da nämlich was für Sie.«

Holmes bezahlte den üblichen Preis für Informationen, und Wiggins bat ihn, ihm zu folgen. Er führte Holmes zu einer abgelegenen Straße, die in eine Sackgasse führte.

Hier trieb sich viel zwielichtiges Gesindel herum, das dem Unbedarften Geld auf die eine oder andere Weise aus der Tasche zog.

Wiggins wies auf das Haus am Ende der Gasse.

»Und was finde ich da?«, fragte Holmes.

»Einen George Mallard. ’n kräftiger Kerl. Neu in der Stadt. Arbeitet in den Fischfabriken.«

»Ach ja!« Holmes war hellhörig geworden. »Erzähl weiter.«

»Er hat im Rover mit Geld nur so um sich geschmissen und sich ordentlich betrunken. Hat geprahlt, ein großes Ding abgezogen zu haben. Sie kennen mich, Mr Holmes. Ich bin immer neugierig. Also habe ich ihn von meinen Jungs beobachten lassen. Er wohnt da oben, zweites Stockwerk, wo die Kerze brennt. Könnte nützlich sein, mit ihm zu sprechen.«

»In der Tat. Das wäre es. Gut gemacht, Wiggins. Sollte er das Haus verlassen, folge ihm. Ich will wissen, wohin er geht und, wenn möglich, auch, mit wem er sich trifft.«

»Immer zu Ihren Diensten, Mr Holmes.« Wiggins fasste sich erneut an die Mütze.

Holmes betrat das Gebäude durch den Hausflur. Die Tür fehlte.