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In einem einsam gelegenen Haus in Kingston, London, wird die Leiche einer Frau mit zugenähtem Mund gefunden. Es gibt deutliche Parallelen zu einem vergangenen Fall, der fast zwei Jahre zuvor ungelöst zu den Akten gelegt wurde. Sergeant Beverly Evans, ihre Vorgesetzten und Kollegen verfolgen einige heiße Spuren, die sie nach Birmingham und West Bromwich führen. Doch diese Ermittlungend stocken schnell. Scotland Yard beauftragt den jungen Psychologen Daniel Fleming, das Team bei der Suche nach dem Täter zu unterstützen, und Beverly entwickelt mehr als nur berufliches Interesse für diesen Mann. Dann überschlagen sich die Ereignisse, und Beverly gerät in einen Strudel, der sie sowohl dienstlich als auch privat an die Grenzen ihrer emotionalen Belastbarkeit bringt. Überarbeitete Neuauflage des Krimis "Das Klavier, die Stimme und der Tod"
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Seitenzahl: 370
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Rita Janaczek
Ich danke
meiner Familie,
Antje und Agnes
für ihre Unterstützung.
Überarbeitete Neuauflage des Krimis
„Das Klavier, die Stimme und der Tod“
© Rita Janaczek, 2014-2025
Machandel Verlag Charlotte Erpenbeck, Haselünne
Covergestaltung: Elena Münscher
Bildquelle: nilaya/depositphotos.com
ISBN 978-3-95959-471-4
Der Londoner Abendhimmel war wolkenschwer. Ein schmaler dunkelblauer Streifen zog sich am entfernten Horizont entlang, zerrissen vom Wind. Die Regenschauer hatten eine schwere, kalte Feuchtigkeit in der Luft hinterlassen.
Im Londoner Bezirk Kingston, an der Grenze zum Richmond Park, wurde ein kleines Haus von unzähligen Fahrzeugen und Polizeiwagen belagert. An der Vorderfront waren Strahler positioniert. Im Schattenwurf des Hauses bewegten sich die Bäume des dahinterliegendes Parkrandes gespenstisch. Sergeant Beverly Evans stieg aus ihrem Wagen und schlug den Kragen ihres Mantels hoch. Sie war definitiv zu spät dran. Sie hob das Absperrband, schlüpfte darunter durch. Der Tatort war weiträumig abgesperrt, so wie damals, vor zwanzig Monaten. Heute jedoch gab es keine Heerscharen von Schaulustigen, die sich an die Absperrung drängten. Das Haus lag einsam, und bei diesem Wetter ging niemand ohne zwingenden Grund auf die Straße. Nass, kalt, dunkel, einfach widerlich. Beverly bemerkte ihren Atem, der weiß in der Luft hing, während sie den alten Fall rekapitulierte.
Der erste Mord passierte im August. Beverly erinnerte sich an die quälende Hitze, daran, dass sie und ihre Kollegen die Wohnung nicht ohne Mundschutz hatten betreten können. Sie versuchte, nicht an das zu denken, was die Anwältin Laurie Hardin in den letzten Minuten ihres Lebens empfunden haben mochte. Beverly hatte, genau wie ihre Kollegen, bis zum heutigen Abend geglaubt, dass es sich um einen bizarren Einzelfall handelte, dennoch das Werk eines Psychopathen. Der Anruf ihres Vorgesetzten hatte sie eines Besseren belehrt. „Verdammt, der Mord trägt die gleiche Handschrift, wie vor zwanzig Monaten“, hatte Superintendent Whitefield ins Telefon geraunzt, „ich wette, dass wir es mit demselben Täter zu tun haben. Kommen Sie sofort, Evans, sofort! Ist das klar?“
Es war also nicht vorbei.
Die Fotografen der Spurensicherung kamen Beverly mit der schweren Ausrüstung entgegen. Sie hatten ihre Arbeit vor Ort erledigt und grüßten erschöpft, als sie an ihr vorbeikamen.
Beverly war kein alter Hase bei Scotland Yard, dazu war sie mit ihren neunundzwanzig Jahren zu jung, doch sie hatte sich bereits einen Namen gemacht. Zugetraut hatte ihr das anfangs niemand. Sie war klein, schmal und wirkte zerbrechlich.
„Ich weiß, was Sie denken“, hatte sie vor fast vier Jahren ihre männlichen Kollegen mit fester Stimme begrüßt, „aber Sie irren sich. Ich habe nicht vor, halbherzige Arbeit zu leisten. Wenn ich schieße, treffe ich meistens. Ich erwarte nicht, dass mir irgendjemand die Tür aufhält. Ich habe auch nicht die Absicht, mir in irgendwelchen Betten irgendeinen Dienstgrad zu erschlafen. Ich bin Beverly Evans und ich freue mich auf meinen Job hier.“
Das hohe Gras war nass. Der Boden unter ihren Füßen schmatzte matschig. Nach wenigen Schritten spürte sie, wie die Feuchtigkeit kalt durch das Leder der Schuhe an ihre Füße drang. Allister Whitefield kam ihr entgegen. Seine helle Wildlederjacke wirkte fleckig im grellen Licht der Scheinwerfer. Seine grauen Haare waren nass, das runde Gesicht war gerötet. Er schnaufte, die wässrigen Augen flackerten nervös.
„Verdammt Evans, ich hab schon gedacht, Sie kommen gar nicht mehr.“ Er wischte sich über die Stirn, blickte sich kurz um. „Die Techniker sind mit den Fotos durch, die Spurensicherung war schon im Schlafzimmer. Einige sind noch oben. Sie sehen ja, der Rest der Mannschaft friert hier draußen. Alles Weitere zeig ich Ihnen. Stanton und Sands sind drüben. Ich will, dass alle, die den Mord an Laurie Hardin untersucht haben, sich hier reinhängen. Wenn uns dieser Kerl wieder entkommt … verdammt, das darf nicht passieren, darf es einfach nicht, verstanden?“
Alle! Es versetzte Beverly einen Stich. Alle außer Edward. Sie strich sich eine kupferrote Haarsträhne aus dem blassen Gesicht. Ihr Kollege war im letzten Jahr an einem Herzinfarkt gestorben, völlig unerwartet, mitten auf der Straße, an einem kalten Tag im Februar. Frau, vier Kinder, Schulden, die aufreibende Arbeit und eine Geliebte, das war einfach zu viel für sein Herz. Sie hatte wie die anderen auch an seinem Grab gestanden. Sein Tod hatte beendet, was sie nicht hatte beenden können. Edwards Frau hatte nie etwas geahnt. Beverly hasste diese Gedanken, die sie immer wieder an ihre unglückselige Affäre fesselten.
„Auch Miller?“, hakte sie nach. Bitte nicht Miller!
„Ja. Er sitzt zwar noch an einem anderen Fall“, brummte Whitefield, „aber Hays Team kommt auch ohne ihn klar.“
Sie gingen nebeneinander auf das Haus zu. Ein kleiner Backsteinbau, Efeu rankte um die Fenster, Blumentöpfe aus Ton standen auf der kleinen Treppe. Sie waren nicht bepflanzt, es war noch zu kalt für Frühlingsblumen.
„Lebte sie allein?“, fragte Beverly gedämpft.
Whitefield räusperte sich. „Ja, hat sie wohl. Ich denk auch, dass sie den Täter reingelassen hat, keine Einbruchspuren.“
„Vielleicht hatte sie vergessen abzusperren“, überlegte Beverly. „Wurde was gestohlen?“
„Wie’s aussieht nicht, wie beim letzten Mal. Es ist ein Haufen Geld im Haus. Es sieht nicht nach Diebstahl aus, überhaupt nicht.“
„Ja“, überlegte Beverly, „es muss um was anderes gehen.“
„Und es gibt ein Riesenproblem“, Whitefield schnaufte. „Die verdammte Presse war wieder vor uns da. Keine Ahnung, wie das passieren konnte. O’Brian wird im Rechteck springen.“
Beverly seufzte. Die Presse hatte ihnen im Fall Laurie Hardin wochenlang zugesetzt.Der Druck war täglich gewachsen, die Gazetten hatten von Schlamperei und Unfähigkeit gesprochen, die Nerven der Ermittler hatten blank gelegen. Erst als die Akte Hardin als ungelöster Fall nach nicht einmal vier Monaten von der Staatsanwaltschaft geschlossen wurde, war wieder Ruhe eingekehrt.
Sheila Moreno stand auf dem Türschild. Beverly und der Superintendent zogen die weißen Kunststoffanzüge über, Plastikbezüge über ihre Schuhe und betraten den schmalen Flur. Im Haus war es warm. Ein Duft von Bienenwachskerzen lag in der Luft. Der Boden aus Eichendielen knarrte leise. Sie schoben sich an den Leuten der Spurensicherung vorbei, die gerade damit beschäftigt waren, die Garderobe einzustäuben, und zogen auch die Handschuhe über.
„Sie liegt im Bett“, sagte Whitefield.
Beverly trat in das Schlafzimmer, der Superintendent folgte ihr. Sie begrüßte die beiden Männer, die an der Fensterbank lehnten. Sergeant Bill Stanton wirkte noch immer jungenhaft. Ein blasser, hagerer Mann, knapp über dreißig, dessen wilden blonden Locken ihm wirr um den Kopf standen. Whitefield schätzte den Verstand des Junggesellen und seinen versierten Umgang mit den neuesten Computerprogrammen. Sein Kollege Inspektor Harold Sands war fast zehn Jahre älter und einen halben Kopf größer als Stanton, dunkelhaarig, mit graumelierten Schläfen. Niemand im Yard kombinierte so scharfsinnig wie er, niemand fuhr so lässig Auto, und niemand sonst sah so unverschämt gut aus. Selbst der weiße Kunststoff, in dem er jetzt steckte, tat seiner Ausstrahlung keinen Abbruch.
„Vermutlich haben wir es mit demselben Täter zu tun, der auch Laurie Hardin auf dem Gewissen hat“, brach Inspektor Sands die Stille, „die gleiche Vorgehensweise.“
Beverly trat an das Bett. Das Bild, das sich ihr bot, bestätigte ihre schlimmsten Befürchtungen. Der Körper der Toten lag gekrümmt, die Spuren des Todeskampfes waren ihr anzusehen. Die Hände waren mit einer Gardinenkordel zusammengebunden. Beverly beugte sich über Sheila Morenos blass-bläuliches Gesicht. Es gab nicht einen Hauch von Zweifel. Die Beweise waren deutlich zu erkennen, trotz der geschwollenen Lippen und trotz des vielen Blutes. Die bläulich-dunklen Fäden, die in unregelmäßigen Abständen über den Lippen von Sheila Moreno zusammengezogen waren. Chirurgischer Faden.
„Wie lange ist sie schon tot?“, fragte Beverly matt.
„Dr. Morrow hält sich vorerst bedeckt“, antwortete Stanton.
„Wer hat sie gefunden?“
„Eine Bekannte. Sie wollte Bücher ausleihen. Die Tote war Heilpraktikerin“, sagte Sands knapp.
Sie gingen ins Wohnzimmer. Es war geschmackvoll eingerichtet. Antike Möbel, helle Vorhänge. Gruppen schlichter Kerzen und mit verschiedensten Kräutern gefüllte Flaschen standen auf den Fensterbänken. Auf dem Boden lag ein heller, dicker Teppich. An der hinteren Wand befand sich ein kleiner Kamin aus Sandstein. Die Flammen waren erloschen, doch die Glut erwärmte noch das Zimmer. An der gegenüberliegenden Wand stand ein Klavier.
„Der Täter scheint ein Faible für Klaviermusik zu haben“, bemerkte Inspektor Sands. „Laurie Hardin besaß einen Flügel.“
„Könnte Zufall sein“, sagte Beverly mehr zu sich als zu ihrem Vorgesetzten, „muss es aber nicht.“
„Es gibt eine Reihe von Parallelen, die ziemlich offensichtlich sind“, warf Sands ein. „Das könnte bei der Erstellung eines Täterprofils hilfreich sein.“
„Das sehe ich auch so. Ist Victor Watermann wieder fit?“
„Nein, aber Whitefield bemüht sich um Ersatz. Er versucht, O’Brian davon zu überzeugen, dass wir jemanden brauchen, bis Victor wieder einsatzbereit ist.“
Ersatz? „Glaubst du im Ernst, Harold, dass O’Brian da mitspielt?“, bohrte Beverly.„Es wäre wünschenswert. Obwohl ich nicht weiß, wer Victor ersetzen könnte. Du weißt genauso gut wie ich, dass er ein Mann mit Gespür ist, wenn es um Täterprofile geht, die den üblichen Rahmen sprengen.“
Beverly seufzte. „Und du weißt genauso gut wie ich, das Chief Superintendent O’Brian keinen Hehl daraus macht, dass er von dem ganzen Psychogelaber, wie er es nennt, ohnehin nicht viel hält. O’Brian hat seinen Kurs, den lässt er sich von niemandem korrigieren.“
Sie betraten den Raum, der an das Wohnzimmer grenzte.Beverly sog die Luft durch die Zähne. Drei Wände dieses Zimmers waren mit Regalen zugestellt, und diese bis zur letzten Lücke mit Büchern gefüllt.
Harold Sands fuhr mit seinen behandschuhten Fingerspitzen an den Buchrücken entlang. „Sie hat regelmäßig Bücher verliehen. Es gibt eine Kartei. Die Frau, die Sheila Moreno gefunden hat, war aus diesem Grund hier.“
„Was sagt die Spurensicherung?“, wollte Beverly wissen.„Sie nehmen Spuren im gesamten Haus, die Fingerabdrücke an den Büchern werden gesondert katalogisiert. Sie befürchten, dass es Unmengen davon geben wird.“
„Was ist mit der Frau, die die Tote gefunden hat?“
„Sie heißt Helen Fuller, und sie wartet draußen im Polizeiwagen. Vorhin hat sie kein Wort herausgebracht. Vielleicht hat sie sich ja inzwischen soweit beruhigt, dass du sie befragen kannst.“
„Ich werde sehen, ob es was bringt.“
Beverly ging zur Haustür, niedergedrückt von dem Gefühl, dass die nächsten Tage kein Spaziergang werden würden. Sie streifte die Schutzkleidung ab, folgte dem im Laufe des Abends im nassen Gras entstandenen Trampelpfad zur Straße und stieg in den Van. Dort saß eine zusammengekauerte Gestalt auf dem Rücksitz und hatte das Gesicht in die Hände vergraben. Ein Glas Wasser stand unberührt neben ihr auf einer Ablage. Beverly setzte sich zu ihr. „Ich bin Sergeant Evans. Ich werde Ihnen jetzt einige Fragen stellen. Es muss leider sein.“
Helen Fuller hob langsam das Gesicht. Ihre Augen waren gerötet, die Lider verquollen. Sie fuhr sich mit der rechten Handfläche über die Stirn, dann durch die dunkelblonden Locken, die dem lose gebundenen Haarknoten entkommen waren. Beverly lächelte ihr aufmunternd zu.
„Ich kann es nicht“, begann Mrs. Fuller zu schluchzen, „ich kann nicht.“
Die Nacht war zu kurz gewesen. Trotz ihrer überwältigenden Müdigkeit hatte Beverly kaum Schlaf gefunden. Als sie in ihrer kleinen Wohnung im Norden Croydons aufwachte, war der Fall sofort wieder präsent, und jeder Gedanke drehte sich um die Anhaltspunkte, die sie am Vorabend von Helen Fuller erfahren hatte. Die Zeugin hatte von einem Mann gesprochen, der sich bei Sheila Moreno im Gästezimmer eingenistet hatte. Diese Aussage hatte bei allen zunächst Irritationen ausgelöst, denn der Raum hatte völlig unbewohnt gewirkt. Dann waren sie zu dem Schluss gekommen, wer auch immer sich dort aufgehalten hatte, war mit Morenos Tod verschwunden und hatte sich Mühe gegeben, seine Spuren zu verwischen. Dennoch waren brauchbare Fingerabdrücke gefunden worden, die nicht der Hausherrin selbst gehörten. War der Unbekannte auch der Mörder?
Beverly verließ ihre Wohnung ohne Frühstück. Es war noch dunkel. Schwerer Nebel lag in der Luft. Sie war früh dran, der Verkehr lief trotz der schlechten Sicht noch fließend. Sie nahm die A 23 in Richtung City und erreichte den nördlich der Themse gelegenen Teil Zentral-Londons über die Vauxhall Bridge. Heute wird der Mordfall auf der Titelseite der Times und in den Lokalblättern erscheinen. Hoffentlich finden dann auch brauchbare Hinweise den Weg in den Yard.
Die Stimmung in Whitefields Büro war an diesem Morgen mehr als gedrückt, so als steckte jedem plötzlich wieder der Fall Laurie Hardin in den Knochen und jeder verdammte Tag, an dem sie daran gearbeitet, sich daran aufgerieben hatten. Nach wenigen Minuten gesellte sich Sergeant Hank Miller zu ihnen. Er legte die Füße betont locker auf den Schreibtisch, ließ sich einen Zigarillo schmecken, blies dabei den Rauch in kunstvollen Kringeln in die stickige Luft und sagte: „Hays wäre beinahe explodiert. Ob er nicht schon genug Arbeit am Hals hätte. Ihr glaubt nicht, wie er gekocht hat.“ Miller grinste über das ganze gerötete Gesicht, doch niemand schien seine Schadenfreude zu teilen. „Wo bleibt Whitefield“, mäkelte er dann und zupfte an seinem dunklen Schnauzbart, „ich habe heute eigentlich meinen freien Tag. Aber was tut man nicht alles für den Job. Dabei hab ich gerade heute 'ne Verabredung mit 'ner besonders scharfen Maus. Morgen kommt meine Alte von ihrem Beauty-Trip nach Hause. Dann stehen die Chancen wieder schlecht.“
„Er bespricht noch einige Details mit Dr. Morrow, anschließend kommt er hierher“, beantwortete Inspektor Harold Sands die Frage, ohne auf Millers Geplänkel einzugehen. Er hatte die Hände in den Hosentaschen seines Anzugs vergraben und sah aus dem Fenster.
Im Gegensatz zu Miller war Sands kein schwatzhafter Typ. Wenn er sprach, dann über die Arbeit. Niemals hatte auch nur einer der Kollegen ihn über private Probleme reden hören. Sands verzichtete auf zweideutige Seitenhiebe selbst in Situationen, in denen er allen Grund dazu hatte. Beverly schätzte seine respektvolle Art im Umgang mit Kollegen, bei der Befragung von Zeugen und der Vernehmung von Tatverdächtigen. Er konnte unnachgiebig und hart sein, aber er war immer gradlinig und fair. In der ersten Zeit beim Yard war sie ihm zugeteilt gewesen, sie hätte keinen besseren Mentor als Harold Sands haben können. Er hatte weder mit Lob, noch mit konstruktiver Kritik gespart. Er hatte ihr ihre Leistungen immer ehrlich zurückgespiegelt, und so hatte sie gelernt, ihr Potenzial und ihre Grenzen realistisch einzuschätzen.
„Beverly, frag doch mal nach, wo Whitefield bleibt“, drängelte Miller, während er auf die Uhr sah. Er drückte seinen Zigarillo aus und wippte nervös mit einem Fuß.
„Ich bin nicht dein Lakai.“ Blöder Affe. Beverly verdrehte die Augen. „Wenn dir schon jetzt jede Minute zu viel ist, könnten wir besser auf deine Mitarbeit verzichten.“
„Mach dich nicht wichtiger, als du bist Evans“, schnaubte Miller, „es hat dich ja …“
„Beverly ist wichtig für das Team, genau wie Sie“, unterbrach ihn Sands gelassen, während er sich zu ihnen umdrehte, „wir sollten unsere Zusammenarbeit nicht durch überflüssige Auseinandersetzungen belasten.“
„Der heilige Harold“, Miller zog spöttisch die Augenbrauen hoch und bekreuzigte sich, „immer ein bisschen edler als wir. Herrgott, wo bleibt Whitefield?“
Dieser Mistkerl von Miller! Jedem muss er seine gehässigen Seitenhiebe mitgeben. Beverly öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch in diesem Moment lächelte Sands ihr beschwichtigend zu. Sie wusste, was er meinte: „Es lohnt sich nicht.“ Er durchschaute sie mit einer Treffsicherheit, die ihr fast unheimlich war. Manchmal redete sie sich eine Art Seelenverwandtschaft ein, weil auch sie ihn verstand, ohne Fragen stellen zu müssen. Oft überkam sie die Furcht, sich völlig an ihn zu verlieren. Sie wusste um ihre Schwäche, doch sie würde einen solchen Fehler nicht noch einmal begehen. Sands war verheiratet.
„Ah, Miller, doch schon da.“ Whitefield hatte die Tür in einem Schwung aufgezogen, war dann einen Schritt zurückgewichen, um einer jungen, elegant gekleideten Frau den Vortritt zu lassen. Er räusperte sich. „Das ist Sergeant Patricia Henderson. Bislang uniformierte Polizei Liverpool, ab heute Scotland Yard. Wir sind komplett.“
Miller öffnete den Mund, und Beverly schwante, was er sagen würde, doch Whitefield kam ihm zuvor.
„Ja, sie ist ein Frischling. Ihr werdet sie schon einarbeiten. Das ist Inspektor Harold Sands, halten Sie sich an ihn, Henderson.“
Sands gab ihr die Hand und lächelte sie an. „Freut mich, Sie kennenzulernen, Miss Henderson.“
„Ebenfalls“, hauchte sie, als hätte sie gerade ihr erstes Rendezvous.
Beverly beobachtete die Wirkung, die Sands bloßes Vorhandensein auf dieses langbeinige, hellblonde Gift mit den stahlblauen Augen und glänzend roten Lippen ausübte. Kaum zu glauben, wie sie ihnanschmachtet. Aber sie wird sich anHarold die Zähne ausbeißen, das ist schon mal sicher.
„Das ist Sergeant Bill Stanton, unser Mann für alle Fälle und Unfälle am Computer“, setzte Whitefield die Vorstellungen fort.
„Ja, ha-hallo“, stotterte er.
Miller grinste. Auch Beverly war es nicht entgangen, dass Stanton seit dem Erscheinen der neuen Kollegin den Mund nicht mehr richtig zubekam. Sie fragte sich, was er jetzt wohl im Stillen kombinierte.
„Tja, Billy, die ist ’ne Nummer zu groß für dich“, dröhnte Miller.
„Sergeant Beverly Evans. Die Frau ist hart im Nehmen“, fuhr Whitefield fort, unbeeindruckt von Millers Benehmen. „Sie schießt wie ein Kerl.“
Beverly hatte nicht gerade die Gabe, mit derlei Äußerungen gut umgehen zu können. Sie lächelte kurz und kämpfte dabei gegen die aufsteigende Röte.
„Sie trifft alles“, ergänzte Whitefield, „im Gehen, im Stehen und im Liegen.“
„Ja, besonders im Liegen“, grinste Miller höhnisch.
„Und das ist Sergeant Hank Miller. Überhören Sie einfach seine Sprüche.“ Whitefield hustete heiser, bevor er fortfuhr. „Er ist halt so.“
Miller nahm die Füße vom Tisch, stand auf, ging auf die neue Kollegin zu und blieb dicht, für Beverlys Geschmack zu dicht, vor ihr stehen. „Wenn Sie heute Abend noch ein Gläschen mit mir trinken gehen, dann läuft die Sache. Das hängt eigentlich nur von Ihnen ab.“ Er lächelte ölig. Als er ihr die Hand reichte, war ihre reservierte Körperhaltung unübersehbar.
„Das wird sich zeigen“, antwortete sie kühl.
Whitefield räusperte sich gedehnt und setzte sich hinter seinen zugepackten Schreibtisch.
„Zum Fall! Wir haben zwei Tote: Laurie Hardin am 15. August 1989 und Sheila Moreno am 05. März 1991, also fast zwanzig Monate später.“
Stanton heftete Fotos der beiden Toten an die Pinnwand. Irgendwie hatte Beverly völlig vergessen, wie Laurie Hardin ausgesehen hatte, doch jetzt stand ihr plötzlich nicht nur das Gesicht wieder klar vor Augen. Sie erinnerte sich an die helle, in Weiß und Grün eingerichtete Wohnung, auch an den imposanten weißen Flügel der Anwältin.
Whitefield griff einen Block, auf dem einige in seiner unleserlichen Schrift gemachte Notizen standen, die an japanische Schriftzeichen erinnerten. „Beide ohne Anhang, aber mit Klavier. Beide auf die gleiche Weise gequält und ermordet. Mit altem chirurgischem Faden dilettantisch genäht. Es wurde nichts gestohlen. In beiden Fällen sah das Gästezimmer unbewohnt aus. Die Zeugin im Fall Sheila Moreno hat aber von einem Dauergast gesprochen, männlich, dunkelblond, gutaussehend und gepflegt. Habe ich die groben Details?“ Whitefield sah mit zusammengekniffenen Augen in die Runde der Ermittler.
„In beiden Fällen war die Presse ärgerlicherweise vor uns da“, ergänzte Beverly, „wir sollten auch dieser Sache nachgehen. Diese Typen machen eine Menge kaputt.“
„Wie gehen wir vor? Gibt es aktuelle Hinweise?“, brummte Whitefield ungeduldig.
„Wir sind bei Laurie Hardin von einem Einzelfall ausgegangen“, begann Sands. „Nach Sheila Morenos Tod ist aber klar, dass es sich um einen Serientäter handelt. Wir müssen also davon ausgehen, dass es noch mehr Opfer geben könnte. Da der Fall bereits an die Öffentlichkeit gedrungen ist, haben wir inzwischen eine Reihe von Anrufen erhalten. Einer dieser Anrufe könnte ein Anfang sein. Er kam aus Birmingham, von einem Polizeirevier. Ein Mordfall nach fast genau dem gleichen Muster. Die Ermordete war allerdings verheiratet.“
„Passt also nicht in unsere Schablone“, winkte Miller ab und steckte den nächsten Zigarillo an: „Wann war denn das?“
„Der Tatzeitpunkt lag im Sommer 1965. Mehr weiß ich zurzeit noch nicht“, antwortete Sands.
„Ja klasse“, prustete Miller los und verzog sein Gesicht zu einer peinlichen Grimasse, „das ist ja nur schlappe sechsundzwanzig Jahre her. Ich glaub‘, ich bin im falschen Film!“
Inspektor Sands schien durch Millers Auftreten weder beeindruckt noch verunsichert. „Wenn es sich nicht um den gleichen Täter handelt, so könnte ein Nachahmungstäter den alten Fall aus Birmingham kennen“, sagte er. „Ich habe das Gefühl, das wir dieser Sache nachgehen sollten.“
Whitefield strich sich mit den Fingern ums Kinn und kniff die Augen zusammen. Dann erhob er sich, ging ein paar Schritte, warf einen Blick auf die Fotos, räusperte sich dabei und nickte zustimmend. „Könnte was dran sein, Harold. Sie fahren mit Henderson nach Birmingham. Ich will Details. Nehmen Sie den alten Fall auseinander. Mieten Sie sich notfalls ein Zimmer, falls es länger dauern sollte.“
„Mieten Sie sich notfalls ein Doppelzimmer, lassen Sie ja nichts anbrennen, Inspektor“, spöttelte Miller gedämpft, doch Beverly konnte ihn hören. Sie betrachtete ihn. Er konnte ein seltsames Gemisch aus Wut und Eifersucht in seiner Miene nur schwer unterdrücken: „Lassen Sie sich Zeit mit den alten Kamellen“, rutsche es ihm überlaut heraus.
„Wie schnell können Sie packen?“, fragte Sands, an Patricia gewandt, und schob einige Unterlagen in seine Mappe. Millers Unverschämtheit ignorierte er schlichtweg.
„Sechzig Minuten, dann können wir los.“ Sie griff nach ihrer Jacke. „Ach, Sergeant Miller. Aus unserer Verabredung heute Abend wird dann wohl nichts. Tut mir leid.“ Sie lächelte ihn mit ehrlicher Genugtuung an, bevor sie Harold Sands in den Korridor folgte.
„Weiter“, Whitefield spielte mit einem Bleistift, deutete dann mit der Spitze in Millers Richtung. „Miller, finden Sie raus, wer bei der Presse Wind von der Sache gekriegt hat.“
„Was ist mit meinem freien Tag?“, murrte er genervt.
„Gestrichen. Evans, Sie fahren zum Tatort. Benutzen Sie mal ihren sechsten Sinn. Stanton, Sie halten die Stellung. Filtern Sie alle Hinweise.“
Bill Stanton grinste. „Alle Hinweise in Sachen Nadelmörder aussortieren, die von Kurzwarengeschäften kommen.“
„Halten Sie mich auf dem Laufenden“, legte Whitefield nach.
„Presse, zum Kotzen. Ich kann wieder die Drecksarbeit machen“, zischte Miller. „Jedes Mal kann ich diesen Mist machen. Aber irgendwann ist Schluss.“ Er erhob sich, verließ das Büro und schlug die Tür gut hörbar hinter sich zu.
„Das wär’s.“ Der Superintendent setzte sich und legte eine Handvoll Unterlagen auf den schon seitlich geneigten Stapel. „Stanton, Sie bleiben noch.“ Whitefield winkte ihn zu sich und nickte Beverly zu. Sie war froh, das verrauchte Büro verlassen zu können. Irgendwann schieb ich dirdeine stinkenden Zigarillos sonst wohin, Miller.
Beverly folgte dem Korridor in Richtung Treppenhaus. Dort stand eine Gruppe von Leuten, die sich, wie war es anders zu erwarten, um Hank Miller scharte. Es waren mehrere junge Kollegen einer anderen Abteilung, die Beverly nur vom Sehen kannte. Jung und unerfahren, auch was Miller anging. Er redete, gestikulierte und lachte ungeniert. Er schien schon wieder bei bester Laune. Beverly ging auf die Runde zu, und als der Name Sands fiel, blieb sie wie beiläufig stehen.
„Wie lange arbeitet Sands jetzt schon beim Yard? Und hat irgendjemand je seine Frau gesehen? Whitefield vielleicht. Aber der ist ja auch kein Maßstab. Sands hat nicht einmal ein Bild von ihr auf dem Schreibtisch. Ich sag euch was, Jungs. Seine Alte ist so grottenhässlich, dass er sie im Keller versteckt.“ Miller grinste über das ganze Gesicht.
„Du bist ein Mistkerl“, konterte Beverly, „du kannst es nicht ertragen, dass Sands mit Henderson nach Birmingham fährt.“
„Darüber solltest du dir lieber Gedanken machen, Evans.“
„Es liegt wohl an deiner schleppenden Karriere, dass du ständig geistlose Geschichten über ihn verbreitest.“
„Ach, Beverly, unsere rote Hexe. Hängst dich ja wieder mächtig weit für ihn aus dem Fenster. Aber was soll’s, es weiß hier ohnehin jeder, dass du scharf auf ihn bist. Schlechte Karten für dich, Schätzchen. Ab heute vögelt er Blondie.“
„Du solltest zur Abwechslung mal dein Hirn anschalten, Miller.“ Idiot! Sie schob sich an der kleinen Gruppe vorbei, Richtung Ausgang.
„Fühl dich nicht so sicher Evans, ich weiß mehr über deine kleinen Affären, als du denkst“, giftete er ihr hinterher.
Das saß. Es war wie ein Schlag in die Magengrube. Beverly hatte Mühe, sich nichts anmerken zu lassen. Sie ging mit raschen Schritten weiter zur Tür. Als sie das Schnappen des Schlosses hinter sich hörte, sog sie die kalte feuchte Luft tief in sich ein.
Er blufft nur. Er kann nichts wissen. Niemand beim Yard hatte irgendetwas von ihrer Beziehung zu Edward mitbekommen, es sei denn, er selbst hätte …? Nein, er hatte mit Sicherheit zu niemandem etwas gesagt, schon gar nicht zu Miller. Er und Miller waren sich immer aus dem Weg gegangen, außerdem war dieser Dreckskerl ja für sein loses Mundwerk bekannt. Wenn du willst, dass alle in Windeseile Bescheid wissen, so sag’s Miller im Vertrauen. In einem Punkt jedoch hatte Miller recht. Außer Whitefield kannte niemand Sands Ehefrau.
Im Tageslicht wirkte das Haus größer, als sie es in Erinnerung hatte. Beverly entfernte das Siegel und betrat den Flur. Sie streifte die Handschuhe über und stieg die schmale Treppe hinauf. Sie ging noch einmal in das Gästezimmer, öffnete das Fenster. Von hier oben hatte sie einen guten Blick auf die schmale Straße. Der kleine Fußweg am Rande der Lichtung entlang hätte ihr die nassen Füße vom Vortag ersparen können, sie hatte ihn gestern nicht bemerkt. Die Gehwegplatten aus gebrochenem Marmor hatten durch die feuchte Witterung Grün angesetzt. Sie führten in einem kleinen Bogen auf das Haus zu. Beverly wandte sich wieder dem Innern des Hauses zu. Das kleine Zimmer war mit hellen Möbeln aus Kiefernholz eingerichtet. Sie öffnete den leeren Schrank, schaute in die Frisierkommode, danach unter das Bett, zog auch die Schubladen aus dem kleinen Wäscheschrank ganz heraus, aber es war nichts dahinter gefallen. Sie stieg auf das Bett, um auf den Schrank zu sehen. Nichts. Sie trat zurück in den Flur. Das Bad neben dem Schlafraum war aufgeräumt und sauber. Ein paar frische Handtücher lagen akkurat gefaltet auf dem Rand der Wanne. Ein angenehmer Geruch schwebte im Raum. Beverly hätte ihr altes Auto darauf verwettet, dass es ein Herrenduft war, der ihre Nase kitzelte. Sie schraubte die Flasche mit der Badelotion auf. Fliederduft stieg ihr in die Nase, stark und blumig. Nein, das war es nicht. Sie durchsuchte die Schränkchen nach Herrenparfüm, wurde aber nicht fündig.
Sie verließ das kleine Bad. Wenn es etwas gab, das die Spurensicherung übersehen hatte, dann würde sie es wohl auch nicht finden.
Im Wohnzimmer hing der Geruch des erloschenen Kamins. Auf einem Schränkchen standen Fotos. Auf zweien war eine Gruppe von Kindern zu sehen, eines zeigte drei Frauen vor einer alten Kirche, und auf einem weiteren Bild saß ein greises Paar auf einer Bank in einem blühenden Garten. Beverly öffnete die Rahmen. Hinter den Bildrücken verbarg sich nichts. Sie ging in den Nebenraum, zog unschlüssig mehrere Bücher aus dem Regal und fand ein Fotoalbum: Sheila Moreno’s Urlaubsfotos: Strand, Landschaft, Wasser, Felsen, an denen sich die Wellen brachen, keine Menschen, kein gutaussehender dunkelblonder Mann. Sie legte das Album beiseite und betrat wieder das Kaminzimmer. Ganz sacht berührte sie die Tasten des Klaviers, ohne ihnen einen Ton zu entlocken. Die Kälte der glatten Oberfläche, die durch den dünnen Latex ihrer Handschuhe drang, ließ sie erschauern. Was hatte der Mörder gewollt? Es war das Motiv, das fehlte. Warum hatte er Sheila Moreno auf so bestialische Weise umgebracht? Er hatte nichts entwendet, er hatte nichts im Haus zerstört, er hatte sie nicht vergewaltigt. Was um alles in der Welt hatte er gewollt? Liebte er das Töten oder war sein Geist krank und zwang ihn dazu? Passte Sheila Moreno in sein Bild von Frauen, die er ausmerzen musste, oder folgte er einer irrealen Wahnvorstellung, die sie zu einer Gefahr gemacht hatte? Beverly setzte sich auf den dicken Teppich. Sie ließ den Raum auf sich wirken, die Farben, den Duft, die Stille. Alles war so harmonisch, und doch schwang jetzt das Grauen mit, das nicht hierher passte. Das Klavier, was hatte ein Klavier mit einem zugenähten Mund zu tun? Unwillkürlich fuhr sie sich mit der Zunge über die Lippen. Ihr ganzes Denken war blockiert, ihr Kopf schmerzte. Was um alles in der Welt … was hatte er bezweckt?Sie verließ das Haus, sicherte es wieder und fuhr in Richtung Stadtmitte. Blechlawinen drängten sich durch die Straßen. Sie hatte schon wieder vergessen, in der Werkstatt anzurufen. Dieses hustende Geräusch, das der Wagen hin und wieder von sich gab, konnte nicht normal sein. Nein,wirklich nicht.Irgendwann bleibst du mit deiner Schrottkarre liegen. Sie bog in die nächste Straße ein. Sands und Henderson waren vermutlich noch unterwegs. Sie nahmen die M1 an Northampton vorbei. Wie lange fuhr man nach Birmingham? Sicherlich geschlagene zwei Stunden. Beverly war nie dort gewesen. Ein Fall aus dem Jahr 1965. Miller konnte sagen, was er wollte, aber Sands hatte immer ein untrügliches Gespür für brauchbare Hinweise. Wenn er glaubte, dass es eine Verbindung geben könnte, dann war das fast schon sicher.
Sie fuhr auf das Parkdeck. Es war schwierig, einen freien Platz zu finden. Sie erhaschte eine Lücke, aus der gerade jemand herausfuhr. Als sie das Kaufhaus betrat, wurde sie von seichter Musik eingelullt. Das Gedränge der Menschen nervte sie. Auf den Rolltreppen standen sie dicht an dicht. Mein Gott, gibt es denn nichts Wichtigeres, als sich mit diesem ganzenKrempel zu bepacken?
Die Parfümerieabteilung lag im dritten Stock. Die Menschen schoben sich durch die Regalreihen. Beverly steuerte auf die Herrendüfte zu und ergriff die Erstbesten. Sie probierte ein paar auf der Innenseite ihrer Unterarme. Ihre Nase war nach wenigen Proben duftblind. Sie ließ sich ein paar Blättchen mit den Herrenparfüms besprühen, jedes einzeln in Folie verpacken, beschriftete sie mit einem Kürzel und steckte sie sorgsam getrennt in ihre Handtasche. Den seltsamen Blick der Verkäuferin hielt sie dabei problemlos aus. Im Ausgangsbereich kaufte sie sich ein Sandwich. Während sie im Aufzug zum Parkdeck stand, wurde ihr durch die peinlich berührten Blicke bewusst, dass sie wie ein parfümierter Iltis stank.
„Warst du im Puff?“, waren Millers erste Worte, als Beverly das Büro betrat. Er war zurück und hatte bereits eine Verhaftung vorgenommen. Selbstgefällig hing er hinter ihrem Schreibtisch, die Füße hochgelegt, der Dunst von Whisky schwebte in der Luft. „Dieser Adrian La Vince hat den Polizeifunk abgehört, dafür wette ich. Ich hab’ ihm mit einer Verhaftung gedroht, falls er es nicht zugibt. Er hat es nicht zugegeben, also hab’ ich die Pfeife verhaftet. Ich kenne diesen Typen. Ständig knipst er rum, wo er nichts zu suchen hat, und schreibt dummes Zeug. Und jetzt tut er so, als wenn er von nichts wüsste. Dem würde ich am liebsten seine lose Reporterfresse polieren.“
„Soll ich es mal versuchen?“
„Ihm die Fresse zu polieren?“
„Ihn zu befragen“, seufzte Beverly.„Wenn du deine Zeit damit verschwenden willst. Er ist unten. Aber lass dich nicht von diesem kleinen Schleimer einwickeln. Ist ’ne ganz fiese Sorte, sag ich dir.“
Der Reporter saß im Verhörzimmer und betrachtete anscheinend amüsiert das vergitterte Kellerfenster. Er grinste, als Beverly den Raum betrat.
„Ich bin Sergeant Beverly Evans.“ Sie setzte sich an den Tisch ihm gegenüber. Er war höchstens fünfundzwanzig Jahre alt. Seine leicht gebräunte Haut und das Profil seines Gesichts verrieten, dass südländisches Blut in seinen Adern floss. Das schwarze lange Haar hatte er im Nacken zu einem Zopf gebunden. Seine ausdrucksstarken, flackernden Augen musterten sie.
„Ich bin Adrian La Vince, Mitarbeiter bei der London News. Ich würde jetzt gern wieder gehen. Ich hab’ noch zu tun. Sie haben übrigens ganz fantastische Sommersprossen.“
„Ich möchte gleich zur Sache kommen. Sie sind hier, weil Sie im Verdacht stehen, den Polizeifunk abgehört zu haben. Dadurch behindern Sie unsere Arbeit. Was haben Sie dazu zu sagen?“
„Bis in die Gemäuer von Scotland Yard hatte ich es bislang noch nicht geschafft. Ich hab’s mir in der Victoria Street allerdings aufregender vorgestellt. War ein bisschen enttäuscht. Aber Sie machen das wieder wett. Ich wusste gar nicht, dass es hier so hinreißende Sergeants gibt. Allerdings“, er zögerte einen Moment, „Sie sollten ein anderes Parfüm benutzen.“ Er lachte. „Ich würde trotzdem gern heute Abend mit Ihnen essen gehen.“
Keine Chance, Bürschchen.
„Zur Sache, La Vince. Äußern Sie sich bitte zu den Vorwürfen.“
„Was wollen Sie denn hören?“ Er lächelte.
„Die Wahrheit.“
„Mit der Wahrheit ist das immer so eine Sache. Dann würde ich doch gern vorher meinen Anwalt sprechen. Bitte foltern Sie mich nicht.“ Er machte ein dermaßen eingeschüchtertes Gesicht, dass sie sich ein Lächeln nicht verkneifen konnte. Sie sah kurz auf ihren Notizblock, um es zu verbergen.
„Mister La Vince. Wir ermitteln in einem Mordfall. Wir müssen wissen, wer die Presse informiert hat, um ausschließen zu können, dass es der Täter selbst war.“
„Was würde das ändern?“
„Das könnte eine ganze Menge ändern. Es könnte den Ermittlungsansatz ändern oder auch das Täterprofil.“
„Warum geht eine Frau wie Sie zur Polizei?“
„Das steht hier nicht zur Diskussion.“
„Sie sind echt Wahnsinn. Ich mag rothaarige Frauen. Wenn Sie mit mir ausgehen verrate ich Ihnen …“
„Ich lasse mich nicht erpressen.“
La Vince glaubte anscheinend, dass er mit ein bisschen gespieltem Charme auf jede Frau unwiderstehlich wirkte. Er schien tatsächlich dem Trugschluss zu unterliegen, dass er dadurch den Verlauf dieser Befragung steuern konnte.
„Dieser fiese Kerl von vorhin, macht der Ihnen Druck? Ist Ihre Karriere beendet, wenn Sie keine Aussage von mir bekommen?“
„Dieser Kerl ist Sergeant Miller, und er ist nicht mein Vorgesetzter. Können wir jetzt weitermachen? Es geht hier um einen Mord. Ich habe keine Lust auf Spielchen.“
„Ich würde sehr gern noch ein bisschen mit Ihnen spielen, Sergeant Evans.“
Sie erhob sich. „Mr. La Vince. Sie zeigen sich in keiner Weise kooperativ. Damit wäre das Verhör jetzt beendet. Sergeant Miller wird Sie gegen Abend noch einmal befragen. So lange haben Sie doch Zeit?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, ging sie zur Tür, sah sich noch einmal kurz um. Der fröhlich beherrschte Ausdruck fiel ihm aus dem Gesicht. „Warten Sie, Sergeant“, sagte er hastig.
Na also!
La Vince lehnte sich vor. Sie setzte sich wieder.
„Gut. Ich sag Ihnen, was Sie wissen wollen, und Sie lassen mich gehen, okay?“
„Es kommt ganz darauf an, ob ich mit dem zufrieden bin, was Sie mir jetzt auftischen.“ Sie lehnte sich zurück.
„Ich habe den Funk nicht abgehört, und das ist die Wahrheit. Wir bekommen hin und wieder anonyme Tipps von einem Typen, der sich Das Ohr nennt. Er macht auf völlig anonym, niemand kennt ihn persönlich. Dieser Mann hört den Polizeifunk ab. Er lässt sich seine Informationen gut bezahlen. Das Geld geht immer an ein Schließfach. Fragen Sie mich also nicht, wie er heißt oder wo er wohnt. Ich weiß es wirklich nicht. Meine Kollegen Clark und Darryl können das bestätigen. Reicht das für Ihre Ermittlungen?“
Sie schrieb sich ein paar Notizen auf ihren Block und wandte sich ihm wieder zu. „War das auch beim Mordfall Laurie Hardin so?“
Er schien einen Moment lang nachzudenken. „Ja, auch da hatten wir die Information von ihm.“
„Danke, Mister La Vince. Warum nicht gleich so. Ich werde die Formalitäten erledigen und schicke dann jemanden, der Sie hier herauslässt.“
„Okay, und dann gehen Sie mit mir essen?“
„Warum hast du ihn gehen lassen?“ Millers Gesicht war puterrot, sein Schnauzbart zitterte.
„La Vince hat seine Aussage gemacht, ich glaube ihm, außerdem hat Whitefield zugestimmt. Du hast doch nicht im Ernst geglaubt, ich würde ihn ohne Rücksprache hier hinausspazieren lassen?“
„Ich kaufe diesem Typen nichts von dem ab, was er dir da aufgebunden hat. Der lügt doch schon, bevor er den Mund aufmacht. Hast dem Latino wohl zu tief in die Augen geguckt. So geht das nicht, Beverly. Ich reiß mir doch nicht den Arsch auf und schlepp den Typen an, damit du ihn wieder gehen lässt. Weißt du, was du tust? Du untergräbst meine Arbeit.“
„Miller, seine Aussage war glaubhaft. Es gab keinen Grund, ihn hier weiter festzuhalten. Du lässt dich manchmal einfach zu sehr von deinen Antipathien leiten.“
„Ach ja? Und wovon, bitteschön, lässt du dich leiten, Evans? Von deinen Hormonen?“„Das will ich jetzt überhört haben.“ Sie musste sich zusammenreißen, um dem Impuls nicht nachzugeben, ihm ins Gesicht zu schlagen. „Sieh es doch mal so, Miller: Ohne dich hätten wir seine Aussage nicht. Du hattest den richtigen Riecher. Du hast ihn schließlich hierher gebracht.“
Sergeant Bill Stanton war vollauf beschäftigt. Er hatte einen chaotischen Zettelberg auf einem Stuhl, einen weiteren auf dem Boden und einen dritten auf dem Tisch von Whitefields Büro gestapelt. Die Pinnwand war mindestens mit drei Lagen überfrachtet. Beverly bemerkte eine rot umrandete Notiz, die separat auf dem Schreibtisch lag. Stanton nahm sie gerade in die Hand.
„Was hast du da?“
„Merkwürdige Geschichte. Liegt genau wie der Fall in Birmingham etliche Jahre zurück, genau gesagt, es ist noch länger her. Es war ein anonymer Anruf. Wahrscheinlich ein älterer Mann. Er hat uns eine Adresse in West Bromwich gegeben. Angeblich hat ein Junge damals eine Tat begangen, die ihn an unseren Fall erinnert. Mehr wollte er nicht sagen.“
„Glaubst du, es ist ein ernst zu nehmender Hinweis?“, forschte Beverly.
„Das denke ich schon“, sagte Stanton.
„West Bromwich liegt in der Nähe von Birmingham“, warf Whitefield ein, der mit der Hand auf die Fensterbank gestützt die Landkarte an der Wand anschaute. „Die Sache wird heiß, da muss irgendwas dran sein. Ich hab Inspektor Sands angerufen. Die Tote in Birmingham hieß Carla Harwood. Er und Henderson stecken bis über beide Ohren in den alten Polizeiakten. Die brauchen noch ein, zwei Tage. Wir wollen keine Zeit verlieren. Miller und Evans, sie werden den Fall in West Bromwich überprüfen. Abfahrt sofort, dann kann‘s morgen früh gleich losgehen. Cityhotel West Bromwich ist Ihre Adresse.“
Beverly atmete tief durch. Nicht das! Eine Dienstreise mit Miller, genau das hatte ihr jetzt gefehlt. Sie konnte sich nicht entsinnen, ihn jemals sympathisch gefunden zu haben. Von Anfang an hatte sie sich durch sein ungehobeltes Benehmen, die abfällige Art, über Frauen zu reden, besonders über die eigene Ehefrau, und sein cholerisches Temperament abgestoßen gefühlt. Es störte sie, wie unsensibel er mit Zeugen umsprang, dass er Verdächtige im Verhör zynisch und herablassend behandelte. Miller machte Arthur Hays das Leben schwer, der nun wirklich ein harmloser, netter Kerl war, er hatte auch gegen Edward immer gestichelt. Er hasste Sands, der im Yard einen tadellosen Ruf besaß und den Rang eines Inspektors bekleidete, der eigentlich ihm, so glaubte Miller, zugestanden hätte. Dabei war er in letzter Zeit stets hinter den Erwartungen, die in ihn gesetzt wurden, zurückgeblieben. Er trank zu viel. Ständig provozierte er irgendwelche Streitereien. Was hatte Whitefield nur dazu bewogen, diesen Mann wieder mit ins Team zu nehmen?
Beverly spürte die Müdigkeit in allen Knochen. Sie hätte auf dem Beifahrersitz augenblicklich einschlafen können, wenn ihr Instinkt ihr nicht befohlen hätte, wach zu bleiben. Sie starrte nach vorn auf die Straße und fragte sich, ob Miller sie beide umbringen wollte. Sein Fahrstil passte zu seinem Charakter, unterschwellig aggressiv und betont rücksichtslos. Sie hätte die Einladung von Adrian La Vince besser angenommen, nur um dieser Höllenfahrt zu entgehen. Der Regen prasselte gegen die Windschutzscheibe, und Miller stierte aus dem Wagen, als sei er auf der Jagd. Hin und wieder zuckte sein Mund, als wolle er etwas sagen, manchmal entfuhr ihm ein Schimpfwort. Die Musik gefiel ihm nicht, er suchte einen anderen Sender, fand nichts Passendes und drehte das Radio aus.
„Was findet ihr Weiber eigentlich an Sands, diesem Waschlappen?“
Sands? Wie oft hatte Beverly schon geglaubt, Scotland Yard verlassen zu müssen, weil sie seine Nähe nicht ertrug, weil sie nicht ertrug, dass er nur ein Kollege für sie sein konnte. War es nicht diese unerfüllte Sehnsucht gewesen, die sie damals in Edwards Arme getrieben hatte? Hatte sie nicht immer nur Harold Sands gewollt?
„Ihr lasst euch immer von Äußerlichkeiten blenden. Immer nur die schicke Schale. Da setzt es dann völlig aus. Da fehlt den Frauen was am Hirn“, höhnte Miller.
Beverly stöhnte. Sollte sie jetzt auf diesen Blödsinn reagieren? Sie fühlte sich viel zu erschlagen, um noch in einen verbalen Zweikampf zu ziehen. Halt doch einfach die Klappe, Miller.
„Frauen sind genau deshalb auch für den Polizeidienst nicht geeignet. Sie sehen einfach nicht, was hinter der Fassade steckt. Dazu sind sie einfach zu blöd. Manchmal glaube ich, sie lassen sich ganz gern verarschen. Edward war genau so ein Typ wie Sands, aalglatt und ständig hinter jedem Rock her. Aber keins der Weiber hat gemerkt, dass der gute Ed drei Bräute gleichzeitig beglückt hat.“
Miller, du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich dir diesen Schwachsinn abkaufe? Sie würde einfach weghören. Wie konnte er sich erdreisten, so über einen toten Kollegen zu reden?
„Na ja, umsonst stirbt man nicht schon mit dreißig am Infarkt. Der gute Edward. Hinterlässt eine lustige Witwe, einen Stall voller Kinder und drei trauernde Geliebte. Du hast es auch nicht gerafft, Evans.“
Sie sah ihn völlig entnervt an. Im Profil seines Gesichtes erkannte sie Häme.
„Ich hab‘ euch Turteltauben vor einer Ewigkeit in einem Hauseingang rumknutschen sehen. Hab ’nen Kumpel in der Hackney Street abgeholt. Na ja, turteln ist nicht ganz das richtige Wort. Die Szene war eindeutig, so wie Edward an dir rumgefummelt hat. Er war spitz wie ein Straßenköter. Ich dachte, er reißt dir noch auf der Straße die Klamotten vom Leib. Brad und ich haben ’ne Weile zugesehen. War schon schwer, sich von dem Anblick loszureißen.“
Beverly glaubte, ihr würde schlecht, unwillkürlich griff sie sich an den Mund.
„Glaubst du im Ernst, dass du die einzige warst, mit der er ins Bett gestiegen ist? Der war doch hinter jeder Braut her, die nicht bei drei auf ’nem Baum saß. Geschieht dir ganz recht. Hochmut kommt bekanntlich vor dem Fall, Evans.“
Das Hotel war nicht einmal Mittelklasse, aber es machte einen sauberen Eindruck. Sie wurden freundlich empfangen. Beverly wollte jetzt nichts sehnlicher als allein sein, und Miller wünschte ihr süße Träume, bevor er an die Bar ging.
Sie lag auf dem breiten Bett, ein Glas Wein auf dem Nachtschränkchen, sah an die Decke und fragte sich ernsthaft, warum sie jetzt über Millers Geschwafel nachdachte. Sie hatte sich doch geschworen, ja, Beverly, das hast du, nichts mehr auf sein Gerede zu geben. Er lästerte ständig über alles und jeden. Er hatte immer irgendeine peinliche Geschichte auf Lager. Nur gab es da jetzt einen kleinen Unterschied. Nun war klar, dass Miller über ihre Affäre mit Edward Bescheid wusste. Sie kannte ihn zu gut, um nicht zu wissen, was passieren würde. Er würde sie nicht in Ruhe lassen. Er würde ihr ständig damit auf die Pelle rücken. Ein Gedanke nur beruhigte sie etwas. Auch wenn Miller auf die Idee kommen sollte auszupacken, wer würde ihm die Geschichte abkaufen? Er hatte seinen speziellen Ruf. Er war der Gerüchtekoch des Yard. Niemand würde seinen Geschichten Glauben schenken. Also spar deine Kraft und reg dich bloß nichtüber diesen Mist auf, morgen wird ein anstrengender Tag.
Es hatte aufgehört zu regnen. Ein paar zaghafte Sonnenstrahlen fanden den Weg durch die Wolken und spielten in den Vorhängen von Beverlys Zimmer. Sie brauchte einen Moment, um zu realisieren, wo sie sich befand. Augenblicklich drängte sich Millers Monolog vom Vorabend wieder in ihr Gedächtnis und trübte ihre ohnehin gedrückte Stimmung noch weiter. Hoffentlich hielt er heute seine verdammte Klappe, sonst konnte sie für nichts garantieren. Mit Befriedigung stellte sie fest, dass sich ihr Entsetzen und die Scham vom Abend allmählich in Wut verwandelten. Dieser Mistkerl, dieser elende Spanner! Sie duschte und zog sich an. Im Hotelrestaurant war schon ein Großteil der Tische besetzt, als sie hinunter kam. Miller war nicht da. Sie würde nicht auf ihn warten. Nimm es als besonderen Service des Hauses, nimm esals Service, dass du ohne ihn hier sitzen darfst. Es roch nach Rühreiern mit Speck, nach Tee und frischem Toast. Das Frühstück war erstaunlich gut, es hob ihre Laune. Während sie es sich schmecken ließ, schaute sie in die Straßenkarte. Als sie den letzten Schluck Tee nahm, kam Miller an ihren Tisch.
„Wir können los.“ Er sah übernächtigt aus und roch nach Alkohol.
„Willst du nicht frühstücken?“
„Das ist Zeitverschwendung, morgens krieg ich sowieso nichts runter.“ Er schob sich eine Pfefferminzpastille in den Mund, während er ungeduldig von einem Fuß auf den anderen trat.
„Wir müssen in Richtung Walsall aus der Stadt heraus und bei einer kleinen Kapelle rechts ab. Soll ich fahren?“
„Kommt nicht infrage. Ich lass mir doch von einer Frau nicht meinen Wagen ruinieren.“ Er schob sich eine zweite Pastille in den Mund, man konnte ja nie wissen, und schlurfte hinaus. Das Sonnenlicht glitzerte auf der schwarzen Nässe des Parkplatzes. Sie stiegen in Millers Wagen. Er grinste sie von der Seite an. Dabei schob er sich einen Zigarillo in den Mund, zündete ihn an und kurbelte das Seitenfenster herunter. Dann ließ er den Motor aufheulen, drehte das Radio laut, steuerte langsam auf die Straße und legte dort mit quietschenden Reifen einen Kavalierstart hin.
Sie waren etwa zwanzig Minuten gefahren, als vor ihnen die Kapelle auftauchte. Sie war von einigen Bäumen umgeben, und lag eingebettet in einer Kurve. Das Moos, das sie vom Sockel bis zu den zerschlagenen Fenstern bedeckte, gab ihr ein verwittertes Aussehen. Miller trat so abrupt auf die Bremse, dass Beverly den Druck des Sicherheitsgurtes auf ihrem Körper spürte, bog ab und trat wieder aufs Gas. Der Weg schlängelte sich stark. Er war von hohem Gesträuch gesäumt. Miller schien Mühe zu haben die engen Kurven richtig einzuschätzen. Manchmal riss er am Lenker und es schien Beverly, als könnte die nächste auch die letzte Kurve für sie sein.
Wenigstens hält er den Mund.
Die Zufahrt endete auf einem riesigen Vorplatz. Ein herrschaftliches Gebäude reckte sich vor ihnen in den Himmel. Zwei mächtige Säulen stützten das von Marmorlöwen bewachte Portal. Hier also sollte ein Junge eine Tat begangen haben, die Parallelen zu ihrem Fall aufwies. Sie hatten sich absichtlich nicht angemeldet. Niemand in diesem Haus wusste, dass Scotland Yard ihnen heute einen Besuch abstatten würde.
„Die ehrwürdige Familie St. Williams. Alter englischer Adel“, spöttelte Miller, während er den Türklopfer betätigte.
Es dauerte eine Weile, bis geöffnet wurde. Eine rundliche ältere Dame in einem schlichten Hauskleid öffnete die Tür. Ihre prallen Wangen waren von kleinen roten Äderchen durchzogen, ihre blauen, freundlichen Augen blickten durch die Gläser einer kleinen, schlichten Brille. „Sie wünschen bitte?“
„Wir sind von Scotland Yard. Wir ermitteln in einem schwierigen Fall und möchten Sie um ihre Mithilfe bitten. Sie sind Victoria St. Williams?“
„Nein“, sie lächelte. „Ich bin Maria Clement, die Hausdame. Sie sind nicht angemeldet“, stellte sie fest.
„Nein, aber es ist dringend. Würden Sie uns bei Mrs. St. Williams ankündigen?“
„Ich werde es versuchen. Kommen Sie doch bitte so lange in die Halle.“
Die Eingangshalle war riesig. Alles bestand aus glänzendem, hellem Marmor, der Boden, die Wände, die riesige Treppe, über die Maria Clement jetzt nach oben verschwand. Beverly fiel auf, dass es hier weder Teppiche noch Blumen oder Bilder an den Wänden gab, der ganze Raum wirkte vollkommen entseelt.
„Dieses vornehme Getue ist nicht auszuhalten, wenn ich …“
Beverly ließ Miller nicht ausreden. „Wir sind zumindest schon im Flur. Ein bisschen Takt würde dir auch nicht schaden.“
„Ekelhaft, dieses Adelspack, einfach nur ekelhaft.“
„Tja, Miller, da musst du jetzt durch.“
„Kommen Sie, bitte“, die Hausdame winkte ihnen über die Balustrade zu, „Sie können Madame kurz sprechen.“
Victoria St. Williams erwartete sie in einem riesigen Wohnzimmer, das von langen grünen Vorhängen verdunkelt war und eine beklemmende Atmosphäre ausstrahlte. Auf dem tadellos gepflegten Parkettboden lag ein kunstvoll gearbeiteter Orientteppich, der sicherlich ein Vermögen gekostet hatte. Der Raum war ringsum von Wandlampen schwach beleuchtet. Der hohe Kamin schien schon eine Ewigkeit nicht benutzt worden zu sein. Die Stirnwand des Zimmers hing voller Porträts. Schriftzüge darunter verrieten, dass sie die Ahnen der Familie St. Williams zeigten. An der rechten Wand stand ein mächtiger alter Schrank aus dunklem Holz, gerahmt von unzähligen Geweihen, gegenüber ein riesiger schwarzer Flügel. In der hintersten Ecke des Raumes saß Victoria St. Williams kerzengerade in einem übergroßen Sessel. Sie schien auf Besucher keinerlei Wert zu legen und demonstrierte dies durch die Tatsache, dass es hier keine weiteren Sitzmöbel gab. Ein kleines Tischchen mit einer edlen Porzellankanne und einer Tasse standen vor ihr. Mrs. St. Williams wirkte ausgemergelt, ihre Wangenknochen stachen weit aus ihrem grauen, verhärmten Gesicht hervor. Sie trug ein strenges, dunkelgraues Kleid, das den Hals komplett bedeckte, und eine schlichte goldene Kette. Ihr weißes Haar war so straff zurückgekämmt und zu einem Knoten gebunden, dass Beverly allein vom Hinsehen schon Kopfschmerzen bekam. Durch die jahrelange Tortur lag der Haaransatz weit zurück, sodass es aussah, als habe sie eine Stirnglatze. Sie musterte die Ankömmlinge geringschätzig, und ihre kalten bleichen Augen verkündeten offene Feindseligkeit.
„Ich gehe davon aus, dass Sie keinen Tee möchten“, stellte sie mit harter, emotionsloser Stimme fest. „Ich bin es nicht gewohnt, Leute von der Straße zu empfangen, die sich in desolatem Zustand befinden. Sie riechen nach Alkohol, junger Mann. Es ist eine Schande“, sie wandte sich an Beverly, „dass Sie es wagen, mit locker gebundenen Haaren hier zu erscheinen. Ich ertrage diesen Verfall der Sitten nicht. Was wollen Sie hier?“
„Wir sind von Scotland Yard und müssen Ihnen einige Fragen stellen“, begann Beverly ruhig, aber schon jetzt mit dem unguten Gefühl, auf verlorenem Posten zu stehen.
„Ich habe Sie nicht hierher gebeten.“
„Wir arbeiten an einem schwierigen Fall. Wir brauchen ihre Hilfe, Mrs. St. Williams.“
„Ich habe mit solchen Dingen nichts zu schaffen. Mein ganzes Leben habe ich mich für die Wahrung von Zucht und Ordnung eingesetzt. Ich möchte nichts mit Ihnen zu tun haben. Bitte, gehen Sie jetzt.“
„Ich habe einige Fragen zu Ihrem Sohn.“ Beverly bemühte sich, gelassen zu bleiben, ihre Stimme klang ruhig, die Antwort der alten Dame harsch.
„Wie können Sie es wagen! Ich habe keinen Sohn.“
„Mrs. St. Williams, wir wissen, dass Sie einen Sohn haben“, erwiderte sie eindringlich.
„Woher können Sie das wissen? Es ist ungeheuerlich. Sie ahnen nicht im Geringsten, wie es ist, Zucht und Ordnung aufrechtzuerhalten, das undankbare Personal zu führen, das sich auf Kosten der besseren Gesellschaft ernährt, und einem Kind Disziplin und Anstand beizubringen! Ja, all das habe ich geschafft, weil ich immer unnachgiebig und hart war. Auch zu mir selbst. Habe ich je Dankbarkeit für meine Aufopferung bekommen? Nein, aber alle leben sie von meiner Großzügigkeit.“