Zurück im Zorn - Christoph Heiden - E-Book

Zurück im Zorn E-Book

Christoph Heiden

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Beschreibung

Gollwitz. Brandenburg. Im Winter 1995 tötet ein Feuer beinahe eine ganze Familie. Die einzige Überlebende ist die zwölfjährige Anna Majakowski. 20 Jahre später erhält Anna mysteriöse Drohbriefe, denen sie in ihrem Heimatdorf nachspüren will. Doch Gollwitz heißt sie nicht willkommen, denn die Erinnerung an damals steht dem erhofften Aufschwung im Weg. Nur Willy Urban, Polizist im Ruhestand, kann die Vergangenheit nicht ruhen lassen. Mit ihm begibt sich Anna auf eine Reise, die sie immer tiefer in eine Welt aus Obsessionen und Gewalt zieht …

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Christoph Heiden

Zurück im Zorn

Thriller

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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2020

Lektorat: Daniel Abt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Karte auf S. 6–7: Magdalena Schneider

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart, ­unter ­Berücksichtigung einer Anregung von Matthias Pick,

unter Verwendung eines Fotos von: © claudiarndt / photocase.de

Druck: GGP Media GmbH, Pößneck

Printed in Germany

ISBN 978-3-8392-6360-0

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Karte

Figuren

Anna Majakowski: Sozialarbeiterin, Waise

Willy Urban: ehemaliger Polizist, Witwer

*

Martin Berger: Brandstifter, Heimkehrer

Lisbeth Berger: Rentnerin, Martins Mutter

Jörg Berger: Martins Vater, verstorben

*

Stephan Majakowski: Pensionsbesitzer, Annas Onkel

Helene Majakowski: Pensionsbesitzerin, Annas Tante

David Majakowski: arbeitet im Gutshaus, Annas Cousin

*

Lennart Majakowski: Schüler, Annas Bruder, verstorben

Mutter Majakowski: Hausfrau, verstorben

Papa Majakowski: Vertreter, verstorben

*

Danny Schmidt: Führer für Nachtwanderungen

Kevin Hübner: arbeitslos, Freund von Danny

Jochen Friesack: Besitzer des örtlichen Pubs

Robert Beck: Ortsvorsteher von Gollwitz

Lasse Kallabis: arbeitet im Geflügelhof

Claudia Kallabis: arbeitslos, Lasses Frau

Jeanette Gerber: Dorfbewohnerin

*

Sonja: Annas Arbeitskollegin

Mike: Reinigungskraft in der »Blauen Oase«

Paul: Annas Ex-Freund

Eva Urban: Willys Frau, verstorben

Tom Wolf: Willys ehemaliger Kollege

*

Henning Kokles: Vogelkundler

Frau Kramer: Kokles’ Tochter

Herr Kramer: Kokles’ Schwiegersohn

*

Benny: Martins ehemaliger Zimmergenosse

Das Sumpfding: Gast aus Louisiana

Alan Albert Bloch: britischer Drehbuchautor, Esoteriker

Brandnacht

18. März 1995

»Warum liest du nicht ein bisschen?«

»Mama, Lesen ist langweilig.«

»Dann weiß ich auch nicht.«

»Ich will mit euch Fernsehen gucken.«

»Nein, heute nicht.«

Anna verschränkte die Hände hinter dem Kopf und starrte in stillem Protest an die Decke; direkt über dem Bett ein Poster von Michael Jackson: die Hand im Schritt, das Hemd aufgerissen und das Gesicht so blass, dass es in manchen Nächten wie ein eckiger Mond strahlte.

»Kannst du mir nichts vorlesen?«

»Nein, Anna.«

»Nur eine ganz kurze Geschichte? Bitte.«

Ihre Mama, auf der Bettkante sitzend, die Beine übereinandergeschlagen, stupste mit dem Fuß gegen den Kassettenrekorder; davor lagen drei Hörspiele, die Anna von ihrem Bruder geliehen hatte und die sie wochentags in den Schlaf begleiteten. Mit trotziger Stimme sagte sie, dass sie keine Lust auf Alf habe.

»Seit wann das denn?«

»Der ist im Fernsehen viel lustiger.«

»Heute gibt’s kein Fernsehen. Punkt.« Ihre Mutter stützte einen Arm aufs Bett, langte hinter sie und zog den neuen Teddy hervor. »Wenn du dich an ihn kuschelst, schläfst du garantiert schnell ein.«

»Wetten nicht.«

»Der ist von deinem Verehrer, also.«

»David ist mein Cousin.«

»Na und?«

»So was ist igitt.«

»Verehrer bleibt Verehrer.«

Anna betrachtete zunächst den Teddy, der sie mit riesigen braunen Glasaugen anglotzte, dann ihre Mutter, die sanft über das Fell des Bären strich, die Schnauze umrandete und tat, als würde sie ihn an den Tatzen kitzeln. Letzten Monat hatte ihre Mutter sich die Haare blondieren und bis unter die Ohren kürzen lassen; das machte sie um zehn Jahre jünger. Mindestens. Anna kam der Gedanke, sie vielleicht mithilfe eines Kompliments umzustimmen; sie könnte ihr sagen, dass sie wie Madonna aussähe, nein, besser sogar. Schließlich verwarf sie die Idee und ging in die Offensive.

»Und warum darf Lennart fernsehen?«

»Lennart ist in seinem Zimmer«, erwiderte ihre Mama. »Der hat längst Gute Nacht gesagt.«

»Jetzt schon?«

»Keine Ahnung, was er hat.«

»Habt ihr euch gestritten?«

»Ach, du kennst ihn ja.«

Ihre Mama neigte sich vor, gab ihr einen flüchtigen Kuss, und Anna roch den Alkohol in ihrem Atem, den Alkohol und das Aroma knuspriger Chipsletten. Kaum hatte ihre Mutter die Tür zum Flur geöffnet, hörte sie aus dem Erdgeschoss tosenden Applaus. Im Fernsehen lief »Wetten, dass..?«, das sie auch gemeinsam hätten gucken können. Mama, Papa, sie und Lennart. Aber ihre Mutter hatte den Abend anders geplant, ohne die Kinder, allein mit ihrem Mann. Die Tür schloss sich, und Anna betrachtete erneut das Poster über ihrem Bett.

Ein Mitschüler hatte ihr erzählt, Michael Jackson schlafe in einem Sauerstoffzelt, das sein Leben um hundert Jahre verlängerte. Sie fragte sich, ob in dem Zelt auch seine Freunde Platz fänden oder er darin mutterseelenallein lag, ob er die Einsamkeit mit dem Komponieren neuer Songs bekämpfte. Ein Zelt voller Sauerstoff, sinnierte sie. Wäre es nicht einfacher, im Wald unter einem grünen Baum zu schlafen? Sie seufzte, drehte sich auf die Seite und legte das Alf-Hörspiel »Reden ist Blech« ein, löschte dann das Licht und bettete ihren Kopf in den flauschigen Schoß des Teddys.

Ein heftiges Rütteln riss Anna aus ihren Träumen, ein Arm schob sich unter ihre Kniekehlen, ein anderer unter ihren Rücken, dann hievte sie jemand vom Bett. Es war Lennart, ihr Bruder.

»Halt dir den Pullover vor den Mund«, sagte er.

In wilder Panik trat sie aus, und als sie ihn mit der Ferse am Kinn traf, ließ er sie zurück aufs Bett fallen. Sie wollte nach ihrer Mama rufen, brachte aber nur ein Röcheln, ein schmerzhaftes Husten zustande.

»Bitte«, flehte er. »Nimm das verdammte Ding.«

Sie versuchte zu schreien, bis er ihr den Pullover ins Gesicht presste. Seine Arme glitten zum zweiten Mal unter ihren Körper und stemmten sie hoch. An seine Schulter geschmiegt schwebte sie über die Türschwelle und die Treppe abwärts; alles war ringsum von Rauch verhüllt, jeder Atemzug drohte, ihr die Lunge zu zerfetzen.

»Was hab ich getan?«

Lennarts Stimme, kaum verständlich.

»Was hab ich getan?«

Er trug sie durchs Wohnzimmer, wo der Rauch dicht und blau und heiß war, dann in die Diele und zur Vordertür hinaus. Ihr Kopf rutschte von seiner Schulter in seine Armbeuge, und die Welt zeigte sich ihr verkehrt herum: Oben die graue Straße, unten der schwarze Nachthimmel und von irgendwoher ein rotes flackerndes Licht.

»Was hab ich getan?«

Seine Stimme nun kraftlos.

»Was hab ich bloß getan?«

Er wankte über das Feld und sank nach 100, vielleicht auch 200 Metern auf die Knie, legte Anna behutsam ab, schob den Pullover unter ihren Kopf, und während sie sich im Liegen erbrach, sah sie Lennart zurück zum Haus rennen. Er verschwand in Rauch und Feuer, für immer.

DONNERSTAG

Liebste Anna

 

Ich bin ein ganz, ganz dummer Junge. Was ich getan habe, war nicht richtig. Im Rechnen hatte ich immer Einsen, trotzdem hab ich mich verzählt.

1 Papa,

1 Mama,

1 Brüderchen.

Das macht nach Adam Ries 3 feine Leichen. Dabei sollte das Sümmchen das Doppelte ergeben. Aber sei bitte nicht enttäuscht, ich werde die Rechnung korrigieren. Dein Onkel, deine Tante und der schöne David sind als Nächstes dran.

 

Einen schönen Tag wünsche ich Dir,

Küsschen.

Drecksau

»Meine Fresse«, sagte Willy Urban, während er auf dem Küchenstuhl stand und den Fliegenfänger musterte.

Der Streifen war von oben bis unten mit Ungeziefer übersät; einige Kadaver sahen aus, als wären sie in Zuckerwatte getaucht worden. Das kam vom Fliegenschimmel, einem Pilz, der die Tiere bei lebendigem Leib zersetzte und deren Kadaver so anschwellen ließ, dass sie auf ihre Artgenossen äußerst betörend wirkten. Versuchten die gesunden Fliegen nun, den Kadaver zu begatten, infizierten sie sich ebenso. Verdammte Geilheit, dachte Willy und rupfte das Band von der Decke.

Er durchquerte die Küche und gab sich alle Mühe, die klebrige Falle auf Abstand zu halten. Wenn er etwas mit seinen 69 Jahren hasste, dann war es Wäschewaschen; allein die Vorstellung, die Klamotten nach Hell und Dunkel zu sortieren, später auf die Leine zu hängen, zusammenzulegen oder gar bügeln zu müssen, bog ihm die Fußnägel zurück. Die Buntfaltenhose und das Karohemd hatte er heute frisch angezogen, aber seine Steppweste strotzte derart vor Dreck, dass kein Fliegenschiss sie hätte besudeln können.

Er zerrte den Mülleimer aus dem Spülschrank, warf den Streifen hinein und machte sich gedanklich die Notiz, eine Packung »Fliegentod« zu kaufen. Im Sommer wimmelte es hier vor Ungeziefer, sodass die Fliegenklatsche sein treuester Begleiter war; jetzt ruhte das Viehzeug allerdings in Winterstarre.

Er hob eine offene Flasche Bier vom Tisch, trank einen Schluck und schlurfte zum Backofen. Nach dem Aufwachen heute Morgen hatte er in der klammen Kälte seines Hauses beschlossen, die Gefriertruhe abzustellen. Seit Tagen hielten sich die Temperaturen unter null. Der Kasten fraß unnötig Strom, und ihm fiel kein plausibler Grund ein, weshalb er die wenigen Lebensmittel nicht im Schuppen oder auf dem Fenstersims lagern sollte; die Kälte gab es immerhin frei Haus. Neben Fischstäbchen und Preiselbeeren hatte er in der Truhe einen Beutel Pflaumen entdeckt, die er im letzten Herbst eigenhändig gepflückt, entkernt und eingefroren hatte. Als Willy den Backofen nun öffnete, strömte ihm der Duft eines hausgemachten Pflaumenkuchens entgegen.

Der Teig wölbte sich über das Blech, an den Rändern leicht gebräunt, in der Mitte zartgelb, und der Fruchtsaft warf auf den Pflaumen winzige Bläschen. Er pikste mit dem Messer hinein und musterte anschließend die Klinge. Fast fertig, dachte Willy und verdrehte in heller Vorfreude die Augen.

Er nahm eine Kuchengabel und einen Teller von Evas Lieblingsgeschirr aus dem Schrank. Handgemaltes Rosenmotiv auf weißem Porzellan. Dann latschte er, den Backgeruch in der Nase, den Speichel im Mundwinkel, zur Anrichte und griff nach dem Zuckertopf. Ein Stück Pflaumenkuchen ohne Zucker war wie eine Suppe ohne Fettaugen oder Kaffee ohne Sahne.

»Verdammt«, fluchte er. »Alle.«

Er hatte den letzten Zucker für den Hefeteig verwendet, eine Erkenntnis, so giftig und bitter, dass er das Bier in einem Zug leerte. Die Küchenuhr zeigte halb sechs. Seine Abendplanung sah keine Fahrt zum Netto vor; er wollte die Beine ausstrecken, den Kuchen verputzen, zwei oder drei Schnäpse kippen und sich einen Dokumarathon auf »National Geographic« geben. Außerdem hatte er im Laufe des Nachtmittags drei Bier getrunken, was eine Autofahrt de facto ausschloss. Als ehemaliger Polizist klebte ihm die Vorbildfunktion an den Fersen wie Hühnerkacke. Er strich sich das Haar zurück, öffnete ein neues Bier und latschte in die Wohnstube. Die Freude auf den Kuchen war dahin.

Der Abend schwärzte die Fenster, und das Licht der Stehlampe leckte über die Scheiben und Ofenkacheln. Willy hakte die Daumen in die Westentaschen und beäugte sein Spiegelbild im Fenster. Früher hatte Evas Putzfimmel dafür gesorgt, dass er sich mit scharfen Konturen und feinen Details auf dem Glas wiedererkannte; jetzt war seine Gestalt unscharf, schwammig und seines Erachtens viel zu fett. Eva hätte ihn beim Anblick der Wohnstube garantiert eine Drecksau geschimpft. Dabei saugte er regelmäßig Staub, schrubbte das Klo einmal im Monat und ließ den Abwasch höchstens eine Woche stehen. Andere Dinge vernachlässigte er, insbesondere solche Dinge, die Eva erledigt hatte: Fenster putzen, Vorräte auffüllen, Staub wischen oder eben die Wäsche waschen.

In einem Anflug von schlechtem Gewissen schnappte er sich das Kissen vom Ofenhocker und rieb es über die Kacheln, dann trottete er zu dem Küchenbüfett an der hinteren Wand. Das Möbelstück passte nicht in die Wohnstube, wirkte hier deplatziert, als stünde es für den Sperrmüll bereit. Willy fand es praktisch, erstens hatte auf der Arbeitsfläche sein Plattenspieler Platz und zweitens konnte er den unteren Teil mit allerlei Krimskrams zumüllen. Halbherzig strich er das Sitzkissen über das Holz und die Glastüren. Wäre ihre Ehe nicht kinderlos geblieben, hätte Willy sich wohl zum Besseren entwickelt; wahrscheinlich wäre er heute einer dieser perfekten Witwer, deren Verlust ungeahnte Kräfte in ihnen mobilisierte. Diese Super-Witwer, die im Kirchenchor singen oder Hunde aus dem Tierheim Gassi führen, die mit dem Fahrrad zum Bioladen fahren und Grundschülern Geschichten vorlesen. Willy hatte keine Kinder, denen er Autonomie oder Lebensfreude beweisen musste, und somit drang das Licht Jahr für Jahr dumpfer durch die Fenster. Nicht mehr lang und in seiner Wohnstube würde ewige Dämmerung herrschen.

Er pflanzte sich aufs Sofa, schob das Kissen hinter seinen Rücken, und solange seine Finger zwischen den Polstern nach der Fernbedienung stöberten, beäugte er die rechte Wand. Früher zierte die Tapete ein auf Pappe geleimtes Puzzle, das Eva während ihrer Chemotherapie gemacht hatte; heute hingen dort Fotos und Zeitungsartikel und eine Karte vom Westhavelland.

»Kannst du mir mal verraten, was ich übersehn hab?«, fragte er in die Stille hinein. »Hä?«

Doch Eva reagierte nicht, mit keinem Wort, keiner Geste.

»Was frag ich dich überhaupt«, motzte er. »Du hast schon damals die Schnauze voll gehabt.«

Er spähte nach den beiden Fotografien, die im Zentrum seiner Sammlung hingen. Auf der besseren Aufnahme sah man einen jungen Mann neben seiner Mutter. Martin und Lisbeth Berger. Willy hatte das Foto Mitte der 90er geknipst, was die Persönlichkeitsrechte der beiden verletzte und ihm fast eine Abmahnung eingebracht hätte.

Das zweite Foto, das ein Vogelkundler aus Pechlin geschossen hatte, war in Schwarz-Weiß und zeigte einen Ausschnitt der Gollwitzer Heide: im Hintergrund der graue Himmel und die Landschaft, im Vordergrund eine Straße und die verwischte Gestalt eines Mopeds inklusive Fahrer. Das Kennzeichen war von Matsch verdreckt und dementsprechend unbrauchbar. Henning Kokles hatte den Heimflug der Kraniche festhalten wollen, und das Moped war ihm zufällig ins Bild geraten. Für ihn eine verpfuschte Aufnahme, für Willy der Beweis, nach dem er lange gesucht hatte. Manchmal wünschte er sich, dieser Zufall hätte sich nie ereignet und Kokles zwei Sekunden später den Auslöser gedrückt. Vielleicht wäre er dann auch ohne Kinder einer dieser perfekten Witwer geworden.

»Dir ist doch klar«, fragte er, »dass er wieder zuschlagen wird?«

Er klopfte mit der Fernbedingung auf seine Oberschenkel, als erwartete er von Eva tatsächlich eine Antwort. Nach einer Weile seufzte er und schob die leere Bierpulle zwischen die Polster, angelte vom Boden eine Flasche »Goldkrone« und dachte an den verdammten Zucker.

Bloß keine Panik

Während Justin sich über einen älteren Jungen ausließ, hörte Anna das Läuten des Telefons; es drang durch die Bürotür auf den Flur hinaus, abgehackt und schrill, als würde ihr der Anrufer direkt ins Ohr kreischen.

»Wieso darf der immer bestimmen?« Justin fuchtelte mit seiner Tischtenniskelle herum. »Die anderen wollen auch spielen.«

»Ich werde mit ihm reden.«

»Das sagt Sonja auch immer.«

»Gib mir fünf Minuten, okay?«

Justin nahm das Läuten entweder nicht wahr oder ignorierte es absichtlich; obwohl sie vor seinen Augen den Schlüssel ins Schloss steckte, verlangte er von ihr, sie solle den Idioten rausschmeißen. »Jetzt sofort.«

»Ich muss ans Telefon«, erklärte sie.

»Dann warte ich hier.«

»Justin, wir schließen um acht.«

»Hab ich’s doch gewusst.«

»Was hast du gewusst?«

»Dass du sowieso nichts machst.«

»Justin«, sagte sie. »Fahr mal runter.«

»Das ist der beschissenste Jugendklub, den ich kenne.« Er warf den Schläger auf den Boden, wandte sich ab und lief in der Pose eines arroganten Fußballers zur Treppe. »Das war so was von klar!«, brüllte er. »Typisch Anna!«

Keine Zeit und keine Nerven, um sich seine Komplimente anzuhören. Sie schloss die Tür auf und huschte ins Büro. Unerledigte Aufgaben hatten aus dem Raum eine Rumpelkammer gemacht; rechts ihr Schreibtisch, ringsum Regale bis unter die Decke. Wo sich keine Ordner aneinanderreihten, standen Kartons voller Flyer oder Brettspiele, die sie auf Vollständigkeit prüfen wollte. Am Schrank ein Plakat zur U-18-Wahl, davor eine Kiste mit Broschüren von Pro Asyl und einer neu gegründeten Mädchengruppe. »Girls Power – Machst du mit?« Aus dem Aktenschrank war das obere Scharnier rausgebrochen, sodass die Tür halb in den Raum ragte. Unten am Kühlschrank hing eine Postkarte vom Hausmeister: Liebe Grüße aus Vietnam. Ich vermisse keinen von euch. Anna ließ sich auf den Drehstuhl fallen und langte nach dem Telefon.

»Majakowski hier.«

Keine Reaktion.

»Hallo?«

Sie schaute aufs Display.

»Ist jemand dran?«

Kein Name wurde angezeigt, keine Nummer.

»Hallo-o?«

Sie hörte ein Seufzen. Oder ein Stöhnen.

»Nur als kleine Info«, sagte sie. »Ich lege jetzt auf.«

Wer auch immer angerufen hatte, kam ihr allerdings zuvor und unterbrach die Verbindung. Sie prüfte erneut das Display, wo neben dem Akkustand lediglich die Uhrzeit blinkte. 20.03 Uhr. Justin hatte recht; sie würde im Tischtennisraum nicht für Gerechtigkeit sorgen, zumindest nicht mehr heute. Typisch Anna. Sie legte das Telefon auf einen Stapel Formulare, lehnte sich zurück und betrachtete den Brief, den sie heute Morgen in der Post gefunden hatte. Schon beim Lesen war ihr kotzübel geworden, dann hatte sie ihn an die äußere Tischkante geschoben, möglichst weit weg von sich, nur einen Stups vom Papierkorb entfernt.

In der Hoffnung, den Brief ignorieren zu können, wandte sie sich ab und starrte mit übertriebener Konzentration auf den Laptop. Sie musste noch eine Mail an das Jugendamt schreiben. Ein Mädchen, das regelmäßig den Klub besuchte, hatte ihre im Müll versinkende Wohnung inklusive ihrer alkoholisierten Mutter gefilmt; daraufhin hatte ihre Freundin das Video ins Internet gestellt, ganz selbstlos, quasi als Beweis echten Mitgefühls.

Während Anna in Gedanken angemessene Sätze formulierte, aktivierte der Laptop den Ruhemodus. Der schwarze Bildschirm spiegelte nun das Büro wider: im Hintergrund das stete Chaos, im Vordergrund Annas Gesicht. Ihr rechtes Auge war deutlich kleiner als das linke, doch sobald sich ihre Miene veränderte, fiel es nicht mehr auf; zu ihrem Bedauern hatte sie die Angewohnheit, mit leblosem Ausdruck in der Gegend herumzustarren. Wie eine Eule – nur mit einem kleinen und einem großen Auge. Durch ihr kurzes Haar ähnelte sie ihrem Bruder oder eher einer 33-jährigen Version von ihm, einer Version, die niemals existiert hatte und niemals existieren würde. Mit einer impulsiven Geste schlug Anna gegen die Maus, und der Bildschirm leuchtete wieder auf.

Etwa zehn Minuten später schlenderte ihre Kollegin Sonja ins Büro; sie trug eine Pudelmütze, einen Parka und Doc Martens. In Gegenwart der knapp 50-Jährigen fühlte sich Anna frühzeitig gealtert – in Mode und Lebensstil, in Ansichten und Wünschen.

»So«, sagte Sonja. »Ich hab die Meute rausgefeuert.«

»Auch die ewigen Nörgler?«

»Alle in die Kälte verscheucht, allesamt.«

Anna streckte ihr den Daumen entgegen.

»Ich soll dir allerdings von Justin ausrichten, dass du gehirnamputiert bist und schwul.«

»Hat er wirklich gehirnamputiert gesagt?«

»Ja, sehr laut und mit sehr viel Spucke.«

»Ziemlich retro«, stellte Anna fest. »Hätte ich ihm gar nicht zugetraut.«

Sonja öffnete das Fenster, setzte sich auf die Heizung und zündete sich eine Marlboro an. Eigentlich war das Rauchen im Klub untersagt, aber das kümmerte Anna nur so weit, dass sie Sonja ermahnte, sich nicht erwischen zu lassen. Sie wickelte sich ein Halstuch um und widmete sich der E-Mail.

»Ach du Scheiße«, fluchte Sonja. »Wer hat das denn verzapft?«

Anna schaute vom Laptop auf und realisierte, dass ihre Kollegin den Brief in den Fingern hielt. »Eigentlich ist das privat.«

»Sorry, ich dachte, das wäre ein peinlicher Liebesbrief.«

»Dann wär’s auch privat.«

»Mann, nicht von dir. Von einem der Kinder.«

»Hab’s kapiert«, entgegnete Anna härter als beabsichtigt.

»Entschuldige, aber das ist krank. Echt krank.«

»Ich weiß.«

»Hat den dein Ex geschrieben?«

»Wie kommst du ausgerechnet auf den?«

»Nach dem, was du von ihm erzählt hast.«

»Nein, das ist nicht Pauls Art.«

Sonja blies den Rauch hinaus in die Nacht und reckte ihr gleichzeitig den Umschlag entgegen. »Haben den etwa unsere Pappenheimer fabriziert?«

»Nein, hundertprozentig nicht.«

»Und warum bist du dir so sicher?«

»Auf dem Poststempel steht ’ne 14.«

»Und das bedeutet?«

»Die Zahl steht fürs Briefzentrum, in diesem Fall für Stahnsdorf.«

»Noch nie gehört.«

»Liegt draußen in Brandenburg.«

»Aha, und kennst du da jemanden?«

Anna stieß sich vom Schreibtisch ab, rollte zum Fenster und gierte nach der frischen Luft, die ihr die Beklemmung in der Brust lösen sollte. »In Stahnsdorf landet auch die Post aus Gollwitz.«

»Gollwitz, dein Heimatdorf?«

»Meine Heimat ist Berlin, okay?«

»Du weißt, was ich meine.«

Anna schwieg.

»An deiner Stelle würde ich die Bullen rufen?« Sonja streifte die Asche am Fenstersims ab und wandte sich ins Büro. »Das ist quasi ’ne Morddrohung.«

»Ich wette, das hat irgend so ’n Dorftrottel geschrieben.«

»Das macht’s nicht besser.«

»Solche Freaks muss man ignorieren, sonst stachelt man sie nur an.«

»Das heißt ja nicht, dass man sich alles bieten lassen muss.«

»Sonja, wenn sich irgendwer darauf einen runterholt, kann ich’s eh nicht verhindern.«

»Und wenn du Anzeige gegen Unbekannt stellst?«

»Ich schmeiß den Brief weg und die Sache ist erledigt.«

Anna rang sich ein Grinsen ab und zupfte gleichzeitig den Umschlag aus Sonjas Hand, dann rollte sie mit dem Bürostuhl zurück an den Schreibtisch, fuhr den Laptop runter und warf sich ihren Mantel und ihren Rucksack über.

Sie begaben sich auf die allabendliche Kontrollrunde: Sonja warf einen Blick in die Toiletten, Anna checkte den Tischtennisraum. Beim Öffnen der Tür schlug ihr die ganze Wucht pubertärer Ausdünstungen entgegen. Wäre es nach ihr gegangen, hätten die Jugendlichen zu jedem Schläger ein Duftbäumchen ausleihen müssen. Fichtenduft versus Schweiß, verursacht von Hormonen und dicken Kapuzenpullis. Sie prüfte die Fenster und fegte die Schalen der Sonnenblumenkerne zusammen, die man neuerdings überall im Haus fand.

Auf dem Weg ins Erdgeschoss fragte Sonja beiläufig, ob sie ihre Familie schon angerufen habe.

»Warum sollte ich?«

»Hallo, der Brief!«

»Ja, und?«

»Würdest du nicht wissen wollen, wenn dich jemand bedroht?«

»Ich will sie nicht in Panik versetzen«, rechtfertigte sich Anna. »Nicht wegen so einem Spinner.«

Sie traten vor die Eingangstür und der Bewegungsmelder schaltete das Hoflicht an. Irgendwer hatte einen Zweig in einen Schneehaufen gesteckt und darauf eine leere Chipstüte gestülpt; der Wind entlockte ihr ein Knistern, als würde ein scheues Tier über totes, gefrorenes Laub schleichen. Anna tippte den Code für die Alarmanlage ein, da klingelte im zweiten Stock erneut das Telefon. Vielleicht der Anrufer von vorhin. Sonja schaute sie an, bis Anna demonstrativ mit den Schultern zuckte.

»Ich würde es machen«, sagte ihre Kollegin.

»Was? Noch mal reingehen?«

»Nein, meine Familie informieren.«

»Wir haben uns das letzte Mal vor Ewigkeiten gesehen.«

»Du hast ja bloß Schiss, Anna.«

»Was soll ich denen denn sagen: Hallo, meine Lieben. Ich hab einen Brief erhalten, in dem jemand ankündigt, euch abzufackeln?«

»Ja, zum Beispiel«, meinte Sonja.

»Das würde sie total verschrecken.«

»Das tut die Wahrheit doch meistens, oder?«

Liebende Walrosse

Willy setzte seinen Astra rückwärts aus der Einfahrt und brachte ihn knapp vor dem Straßengraben zum Stehen. Das Haus, das er länger als sein halbes Leben mit Eva bewohnt hatte, lag außerhalb von Gollwitz. Eingerahmt von verschneiten Feldern war der Ziegelbau erbarmungslos der Witterung ausgeliefert; eine Steintreppe führte zu einer Flügeltür, deren blauer Anstrich sich bestenfalls erahnen ließ; von den Fensterläden hatten Wind und Regen die Farbe gespült. Das Haus schien sich langsam, aber sicher in der havelländischen Ebene aufzulösen. Willy machte das Radio an, drückte aufs Gas, und nach wenigen Sekunden verschwand das Hoflicht aus dem Rückspiegel.

Er nahm den Feldweg, der von seinem Haus zur Gollwitzer Chaussee führte. Das Ende der 20-Uhr-Nachrichten signalisierte ihm, dass der Netto am Rathenower Stadtrand soeben geschlossen hatte. Egal, sagte sich Willy. Zucker gibt’s auch anderswo. Als im Radio »You see the trouble with me« von Barry White angekündigt wurde, drehte er die Lautstärke auf, doch statt den Song einfach abzuspielen, strapazierte der DJ Willys Geduld mit Hörergrüßen.

»Wen interessieren denn Inge und Klaus?«, brüllte er. »Hau rein, die Nummer!«

Eva hatte für das »Walross der Liebe« und seine kosmische Bassstimme zeitlebens geschwärmt: Zum Putzen hatte sie die alte Platte aufgelegt und war zu »Just the way you are« oder »Let the music play« durchs Haus geflattert, hatte zu »Your sweetness is my weekness« den leckersten Kuchen der Welt gebacken.

»Dir ist nie der Zucker ausgegangen«, murmelte Willy und trommelte aufs Lenkrad, während der Astra durch Schnee und Dunkelheit pflügte.

Er wusste um seine Trunkenheit, und er wusste, dass das Fass noch nicht überzulaufen drohte. Er griff aus dem Seitenfach eine Plastikflasche und klemmte sie zwischen seine Beine. Billiges Discounterbier, mit praktischem Schraubverschluss und 25 Cent Pfand pro Flasche. Er pustete den Schaum ab, kippte einen Schluck und leckte sich über die Lippen, dann ein zweiter Schluck und ein dritter, und je leerer die Flasche wurde, desto lauter stellte er das Radio.

Welkes Gestrüpp und kahle Obstbäume schoben sich ins Fernlicht, blitzten auf und verschwanden wieder. Unter der Eisdecke gefror das Fallobst vom letzten Herbst, hier und dort durchsiebten dürre Gräser das Weiß. Willy brauchte das alles nicht zu sehen, denn die Region umschloss sein Herz wie ein Kranz feiner Venen und Arterien. Er konnte sich nicht vorstellen, woanders zu leben, woanders zu sterben; das Doppelgrab auf dem hiesigen Friedhof war längst abbezahlt.

Auf der Gollwitzer Chaussee drosselte er das Tempo und stierte konzentriert dem Fernlicht hinterher. Pass bloß auf, verdammt. Einen Astronisten über den Haufen zu fahren, würde ihm wohl einen Ehrenplatz unter seinen Mitbürgern bescheren; da verstanden die Gollwitzer keinen Spaß.

Vor zwei Jahren hatte man die Region 90 Kilometer westlich von Berlin zum ersten Sternenpark Deutschlands gekürt. Das Kerngebiet reichte vom nördlichen Zipfel Rathenows bis hinauf zur Gemeinde Gülpe. Die dünne Besiedlung und die Lichtarmut sorgten für einen Himmel, wie es ihn in Deutschland kein zweites Mal gab. Dass Menschen die Region wegen der rabenschwarzen Nächte aufsuchten, war bei den Gollwitzern zunächst auf Skepsis gestoßen; heute dagegen stapelten sich in den Pensionen nachtblaue Flyer, Stern- und Postkarten. Man hatte sogar einen Namen für die Besucher kreiert: Astronisten, eine Kombination aus Astronomen und Touristen.

Willy brachte der Sternenhimmel kaum in Verzückung. Sein Gedächtnis war voll von Nächten, in denen Suffköppe im Dorf randalierten oder der alte Siebert seine Frau mal wieder verdroschen hatte; Nächte, in denen Eltern vom Unfalltod ihres Sohnes erfuhren oder er verstörte Kinder einer Notunterkunft übergeben musste. Und es gab die Nacht, als er zum Haus der Familie Majakowski gerufen worden war. Für diese Tragödie hatten die Gollwitzer ebenso einen Namen kreiert: Die Brandnacht, so schlicht wie unzweideutig. Die Nacht, in der Eva ihren Abgang gemacht hatte, setzte jedoch allem die Krone auf.

In Gedanken an seine Frau schwenkte er die Flasche zum Seitenfenster.

»Ich hoffe, bei dir ist es wärmer.«

Unter abgeschirmten Laternen zog sich die Dorfstraße dahin wie durch eine Geisterstadt. Gollwitz, Kreisstadt Rathenow, Landkreis Havelland. Winterzeit war auch hier keine Erntezeit. Die Astronisten wagten sich kaum in diese Hundekälte; vielleicht hockte ein harter Kern im hiesigen Pub zwischen den Einheimischen und trank sich Mumm für die Wanderung an. Willy war das alles einerlei, die Sterngucker, die Winterflaute, der verdammte Himmel. Er wollte ein Päckchen Zucker, mehr nicht.

Er fuhr am Denkmal der »Butterhexe« vorbei und schwenkte die Flasche erneut zum Fenster. Die Frau war 1672 verbrannt worden, weil sie verunreinigte Butter verkauft haben soll. Schon vor 300 Jahren hatten sich die Gollwitzer nicht hinters Licht führen lassen. Er folgte der Dorfstraße und passierte die Fachwerkkirche, wendete und parkte den Wagen in Sichtweite von Friesacks Pub.

Jochen Friesack, ein Mann um die 60, hatte nach der Wende sein Gespartes zusammengeklaubt, um Irland zu besuchen; weshalb sein erstes Ziel in Reisefreiheit ausgerechnet auf die grüne Insel gefallen war, blieb allen ein Rätsel.

»Du hast ihn immer Erdbeermütze genannt«, erinnerte sich Willy in der Dunkelheit des Wagens. Er presste ein bitteres Lachen hervor, aber Eva stimmte nicht mit ein. »Ich glaube, der Idiot hält sich für ’nen verdammten Paddy.«

Er hievte sich aus dem Auto, schob den Schlüssel in die Weste und überquerte mit der Bierflasche die Straße. Friesack hatte vor seinem Pub nicht nur Schnee gefegt, sondern auch Kies gestreut.

»Sehr vorbildlich«, bemerkte Willy und stapfte vor die Ladenfront. Durch das Bleiglasfenster in der Tür drang warmes Licht auf den Gehweg. Sobald ihm das Kneipenschild über der Tür ins Auge sprang, verkrampften sich seine Finger um die Flasche. Auf dem sumpfgrünen Blech stand in verschnörkelten Lettern LEPRECHAUN.

»Wer benennt denn seine Kneipe nach ’nem Kobold?«, fragte sich Willy. »’nem rothaarigen noch dazu.«

Allmählich setzte ihm die Kälte zu; er raffte die Weste um seine Brust, bückte sich und zog unter der Hose seine Wollsocken hoch. Ein Teil von ihm wollte zurück ins Auto steigen und heimfahren; der Pflaumenkuchen wartete im Ofen, der Schnaps neben dem Sofa und »National Geographic« brachte eine Doku über Essigfliegen. Eigentlich ein erstklassiges Programm, auch ohne Zucker auf den Pflaumen.

Er trank den letzten Schluck und holte Schwung, um die Plastikflasche über die Mauer aufs Nachbargrundstück zu feuern. Die Flasche prallte von den Steinen ab und landete mit einem Plopp im Schnee. An manchen Tagen sollte man einfach nicht das Haus verlassen. Dann grunzte er lautstark, als würde ein Grunzen genügen, um den Gedanken zu verscheuchen. Er marschierte die Eingangsstufen empor, und kaum dass er die Tür geöffnet hatte und sein Gesicht in der Kaminhitze zu glühen begann, glaubte er die ganze Welt gegen sich.

Pfoten weg

Anna folgte der Anzeige über dem Fahrstuhl, elfter Stock, zehnter Stock. Der Verkehr von der Frankfurter Allee lärmte durch die verglaste Tür in die Vorhalle. Sie hatte ihre Hände in den Manteltaschen vergraben; die rechte berührte den Wohnungsschlüssel, die linke den Brief. Achter Stock, siebenter Stock. Sie schaute abwärts und sah den Schlamm von ihren Stiefeln rinnen, den die Berliner für Schnee hielten. Dritter Stock, zweiter Stock, endlich. Als der Fahrstuhl im Erdgeschoss ankam, hatte sich ihre Faust um den Brief geballt.

Der Aufzug öffnete sich und sie erblickte eine Greisin, die sich mit einem Rollator abmühte. Sie begegnete der Frau zum ersten Mal, was in einem Hochhaus kein Kuriosum war. Die Anwesenheit anderer Mieter wurde hier von Poltern, Krach und Geschrei verraten, selten dadurch, dass man sich im Hausflur begegnete. Sobald die Alte den Fahrstuhl geräumt hatte, blockierte Anna mit ihrem Rucksack die Tür, folgte der Frau in die Eingangshalle und hielt ihr die Tür zur Straße auf. Sie quittierte den Dank der Greisin mit einem Nicken, schnappte sich den Rucksack und drückte die Taste für die 18. Etage.

Der Lift schloss sich, und ihre Hände rutschten zurück in die Manteltaschen. Sie begann, an dem Umschlag zu zerren, ließ ihre Finger über die harten Kanten gleiten, bohrte ihre Nägel in das Papier. Sonjas Kommentar, dass sie an ihrer Stelle längst ihre Verwandten informiert hätte, gängelte ihr Gewissen; aus ihrem Mund hatte es geklungen wie eine Sache der Moral und des Anstands. Aber ihre Kollegin kannte kaum die Hälfte der Wahrheit. Sie wusste nichts von der Trauer, die stets in Perioden über sie hereinbrach, von ihren Träumen, in denen sie halsbrecherisch zur Wohnungstür eilte, um lediglich einen Lieferschein vorzufinden: Leider war es nicht möglich, Ihnen Ihre Sendung zu übergeben. Vor Jahren hatte Anna sich einem fremden Mann anvertraut; sie waren sich auf einer Party begegnet, er hatte von seinen Depressionen geplaudert, als spreche er über einen verknacksten Knöchel, und sie hatte zu schnell zu viel getrunken. Seiner Depression hatte Anna ihre Trauer entgegengesetzt, seiner Drogensucht ihre Arbeit. Seiner geliebten Ex ihren toten Bruder. Nach dem Sex war sie aus seiner Wohnung geschlichen und hatte sich bei ihm nicht mehr gemeldet. Die Wahrheit lässt sich nicht halbieren, dachte Anna und nahm die Hand aus der Manteltasche.

Ohne im Flur Stiefel oder Mantel abzustreifen, kniete sie vor dem Schuhschrank nieder, öffnete die untere Schublade und hob einen roten Karton heraus. In dem dumpfen Licht der Energiesparlampe glich das Nike-Logo einem abgestoßenen Etikett. Eigentum von A. M. hätte die zwölfjährige Anna auf den Deckel geschrieben. Reingucken verboten. Pfoten weg! Sie stemmte sich hoch, behielt den Karton am Bauch und nahm in den Ohren den eigenen Herzschlag wahr: ein Pochen, das sie häufig aus dem Schlaf riss und die halbe Nacht wachbleiben ließ.

Sie schob den Karton auf den Schrank, fischte aus ihrem Rucksack das Handy und ging ins Wohnzimmer. An den Fenstern klebte eine Dunkelheit, die vom Schein der Laternen und Autolichter ruhelos flirrte. 18 Stockwerke über der Erde und doch nicht losgelöst von allem. Anna drehte die Heizung auf und schaltete die Stehlampe ein. Die Wände ringsum schmückten weder Pflanzen noch Bilder, kein Schnappschuss vom letzten Urlaub, allein die Schatten einer Couch und einer Kommode bogen sich über die Tapete. In der Ecke stand eine Musikanlage, daneben stapelten sich Bücher, die sie auf Trödelmärkten gekauft hatte; alte Schulbücher aus den Fächern Biologie und Erdkunde, ein Lehrbuch der Landwirtschaft, dutzende Reiseberichte riskanter Expeditionen. Bisweilen hockte sie auf dem Boden und inhalierte den Geruch der vergilbten Seiten, den Geruch nach Dachboden und Klassenzimmern, studierte die Schwarz-Weiß-Fotos von Vulkanen und Getreidearten, von Forschern, die mit steifer Miene ein Teleskop oder einen Kernreaktor präsentierten. Anna wusste, dass diese Bücher in Zeiten des Internets so unnötig waren wie zwei verschieden große Augen. Brauchte keiner, wollte keiner. Einmal hatte Sonja ihre Einrichtung als charakterlos bezeichnet, natürlich halb im Scherz, worauf Anna geantwortet hatte: »Wer viel hat, hat auch viel zu verlieren.«

Mit geöffnetem Mantel nahm sie auf dem Sofa Platz. Sie scrollte in ihrem Telefonbuch zum Namen ihrer Tante. Zögerte, grübelte. Vielleicht hatte Sonja recht, vielleicht war sie ihrer Familie einen Anruf schuldig. Sie konnte nicht ausschließen, dass in der Pension ebenso ein Brief angekommen war, schlimmstenfalls befanden sich dort alle längst in heller Aufregung. Sie lauschte dem Tuten, und sobald die Stimme ihrer Tante ertönte, atmete sie erleichtert auf. Es war die Mailbox.

Helenes Stimme klang fest und beherrscht, und unter ihren Worten glaubte Anna das Getuschel der Pensionsgäste zu hören, das Scheppern von Geschirr, den Hall in den hohen Räumen. Nach dem Tod ihrer Eltern waren Gutshaus und Garten ein zweites Zuhause für Anna geworden, ihr Onkel, ihre Tante und ihr Cousin eine Ersatzfamilie. Doch mit bestandenem Abitur hatte sie Gollwitz den Rücken gekehrt; das neue Haus und die neue Familie hatten zwar die Trauer einer Heranwachsenden auffangen können, aber nicht den Zorn einer jungen Frau. Aus ihren Besuchen waren sporadische Anrufe geworden, aus den Anrufen irgendwann Glückwunschkarten, die das schlechte Gewissen schmälern sollten. Schöne Weihnachten, Herzliche Glückwünsche, Viele Grüße. Auf das hoffnungsvolle Bis bald am Ende einer jeden Karte hatte sie rasch verzichtet. Vor fünf Jahren war Anna das letzte Mal in Gollwitz gewesen.

Leider habe sie gerade zu tun, verkündete Helene auf der Mailbox, sie würde jedoch umgehend zurückrufen. Anna legte auf, ohne eine Nachricht zu hinterlassen.

Sie tauschte ihre Wintersachen gegen eine Jogginghose und ein T-Shirt mit einem Aufdruck von »Buffy – Im Bann der Dämonen«, rollte die Wollsocken über ihre Hosenbeine und rutschte auf die Couch. Dort öffnete sie den Brief und strich anschließend das Papier glatt. Der Bogen hatte 15 vorgedruckte Zeilen, die Kindern zur Schreibhilfe dienten; unter der letzten Zeile grinste ein Schneemann mit Karottennase und Kohleaugen. Normalerweise schickten Kinder solche Briefe aus dem Ferienlager nach Hause, normalerweise strotzten solche Briefe vor tollen Erlebnissen und allerliebsten Grüßen. Dieser Brief war anders, zweifellos. Liebste Anna … dein Onkel, deine Tante und der schöne David sind als Nächstes dran. Die Arbeit, ihre Kollegin und ein Haus voller Kinder hatten sie tagsüber vor eben diesen Zeilen beschützt; sie wusste, dass der wahre Horror erst in den eignen vier Wänden begann.

Sie las den Brief wieder und wieder und zerrte dabei einen losen Wollfaden aus ihrer Socke. Offenbar hatte irgendein Spinner Schadenfreude als willkommene Abwechslung zum Alltagstrott entdeckt. Es war kein Geheimnis, dass in Dörfern wie Gollwitz Langeweile und Überdruss herrschten. Ihr Bruder hatte hinlänglich bewiesen, welches Potenzial diese Eintönigkeit entfesseln konnte. Er war nicht nur in den örtlichen Pub eingebrochen, um irischen Whiskey zu stehlen; darüber hinaus hatte er das Denkmal der »Butterhexe« mit Hakenkreuzen und bunten Schwänzen verziert. Auch Lennart wäre imstande gewesen, einen derartigen Brief zu verfassen. Nein, nicht auch, korrigierte sie sich, sondern gerade Lennart.

Als das Telefon klingelte, schreckte sie aus ihren Gedanken hoch. Das Display zeigte unter einem gesichtslosen Kopf den Namen ihrer Tante. Sie legte das Handy auf die Couch und hoffte, es würde rasch verstummen. Durch die Wände krachten die üblichen Geräusche: das Poltern des Mieters über ihr, ein Knacken aus der Nachbarwohnung, als würden dort Holzscheite unter starker Hitze bersten; von irgendwoher das Miauen einer Katze oder vielleicht auch das Wimmern eines Mädchens. Eine endlose Minute später erlosch das Display, dann signalisierte ein Piepen eine SMS. Garantiert hatte Helene auf ihre Mailbox gesprochen.

Statt sich die Nachricht anzuhören, rannte Anna in den Flur und öffnete den Schuhkarton, legte den Brief zu den vier anderen, die bereits darin lagen, und schob den Karton zurück in die Schublade. Sie streifte sich einen Pullover, Schal und Stulpen über, schlüpfte in ihre Laufschuhe und verließ die Wohnung.

Blinde Kuh

Aus versteckten Boxen plärrte Irish Folk, wie er in jedem x-beliebigen Pub gespielt wurde: Akkordeon, Mandoline und Fidel, dazu eine Stimme, die an das Zermalmen von Kohle erinnerte. Im Kamin glomm das Holz, während zwei Kerle stumm, triefäugig und Guinness trinkend in die Glut starrten. Die Gäste an den vorderen Tischen sprachen weiter, als hätte sich die Eingangstür keinen Millimeter gerührt; vielleicht war es unter ihrer Würde, einen Neuankömmling wenigstens mit einem Nicken zu begrüßen. Willy stützte sich am Türrahmen ab und verharrte in lautlosem Protest.

Die Aufmerksamkeit aus der hinteren Sitznische war ihm dagegen gewiss; dort im Halbdunkel saßen jene, die mit der Finsternis Geld verdienten: Besitzer einer Pension oder Wanderführer, Hobby-Ornithologen oder selbsternannte Spezialisten für Sonne, Mond und Sterne.

Links am Tisch die Eheleute Kallabis, die ungefähr in Willys Alter waren. Lasse hatte sein Leben lang in der Putenmast gearbeitet, wo er seiner Frau begegnet war. Die Ammoniakdämpfe vom Vogelkot hatten Claudia offenbar das Hirn vergiftet; sie stierte Willy aus geröteten Augen an, den Rücken gekrümmt, das Doppelkinn zur Hälfte im Bierglas. Daneben hockten Eugen und Constanze Kramer, zwei Berliner, die hier ein Haus gekauft hatten und nun alles Erdenkliche taten, um sich in die Horde zu integrieren. Arschlecken deluxe. Den Großteil der Runde machten die Einheimischen aus. Die Jüngsten unter ihnen, Kevin Hübner und Danny Schmidt, hatte Willy aufwachsen sehen, die Älteren hatten mit ihm die Schulbank gedrückt; aus Leidensgenossen waren Nachbarn geworden, aus Nachbarn irgendwann Fremde.

Er blieb an der Tür stehen und witterte das würzige Aroma, das über die Köpfe, Biergläser und speckigen Tische schwebte. Das Rauchverbot, das Friesack wegen der Touristen und ihrer neumodischen Ansichten durchgesetzt hatte, galt nicht für Johann Beck. Soweit Willy sich erinnern konnte, hatte der Alte nie auf seine Pfeife verzichten müssen, weder hier noch in den Ställen der Genossenschaft. Gleich einem Silberrücken hockte Beck inmitten der Horde, linkerhand sein Sohn, rechterhand seine zweite Frau, vor sich ein Guinness. Willy spürte, wie Beck Junior ihn taxierte.

»Hey, altes Haus«, rief ihm der Wirt vom Tresen zu. Sein Dauergrinsen und das Geschirrtuch auf seinen Schultern sollten Lässigkeit vortäuschen, doch mit jeder weiteren Sekunde, die Willy unterm Türsturz ausharrte, krümmten sich Friesacks Mundwinkel tiefer. Garantiert hatte Erdbeermütze Angst, er würde ihm das Geschäft versauen. Die handzahmen Astronisten mochten keinen Stunk, sie verbrachten ihre Zeit lieber mit Explosionen, die Millionen Lichtjahre entfernt waren. Friesack kam hinter seinem Tresen hervor, wanzte sich an Willy heran und raunte:

»Verzieh dich aus meinem Laden.«

»Wie bitte?«, entgegnete Willy.

»Du bist hier nicht willkommen.«

»Das ist ’n freies Land. Ich kann hingehen, wo ich will.« Ein dummer Spruch aus noch dümmeren Filmen, jetzt fand Willy ihn allerdings originell. »Oder siehst du das anders?«

»Schon mal was vom Hausrecht gehört?«

»Oh, der Herr hat sich belesen.«

»Los, mach ’nen Abgang.«

»Ich will nur ’n Päckchen Zucker.« Er hielt seine Hand wie ein Bettler auf. »Für meine Pflaumen.«

»Ist das ’ne Verarsche?«

»Über Pflaumen würde ich niemals Späße machen.«

Aus der hinteren Sitznische wurde eine Runde geordert, und der Wirt brüllte zurück, dass er sofort käme. Willy merkte, wie seine Abneigung gegen Friesack unter dem ursprünglichen Anlass seines Besuches ein tieferes Bedürfnis freilegte. Er winkelte die Ellbogen an, hakte die Daumen in die Westentaschen und sagte:

»Entweder lässt du mich durch oder du erlebst gleich ’ne Supernova.«

»Willst du mir wieder ’nen Stein ins Fenster werfen?«

»Das hättest du wohl gern.«

»Du warst damals schon neidisch.«

»Hä, auf dich?«

»Auf mich und meinen Pub.«

»Für so ’n Loch wäre mir selbst ’ne Handvoll Kötteln zu schade.«

»Wart nur ab«, drohte Friesack. »Die Quittung wirste noch kassieren.«

»Erst mal will ich ’n Päckchen Zucker. Kapiert?«

Von hinten dröhnte erneut die Bestellung, diesmal in strengerem Tonfall.

»Bist du taub?«, fragte Willy. »Das klang nach ’nem Marschbefehl.«

Mit sichtlich genervter Miene wandte sich Friesack um. Zwei Männern näherten sich der Tür. Sie und Friesack nickten einander zu, dann kroch der Wirt ohne ein weiteres Wort hinter den Tresen, wo er sich selbst einen Doppelten einschenkte.

»Unser Hüter von Recht und Ordnung.« Robert Beck, Sohn vom alten Silberrücken, lächelte so breit, als hätte er einen alten Freund entdeckt. Er und Danny Schmidt trugen Cargohosen und Thermopullover, Beck Junior dazu eine mit Lammfell gefütterte Weste und ein Halstuch.

»Ihr sollt bestimmt den Dreck rauskehren«, sagte Willy.

»Warum so aggressiv?«, fragte Beck.

»Ich will bloß ’n bisschen Zucker.«

»Und ich möchte nur mit dir reden.«

Robert Beck war Inhaber einer Tischlerei und der jüngste Ortsvorsteher, den die Gollwitzer je gewählt hatten. Mit seinem Vater war Willy lange befreundet gewesen, doch seit sich die Gegend »Sternenpark« nennen durfte und ein bisschen Geld in die Kassen floss, hatte sich irgendwas zwischen sie gedrängt.

»Was willst du hier?«, fragte Beck.

»Sag mal, bin ich ’n Papagei?«

Beck strich sich mit Daumen und Zeigefinger über den Schnurrbart. »Hey, wir wollen keinen Ärger.«

»Sprichst du etwa für alle?«

»Ich spreche für deine lieben Mitbürger«, entgegnete er. »Und du, Willy? Für wen sprichst du?«

Aus den Boxen säuselte eine melancholische Nummer, und Willy bemerkte auf unangenehme Weise, wie die Wirkung des Alkohols abflaute. Hätte es ihm sein Stolz erlaubt, wäre er an den Tresen gelatscht, um sich neuen Mut anzusaufen. Geschenkt, dachte Willy. Erdbeermütze würde ihm sowieso kein Pint zapfen oder es zumindest mit hauseigenem Rotz garnieren.

»Okay«, bat Beck in ruhigem Tonfall. »Mach bitte keine Szene.«

Eine Aussage, die sich für Willy wie eine Zeile aus einer Seifenoper anhörte; er empfand sich aber weder als enttäuschten Liebhaber noch als hysterische Geliebte. Er war ein handfester Typ und hatte sein Lebtag dementsprechend gehandelt: Ohne die geringste Ankündigung drückte er seinen Handrücken gegen Becks Unterarm und wollte ihn beiseiteschieben.

»Hey, lass das«, sagte Beck.

»Du hast mir gar nichts zu befehlen.«

»Alter Mann«, höhnte der Ortsvorsteher nun. »Schlaf deinen Rausch aus und komm morgen wieder. Eva hätte dasselbe gewollt.«

In dem Moment, in dem er den Namen seiner Frau vernahm, packte er Becks Arm, um ihn nach Polizeimanier auf dessen Rücken zu hebeln. Beck befreite sich aus der Klammer, scheinbar mühelos, und Willy wurde das ganze Ausmaß seiner Erbärmlichkeit demonstriert. Zunächst hoben die beiden Kerle am Kamin ihre Blicke, dann drängte Beck ihn gegen den Türpfosten, worauf alle anderen Gäste verstummten.

»Ey«, rief Willy ihnen zu. »Gaffen steht unter Strafe.«

»Bleib locker«, flüsterte Beck.

»Was hast du gesagt, hä?«

In den Gesichtern der Gäste saß eine Scham, wie sie nur peinliche Greise verursachten. Danny Schmidt und Robert Beck tauschten die Positionen und der sonst eher geschwätzige Schmidt fixierte Willy am Türrahmen. Schmidts Lippen waren blutleer, hart und versiegelt; Willy hingegen verspürte keinerlei Interesse, still zu sein.

»Ihr könnt mir nicht den Mund verbieten.« Seine Stimme überschlug sich. »Das Schwein kommt raus, das wisst ihr alle.«

»Reiß dich zusammen«, sagte Beck.

»Ich kann ihn in den Knast bringen, wirklich.«

»Das hättest du vor 20 Jahren tun sollen.«

»Ich hab jetzt das Foto. Das beweist alles.«

»Wir werden das auf unsre Art regeln.«

»Verdammt, denk an die Brandnacht«, brüllte er Beck ins Gesicht. »Oder willst du das nächste Mal deine Kinder begraben?«

Auf Willys Geschrei hin hatte Friesack die Lautstärke der Musik aufgedreht. Die Glut im Kamin verwandelte sich in ein wildes Geflacker, und Willy suppte der Schweiß ins Hemd. Er setzte zur Gegenwehr an, was Schmidt jedoch im Ansatz erstickte: Er schlug ihn nicht, er trat ihn nicht, stattdessen umklammerte er ihn von hinten und bohrte ihm sein spitzes Kinn ins Rückgrat. Willy war über die Methode schier verblüfft, bis sein gesamter Körper vor Schmerz erstarrte. Schmidts Kinn schien direkt seine Nervenbahnen zu reizen, und während Willy nichts blieb, außer die Zähne zusammenzubeißen, schubsten sie ihn nach draußen.

Sie stolperten die Eingangsstufen abwärts, und noch ehe sie unten waren, gesellten sich Lasse Kallabis und Kevin Hübner hinzu. Die vier Männer zerrten ihn aus dem Lichtkreis des Schaufensters und weiter die Dorfstraße entlang. Willy hatte jede Kraft eingebüßt, um ernsthaften Widerstand zu leisten; er schwankte von Beck zu Schmidt, von Hübner zu Kallabis und wieder zurück, taumelte zwischen ihnen wie die blinde Kuh im Kinderspiel.

Die Gruppe gelangte zu einem verwaisten Grundstück. Zwischen zwei Scheunen brach sich ein Streifen Ödland in die Nacht; der Schnee war an dieser Stelle alt und unberührt, spröde und hart. Willy beschwor die Männer, seinen Worten Glauben zu schenken, er lallte etwas von Idioten und blinden Fischen, er sagte, der Teufel lache immer als Letztes. Aber die besorgten Bürger ignorierten seine Appelle.

Der fette Kallabis schubste ihn in die Dunkelheit, der drahtige Schmidt positionierte sich hinter ihm. Sie zerrten ihm die Weste von den Schultern, dann knöpften sie sein Hemd auf und rafften ihm das Unterhemd übers Gesicht, sodass er nichts mehr sehen konnte. Schmidt bog ihm die Arme auf den Rücken und brachte ihn mit einem Tritt in die Kniekehle zu Fall. Was nun geschah, tat nicht sonderlich weh, aber ein Teil seines Gehirns – jener Teil, der wohl auch im Schlaf funktionierte – wusste schon jetzt, dass es morgen wehtun würde. Willy schaltete einfach ab und ließ es über sich ergehen.

FREITAG

Erlegte Hirschkuh

Willy erwachte auf dem Sofa, in Hose und Unterhemd, beides dreckverkrustet. Seine Oberarme fühlten sich kalt und taub an, während er unter seinen Fersen die Polster und zwischen seinen Füßen das Sofakissen spürte; offenbar war es ihm wenigstens gelungen, die Schuhe auszuziehen. Seine Erinnerung an den gestrigen Abend grenzte an null.

Sobald er sich hochzustemmen versuchte, meldete sich sein Unterleib. Schmerzen waren nicht auf Erinnerungen angewiesen, das hatte er vor Ewigkeiten gelernt; Schmerzen gaben sich mit dem Hier und Jetzt zufrieden. Als er sich in die Senkrechte zog, bemerkte er die Bierflasche unter seinem Arsch. Er hatte sie gestern, ehe er zum Schnaps übergegangen war, zwischen die Sitzpolster geschoben. Nachdem er die Flasche herausgezerrt hatte, lehnte er sich zurück und stöhnte, dann zupfte er sein Unterhemd hoch.

»Meine Fresse.«

Er feuerte die Flasche gegen die rechte Wand, wo sie mit einem Knall zerbarst, einige Zettel herunterriss und in Scherben zu Boden fiel.

»Verdammte Scheiße, verdammt.«

Seinen von Alkohol aufgeschwemmten Bauch zierten zwei Blutergüsse; jeder einzelne hatte die Größe einer Schuhsohle und schimmerte in einem dunklen Lila. Sowie Willy die Hämatome berührte, zuckte er zusammen. Die Erinnerung an Danny Schmidt und seine Knebeltechnik kroch ihm ins Gedächtnis und belebte gleichzeitig die Schnappschüsse ihrer gemeinsamen Vergangenheit. Schmidt, den Willy aus dem Verkehr zieht, bekifft und rotzfrech. Schmidt, den er bei einem Einbruch erwischt oder bei dem Versuch, einen Außenborder von einem Touristen zu stehlen. Schmidt als Kaninchendieb, Schmidt als Drogendealer. Jedes Mal hatte Willys Nachsicht den Jungen vor einer Strafe bewahrt, doch was hatte es am Ende gebracht?

»Einen Idioten mehr in Gollwitz«, murmelte er. »Sonst nichts.«

Ohne das Unterhemd über den Bauch zu raffen, hievte er sich vom Sofa, blieb eine Weile reglos stehen und starrte ins Leere, als müsste er zunächst seine Körpermitte austarieren. Es war nicht die erste Abreibung, die er sich einfangen hatte. Auf Willy traf die Bezeichnung Bulle nicht nur wegen seiner früheren Arbeit zu, sondern auch, weil er einstecken konnte wie einer. Vor dem Sofa entdeckte er eine Wasserflasche und einen Eimer, konnte sich aber nicht erinnern, beides dorthin gestellt zu haben. Die Achseln zuckend, schlurfte er mit entblößtem Bauch in die Küche.

Er füllte sich ein Glas Leitungswasser ein, fischte aus der Schublade eine Packung Ibu 600 und lehnte sich gegen die Anrichte. Nicht auf leeren Magen, mahnte ihn eine innere Stimme, die eindeutig nach Eva klang. Obwohl sie ihm stets davon abgeraten hatte, war sie zuletzt kaum imstande gewesen, dem eigenen Rat zu folgen; nicht einmal das Verlangen nach Essen war ihr geblieben, nur der Wunsch nach Schmerzlosigkeit, und am Ende die Bitte, er solle seine Dienstwaffe nicht auf Arbeit verschließen.

»Jaja«, gab er nach. »Ich esse einen Happen.«

Ihm fiel sein fast perfekter Pflaumenkuchen ein. Er zog das Blech aus dem Ofen, schob es auf den Tisch und sah, dass irgendjemand den Kuchen angeschnitten hatte; irgendjemand, der nicht Willy Urban hieß und dessen Bauch wahrscheinlich keine Hämatome zierten. Im Spülbecken lag ein benutztes Messer, an der Klinge klebten ein paar feuchte Krümel. Unvermittelt brachte ihm die Grübelei über das fehlende Stück Kuchen ein Stück seiner Erinnerung zurück.

Sie hatten ihn in sein eigenes Auto verfrachtet, Robert Beck, Danny Schmidt, Lasse Kallabis und Kevin Hübner, dann hatten sie ihn heimgebracht und gleich einer erlegten Hirschkuh ins Haus geschleppt. Anstatt ihn auf den Dielen abzuladen, hatten sie das weiche Sofa für angebrachter gehalten. Bilder seiner abendlichen Glanzleistung drangen in sein Bewusstsein: Willy sturzbetrunken im Leprechaun, Willy sturzbetrunken und halbnackt im Schnee. Willy im Angesicht seiner eigenen Erbärmlichkeit.

Er musste sich auf der Anrichte abstützen, so sehr wankten ihm die Beine. Mit Eva an seiner Seite wären ihm derartige Entgleisungen nicht passiert; sie hätte ihn auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt, hätte ihm den Schnaps verboten und an seinen gesunden Menschenverstand appelliert. Von Eva hatte er sich – wenn auch mit knirschenden Zähnen – besänftigen lassen. Wie oft war er mitten in der Nacht aufgewacht und sie hatte ohne das geringste Zögern seine Hand ergriffen?

Willy, mein Schatz?

Ja, was denn?

Du hast geträumt.

Entschuldige, ich wollte dich nicht wecken.

Und war’s wieder das Feuer?

Es ist immer das Feuer, immer.