Nacht im Kopf - Christoph Heiden - E-Book

Nacht im Kopf E-Book

Christoph Heiden

3,0

  • Herausgeber: GMEINER
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2021
Beschreibung

Ein abgehängtes Dorf irgendwo im brandenburgischen Nirgendwo. Ausgerechnet hier soll Europas größtes Werk für Elektroautos entstehen. Das Versprechen einer besseren Zukunft - bis Pflanzenfreund August Brehm eine seltene Blume entdeckt, die den Bau zu verhindern droht. Das interessiert den Ex-Bullen Willy und seine besorgte Begleitung Anna wenig. Willy will den Hobbybotaniker wegen einer Affäre mit seiner verstorbenen Frau zur Rede stellen. Doch von Brehm fehlt jede Spur und schnell wird klar: Im Dorf hat die Barbarei Einzug gehalten.

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Seitenzahl: 330

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Christoph Heiden

Nacht im Kopf

Kriminalroman

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Daniel Abt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © runamock / photocase.de

ISBN 978-3-8392-6962-6

 

Personenverzeichnis

Anna Majakowski: Sozialarbeiterin, Waise

Willy Urban: ehemaliger Polizist, Witwer

*

Mike: Reinigungskraft, Annas Freund

*

Frank Lewin: Wirt und Ehemann

Erika Lewin: Wirtin und Ehefrau

*

Tom Kowalski: Altenpfleger, Patricks großer Bruder

Patrick Kowalski: ungelernt, Toms kleiner Bruder

Mutter Kowalski: verstorben

*

Yvonne Schauder: arbeitslos, Mutter und Ehefrau

Christian Schauder: arbeitslos, Vater und Ehemann

Jimmy Schauder: Schüler, Yvonnes und Christians Sohn

*

Claudia Pfabe: Sachberarbeiterin, Mutter

Liane Pfabe: Schülerin, Claudias Tochter

*

Jannes Krüger: Angestellter bei einer Krankenkasse, Gatte

Lotte Krüger: Hausfrau, Gattin

*

Pawel Mitschek: Keramiker, arbeitslos

Bibi: Pawels Katze

August Brehm: Lehrer, Pflanzenfreund

*

Wolfgang Bielecke: Alkoholiker, arbeitslos

René Berkholz: Kuxwinkler

Bruno Vogler: Kuxwinkler

*

Lennart Majakowski: Annas Bruder, verstorben

Eva Urban: Willys Frau, verstorben

*

Mutter Bielecke: Mysterium

ein Nachtwächter: Spukgestalt

Alan Albert Bloch: britischer Drehbuchautor

19. Oktober 2019 15.10 Uhr

Der erste Stein streifte ihr Bein, ganz leicht, sodass sie nicht an Absicht glauben wollte. Sie schaute den Schacht hinauf, aber dort war niemand. Lediglich das Tageslicht hing in der Brunnenöffnung wie der Vollmond an einem schwarzen Himmel. Dann flog ein zweiter Stein hinunter und traf sie direkt im Gesicht. Ihr Kopf knallte gegen die gemauerte Wand und sofort durchfuhr der Schmerz ihren ganzen Körper.

Anna wollte um Hilfe schreien, doch gelang ihr allenfalls ein trockenes Röcheln. Der Schlag, den sie vor dem Sturz in den Brunnen eingesteckt hatte, war genau auf ihrem Kehlkopf gelandet; jetzt fühlte sich ihr Hals an, als versuche sie, eine Billardkugel runterzuwürgen.

Mit beiden Armen schützte sie ihr Gesicht und wagte wieder den Blick nach oben. Nirgends eine Gestalt, weder Mensch noch Tier, nur das kreisrunde Licht. Anna senkte die Arme und seufzte erleichtert, da rieselte eine Ladung spitzer Kieselsteine auf sie herab.

HERZLICHEN GLÜCKWUNSCH

27. September Dancing Queen

Frank trat durch die Hintertür in die Kneipe, schob den Bierkasten unter die Bar und befüllte den Kühlschrank mit Flaschen. Über dem Tresen lief das Radio. 16 Uhr. Die Nachrichten des Berliner Rundfunks. Während ihm das Grauen aus aller Welt serviert wurde, fragte er sich, ob er auf diesem Planeten noch richtig war. Bürgerkrieg in Syrien, Bürgerkrieg in Jemen. Terroranschläge, korrupte Präsidenten, Brexit ohne Ende. Massenproteste in Hongkong; ungehemmte Waldbrände in Brasilien. Als der Lokalteil folgte, wurde es kaum besser. Frank war dankbar, dass Kuxwinkel für ihn bald der Vergangenheit angehörte. Kein halbes Jahr mehr, sagte er sich, dann wären er und Erika über alle Berge.

Die Bierkästen im Blick, überschlug er die Zahl der erwarteten Gäste. Wenn er pro Kopf sechs Bier berechnete, käme er auf 120 Flaschen, also insgesamt sechs Kästen. Für den Notfall lagerte im Keller eine Kiste »Frankfurter Export«, die er vor Jahren zum Aktionspreis geschossen hatte. Vielleicht waren sechs Bier pro Gast zu hoch kalkuliert, vielleicht traf mit Krügers Geburtstag aber auch der besagte Notfall ein. Derartige Grübeleien ließen ihn den Sinn der Feier anzweifeln, eben nicht anders, als er es gestern oder vorgestern, im Grunde bereits seit dem Tag der Planung getan hatte.

»Soll ich aufschließen?«, rief Erika durch den Raum.

»Muss das sein?« Er berührte seine Schirmmütze.

»Warum denn nicht?«

»Es ist kurz nach vier.«

»Ich dachte ja nur.«

»Willste, dass die Suffköppe schon um sechse dicht sind?«

»Okay, bleibt der Laden halt geschlossen.«

Erika lachte, wie sie in letzter Zeit häufig lachte: scheinbar grundlos und über die Maßen extrovertiert. Sie verrückte einen der Tische, bis er ihres Erachtens genau richtig stand, dann fragte sie Frank nach der Tüte.

»Welche Tüte?«

»Na, die mit den Girlanden.«

Er entdeckte zwei Tüten unterm Tresen, nahm eine davon und schwenkte sie auf Augenhöhe.

»Und die mit den Brillen?«

»Ist auch hier.«

Erika begann, wie ein aufgeregtes Kind in die Hände zu klatschen. Vorigen Monat hatte sie ihr Haar abschneiden lassen; seitdem zwirbelte sie sich zwei winzige Zöpfe, die von ihrem Hinterkopf ragten. Anfänglich hatte er mit dem neuen Look ebenso gefremdelt wie mit ihrem Lachen. Sobald er allerdings begriffen hatte, dass das ihre Art war, den Neuanfang zu begrüßen, hatte er sich damit abgefunden. Er warf ihr die Tüte zu und sagte:

»Ich versteh nicht, weshalb wir so ’n Aufriss machen.«

»Ach, komm. Jannes ist Stammgast.«

»Seinen Likör schmuggelt er trotzdem rein.«

»Das machen die andern auch.«

»Und genau das kotzt mich an, genau das.«

»Frank.« Sie lächelte ihn an. »Das ist die letzte Party.«

Er senkte die Mütze in die Stirn, aber Erika gab sich unbeeindruckt. Sie angelte eine Girlande aus der Tüte, neigte sich über den Tresen und wickelte das eine Ende um einen der Zapfhähne. Die chromfarbene Apparatur diente ohnehin nur der Dekoration; selbst als sie erfahren hatten, dass in der Region ein Werk für Elektroautos, eine sogenannte Gigafactory, entstehen sollte, war die Anlage trocken geblieben. Ein Fass einzukaufen und gekühlt zu lagern, lohnte nicht für eine Handvoll Besucher. Frank besorgte das Bier lieber aus dem Discounter, meist das Schnäppchen der Woche, schlug 50 Cent auf jede Flasche und erduldete die Mitbringsel der Gäste – einen im Anorak versteckten Likör, einen Flachmann hinterm Gürtel oder eine ungeniert unter den Arm geklemmte »Goldkrone«. Respekt erwartete Frank in diesem Kaff von niemandem mehr.

Mit einem Anflug von Sorge sah er Erika leichtfüßig über die Barhocker balancieren. Sie trug ein T-Shirt mit Wendepailletten, die entweder einen silbernen Regenbogen zeigten oder ein goldenes Einhorn. Nachdem sie eine Girlande über der Bar befestigt hatte, blies sie ein paar Luftschlangen in den Raum. Das Papier entrollte sich über raue Sitzflächen, landete auf gesplitterten Dielen, verfing sich im eingestaubten Kronleuchter. Längst war die Kneipe zu einer Art Gemeinderaum verkommen; es fehlte nur ein öffentlicher Anschlag für den Schlüssel.

Frank bat Erika, vorsichtig zu sein, und während sie seine Sorge mit einem Lachen abtat, kniete er sich hinter den Tresen. Er öffnete erneut den Kühlschrank und zählte ein weiteres Mal die Bierflaschen. Kaum klüger als zuvor, drückte er die Tür zu, und sein Blick blieb an dem mit Magneten befestigten Foto haften. Erika und er gegen den Tresen gelehnt, sie in einer verwaschenen, viel zu weiten Jeans, er mit einem rot-weißen Tuch auf dem Kopf. Sie waren beide um die 30, also sehr jung, oder zumindest das, was er heute mit Ende 50 als jung empfand. Sein Vater hatte dieses Bild geknipst, im »Schlecker« entwickeln lassen und ihnen zur Eröffnung der Kneipe geschenkt. Mittlerweile war die Drogeriekette Geschichte, und Filme hatte Frank seit Ewigkeiten nicht mehr zum Entwickeln eingetütet. Eines der wenigen Dinge, die sich seit damals nicht geändert hatten, war seine Vorliebe für Kopfbedeckungen. Die Tweedmütze, die er aktuell trug, hatte ihm Erika auf einer Englandreise geschenkt. Er berührte den Stoff, dachte an die weiß getünchten Fassaden in Cornwall, an die Klippen von Land’s End und daran, wie die heftigen Böen Erikas Haar zerzaust hatten, sehnte sich nach Steinwällen, Torfgeruch und Pale Ale, und schließlich zwang ihn die Sorge, dass Erika sich trotz – oder gerade wegen – ihrer Unbekümmertheit wehtun könnte, zum Aufstehen.

»Was machst du denn hier?«

»Ich wollt einen trinken«, entgegnete Bielecke. Er lehnte am Tresen, die Augen erwartungsvoll auf Frank gerichtet, und verströmte eine Fahne, als hätte er seinen morgendlichen Kaffee bereits mit Goldkrone veredelt.

»Und wie biste hier reingekommen?«

»Na durch den Schornstein.«

»Deine Witze kannste dir sparen.«

»Ich bin durch die Tür geschneit, mein Lieber.«

»Die ist abgeschlossen.«

»Aber nicht die Hintertür.«

»Hast du nicht das Schild gesehn?«

»Welches Schild?«

»Das an der Tür«, sagte Frank ruhig. »Da steht Privat drauf.« Er wiederholte das vorletzte Wort, betonte dabei jede Silbe laut und deutlich: »PRI-VAT.«

»Aber mich kennste doch.«

»Privat bedeutet Erika und meine Wenigkeit, kapiert?«

Bielecke imitierte mit der Hand einen Vorhang, den er hochzog, um darauf eine Grimasse gespielter Trauer zu offenbaren. Die lebenslange Qualmerei hatte aus seinem Schnauzer einen vergilbten Besen gemacht, eine Hautkrankheit aus seiner Nase ein wucherndes Gewächs. Bielecke behielt die Grimasse bei und erwartete eine Reaktion, vielleicht ein Lächeln oder wenigstens ein lässiges Abwinken.

Frank war dieses Theaters überdrüssig. Er quittierte Bieleckes Bemühungen lediglich mit einem Fingerzeig zur Hintertür. »Wir öffnen Punkt 17 Uhr.«

»Is ja bald.«

»Bald heißt nicht jetzt, kapiert?«

Frank bäumte sich hinter dem Tresen auf, wobei eine Girlande sein Gesicht streifte. Aus einem Impuls heraus wollte er sie runterreißen, besann sich jedoch eines Besseren und stützte die Ellbogen auf die Theke. »Hör zu, Bielecke. Hier bekommst du nichts.«

»Und nachher?«

»Wenn du nicht abschwirrst, nie mehr.«

»Soll das ’n Hausverbot sein?«

Frank zögerte.

»Hallo, Wolfgang!«, rief Erika und kletterte von einem der hinteren Tische herunter. »Nix los zu Hause?« Sie schlenderte zum Tresen und klopfte auf einen Barhocker, als würde sie einen Hund anlocken wollen. Mit einem schiefen Grinsen dackelte Bielecke zu ihr und fingerte dabei eine Schachtel Kippen aus der Hose.

»Kannste vergessen«, protestierte Frank.

»Eine einzige, mein Lieber.«

»Wage es nicht.«

»Die anderen dürfen auch rauchen.«

»Die anderen, die anderen«, wiederholte Frank genervt. »Siehst du hier irgendwelche anderen Gäste?«

»Pscht, das ist mein absolutes Lieblingslied.«

»Was? ›Dancing Queen‹?«

»Ja, schon immer.«

»Und deshalb gilt das Rauchverbot nicht für dich?«

»Okay«, sagte Erika sanft, »ausnahmsweise.« Sie bugsierte einen Aschenbecher zwischen sich und Bielecke und steckte sich selbst eine Zigarette an. Frank knautschte den Schirm seiner Mütze und seufzte. Auf Erikas Frage, wie es ihm gehe, antwortete Bielecke mit dem abgeschmackten Witz von den zwei Fliegen auf dem Weg zur Hölle. Erika bog sich vor Lachen, während Frank es bei einem Kopfschütteln beließ.

Noch eine Stunde, bis sie den Laden öffneten; das hieß gleichfalls eine Stunde mit Bieleckes Weisheiten. Es kostete ihn schon Mühe, die abendliche Feier kommentarlos hinzunehmen, das ganze Tamtam, das Erika und Krügers Frau veranstalteten. Seinetwegen hätten sie die Feier mit einer billigen Ausrede abblasen können; aber für Erika war es wohl mehr als ein schnöder Geburtstag. Es war ihr Goodbye zu den Freunden und Nachbarn, der ganzen Meute und auch zu einer Landplage namens Bielecke.

Mit einem Knurren zog Frank eine Flasche »Lübzer« aus dem Kühlschrank und schob sie ihm hin. Bielecke bedankte sich in gespieltem Eifer und langte zu. Seine Fingernägel machten den Eindruck, als wären sie sein Lebtag von schweren Hufen malträtiert worden. Frank war ein solcher Anblick nicht fremd: Sein Vater hatte auf der LPG »Märker Land Gollwitz«gearbeitet, höchstens 20 Fahrminuten von hier, und dessen Fußnägel waren vom Getrampel der Kühe einen halben Zentimeter dick gewesen. Grauer, scharfkantiger Schiefer, bei dem selbst robuste Nagelscheren versagten. Bielecke, der seit Urzeiten an der Flasche hing, hatte garantiert noch nie einen Stall von innen gesehen. Woher ausgerechnet der solche Schippen hatte, war Frank ein Rätsel.

Erika jedenfalls schien sich mit ihm bestens zu unterhalten.

Frank warf ein, er wolle kurz in den Keller. »Werkzeug holen.«

»Wozu das denn?«, fragte sie ihn.

»Der Zapfhahn ist verstopft.«

»Wir lassen die Anlage eh aus.«

Er rollte mit den Augen. »Du weißt schon, der Zapfhahn.«

»Ihr stecht ein Fass an?«, fuhr Bielecke dazwischen. »Und mir serviert ihr diese Plörre?«

Frank krallte seine Finger in die Mütze und wünschte sich auf die Klippen von Land’s End. Er verließ die Kneipe, und sowie er die Hintertür von draußen schloss, stellte er fest, dass dort tatsächlich kein Schild hing. Es lag, keine zwei Meter entfernt, im Dreck.

I Wanna Dance With Somebody

Als Erika nach der Tüte mit den Papierhütchen und den Spaßbrillen griff, schenkte ihr Frank einen seiner vier Gesichtsausdrücke; in diesem Moment lautete die Botschaft schlichtweg: Muss das sein?

Ja, es musste, gab sie ihm mit einem Lächeln zu verstehen. Sie zerrte den Packen aus der Tüte, und die Farben der Hüte und Brillen waren genauso verblasst wie die der Girlanden und Luftschlangen. Mehr darf die Meute eben nicht erwarten, dachte Erika. Immerhin hatte sie sich allein um die Dekoration kümmern müssen. Sie faltete einen goldfarbenen Hut auseinander, schob ihn sich auf den Kopf und lächelte breit in die Runde.

»Mach mal lauter!«, rief René Berkholz, der sich ungeniert als Fan von Whitney Houston präsentierte.

Eine Gruppe Mittvierziger hatte sich an einen Tisch gepflanzt und der Berliner Rundfunk versorgte sie unentwegt mit einem Mix aus Geschwätz und Oldies. In den Anfangstagen der Kneipe hatten Erika die Rod Stewarts dieser Welt kaum berührt, hatte sie weder einer Tina Turner noch einem Chris Rea, weder einer Kim Carnes noch einem Phil Collins etwas abgewinnen können. Für sie war die Musik lediglich Teil des Geschäfts gewesen – die Gäste tranken mehr, wenn sie in Nostalgie versanken. Warum sollte sie einer Vergangenheit nachtrauern, die nur in den Köpfen der Leute existierte? Weshalb sich nach einem Ort sehnen, den es ohnehin nicht gab und nie gegeben hatte? Um diese Sehnsucht zu verstehen, hatte es 24 Jahre Ehe und ein Leben in Kuxwinkel gebraucht.

Sie trat hinter den Tresen, ignorierte Franks genervten Blick und stellte das Radio lauter. Dann klatschte sie im Takt von »I Wanna Dance With Somebody«in die Hände, bis sie den Zuspruch der Gäste registrierte. Sie sei einfach die Beste, grölte René Berkholz und hob den Daumen. Frank, der unablässig die Bierflaschen zählte, sagte:

»Ausgerechnet die Kreische.«

»Hey, so redet man nicht über Tote.«

»Whitney Houston ist tot?«

»Seit mindestens sechs Jahren.«

»Das macht die Musik nicht besser.«

»Okay, soll ich’s ausmachen?«

»Einfach leiser, das reicht schon.«

Kaum hatte sie die Lautstärke gemindert, bemerkte sie die enttäuschten Gesichter der Gäste. »Sorry!«, rief Erika. »Mein Alter ist ’n bisschen empfindlich auf den Ohren.«

»Brauchst wohl was Jüngeres!«, brüllte René herüber.

»Hast du jemand bestimmten im Auge?«

»Du weißt doch: Der Gentleman schweigt.«

»Der Gentleman kassiert gleich Hausverbot«, erwiderte Frank.

Erika schüttelte kaum merklich den Kopf und er begriff sofort. »Jaja, alles klar«, sagte er und stellte das Radio wieder lauter. Er neigte sich zu ihr und fragte erneut, weshalb sie ausgerechnet für Krüger so viel Aufheben machten.

»Das hab ich dir vorhin gesagt.«

»Der Typ hat dich bedrängt.«

»Jannes?« Sie lachte. »Der dackelt brav seiner Frau nach.«

»Das sah am See aber anders aus.«

»Frank, das ist 30 Jahre her.«

Sie öffnete ein Paket Jägermeister und hielt Frank eine der kleinen Flaschen hin. Seit sich das Geschäft seines Lebens anbahnte, schien ihm jeder dumme Spruch von einem der Kerle Anlass zur Eifersucht. Dabei plagte ihn weniger die Sorge, er könne sie verlieren; vielmehr fürchtete er den eigenen Gesichtsverlust, den Mangel an Respekt ihm gegenüber, und das, obwohl ihm Kuxwinkel schnuppe war. Die Logik dahinter versuchte Erika erst gar nicht zu begreifen. Sie erinnerte ihn daran, weshalb sie diese Show abzögen. Auf sein Nicken hin öffnete sie ihr Fläschchen. »Prost«, flüsterte sie. »Unser Goodbye an die Meute.«

»Trotzdem hätte ich mir das gespart.«

»Tja, jetzt ist zu spät.«

»Du willst sagen, mitgegangen, mitgehangen.«

»Wenn schon Abgang, dann mit Paukenschlag.«

Sie rang sich ein Lachen ab, und in seinem Gesicht formte sich ein Ausdruck, den sie in den letzten Jahren vermisst hatte, eine seiner vier Mienen, die tief verschüttet unter den übrigen dreien lag: Frank Lewin lächelte, zaghaft und unbestimmt. Er rückte näher, und sie dachte, er würde sie gleich küssen, hier, vor allen Leuten, vor der versammelten Meute. Der erste Kuss seit drei Jahren. Doch Frank stellte den Likör ungeöffnet ab und drängte sich neben sie. »Kann ich da mal ran?«

Erika trat beiseite und er bekam den Flaschenöffner zu fassen. Mit einem Nicken reichte er Tom Kowalski ein Bier über den Tresen und seine Miene rutschte zurück in die alte Form. Tom bedankte sich, legte das Geld auf die Theke und begab sich in Richtung Fensterplatz, ehe Erika ihm ein Hütchen hätte verpassen können. Frank kniete wieder vor dem Kühlschrank und zählte die Flaschen. Erika lehnte sich gegen die Anrichte und kippte sich den Jägermeister hinter die Binde. »Wie oft willst du das noch machen?«

»Ich hab nur Angst, dass es nicht reicht.«

»Das sagt ausgerechnet der, der null Bock auf alles hat.«

»Das verstehst du eh nicht.«

»Ich versteh nicht, warum du dich nicht amüsierst.«

Frank starrte unbeirrt in den Kühlschrank, wobei die Schirmmütze sein Gesicht verdunkelte. Sein Haar hatte sich frühzeitig gelichtet, bereits in den ersten Jahren ihrer Ehe. Irgendwann hatte er begonnen, Mützen jedweder Art zu tragen: In seinen 20ern hatte er mithilfe von schwarzen Hüten den coolen Barkeeper markiert, dem war eine Phase hipper Wollmützen gefolgt, die er so weit auf den Hinterkopf geschoben hatte, dass seine letzten Haarsträhnen hervorlugten. Danach hatten Baseballkappen seine Stirnglatze kaschieren und gleichzeitig das Image eines kernigen Truckers bedienen sollen. Während einer Englandreise hatte Erika ihm eine Schiebermütze gekauft, und so war ein Trucker auf die Insel gekommen, um sie als landloser Bauer zu verlassen. Heute ähnelte Franks Kopf einer behaarten Kniescheibe, die er höchstens im Schlafzimmer lüftete. Mit betont ironischem Tonfall fragte sie ihn, ob er einen Taschenrechner brauche.

Er schloss den Kühlschrank und hievte sich hoch. »Wann kommt eigentlich unser Geburtstagskind?«

»Jannes und Lotte wollten um sechs hier sein.«

»Ich hoffe, sein Drache weiß ihn zu bändigen.«

»Geht das jetzt den ganzen Abend so?«

Erika sah das Ehepaar Schauder in die Kneipe treten, schnappte sich die Tüte mit den Hüten und Brillen und steuerte geradewegs auf Yvonne zu. Indem ihr Mann zwei Finger hob, signalisierte er Frank seinen Bierdurst, dann drückte er Erika, noch bevor sie ihn oder seine Frau begrüßt hatte, einen Beutel in die Hand. »Stell mal kalt«, sagte Christian und allein das Gewicht des Beutels verriet ihr den Inhalt. Früher hatte Frank die Gäste davor gewarnt, eigene Getränke mitzubringen; doch weil es sich nicht mehr rentierte, ein breit gefächertes Sortiment anzubieten, war aus der Warnung irgendwann ein erhobener Zeigefinger geworden und aus dem Zeigefinger bald ein Schulterzucken.

Erika hängte sich den Beutel in die Armbeuge und streifte Yvonne ein Papierhütchen über. Mit ihren 40 Jahren zählte ihre Freundin zu den Jüngeren im Dorf. Ihr kräftiges Haar hatte sie hochgesteckt, außerdem trug sie einen knallroten Lippenstift, der die Narbe unter ihrem linken Mundwinkel verblassen ließ. Yvonne nahm Erika die Tüte ab, angelte eine Papierbrille heraus und schob sie Christian auf die Nase. »Jetzt könnte man dich glatt für klug halten.«

»Wenigstens etwas«, erwiderte er. »Dein Hut nützt dir gar nichts.«

»Erwartest wohl ’nen Anruf aus Hollywood?«, fragte Erika mit Blick auf sein Smartphone. Er schaltete das Display aus und schob das Handy in die Hose. Auf seinen Unterarmen schimmerte das dunkle Blau seiner Tattoos. Yvonne und Christian pflegten offenbar einen Wettstreit, wer die kleinste nicht tätowierte Stelle am Körper besaß.

»Ist Rauchen erlaubt?«, wollte Yvonne wissen.

Erika wackelte unschlüssig mit dem Kopf.

»Hey, Meister!«, brüllte Christian in Richtung Tresen. »Ist das heut ’n Räucherstübchen?«

Wie zu erwarten gewesen war, antwortete Frank nicht. Erika meinte zu Schauders, dass sie rasch das Mitbringsel wegschaffen wolle, und rückte hinter die Bar. Während sie den Wodka in den Kühlschrank schob, spürte sie im Rücken Franks Blick, dessen Botschaft nicht eindeutiger hätte sein können. Sie drückte den Kühlschrank wieder zu, wobei ihr das Foto ins Auge fiel. Frank behauptete gern, das Bild habe sein Vater geknipst und ihnen zur Eröffnung der Kneipe geschenkt; in Wahrheit war seine Mutter die Fotografin gewesen, sie hatte das Bild auch gerahmt und in Geschenkpapier verpackt; sein Vater hatte es ihnen lediglich überreicht, im Gesicht ein falsches Lächeln, in seinem Schweigen der blasierte Kommentar, sie müssten selber wissen, auf was sie sich einließen, sie seien erwachsene Menschen und für sich selbst verantwortlich. Nach einem Streit, bei dem der Rahmen zerbrochen war, hatte Frank das Foto an den Kühlschrank angebracht.

»Hast du die CD?«, fragte sie ihn und hoffte gleichzeitig, er habe ihren Blick auf das Foto übersehen.

»Die liegt, wo sie immer liegt.«

Neben der kleinen Kompaktanlage türmte sich ein Stapel CDs. Sie fingerte einen Silberling ohne Hülle heraus und säuberte die untere Seite an ihrem Hosenbein. Frank hatte die Scheibe gebrannt, irgendwann Ende der 90er, und mit einem Edding beschriftet. Das Beste zum Geburtstag. Damals hatte Frank beinahe wöchentlich ein Album erstellt, hatte Songs hin- und hergeschoben, gegeneinander ausgetauscht und jedem Booklet eine lustige Skizze verpasst. Leider hatte von seiner Musikbegeisterung nichts die letzten Jahre überdauert; vermutlich war diese Leidenschaft ebenso verschüttgegangen wie sein Lächeln. Sie legte die CD in die Anlage und erklärte Frank, er müsse bloß auf Play drücken.

»Kann das nicht jemand anderes machen?«

»Du bist der Chef, also.«

»Viel zu melden hab ich anscheinend nicht.«

Er nickte über den Tresen, und sie wusste sofort, auf was er anspielte. Trotz des Rauchverbots qualmten die Gäste munter drauflos. Frank sprach oft davon, dass die Kneipe zu einem Gemeinderaum verkommen sei und ihn niemand mehr als Chef und Eigentümer wahrnehme. Erika zupfte eine der Papierbrillen aus der Tüte und trat so dicht an ihn heran, dass ein Kuss zwischen ihnen von der Meute unbemerkt geblieben wäre; dann klemmte sie ihm die Bügel hinter die Ohren. In dem Rahmen glichen seine Augen pechschwarzen Samen in einer rosaroten Blüte. Sie riet ihm, einfach an die Zukunft zu denken.

»Und wenn sie das ganze Projekt abblasen?«

»Die Sache ist längst unter Dach und Fach.«

»Politiker können sich umentscheiden.«

»Die rennen genauso der Knete hinterher wie wir.«

»Und das verdammte Grundwasser?«

»Was soll damit sein?«

»Das brauchen die zur Produktion der Batterien. Wenn das Umweltamt kein Okay gibt, ist es aus und vorbei.«

»Hat dir das Tom erzählt?«

»Ja, der ist bestens informiert.«

»Lass dich von dem bloß nicht vollquatschen.« Sie blinzelte zum Fensterplatz, wo Tom Kowalski allein vor sich hin brütete. Dann schob sie ihm die Mütze aus der Stirn und das Licht offenbarte das Blau seiner Augen. »Das sind alles Hirngespinste. Dumme Verschwörungstheorien.« Sie wandte sich um, konnte nirgends das Geburtstagskind entdecken und gab ihm einen Kuss.

You Should Be Dancing

Tom Kowalski ließ sich das Papierhütchen auf den Kopf setzen, wobei er als Zeichen seines Widerwillens keinerlei Regung zeigte.

»Hey«, sagte Erika. »Ein bisschen Freude bitte.«

»Ich kenne Krüger gar nicht richtig.«

»Und warum bist du dann hier?«

»Herdentrieb, was sonst?«

Auch wenn längst nicht alle eingetrudelt waren, rechnete Tom damit, dass sich der Laden binnen einer Stunde füllen würde. Erstens hatten die Kuxwinkler nichts Besseres zu tun, zweitens ging das Gerücht um, es gäbe zur Feier des Tages Freibier. Tom hatte sich mit seinem Glas an den einzigen Fensterplatz bequemt, dorthin, wo das Abendlicht auf den dumpfen Schein des Kronleuchters traf und er Kneipe und Dorfstraße überschauen konnte.

»Du.« Erika rutschte an ihn heran. »Ich hab ’ne kleine Bitte.«

Tom ahnte, was kommen würde, und ihr kummervolles Gesicht bestätigte seinen Verdacht, noch ehe sie ausgesprochen hatte.

»Achte auf deinen Bruder, okay?«

»Der kann sich seine Schuhe selber zubinden.«

»Der kann vor allem Stress machen.«

»Ist das nicht ein bisschen übertrieben?«

»Tom, bitte. Erinnere dich nur an letztes Mal.«

»Okey-dokey«, gab Tom nach und nippte an seinem Bier. Dieses Thema, und insbesondere, dass die Leute meinten, ihn ständig daran erinnern zu müssen, hing ihm zum Hals heraus. Vor einem Jahr war seine Mutter gestorben und seitdem hielt man ihn für den Babysitter seines Bruders. Mittlerweile konnte er die Stunden ohne Patrick kaum noch genießen, denn ständig plagte ihn das Unbehagen, er treibe es irgendwo auf die Spitze.

Tom zupfte am Gummiband des Hütchens, ließ es gegen sein Kinn schnappen und grinste. »Heute feiert Jannes Geburtstag. Da wird niemand Stunk machen.«

Erikas Miene verriet, dass sie seine Zuversicht zwar teilen wollte, aber dem Frieden nur bedingt traute. Sie schob das Hütchen auf seinem Kopf in eine leichte Schräglage und nickte; dann wandte sie sich ab und durchquerte mit einem Lachen, als hätte er ihr einen kolossalen Witz erzählt, den Raum. Am Tresen rückte sie neben René Berkholz, dem sie sogleich einen blauen Hut und eine blaue Brille verpasste. Die beiden lachten einander an und tätschelten sich dabei die Schulter. Es hielt sich das Gerücht, dass Erika etwas mit René gehabt habe, wohlgemerkt im Beisein ihres Mannes; von einer Neujahrsfeier war die Rede, von zu viel Alkohol und einer Videokamera. Tom reizten solche Gerüchte kaum, vielmehr ärgerte es ihn, dass sich seine Nachbarn eher für diesen Schmutz interessierten als dafür, was die Regierung hinter ihren Rücken anstellte. Während er einen Schluck von seinem Bier nahm, entdeckte er eine Fliege auf dem Fenster. Das Insekt krabbelte am Rahmen entlang, die Beine herbstmüde, die Flügel grau wie das Glas.

»Na, mein Lieber. Was machen die Ufos?«

Wolfgang Bielecke plumpste auf den Stuhl ihm gegenüber. Er trug ebenfalls einen Papierhut, dazu flatterte ihm eine Luftschlange um den Kragen, als hätte er bereits eine Sause hinter sich. Tom schaute ihm direkt ins Gesicht, wo über einem vergilbten Schnauzer die Kupferakne blühte. »Keine Ahnung«, antwortete er in aller Ruhe, »Ufos interessieren mich nicht.«

»Ich dachte.«

»Da haste dich wohl geirrt.«

Bielecke grinste auf diese abfällige Art, die dem Gegenüber signalisieren sollte, er wüsste es insgeheim besser. Tom ließ sich von seinem Äußeren und seiner Alkoholfahne nicht täuschen – genauso wie eine kaputte Uhr zweimal täglich die richtige Zeit anzeigte, blitzte unter Bieleckes Gefasel mitunter sein Verstand auf.

»Ich hab gehört, dass der Flughafen noch länger braucht.«

Tom zuckte die Achseln.

»Irgendwelche Rauchmelder funktionieren nicht.«

»Kann sein.«

»Außerdem sind die Türen unbrauchbar.«

»Totaler Unsinn«, murmelte Tom schneller, als ihm lieb war.

»Wie bitte?«

»Nichts.«

»Jedenfalls stimmt irgendwas mit der Betoneinfassung nicht.«

»Ja, kann sein.«

»Die haben anscheinend das falsche Material benutzt.«

»Ist doch alles Fake.«

»Das Material?«

»Nein, deine Infos.«

»Stand so in der Zeitung, schwarz auf weiß.«

»Deswegen ist es nicht automatisch die Wahrheit.«

»Warum sollten sie denn lügen, mein Lieber?«

Bielecke zündete sich eine Zigarette an, inhalierte und schnaubte den Rauch durch seine Nase über den Tisch. Tom, eine Hand um die Bierflasche, die andere auf dem Oberschenkel, lehnte sich zurück. In der Hoffnung, sich von Bieleckes Gefasel abzulenken, konzentrierte er sich auf die Fliege. Bielecke neigte sich vor und fragte ihn, was man seiner Meinung nach verschleiern wolle.

»Ich hab keine Lust auf das Thema.«

»Echt peinlich für den Standort Deutschland, oder?«

»Alles Fake, alles.«

»Na ja, das kann jeder behaupten.«

»Hör zu«, presste Tom hervor. »Die bauen unterm Flughafen ein Schienennetz. Für den Notfall.«

»Falls die Lokführer streiken?«

Tom war sich unschlüssig, ob der Alte ihn auf die Schippe nahm oder es ernst meinte. Einmal hatte Bielecke mit Patrick eine hitzige Diskussion über das Thema Kondensstreifen geführt, wobei am Ende Tom seinen Bruder hatte beruhigen müssen. Für ihn selbst hatte der Clinch einen besonders bitteren Beigeschmack gehabt, schließlich entsprach Patricks Ansicht, die Regierung würde Chemikalien versprühen, der Wahrheit. Der Einsatz dieser Chemikalien sollte nämlich einen Teil der Bevölkerung unfruchtbar machen; ein Nebeneffekt und gleichzeitig der unleugbare Beweis war das massive Insektensterben. Ohne die Fliege aus den Augen zu verlieren, sagte Tom:

»Nein, im Falle eines atomaren Angriffs.«

»Du meinst, die bauen einen Atombunker?«

»Ja.«

»Clever«, meinte Bielecke, und Tom bemerkte, wie dessen Blick ebenfalls die Fliege anvisierte.

»Stört dich das nicht?«

»Mich? Wieso?«

»Das Ding wird durch deine Steuergelder finanziert. Uns Normalos wird dagegen kein Schutz gewährt, deshalb ist das Projekt auch topsecret.«

Bielecke schwieg.

»Haste dich mal gefragt, weswegen die Amis ausgerechnet hier ihre Fabrik hochziehen wollen und warum ausgerechnet jetzt?«

Bielecke führte seine Zigarette zum Fenster. »In Brandenburg ist das Land eben billig.«

»Schön wär’s«, erwiderte Tom. »Die Preise fürs Bauland steigen enorm, und dass unsere Bürokratie jeden Investor abschreckt, ist allgemein bekannt. Fakt ist: Die Amis können es woanders günstiger und vor allem unkomplizierter haben.«

»Aber niemand arbeitet so präzise wie wir.«

»Wer soll das sein? Wir?«

»Na, die Deutschen.«

»Hat dir das dein Opa erzählt? Guck mal in die Fabriken: Polen und Rumänen am Fließband, Inder am Computer.«

Bielecke ließ seine Zigarette über der Fliege kreisen, brachte dem Insekt offenbar mehr Interesse entgegen als den Geheimplänen der Regierung. Tom fühlte sich außerstande, das Thema abzubrechen. »Die Gigafactory und der Flughafen«, erklärte er, »werden binnen zwei Jahren eröffnet.«

»Wird ja auch Zeit.«

»Das müsste dich eigentlich aufhorchen lassen.«

»Warum?«

»Rat mal, wer die Züge fürs Schienennetz baut.«

»Die Amis?«

»Und wer bekommt ein sicheres Plätzchen im Bunker?«

Bielecke hob kommentarlos die Brauen, dann streifte er mit der Zigarettenspitze die Fliege. In voller Absicht. Das Tier entflammte, krabbelte jedoch weiter, bis es von der Fensterscheibe abhob und sich wie ein Partikel glühender Asche im Halbdunkel auflöste. Tom starrte über die anderen Gäste hinweg, suchte ein letztes Anzeichen für den Verbleib der Fliege. Nichts. Nur der Qualm der Zigaretten, das Licht des Kronleuchters, die bunten Girlanden und Hüte, dazwischen Gebrabbel und Gelächter und ein Discohit aus den 70ern.

Da öffnete sich die Eingangstür und sein Bruder kam hereingeschossen, als sei der Teufel hinter ihm her. An seinem Gesicht erkannte Tom, dass er in seinem eigenen Tunnel unterwegs war; unter den eng stehenden Augen schimmerten Patricks Nasenflügel in einem hellen Rot und blähten sich bei jedem Atemzug. Er streckte beide Arme hoch, krakeelte: »Leute, Leute!«, und sämtliche Gäste schauten zu ihm. »Er kommt!«

»Das Geburtstagskind!«, rief Erika aufgeregt. »Alle auf ihre Plätze!«

Vom Tresen dröhnte ein poppiges Geburtstagslied herüber, bis Erika ihren Mann aufforderte, den Song erst anzuschmeißen, wenn Jannes durch die Tür kam. Zusammen mit der Musik verstummte auch das letzte Geflüster, und eine erwartungsvolle Stille erfüllte den Raum. Die Tür öffnete sich, und das Lied erscholl laut und übersteuert, und in der Kneipe erschien August Brehm. Der Lehrer, der Pflanzenfreund. Unter der Musik und dem Raunen der Gäste explodierte Patricks Gelächter.

Tiny Dancer

Yvonne Schauder saß auf ihrem Stammplatz: Christian gegenüber, direkt unter dem Kronleuchter, möglichst entfernt von der Toilette. Sie hatte keine Lust, am Ende des Abends Bielecke beim Reihern zu hören oder Franks Fluchen, sobald er die Bescherung entdeckt hatte; außerdem behielt sie so genügend Abstand zum Fenster, wo die Gebrüder Kowalski unter ihren Papierhüten grimmig dreinschauten. Yvonne ahnte, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis Patrick Kowalski wegen einer Lappalie einen Streit anzettelte.

»Ich hab mit weniger Gästen gerechnet«, bemerkte sie.

»Hallo-o«, murmelte Christian. »Es gibt Freibier.«

»Wer hat das gesagt?«

»Frank höchstpersönlich.«

Ihr Mann umfasste mit einer Hand sein Bierglas, während er mit der anderen sein Smartphone bediente. Seit er sich einen Fußball-Ticker heruntergeladen hatte, hing er ständig am Handy und verglich Tabellen und Punktestände. Die schmerzlichste aller Wahrheiten lautete wohl: Auf der Welt wurde immer irgendwo Fußball gespielt.

»Weißt du, wann Jannes kommt?«

»Keine Ahnung.«

»Habt ihr nicht telefoniert?«

»Ja, und?«

»Hat er nichts gesagt?«

»Ich denke, die Party soll ’ne Überraschung sein?«

»Ist ja kein Grund, ihn nicht vorzuwarnen.«

»Ich will mir Ärger mit seiner Alten ersparen.«

»Seit wann bist du so zimperlich?«

Er schüttelte den Kopf, doch wusste sie nicht, ob es der Frage oder dem Ergebnis eines Spiels geschuldet war. Er trug seine kakifarbene Armeehose und ein Poloshirt, das seine muskulösen Oberarme betonte. Selbst im staubigen Licht des Kronleuchters strahlte sein Gesicht vor Reinheit, als wäre er das 40-Plus-Modell einer Kosmetikfirma. 20 Jahre hatte Christian in einer Autoreparatur malocht, war jeden Tag mit öligen Fingern und Haaren heimgekommen, und jetzt – ein halbes Jahr ohne Job – schloss er sich morgens im Bad ein, um es erst wieder gestriegelt und rasiert zu verlassen. Yvonne hoffte, er würde in der neuen Fabrik eine Anstellung finden, auch wenn ihn E-Autos in etwa genauso ins Schwärmen brachten wie der Abstieg seines Lieblingsvereins.

»Alles in Ordnung mit dir?«

»Klar, was soll denn sein?«

»Ich dachte nur …« Sie stockte. »Ach, egal.«

Sie schielte zum Fenster hinüber, wo die Gebrüder Kowalski beisammenhockten, als heckten sie neue Streiche aus. Ja, musste sie sich eingestehen, Patricks Verarsche war nicht übel gewesen, und ja, die fassungslosen Gesichter der anderen hatten sie amüsiert. Aber das rechtfertigte nicht sein Verhalten, im Gegenteil: In Yvonne nährte es lediglich die Sorge, seine Aktion wäre ein Vorgeschmack auf den Rest des Abends gewesen.

Sie klemmte den rechten Fuß hinter das Stuhlbein und ließ den linken zum Takt von Elton Johns »Tiny Dancer« wippen. Christian saß ihr unverändert gegenüber: ein Bein aufs andere gewinkelt, das Handy stets im Blick. Insgeheim beneidete sie ihn um seine stoische Ruhe. An jedem x-beliebigen Ort gelang es ihm, die Welt auf ein Detail zu verkleinern – ein Fußballspiel, eine Tabelle oder zwei Zahlen, die von einem Doppelpunkt getrennt wurden. Sie leerte ihr Glas und teilte ihm mit, sie würde sich Nachschub besorgen.

Keine Reaktion seinerseits.

»Ich verdrück mich mit Frank aufs Klo.«

»Was ist los?«

»Ach, egal.«

Indem sie demonstrativ zur Bar zeigte, nötigte sie ihm immerhin ein Nicken ab. Dann durchquerte sie, von sanften Gitarrenakkorden begleitet, die Kneipe und rutschte auf einen Barhocker. Frank hielt hinterm Tresen wacker die Stellung. Unter seiner Schirmmütze leuchtete eine rosarote Brille, und während er Knabberzeug in ein Schälchen füllte, lauschte er dem Gespräch einiger Gäste. Erika nahm ihr das leere Glas ab und erkundigte sich, wo sie so lange geblieben sei.

»Ich wollte erst mal ankommen«, rechtfertigte sich Yvonne.

»Und Christian bewacht den Tisch, oder was?«

»Wohl eher sein Smartphone.«

»Frank hasst die Dinger.«

»Ist nicht dein Ernst?«

»Ja, und Tablets auch.«

»Finde ich klasse.«

»Klasse? Vorsintflutlich nenne ich das.«

Erika reichte ihr das randvolle Sektglas und fragte mit Blick auf Christian, ob alles in Ordnung sei. Yvonne wandte sich um und erkannte sofort, was Erika zu der Frage bewogen hatte. Obgleich er nicht aufschaute, waren seine geröteten Wangen und seine gefurchte Stirn unverkennbar, ein Gesicht, das einer zusammengeballten Faust glich. Auch nach 15 Jahren Beziehung samt Haus und Kind waren ihr seine Launen ein Rätsel. Manchmal schlief Yvonne in der Annahme ein, sein Frust habe ihr gegolten, um am nächsten Morgen zu erfahren, dass ihm irgendein Spielergebnis die Laune verdorben hatte.

»Was soll ich sagen«, antwortete Yvonne. »Das Übliche.«

»Fußball?«

»Nachm Aufstehen, vorm Einschlafen, überall. Dem Handy sei Dank.«

»Schon mit handyfreier Zeit versucht?«

»Das würde nur Gezeter geben.«

»Lass es drauf ankommen.«

»Dann hab ich zwei bockige Jungs zu Hause.«

Erika rollte mit den Augen, bevor sie drei Bier aus dem Kühlschrank holte und ein paar Bekannte bediente. Yvonne waren die Männer, die sich um den Tresen geschart hatten, allesamt vertraut: links Bruno Vogler, der Christian die Fußball-App empfohlen hatte; daneben René Berkholz, der während des Gesprächs immer wieder die Zeit fand, den Refrain eines Songs mitzugrölen, und Wolfgang Bielecke, dem garantiert längst das Hausverbot drohte. Inmitten der Gruppe, doch wegen seiner Größe leicht zu übersehen, griente August Brehm, den alle nur den »Lehrer« nannten. Frank neigte sich über den Tresen und fragte ihn:

»Und diese Pflanze ist ausgestorben?«

»War«, sagte August. »Bis ich sie gefunden habe.«

»Ist ja unglaublich.«

Der Lehrer lächelte breit. Über einem Karohemd trug er eine Weste, dazu eine abgewetzte Cordhose; an einigen Stellen sträubten sich seine Haare, als wäre er geradewegs aus der Wildnis zur Feier eingekehrt. August Brehm umgab die Aura eines Abenteurers.

»Eine neue Pflanze?«, sagte Frank. »Hier bei uns?«

»Eigentlich eine alte.«

»Bestimmt findest du bald ’nen Dino.«

August lachte und bestellte ein Bier. Yvonne tippte Erika an den Ellbogen, wollte wissen, was da im Gange sei, worauf ihre Freundin ein lässiges Schulterzucken präsentierte.

»Sieht unserem Lehrer gar nicht ähnlich.«

»Was meinst du?«

»Sich so in den Mittelpunkt zu stellen.«

»Tja, jeder hat seine 15 Minuten.«

»Ich hab nicht mal erwartet, dass er kommt.«

»Wieso nicht?«

»Irgendwie passt er hier nicht rein.«

Erika lachte. »Hast wohl ’n Auge auf ihn geworfen?«

Yvonne antwortete, er sei für ihren Geschmack zu weichgespült. »Ich brauch Typen, die anpacken können.«

»So wie deiner?«

Erika nickte über den Tresen hinweg. Unter dem trüben Schein des Kronleuchters glich Christian einem Komiker, der sein Publikum gleich mit zotigen Anekdoten zu amüsieren hoffte. Erika winkte nach ihm, und als er nicht von seinem Handy aufschaute, griff sie aus dem Kühlfach den Wodka und drückte Frank die Flasche an die Brust.

»Hat dein Unkraut auch ’nen Namen?«, fragte René Berkholz.

»Silene tenebre«, sagte der Lehrer ruhig.

»Was?«

»Silene tenebre.«

»Klugscheißen kannste in der Schule«, lachte Bruno Vogler.

»Sorry, bin auf Lebenszeit beurlaubt.«

»Beamter müsste man sein.«

»Silene tenebre bedeutet Dunkelblüte.«

»Dann ist dein Kraut bei uns ja bestens aufgehoben.« Renés Gelächter fand in der Runde ein gehöriges Echo; selbst August stieg mit ein, als könne ihn niemand seines Glückes berauben.

Frank reihte sechs Schnapsgläser aneinander, musterte die Runde und seufzte. Mittlerweile hatte sich um Bielecke, Berkholz und den Lehrer ein Pulk gebildet, und die Faszination für irgendein Pflänzchen übertönte die gesamte Bar, sogar die Musik aus dem Radio kapitulierte vor Renés schrillem Organ.

»Wo haste dein Kraut denn gefunden?«

»Draußen, Heide West.«

»Also auf Lewins Brache?«

»Fast«, erwiderte der Lehrer. »An der Lichtung zum Kiefernwald.«

Frank öffnete den Wodka, füllte die Gläser und verkündete eine Runde aufs Haus. Kaum hatte er ausgesprochen, drängten sich René Berkholz und Wolfgang Bielecke gegen den Tresen.

»Wir reißen uns heute zusammen«, ermahnte Frank den Alten.

»Genau, Wolfgang«, lachte Berkholz.

»Und du auch.«

»Keine Sorge, Chef.«

»Okay, das gilt übrigens für euch alle.«

Ein Raunen, kollektiv und wohlwollend, erfüllte den Raum. Der erste Schluck gebühre dem edlen Spender, rief Erika, und die Meute wandte sich zu Christian um. Yvonne schwankte zwischen der Genugtuung, weil es ihm nun unmöglich war, sich in seine Welt zu verkriechen, und einem Gefühl der Scham. Erika schob eine Hand auf die ihre und blinzelte ihr komplizenhaft zu.

Wider Erwarten erhob sich Christian, und mit jedem Schritt in Richtung Bar schien sich sein Gesicht weiter zu entspannen; schließlich legte der Mann, mit dem sie gemeinsam das Tattoostudio besuchte, der trotz seiner Abneigung für E-Autos einen Job in der Fabrik anstrebte, der bis in den Abend hinein am Haus werkelte, einen Arm um sie. Sie drückte ihm einen Kuss auf den Arm und schob ihm eines der Gläser hin.

In feinster Eintracht wurden die Schnapsgläser gehoben; dann bat Frank erneut darum, dass sich alle zusammenreißen sollten, immerhin feiere man heute einen Geburtstag. »Hey, August«, sagte er heiter. »Da musste dein Kraut aber schnell pflücken, wenn nächstes Jahr der Wald gerodet wird.«

»Ich denke, das hat sich erst mal erledigt«, entgegnete der Lehrer.

»Lass deswegen bloß den Kopf nicht hängen.«

»Frank, er hat von der Fabrik gesprochen«, fuhr Christian ihn an, und Yvonne sah, wie das Gesicht ihres Mannes zur Faust wurde.

Happy Birthday

Jannes Krüger musste keine hellseherischen Fähigkeiten besitzen, um von der Feier zu erfahren: Seine Frau hatte es ihm auf höchst subtile Weise gesteckt: »Zieh dich bloß ordentlich an«, hatte sie geschimpft. »Schließlich kommen alle nur deinetwegen.«

In seinen Ohren hatte ihre Ankündigung wie ein Schuldspruch geklungen. Seinetwegen betreibe man den ganzen Aufwand, seinetwegen mache sie sich extra schick. Wäre es nach ihm gegangen, dann hätte er seinen Geburtstag lieber vor dem Fernseher verbracht oder auf dem Dachboden zwischen seinen Büchern und Zeitschriften.

»Augen zu«, sagte Lotte vor Lewins Kneipe.

Verstohlen linste Jannes auf die andere Straßenseite. In dem Haus schräg gegenüber wohnte Pawel Mitschek. Mit Sicherheit hockte er hinter der Gardine und beobachtete ihn und seine Frau; zweifellos war er einer der wenigen, die man wohl nicht zur Feier eingeladen hatte. Obwohl er diesen Mitschek kaum kannte, war ihm das Theater mit seiner Frau peinlich.

»Lotte«, protestierte Jannes. »Ich will nicht.«

»Komm, stell dich nicht so an.«

»Ich weiß doch längst Bescheid.«

»Umso besser. Dann kannst du nichts vermasseln.«

Durch die Eingangstür drangen Stimmen und das Gewummer lauter Musik. Garantiert lauerte jemand am Fenster, damit seine Ankunft nicht unbemerkt blieb. Um den Hergang der nächsten Minuten zu erahnen, musste Jannes ebenso wenig Hellsehen können: Er würde mit geschlossenen Augen die Kneipe betreten und aus den Boxen würden irgendwelche Geburtstagslieder dröhnen; die Meute würde mitsingen, lautstark, schief und angetrunken.

Lotte stellte sich hinter ihn, schirmte ihm beide Augen ab, und er dachte an seine stille Dachkammer. Sie probierte, ihm die Augen zuzuhalten und gleichzeitig die Klinke zu drücken, bis sie schließlich aufgab und ihm sagte, er solle selbst die Tür öffnen.