Schlinge der Schuld - Christoph Heiden - E-Book
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Schlinge der Schuld E-Book

Christoph Heiden

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Beschreibung

Ein Kommissar mit düsterer Vergangenheit und ein skrupelloser Täter …
Henry Kilmer ermittelt in seinem zweiten hochspannenden Kriminalfall

Eine junge Frau wird nach einer Party von einem Auto überfahren. Was auf den ersten Blick wie ein Routinefall aussieht, gewinnt schnell an Brisanz, als Untersuchungen ergeben, dass sie K.-o.-Tropfen im Blut hatte. Die Kommissare Henry Kilmer und seine Kollegin Linda Liedke werden auf den Fall angesetzt, der ausgerechnet die einflussreichste Familie der Stadt betrifft. War das ganze doch kein Unfall, sondern ein ausgeklügelter Plan? Auf einmal wird jeder Gast der Feier am Unfallabend zum Verdächtigen. Und schon bald führt die Ermittlung die beiden Kommissare zu einem weiteren Fall, der tiefe Abgründe offenbart …

Dies ist eine überarbeitete Neuauflage des bereits erschienenen Titels Sündenspiel.

Jeder Band der Henry Kilmer-Reihe ist in sich abgeschlossen und kann unabhängig voneinander gelesen werden.

Weitere Titel dieser Reihe
Sünderblut (ISBN: 9783986378158)

Erste Leser:innenstimmen
„Diesmal wird im Theatermilieu ermittelt – höchst spannend!“
„Auch Teil zwei der Krimi-Reihe konnte mich voll überzeugen.“
„Bitterböse, fesselnd, geheimnisvoll!“
„Düstere Stimmung, interessanter Kriminalfall, ein insgesamt sehr gelungener Thriller.“

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Seitenzahl: 328

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Über dieses E-Book

Eine junge Frau wird nach einer Party von einem Auto überfahren. Was auf den ersten Blick wie ein Routinefall aussieht, gewinnt schnell an Brisanz, als Untersuchungen ergeben, dass sie K.-o.-Tropfen im Blut hatte. Die Kommissare Henry Kilmer und seine Kollegin Linda Liedke werden auf den Fall angesetzt, der ausgerechnet die einflussreichste Familie der Stadt betrifft. War das ganze doch kein Unfall, sondern ein ausgeklügelter Plan? Auf einmal wird jeder Gast der Feier am Unfallabend zum Verdächtigen. Und schon bald führt die Ermittlung die beiden Kommissare zu einem weiteren Fall, der tiefe Abgründe offenbart …

Dies ist eine überarbeitete Neuauflage des bereits erschienenen Titels Sündenspiel.

Jeder Band der Henry Kilmer-Reihe ist in sich abgeschlossen und kann unabhängig voneinander gelesen werden.

Impressum

Überarbeitete Neuausgabe Oktober 2022

Copyright © 2023 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten

E-Book-ISBN: 978-3-98637-817-2 Taschenbuch-ISBN: 978-3-98778-057-8

Copyright 2022, dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Dies ist eine Neuausgabe des bereits 2022 beim dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH, erschienenen Titels Sündenspiel (ISBN: 978-3-96817-744-1).

Copyright © 2016, Emons Verlag Dies ist eine überarbeitete Neuausgabe des bereits 2016 bei Emons Verlag erschienenen Titels Tod in Jena (ISBN: 978-3-95451-819-7).

Covergestaltung: Buchgewand unter Verwendung von Motiven von depositphotos.com: © JANIFEST shutterstock.com: © jakkapan, © Jeom.ac stock.adobe.com: © Eastlyn Bright Lektorat: Nadine Buranaseda, typo18, Bornheim

E-Book-Version 20.06.2023, 12:53:53.

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.

Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

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Schlinge der Schuld

Später

Mit gesenktem Kopf dämmerte Ben Schilling dahin. Unter seinem Hintern befand sich ein Stuhl, um seinen Hals eine Schlinge. Wohin das Seil führte, konnte er nicht sagen; die Benommenheit lähmte ihm gleichermaßen Kopf und Glieder. Kein Blick zurück, kein Blick nach vorne. Er saß im Nichts und starrte auf seinen Schoß hinab.

In einem wachen Moment erkannte Ben, dass seine Hose im Schritt einen Schatten warf. Die dazugehörige Einsicht kam ihm erst, als er den klammen Stoff auf seinen Oberschenkeln spürte – er hatte sich eingenässt.

Dieser bitteren Wahrheit folgte ein ganzes Heer an Wahrheiten. Seine Füße waren an die Stuhlbeine gefesselt, seine Handgelenke hinter der Lehne zusammengeschnürt. In greller Panik schluckte Ben, und jedes Schlucken strapazierte seinen Kehlkopf. Die Schlinge um seinen Hals fühlte sich kalt und glatt und sehr dünn an. Offenbar war das kein normaler Strick, sondern ein Drahtseil. Die Furcht vor dem, was noch kommen mochte, gewann die Oberhand. Er versuchte stillzuhalten, aber wenn der Körper auch gehorchte, das Schlucken ließ sich nicht verhindern. Sein Kehlkopf hüpfte rauf und runter, rauf und runter, und die Haut zerrieb sich am Draht wie ein Stück Käse unterm Reibeisen.

ERSTER TEIL

Die Liebe ist gleichsam

ein künstlicher Vexierbecher,

statt Nektar trinken wir oft Gift.

Der gestiefelte Kater, Ludwig Tieck

But you’ll never be free

Of the craving for refuge

Curse of the Traveller, Chris Rea

Samstag

Caroline Meyer wollte all ihren Zorn in die Pedale treten, wollte ihrem Liebeskummer davonradeln, als würde die Welt nach wenigen Kilometern Hoffnung und Zuversicht bieten, eine Welt, die es möglich machte, einen Ben Schilling in die Arme zu schließen.

Es war Samstag, der 7. November, und eine Stunde so dunkel wie Carolines Gemüt. Sie bremste, stieg ab und schaute sich verunsichert um. Kein Mensch weit und breit. Sie ließ das Fahrrad zu Boden sinken und trat auf wackligen Beinen an den Zaun eines Schrebergartens.

Neben dem Liebeskummer plagten sie Schwindel und Übelkeit. Sie hatte zu viel getrunken, hatte nach den Gläsern anderer Gäste gegriffen wie Schneewittchen nach fremden Tellern. Schloss Thalstein lag jetzt mehrere Hundert Meter hinter ihr, am Fuß eines Bergs, inmitten grauer Finsternis. Ben Schilling, der Grund für ihren Liebeskummer, hob dort sein Glas und präsentierte aller Welt sein schönes Lächeln.

In der Stille vernahm Caroline ein gespenstisches Klirren. Sie krallte sich am Zaun fest und blinzelte durch die Maschen auf die kargen Grundstücke. Von einem Baum hing das primitive Windspiel eines primitiven Gärtners: Drei Flaschen, die verbunden mit Schnüren aneinanderschlugen. Sie durfte in dieser Einöde nicht ohnmächtig werden. Der Gedanke an finstere Gestalten, die hier herumspukten, ließ sie ihre letzten Kraftreserven mobilisieren. Sie wankte zurück, stieg wieder aufs Fahrrad und nur mit Mühe gelang es ihr, die Balance zu halten.

Beim Treten spürte sie kaum noch ihre Beine. Allein die Straße zu erkennen, fiel ihr ungemein schwer. Der Asphalt brach aus der Fahrbahn, die Bäume schwankten bedrohlich und die angrenzenden Grundstücke rückten immer näher. Keine Minute später bremste sie erneut und stieg ab. Die Angst vor einer jähen Ohnmacht war zu groß. Sie zog ihr Telefon hervor und rief bei sich zu Hause an.

Der Anrufbeantworter empfing sie mit einem lauten Piepen. Sie probierte es auf dem Handy ihres Vaters. Als sich nur die Mailbox meldete, sagte sie, es gehe ihr kotzübel. Irgendwas stimme nicht mit ihr. Dann – und sie wusste nicht, warum – bat sie ihren Vater um Verzeihung. Dafür, dass sie eine schlechte Tochter sei, dafür, dass sie schwach und nutzlos sei. Krank im Kopf – ja, das traf es am besten. Sie war total krank im Kopf. Ihr Vater galt als einer der einflussreichsten Männer der Stadt. Seit Jahren bekleidete er das Amt des Oberbürgermeisters. Mit seiner Macht ließ sich wohl alles regulieren, nur nicht das Herz eines anderen Mannes. Ihr kam die Idee, ihr Vater könnte Ben der Stadt verweisen. Bestimmt ist er dazu imstande, dachte sie irrsinnig vor Liebeskummer. Hieß es nicht aus den Augen, aus dem Sinn? Sobald sie aufgelegt hatte, kehrten die Selbstzweifel zurück. Schlechten Töchtern tat niemand einen Gefallen, weder der Bürgermeister noch irgendwer sonst. Schlechte Töchter verliebten sich in die falschen Männer und fuhren betrunken Fahrrad.

Caroline rutschte auf den Sattel und folgte der Straße Am Erlkönig, und als sie das Leuchten der ersten Laternen sah, glaubte sie, es geschafft zu haben. Die Karl-Liebknecht-Straße. Der Beginn der Zivilisation. Endlich.

Mit bleiernen Waden nahm sie den letzten Anstieg und schoss geradewegs auf die Kreuzung zu. Plötzlich ein grelles Licht und das Hupen eines Autos, dann ein Schreck, der so erschütternd war, dass er selbst den Aufprall ihrer Wahrnehmung entriss.

Montag

1

Lennart Mikowski hockte am Bordstein und inspizierte die Fahrbahn. Zu seiner Rechten die Straße Am Erlkönig, zu seiner Linken die Karl-Liebknecht-Straße. Vor zwei Tagen war eine Frau auf dieser Kreuzung von einem Auto erfasst worden.

»Laut Protokoll traf der Rettungswagen um 22:40 Uhr ein.« Henry Kilmer ging neben seinem Kollegen in die Hocke und öffnete sein Notizbuch. »Das Opfer, Caroline Meyer, dreiundzwanzig Jahre alt, hat ein Schädel-Hirn-Trauma erlitten. Die Ärzte haben sie in Langzeitnarkose versetzt.«

»Du meinst, ins künstliche Koma?«, hakte Lennart nach.

»Ja. Um ihren Körper zu schonen.«

»Ich nehme an, eine Befragung ist ausgeschlossen.«

Henry nickte. Er blätterte zurück und ergänzte, der Fahrer des Unfallwagens habe den Notarzt alarmiert. Dessen Aussage zufolge sei Caroline Meyer ohne Licht gefahren, sie sei quasi aus dem Nichts aufgetaucht. Er deutete mit dem Notizbuch auf die Straße, die direkt zum Schloss Thalstein führte.

»Kein Fußweg«, bemerkte Lennart. »Und nirgends Licht.«

»Genau. Nur die Laternen an der Kreuzung.«

»Das heißt, der Fahrer hatte keine Chance zum Bremsen gehabt.«

»Vermutlich.« Henry zupfte einen Hefter aus seiner Umhängetasche, um Lennart die Fotos vom Unfallwagen zu zeigen. Ein Ford Escort, Baujahr 1986. Bis auf einen Schaden an der Frontschürze war das Auto intakt geblieben.

Henry hielt Lennart den Hefter hin, doch der winkte lässig ab. Er meinte, die Fotos könne er auch im Büro begutachten, streifte sich die Kapuze seines Pullovers über und rappelte sich hoch.

Mit dem Hoodie und den abgelatschten Turnschuhen glich Lennart einem Sozialarbeiter, jener vertraute Typus, der an einen älteren Bruder denken ließ. Auf der Vorderseite seines Pullis klebte ein Bügelbild von Dana Scully und Fox Mulder, darunter stand in ausgefransten Buchstaben Trust no one. Er verschränkte die Arme und fragte Henry, wann das Opfer zu Hause angerufen habe.

»Um 22:06 Uhr.«

»Also kurz vor dem Unfall.«

»Genau.« Henry klappte den Hefter zu und kam aus der Hocke. »Ohne den Anruf hätte man wohl kaum eine toxikologische Untersuchung veranlasst.«

»Glaubst du ernsthaft, bei uns Normalos würden die das machen?«

»Was machen?«

»Na, auf blinden Verdacht hin so ’n kostspieliges Verfahren einleiten?«

»Sie hat am Telefon gemeint, ihr sei furchtbar übel.«

»Das passiert nun mal, wenn man zu viel trinkt.«

»Und der Schwindel und die Atemnot?«

Lennart schüttelte argwöhnisch den Kopf, und Henry wurde das Gefühl nicht los, seinem Kollegen drückte irgendwo der Schuh. Er verstaute den Hefter in der Tasche und bedachte ihn mit einer fragenden Miene.

Nicht ohne ein Seufzen, als würde Henry ihm eine Antwort abnötigen, sagte Lennart: »Wäre sie nicht die Tochter unseres lieben Bürgermeisters, würden wir nicht hier sein.« Er schob beide Hände in die Bauchtasche. »Was denkst du denn, weshalb Linda ihren Urlaub abbricht?«

Henry versuchte, den Vorwurf der Naivität zu ignorieren, und zuckte unschlüssig mit den Schultern. Er blickte zunächst Richtung Innenstadt, dann die Straße Am Erlkönig hinunter. Auf der einen Seite führten die Schienen der Tram in eine moderne Großstadt, auf der anderen dehnte sich das wilde Auenland gen Norden. Obwohl er jetzt anderthalb Jahre hier wohnte, erstaunte es ihn noch immer, wie rasch man von einer Welt in die nächste wechseln konnte. Die Demarkationslinie glich einem dünnen Band, und Caroline Meyer war ausgerechnet beim Überqueren dieser Grenze verunfallt.

Er wollte den Gedanken festhalten und tastete in seinem Jackett nach dem Notizbuch, da stieß Lennart ihn gegen den Oberarm und meinte, dass sein Magen furchtbar knurre. Er schlug ein zweites Frühstück vor, und sie begaben sich zum Wagen.

Lennart parkte seinen Fiat Bravo in der Karl-Liebknecht-Straße vor einer Bäckerei. Er entschied sich für zwei Croissants und einen Kaffee. Mit Blick auf Henrys einsamen Becher Schwarztee schob er ihm eines der Croissants über den Tisch. Henry lehnte dankend ab.

Nach zwei Minuten entfernte er den Teebeutel aus der Tasse, legte ihn auf einen Löffel und presste ihn mithilfe des Schnürchens zusammen. Während sich so die letzten Tropfen lösten, dachte er an Caroline Meyer. Die junge Frau wurde gerade über eine Magensonde versorgt. Plastikschläuche transportierten flüssige Nahrung in den Körper, was wiederum Magen und Darm in Bewegung hielt. Er riss ein schmales Alupäckchen auf und träufelte Zitronensaft in den Becher. Binnen Sekunden erhielt der Tee die Färbung, die Henry so mochte: einen goldgelben Ton wie der von Bernstein.

»Du gehst doch regelmäßig joggen, oder?«, fragte Lennart.

»Woher weißt du das?«

»Hat mir Linda erzählt.«

Henry nippte an seinem Tee.

»Hast du nicht Bock auf ’nen Urbanian Run?«

»Was soll das sein?«

Lennart schnippte einen Krümel vom Tisch. »Das ist ein Stadtlauf mit Hindernissen. Du musst über Mauern klettern oder unter Lkws hindurch kriechen.«

»Puh, das klingt gefährlich.«

»Nee, ist ganz harmlos. Wirklich.«

»Ich weiß nicht.«

»Wie, du weißt nicht?«

»Ich laufe immer bloß vorwärts.«

»Ach, Kilmer. Der nächste findet sogar in Berlin statt.«

»Heimat«, murmelte Henry hinter seiner Tasse. »Das verheißt nichts Gutes.«

»Etwa kein Bock aufs hippe Berlin?«

»Ich habe da nicht umsonst meine Koffer gepackt.«

»Hast wohl deine Rechnungen nicht bezahlt?«

Henry rang sich ein Grinsen ab.

Er und Lennart arbeiteten das erste Mal allein zusammen. Im letzten Jahr waren sie beide Teil einer Mordkommission gewesen. Einem Mann war die Kehle durchtrennt worden, ein anderer nicht mehr aus dem Koma erwacht. Henry tat sich schwer mit Bindungen außerhalb der Arbeit, und wenn dieser Fall ihm nicht alles abverlangt hätte, wären sich er und seine reguläre Partnerin kaum so nahe. Er öffnete sein Notizbuch und schrieb demonstrativ auf die letzte Seite: Urbanian Run. Lennart Mikowski. Sein Kollege lächelte breit, während Henry erneut den Spruch auf dessen Pullover las. Traue niemanden.

2

Alina Wagner stellte sich ans Fenster, prüfte ihr Telefon auf Nachrichten – noch immer nichts von ihm, kein Wort, kein Zeichen, nichts – und schaute hinaus. Draußen schien alles beim Alten und das bedeutete: Langeweile extrem. Auf dem Rabenstieg glomm das orangefarbene Licht der Laternen, und die Nachbarn hatten entweder die Gardinen vorgezogen oder die Jalousien heruntergelassen. Die Siedlung am Hausberg wirkte so lebhaft wie ein penibel gepflegtes Grab.

Alina kroch selten vor Mitternacht unter die Bettdecke. Meist vertiefte sie sich stundenlang in einen Roman oder lernte Texte fürs Theater auswendig, ohne dass sie dessen überdrüssig wurde. Ihr war bewusst, dass nur wenige Teenager ihre Hobbys mit einer solchen Hingabe pflegten. Im Grunde empfand sie schon den Begriff Hobby als Herabwürdigung. Fußball war ein Hobby oder Computerspielen, vielleicht sogar, sich beim Tanzen zu filmen und die Videos auf TikTok hochzuladen. Alina trieb dagegen Leidenschaft um, echte, brennende Leidenschaft, wofür sie bereitwillig Blut und Wasser schwitzte.

Sie schaute erneut auf ihr Telefon – wieder keine Nachricht – und ließ gefrustet die Jalousie abwärts. Der Anblick ihres Betts hob ihre Laune nicht. Auf der Tagesdecke lagen der Deutschhefter, ihre Federtasche und ein Haufen Materialien zum Leben von Ludwig Tieck. Sämtliche Schüler der 9b sollten zur nächsten Deutschstunde einen Text über das Leben des Romantikers verfassen. Wann geboren, wann gestorben? In welchem Jahr er was veröffentlicht hatte. Eine bloße Aneinanderreihung von Zahlen, eigentlich nichts anderes, als würde sie die binomische Formel anwenden. Bisher hatte sie nicht einen Stichpunkt zu Papier gebracht; obendrein hatte sie ihrer Freundin versprochen, den fertigen Aufsatz zu fotografieren und ihr zuzusenden. Ich schaffe das, hatte sie Sarah auf dem Schulweg versichert. Hundertprozentig.

Alina rutschte aufs Bett, steckte sich das Haar mit einer Spange hoch und warf sich eine Strickjacke über. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als dass das Display jetzt aufleuchten und eine Nachricht von ihm anzeigen würde. Ein schlichtes Hallo, ein Wie geht’s dir? Oder eine Zeile aus seinem Stück. Aber das Display blieb schwarz und spiegelte allein einen Teil ihres Zimmers und ihrer Gestalt wider. Die Jacke war ihr mehrere Nummern zu groß, und wenn sie die Knöpfe schloss, sah sie darin aus wie eine Magersüchtige. Sarah hätte ihren Geschmack in Sachen Mode garantiert verspottet.

Sie raffte die Ärmel über ihre Hände und vergrub die Finger in den Stoff. Dann schob sie die unerledigten Hausaufgaben beiseite, bog die Beine in den Schneidersitz und betrachtete das Deckblatt des Theaterstücks. Morella, stand darauf. Stückfassung Ben Schilling. Zur Generalprobe am Mittwoch wollte sie den ganzen Text auswendig hersagen können, nicht nur ihren Text, sondern auch den der anderen.

»Morellas Gelehrsamkeit war unergründlich«, flüsterte Alina in die Stille des Zimmers hinein. »Ihre vielseitige Begabung war geradezu übernatürlich.«

Sieben Mädchen sollten Morella, die Heldin des Stücks, abwechselnd darstellen. Als Ben ihr den schwierigsten Part der Rolle gegeben hatte, hatte sie es zuerst nicht glauben wollen. Ausgerechnet sie. Ausgerechnet die Anfängerin. Daraufhin las Alina die Originalgeschichte von Edgar Allan Poe wieder und wieder, doch vieles erschloss sich ihr nicht. Sie fragte sich, inwieweit die Geschichte überhaupt Sinn machte. Oder was der Name Morella zu bedeuten hatte. Nach der letzten Probe, als ihre Mitspielerinnen bereits auf dem Heimweg gewesen waren, hatte Ben es ihr mit großer Geduld erklärt. Morella war eine Frau, die im Körper ihrer eigenen Tochter wiedergeboren wurde, ein bezauberndes Geistwesen und gleichsam ein Beweis dafür, dass die wahre Liebe selbst den Tod überdauert. Alinas Blick strebte von dem Text zum Telefon. Keine neue Nachricht, alles schwarz.

Sie raffte die Strickjacke übers Kinn und schubberte die Unterlippe am Kragen, ehe sie sich ein Glas Wasser holen ging.

Auf dem Weg in die Küche schmulte sie ins Wohnzimmer. Wie sie nicht anders erwartet hatte, war ihre Mutter auf der Couch eingeschlafen. In ihrem Gesicht das Fernsehgeflimmer, auf dem Sofakissen ein Speichelfleck und unterm Tisch eine Flasche Schnaps. Morgen früh würde Alina nichts von alldem vorfinden. So zeitig ihre Mutter zwischen den Polstern versank, so früh war sie wieder auf den Beinen. Der Schnaps würde im Schrank versteckt sein, ihr Atem nach Eukalyptus riechen und das Frühstück auf dem Küchentisch stehen. Alina schlich zurück ins Zimmer, und als sie das Leuchten ihres Handys bemerkte, hätte sie beinahe das Glas Wasser fallen gelassen.

Sie stürmte zum Bett und schnappte sich das Telefon. Sarah hatte ein neues Video auf TikTok hochgeladen. Verdammt! Mit einem Gefühl zwischen Frust und Enttäuschung schaute sich Alina ihre weinende Freundin an. Das Video hatte sie mit einem Song von Helene Fischer garniert – Tränen plus schlechte Musik, das war Sarahs Lockstoff für Heerscharen gelangweilter User. Ihre melodramatische Darbietung war noch nicht zu Ende, da erreichte Alina eine Nachricht.

Hast du die HA fertig?

Alina verspürte nicht die geringste Lust, auf Sarahs Frage zu antworten. Sie schob das Telefon unters Kissen und hörte das Piepen, das eine neue Nachricht signalisierte. Einmal, zweimal, unentwegt Sarah, die wissen wollte, wie es um die Hausaufgaben stand. Alina ließ sich zurückfallen und legte sich den Handrücken auf die Stirn.

»Morella«, zitierte sie aus dem Gedächtnis, »wo bist du? – Hier bin ich. – Oh, mein Kind, mein Liebling. – Höre! Ich werde sterben.«

3

Als am Abend das Telefon klingelte, lag Henry ausgestreckt auf der Couch im Büro. Unter seinem Nacken ein Kissen, in den Händen ein Buch. Geliebte im Blutrausch – ein Tatsachenbericht über die zweifache Mörderin Mary Pearcey. Die Frau, die man 1890 durch den Strang hingerichtet hatte, war zeitweise verdächtigt worden, die berühmten Whitechapel-Morde verübt zu haben. Jill the Ripper, in Anlehnung an die männliche Variante namens Jack. Henry legte das Buch beiseite und schaute auf sein Handy.

Es war Linda Liedke, seine Kollegin und Partnerin. Er fand es seltsam, dass sie so spät noch anrief. Eigentlich hatte sie frei, und einer ihrer Grundsätze lautete: Dienst ist Dienst und Freizeit eben Freizeit. Henry stemmte sich in die Senkrechte und nahm ab.

»Wenzel hat sich bei mir gemeldet«, sagte sie. »Heute morgen!«

Lindas grimmiger Tonfall verriet ihm sogleich ihre Begeisterung. Henry waren die Bande zwischen Linda und seinem Chef ein Rätsel. Er vermutete, dass sie bereits einiges durchgemacht hatten. Feierlich wurde gern behauptet, die Polizeiarbeit würde die Kolleginnen und Kollegen zusammenschweißen. Aber Henry wusste längst, dass es mitnichten an den positiven Erlebnissen lag; ursächlich war vielmehr das Grauen, das einem begegnete. Die in Mülltüten versteckten Babyleichen. Die erfrorenen Obdachlosen. Die ungezählten Suizidanten. Der verstörende Rassismus unter den Kollegen. Ohne Linda an seiner Seite hätte Henry nach den Ereignissen des letzten Jahres womöglich den Dienst quittiert.

»Und wie waren deine Ferien?«, erkundigte er sich.

»Zu kurz, viel zu kurz.«

»Das tut mir leid.«

»Ach, du kannst nichts dafür.«

»Und was sagt deine Familie?«

»Stefan und Leonie sind an der Ostsee geblieben.«

»Allein?«

»Die kommen wunderbar ohne mich zurecht.«

Mit dem Telefon in der Hand erhob sich Henry und schlurfte zu seinem Arbeitsplatz. Er schaute über seinen und Lindas Schreibtisch hinweg und betrachtete die Fotos an ihrer Wand. Schnappschüsse von ihren Urlaubsreisen. Stefan, ihr Mann, Leonie, ihre Tochter, und Linda mittenmang. Unter den Füßen weißer Sand, im Rücken tosende Wellen. Familie Liedke in einem Zustand der Glückseligkeit, die er eventuell nie erfahren würde. Er wandte sich ab und rutschte mit dem Hintern auf seinen Tisch.

Linda, die offenbar wenig Vergnügen daran hatte, in Urlaubserinnerungen zu schwelgen, wechselte abrupt das Thema. Sie wollte über den aktuellen Fall aufgeklärt werden. Henry berührte die Tastatur seines Laptops und berichtete ihr, dass die Ärzte in Caroline Meyers Urin Spuren von Gamma-Butyrolacton entdeckt hatten.

»Sind das diese K.-o.-Tropfen?«

»Ja, eine Variante. GBL wird erst im Körper zu GHB umgewandelt.«

»Ich verstehe nur Bahnhof.«

»GHB oder Liquid Ecstasy ist verboten, GBL findest du dagegen in Reinigungsmitteln.«

»Okay, und was hatte Caroline Meyer nun intus?«

»Die selbst gepanschte Variante.«

»Und sie kam mit dem Fahrrad von Schloss Thalstein?«

»Genau. Dort wurde das Probenende für das neue Stück gefeiert.«

»Gehört die Frau zum Ensemble?«

»Sie arbeitet dort als Regieassistentin. Zurzeit studiert sie in Leipzig.«

Henry hörte durchs Telefon, wie Linda eine Flasche Wein entkorkte.

»Waren denn viele auf der Feier?«

»Neben den Angestellten etwa fünfzig Besucher.«

»Ich kotz ab. Das klingt nach Klinkenputzen.«

»Einige der Schauspieler sind minderjährig, waren also mit ihren Eltern da.«

»Gut, das reduziert wenigstens unsere Hausbesuche.«

Henry öffnete per Mausklick ein Dokument und sandte einen Befehl an den Drucker. Er aktivierte die Freisprechfunktion am Telefon, und während er die Wand hinter seinem Schreibtisch beäugte, lauschte er Lindas Vorfreude aufs Klinkenputzen. Wie das Kratzen einer oft gehörten Schallplatte drang ihre Stimme in sein Ohr. Der Klang beruhigte ihn. Er zupfte das Fotopapier aus dem Drucker und zwei Pinnnadeln aus einem Schälchen.

»Und was treibst du gerade?«, fragte sie unvermittelt.

»Bloß das Übliche.«

»Also zu Hause vor der Glotze abhängen?«

Er lachte. »Ja, so ungefähr.«

»Dir würde ich zutrauen, dass du noch im Büro bist.«

»Dienst ist Dienst und Freizeit eben Freizeit.«

»Oh, seit wann zitierst du mich?«

Er sparte sich eine Antwort und pinnte den Ausdruck an die Wand. Es war der Abend des 9. November, und Henry Kilmer starrte auf das Foto einer Beinahetoten.

Dienstag

1

Linda Liedke steuerte ihren VW Passat über die Erlanger Allee. Aus den Boxen raunte Chris Rea seinen Song King of the Beach, während Henrys Aufmerksamkeit der Akte Caroline Meyer galt. Sie wusste, dass er kein offizielles Dokument auf dem Schoß hielt, sondern eine Kopie, die im Lauf der Ermittlungen zu einem dicken Ordner anwachsen würde. In jedem Polizisten mit gesunder Verantwortung musste eine solche Akte Skepsis hervorrufen. Tatortfotos, Ermittlungsstände, vertrauliche Zeugenaussagen – das alles hatte im Privatleben eines Kriminalisten nichts verloren. Henry übertriebenen Ehrgeiz vorzuwerfen, hatte Linda längst aufgegeben. Sie hoffte einfach, er würde seine Sammlung wenigstens als etwas Verbotenes betrachten, als etwas, das nicht für die Augen Dritter bestimmt war.

Unter Chris Reas rauchiger Stimme schweiften Lindas Gedanken ab. Rechter Hand erstreckte sich das Plattenbaugebiet zwischen der A4 und den Kernbergen. Hohe Birken flankierten die Häuser, deren pastellfarbene Fassaden das einstige Einheitsgrau vergessen machen sollte. In den Höfen befanden sich mickrige Grünflächen, darauf Bänke und Spielplätze; die Gebäude ringsum hielten jedes Sonnenlicht fern. Für Linda waren das scharfkantige Schattenreiche. Vor vier Jahren hatte sie dort in einem Mordfall ermittelt. Eine schwangere Frau war von ihrem Freund erstochen worden. Der Täter ein Angestellter vom Ordnungsamt, Auslöser der Tat eine Packung sauer gewordene Milch. Bei dem Gedanken daran verspürte Linda den gleichen Frust, den Wenzels Anruf gestern bei ihr ausgelöst hatte. Sie fühlte sich nicht bereit für einen neuen Fall und stünde jetzt viel lieber in gelben Gummistiefeln auf einer Ostseedüne.

»Drei Leute für so ’ne läppische Geschichte«, stieß sie hervor. »Die Meyer kann sich das Zeug auch selbst verabreicht haben.«

»Weshalb sollte sie das tun?«

»Was weiß ich?« Sie hob die Schultern. »Vielleicht für ’nen mordsmäßigen Kick.«

»Einen, der sie ins Koma befördern sollte?«

»Du, ich hab mich belesen. Richtig dosiert verursacht das Zeug ganz andere Dinge.«

Henry nickte ihre Vermutung lediglich ab. Er widmete sich wieder seiner Akte, und Lindas Passat rollte von der Straße Am Anger auf den Parkplatz der Polizeiinspektion. Sobald sie den Wagen eingereiht hatte, öffnete sie die Tür einen Spalt und steckte sich eine Zigarette an.

»Eigentlich gut, dass Wenzel uns Lennart aufgedrückt hat.« Sie inhalierte tief und schaute zum Fenster hinaus. »Zu dritt kriegen wir das bestimmt gebacken.«

Es war kurz vor sieben, und auf dem Parkplatz erwachte eine alltägliche Geräuschkulisse. Autotüren wurden geschlossen, Begrüßungen einander zugeworfen. Polizisten, die nicht anders gähnten als Diebe und Kinderschänder, schlurften ins Hauptgebäude.

Linda musterte ihren Partner von der Seite. Henrys Gesicht hing über seiner Akte und war so ausdruckslos wie sein lehrerhaftes Jackett und seine schwarze Jeans.

Sie schnipste ihn gegen den Ellenbogen und blinzelte ihm zu. »Ich freu mich, mit dir unterwegs zu sein. So hat die ganze Sache auch was Gutes.«

Unter seinen buschigen Brauen zeigte sich ein Lächeln. Ein Henry-Kilmer-Lächeln, verkniffen und ein wenig knabenhaft. Sie lehnte sich zurück und versuchte, die Akte auf seinem Schoß zu ignorieren.

2

Bettina Wagner klopfte sachte an die Zimmertür ihrer Tochter. Sobald ein gequältes »Ja« nach draußen drang, ließ sie ab und kehrte in die Küche zurück.

Über die Anrichte gebeugt, schmierte sie Alina die Schulbrote. Seit ihre Tochter auf Wurst und Fleisch verzichtete, machte sie ihr zwei Brote mit Käse und Salat und einer extradünnen Schicht Butter. Natürlich wusste sie, dass sie einem vierzehnjährigen Mädchen nicht mehr den Pausenlunch hätte zubereiten müssen. Bettina hatte einfach Sorge, Alina würde ohne diesen mütterlichen Dienst nicht nur aufs Fleisch verzichten, sondern dem Essen ganz und gar entsagen. Sie verstaute die Brote in eine Tupperware und die Tupperware wiederum in einen Beutel, dazu noch einen Apfel und zwei Euro für den Getränkeautomaten. In der neunten Klasse schlenderte man nicht mehr mit einem Trinkpäckchen über den Schulhof; das hatte Alina ihr nicht zu erklären brauchen.

Bettina räumte das Messer ins Spülbecken und lehnte sich gegen die Anrichte. Mit der Rechten umklammerte sie die Arbeitsplatte, mit der Linken strich sie sich ein paar lose Strähnen hinters Ohr. Erst vor zwei Wochen hatte sie sich das Haar über der Badewanne gefärbt. Gut gewollt, aber schlecht gekonnt – wie sie sich selbst eingestand. Sie schämte sich ihrer kraftlosen Haare und wusste gleichzeitig, dass diese Empfindung töricht war. Um ihrem Haar zu Schwung und Vitalität zu verhelfen, schluckte sie regelmäßig diverse Kapseln. Vitamin ACE. Biotin. Auch Eisenpräparate gehörten zur täglichen Ration. Bisher hatte nichts geholfen.

Sie spreizte Daumen und Zeigefinger und rieb sich über die Wangenknochen. Immerhin konnte sie jetzt im November eine Mütze tragen, ohne dass es die Nachbarn verwunderte. Ihr halbes Leben hatte Bettina als Lehrerin für Sport und Geografie gearbeitet, auf einem Gymnasium mit überfüllten Klassen und einem Haufen unbezahlter Überstunden. Sie kannte die Anspannung, wenn auf einem die Blicke anderer lasteten, wenn das Getuschel nicht enden wollte. Bevor sie die Gedanken an diese grauenhafte Vergangenheit einlullten, ermahnte sie sich und stellte das Geschirr auf den Tisch. Zwei Teller, zwei Tassen, zwei Messer.

Morgenroutine.

Aus dem Flur wurden die Schritte nackter Füße auf Linoleum hörbar. »Flatsch, flatsch, flatsch.« Dann knackte das Schloss in der Tür zum Badezimmer. Das Rauschen des Wassers verriet Bettina, dass ihre Tochter unter der Dusche war und die nächsten Minuten im Bad verbleiben würde.

Rasch huschte sie durch den Flur in Alinas Zimmer. Die Einrichtung hatte sie vor drei Jahren gekauft, als ihre Tochter von der Grundschule aufs Gymnasium gewechselt war. Das Schlafsofa war mittlerweile durchgesessen, die Polster an den Ecken weich und formlos. Sie schlug das Bettzeug auf und warf eine Tagesdecke darüber. Neben dem Sofa entdeckte sie eine Strickjacke, die ihr völlig fremd war. Sie hielt die Jacke gegen das Licht und fragte sich, woher der Fetzen stammen mochte. Das graue Ding war Alina viel zu groß, obendrein entsprach es überhaupt nicht ihrem Geschmack. Das Bild Wollmützen tragender Mädchen blitzte in ihr auf. Heutzutage trugen Teenager Mützen und Schals, die den Anschein erweckten, sie wären von Oma persönlich gestrickt worden. Wofür man sich in Bettinas Jugend noch geschämt hatte, war nun im Trend.

Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass die Dusche noch lief, inspizierte sie den Schreibtisch. Überall fanden sich Hinweise auf Alinas neue Leidenschaft: das Theater, die Bühne. Kopien alter und neuer Stücke lagen auf ihren Schulsachen. Mit einem Stift markierte Textstellen konkurrierten mit zugeschlagenen Bio- und Physikbüchern. Dazwischen lauter Bilder und Fotos, die ihrer Tochter zufolge der Rollenfindung dienten. Eines zeigte eine sterbende Frau, über die sich ein bärtiger Mann neigte, ein anderes ein Grabgesteck, dessen Blüten aus bleichen Gesichtern geformt waren. Auf einem Foto erkannte sie Daphne, eine Figur aus der Serie Bridgerton, in deren Rehaugen eine schmerzhafte Sehnsucht lag. Früher war Alinas Leidenschaft fürs Theater noch ein Gesprächsthema zwischen ihnen gewesen. So hatte ihre Tochter ausschweifend von einer Schulaufführung geschwärmt, in der sie die Rolle einer Bäuerin spielen durfte. Bettina erinnerte sich sogar an den Titel des Stücks: Die schwarze Spinne. Leider hatte sie es aus Zeitgründen zu keiner einzigen Aufführung geschafft.

Mit routiniertem Blick stöberte sie auf dem Schreibtisch nach Alinas Handy, wurde jedoch nicht fündig; dann inspizierte sie das Bett, was ebenso erfolglos war. In ihr wuchs der Verdacht, ihre Tochter wollte das Telefon vor ihr verstecken. Vielleicht hatte sie es auch ohne jeden Hintergedanken mit ins Badezimmer genommen. Ein Vielleicht war eines der Argumente, die Mütter gern als letzte Ausflucht bemühten. Damit hatte Bettina während ihrer aktiven Dienstzeit genügend Erfahrung gemacht. Vielleicht hat mein Sohn seinen Turnbeutel in der Hektik vergessen. Ausgerechnet der Dicke, der sich vor den anderen Jungen genierte. Vielleicht hat meine Tochter das Schwimmzeug im Bus liegen gelassen. Ausgerechnet das Mädchen, das sich ihrer Neurodermitis schämte. Vielleicht hatte Alina auch bloß im Bad ihre Lieblingsmusik hören wollen. Ja, redete sich Bettina zu, das klang absolut glaubwürdig.

Als das Plätschern der Dusche verstummte, unterbrach sie ihre Suche und huschte zurück in die Küche. Dort mimte sie die Beschäftigte, indem sie das Spülbecken abwischte. Nachdem sich die Badezimmertür geöffnet hatte, schallte Alinas Stimme durch den Flur.

»Mutti!«

»Ja, mein Schatz?«

»Bist du in meinem Zimmer gewesen?«

»Ja. Aber nur kurz.«

Kein Protest vonseiten der Tochter. Allein Alinas Frage hatte genügt, um Bettina ihren Grenzübertritt zu verdeutlichen, ihre Neugier, ihr heuchlerisches Verhalten. Bist du in meinem Zimmer gewesen? Meins und deins – klarer ließ sich eine Grenze zwischen zwei Menschen wohl nicht ausdrücken. Womöglich gehört dieses Spiel zum Erwachsenwerden dazu, dachte Bettina. Mütter, die in den Zimmern ihrer Kinder stöbern, und Kinder, die deren Schnüffelei mit rollenden Augen erdulden. Bisher war ihr nie ein Kind begegnet, das einen Schlüssel für das eigene Zimmer besaß. Wer wusste schon, wie viele Kinder später ausgezogen wären, wenn Eltern stets ihre Privatsphäre akzeptiert hätten? Zugängliche Zimmer garantierten die Abnabelung. Doch Bettina wollte nicht, dass Alina den Rabenstieg verließ, jedenfalls nicht in naher Zukunft. Also musste sie ihrer Tochter ein Türschloss besorgen.

Sie speicherte den Gedanken ab und warf zwei Scheiben Brot in den Toaster. Dann setzte sie sich. Vor ihr ein Teller, auf dem Platz ihrer Tochter ebenso. Neben dem Glas Marmelade lag der Beutel mit dem Lunchpaket. Während sie auf Alina wartete, dampfte in ihrer Tasse der Kaffee.

Ihre Tochter betrat auf Socken die Küche, kein Guten Morgen, kein Blickkontakt. Stattdessen stellte sie stillschweigend ihren Rucksack ab, stopfte den Beutel hinein und verließ den Raum wieder. Bettina war kurz davor, ihr hinterherzurufen. Ob sie denn keinen Hunger habe? Wann sie zu Hause sei? Was sie zum Abendbrot essen wolle? Genau wie früher – in einem Tonfall zwischen Appell und freudiger Erwartung.

Aus dem Flur drang das Ratschen, das die Reißverschlüsse ihrer neuen Stiefel verursachten. Alina rief »Bis nachher«, und Bettina versuchte zu lächeln. Ein Abschied in Worten, wenigstens etwas.

3

Frank Wenzel, der Leiter der Kripo Jena, verwehrte seinen Teams das gewohnt schiefe Grinsen. Er strich seine Krawatte glatt und neigte sich über den Tisch. »Wir haben November, bekanntlich ein Monat der Depressionen und anderer Wehwehchen.«

Daraufhin eine Pause, in der Wenzel seine Mitarbeiter der Reihe nach fixierte. Ein kurzer Moment Auge in Auge mit dem Haifisch. Seine Geste wurde von den Beamten auf unterschiedlichste Weise quittiert: Nico Kretschmar, der Wenzel am nächsten saß, schien das Opfer einer Genickstarre; ohne Unterlass stierte er auf seine Kaffeetasse. Drei Kollegen taten beschäftigt, indem sie eifrig ihre Materialien sortierten oder an ihrer Nagelhaut pulten. Linda erkannte das erlernte Duckmäusertum aus Schulzeiten. Den ganzen Vormittag lang hätte sie dem Schauspiel zusehen können. Eva Matschik, eine der härtesten Polizistinnen auf Jenas Straßen, betrachtete einen Einkaufszettel, als verlange das ihre ganze Konzentration. Lennart Mikowski formte mit gespitzten Lippen ein lautloses Pfeifen. Auch das ein Relikt aus Schulzeiten, diesmal das Gehabe der Aufmüpfigen.

Henry, der neben Linda saß, blickte zum Fenster, als würde er ungeniert vor sich hinträumen. Wer ihn kannte, wusste jedoch, dass sich darin kein mangelnder Respekt offenbarte und schon gar kein Defizit in Sachen Aufmerksamkeit. Beidhändig hielt er eine Tasse Schwarztee umschlossen, indes der Dampf sich unter seiner Nase kräuselte und seine Ohren auf Empfang gestellt waren.

Bevor Wenzels Schweigen die Geduld der Belegschaft überreizt hätte, ergriff Sabrina Erdmann das Wort. Mit Ausnahme von Linda ließ die Runde ein kollektives Aufatmen verlauten. Sabrinas Team bearbeitete gerade den Angriff auf einen Busfahrer. Das Opfer war mit einer Flasche niedergestreckt und anschließend von mehreren Männern verprügelt worden. Das lädierte Gesicht des Busfahrers zierte das Titelblatt jeder thüringischen Tageszeitung. Natürlich wurde das Bild dafür genutzt, elementare Fragen bei den Lesern hervorzurufen: Wie sicher ist Busfahren heute? Brauchen wir mehr Überwachung? Haben die Täter vor dem Angriff ein Ticket gelöst? Die mediale Resonanz war eines der Kriterien, nach denen Wenzel die Wichtigkeit eines Falls einzustufen pflegte.

Team 3 unter Leitung von Nico Kretschmar widmete sich einer Einbruchserie. Der Umfang des Aktenmaterials war mittlerweile legendär. Die Täter bedienten sich der immer gleichen Methode. Stets waren Wohnungen am Stadtrand ausgesucht worden, stets verschafften sich die Einbrecher Zugang über die Terrasse. Trotz der miesen Aufklärungsquote zeigte Wenzel kein Interesse an dem Fall.

Erst als Linda von Caroline Meyer zu sprechen begann, regte sich sein Gesicht. Inmitten ihrer Ausführungen verkündete er lautstark, was für ihn das Gebot der Stunde war. Er werde keine Krankschreibungen dulden, solange die Sache nicht vom Tisch sei. Mit keinem Wort erwähnte er, dass das Opfer die Tochter des Bürgermeisters war oder dass er gern mit dem Herrn Papa im Ratskeller dinierte. Ebenso wenig erinnerte er daran, welchen geringen Stellenwert der Missbrauch von K.-o.-Tropfen angesichts der jüngsten Crystal-Meth-Toten besaß. Stattdessen bekräftigte er nur den Verbleib von Lennart Mikowski im Team 2.

»Wieso braucht das Team für eine einfache Befragung einen dritten Mitarbeiter?«, wollte Eva Matschik wissen.

Die Frage war noch nicht verhallt, da sah Linda bereits die Vorderzähne des großen Hais aufblitzen.

»K.-o.-Tropfen«, sagte Wenzel mit aller Schärfe, »die Vergewaltigungsdroge! Können Sie sich vorstellen, was passiert, wenn das die Presse aufschnappt?«

»Bisher ist nicht geklärt, ob überhaupt ein Verbrechen vorliegt.« Eva bewies Standfestigkeit und blieb ruhig. »Eventuell haben wir es hier mit einem Fall von Eigenverschulden zu tun.«

»Na klar«, bellte der Kripoleiter. »Und der Papst trägt Strapse.«

»Liquid Ecstasy ist eine Droge wie jede andere. Richtig dosiert verursacht es wunderbare Rauschzustände.«

Gespannte Stille von Wenzels Schreibtisch bis hin zu den Essensresten im Mülleimer. Er konnte dem nichts entgegensetzen. Hauptkommissarin Matschik hatte mehrere Jahre im Leipziger Drogenmilieu ermittelt, nur wenige waren mit dieser Thematik besser vertraut.

Wenzel nahm einen Schluck Kaffee und lehnte sich zurück. Linda glaubte, ihn grinsen zu sehen. Schließlich sagte er zu ihr, Henry und Lennart: »Wenn ihr Fragen habt, wendet euch an Frau Matschik. Sie weiß ja anscheinend bestens Bescheid.« Er strich sich die Krawatte glatt und erhob sich. »Und übrigens, der Kaffee ist eine Beleidung für jeden hart arbeitenden Polizisten.« Dann im Abgang tatsächlich ein kurzes, selbstgefälliges Grinsen.

4

Alina fiel keine Antwort ein, die ihre Freundin hätte zufriedenstellen können; selbst der Ratschlag, sie solle das nächste Mal ihre Hausaufgaben allein machen, erschien ihr unpassend. Letztlich war sie von Sarah gefragt worden, ob sie die Aufgabe erledigen würde, und Alina hatte brav eingewilligt. Niemand hatte sie dazu zwingen müssen.

»Sorry«, sagte Alina kleinlaut. »Irgendwie habe ich das verpeilt.«

»Das habe ich gemerkt«, entgegnete ihre Freundin und rief ihr den gestrigen Abend ins Gedächtnis zurück.

Zweimal hatte Sarah sie über WhatsApp an ihre Abmachung erinnert, doch Alina hatte nicht reagiert. Nicht weil sie es verpeilt hätte oder ernsthaft verhindert gewesen wäre, sondern schlichtweg aus Trotz. 

»Tut mir leid, ich habe deine Nachrichten erst heute Morgen gesehen.«

»Komisch«, erwiderte Sarah. »Mir wurde angezeigt, du hättest sie gelesen.«

»Ja, echt komisch.«

Sie liefen die Karl-Liebknecht-Straße hinunter, und der strahlend blaue Himmel täuschte eine andere Jahreszeit vor. Es war weder ein herrlicher Sommertag, noch würde es einer werden, zumindest nicht für das nächste halbe Jahr. Alina zerrte sich die Wollmütze über die Ohren und hoffte, Sarah würde das Thema nicht auswalzen.

Seit einem halben Jahr trug ihre Freundin einen Pagenschnitt. Auf ihrem Wunsch hin war der Pony schräg geschnitten worden, sodass die rechte Seite die Augenbraue berührte, während die linke knapp unterm Haaransatz endete. Mit dieser Frisur fanden die Jungen sie nicht mehr bloß süß; jetzt versprach Sarahs Look auch etwas Wildes. Ein hübscher Backfisch, wie es manchmal in alten Texten hieß.

»Ist ja auch egal«, sagte Sarah mit einem Lachen.

»Ich weiß nicht«, gab Alina zu bedenken. »Frau Halberstedt kann ziemlich streng sein.«

»Sie wird mir schon keinen Eintrag geben. Sind doch nur Hausaufgaben.«

»Bist du dir sicher?«

»Risiko. So spielt das Leben.«

Einige Jungen trotteten vorbei, grüßten mit falscher Lässigkeit, und die Mädchen hoben ebenfalls die Hände. Ohne ein Kichern, ohne ein Lächeln, fast schon gelangweilt. Alinas Hand war unwillkürlich Sarahs gefolgt; aus eigener Motivation hätte sie den Gruß wohl niemals erwidert. Sobald die Jungen durch die Tür waren, drängten sie sich auch ins Schulgebäude.

Im Klassenraum herrschte die vertraute Lethargie am Morgen. Deutsch bei Frau Halberstedt. Alina setzte sich in die Fensterreihe, Sarah in die Wandreihe. Sie sah ihre beste Freundin mit der Banknachbarin tuscheln, ein Anblick, der in Alina einen Stich von Eifersucht verursachte. Vor den beiden lag jeweils ein rosa Hefter, daneben jeweils eine rosa Federtasche. Alina hasste die Farbe Rosa – oder Pink, wie ihre Mitschülerinnen fälschlicherweise jeden rosa Ton nannten.

Während Frau Halberstedt die Tafel abwischte, flüsterten die Mädchen unbekümmert weiter. Sarah schob sich die Hand in den Nacken und rollte mit den Augen. Ganz wie eine Prinzessin, der man den neuesten Tratsch anvertraute. Dieses Gestenspiel machte sie meist, wenn sie sich beobachtet fühlte, und hier zwischen all den Jungs fühlte sie sich andauernd im Fokus ihrer Verehrer. Der Klassenraum bot Sarah eine Bühne, und Alina war dankbar dafür, dass sie kein Interesse an einer anderen Bühne zeigte. Das Theater im Schloss Thalstein war zu klein für einen Pagenkopf.

Noch ehe Frau Halberstedt das Wort an die Klasse richtete, fasste Alina einen Entschluss. Sie öffnete ihren Hefter, nahm den Aufsatz über Ludwig Tieck heraus und faltete ihn zusammen. Auf den Brief schrieb sie die Initialen ihrer besten und einzigen Freundin, dann ließ sie den Brief in die Wandreihe reichen. Sowie Sarah ihn empfangen hatte, schaute sie zum Fenster hinaus. Eine Schar Krähen flog an der Schule vorbei in Richtung Ostfriedhof. Alina mochte Krähen. Und Raben. Und auch Tauben. Sie mochte generell Vögel, denen andere gern den Tod wünschten.

Wenig später wurde Alina für ihre Geduld belohnt. Ricardo, der hinter ihr saß, streckte ihr einen Zettel zu. Du bist die Beste, war darauf geschrieben. Sie blickte in die Wandreihe und sah voller Genugtuung, wie Sarah ihr zulächelte. Es war das Lächeln der Schönen. Erhaben und arrogant zugleich. Alina griente zurück und hoffte, Frau Halberstedt würde sie nicht wegen der Hausaufgaben aufrufen.

5

Uniklinikum Jena. Linda schob beide Hände in ihre Lederjacke und spähte durch die verglaste Tür ins Krankenzimmer. Zunächst rührte sie Caroline Meyers bloßer Anblick kaum. Die Bettdecke war ihr bis unter das Kinn gezogen worden, die Haare verteilten sich auf dem Kopfkissen wie von der Sonne ausgedörrte Algen. Linda hätte nicht sagen können, mit welchem Schwung Caroline normalerweise durch die Welt ging; sie kannte weder ihre Stimme noch ihre Gangart, weder ihre Gesten noch ihr Mienenspiel. Es war, als hätte die Frau nie woanders gelegen, nur in dem pastellfarbenen Zimmer, stets in der Schwebe zwischen Leben und Tod.

Linda erfasste die vielen Geräte, die neben dem Bett standen. Weiße und graue Kabel führten von einer Buchse in eine andere, auf einem Monitor blinkten elektronische Signale. Kurven, Zahlen, obskure Werte. Nichts von alldem wusste Linda zu deuten. Ihre Augen folgten den Plastikschläuchen, die sich Caroline über Mund und Nase in den Schädel bohrten. Diese durchsichtigen Würmer penetrierten die Patientin, ob sie wollte oder nicht, und das ließ Linda letztlich doch erschaudern.

»Ich hasse Krankenhäuser.«

»Wundert mich, dass du überhaupt mitgekommen bist«, sagte Henry.

»Ja, ich bin selbst verblüfft.«