Killer-Elli - Rita Janaczek - E-Book

Killer-Elli E-Book

Rita Janaczek

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Beschreibung

"Ich kann das nicht mehr mit ansehen!" Das sind die letzten Worte, die der jugendliche Rowdy hört, bevor die alte Dame ihn erschießt und anschließend spurlos in der Nacht verschwindet. Kommissar Kahlberg steht vor einem Problem. Nein, vor mehreren. Seiner Erfahrung nach erschießen nette alte Damen keine Menschen. Schon gar nicht in der Straßenbahn. Das Täterprofil ist surreal. Er muss die Frau so schnell wie möglich finden, bevor es womöglich weitere Tote gibt. Zudem muss er sie auch zu ihrem eigenen Schutz aufspüren, denn der junge Mann hatte Komplizen, ebenfalls verschwunden, und die könnten auf Rache aus sein. Aber wie findet man jemanden, den alle vorhandenen Zeugen mit Stillschweigen schützen?

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Seitenzahl: 271

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Killer-Elli

Ein Rostock-Krimi

Rita Janaczek

 ©Rita Janaczek 2024   

Machandel Verlag
Neustadtstr.7, 49740 Haselünne

Cover gestaltet von Elena Münscher 

Nachtansicht Rostock: RikoK/depositphotos.com

Elemente aus Bildern v. Kurt Rasmussen/bahnbilder.de

Start ins Wochenende

Rostock – Spätsommer

So ein Geschiebe in der Straßenbahn – und das kurz vor Mitternacht! Irgendwo in der Stadt oder am Alten Hafen musste ein Event gewesen sein, das die Besucher jetzt alle gleichzeitig auf die Straße spuckte. Vinzenz lehnte lässig an einer Stange und beobachtete das Gedränge.

Der nächste Halt.

Eine Handvoll Fahrgäste stieg aus, andere hechteten zu den freiwerdenden Plätzen. Vinzenz juckte das nicht. Ein paar Stationen noch, dann war er ohnehin zu Hause. Mit einem Ruck fuhr die Bahn wieder los. Das Smartphone vibrierte in der Gesäßtasche seiner Jeans. Er zückte es, warf einen kurzen Blick auf das Display. Bea. Was wollte die denn jetzt noch? Es war doch alles geklärt. Ihren Kontakt hatte er längst gelöscht, aber sie schien seinen wie einen Schatz zu hüten. Wenn sie nicht lockerließ, würde er sie sperren.

DU WOLLTEST ES BEENDEN. ALSO NIMM MEINEN KONTAKT RAUS.

Sofort schickte er die Nachricht ab und schob das Handy an seinen Platz. Er spürte, dass er beobachtet wurde und sah hoch.

Sie saß schräg gegenüber. Mit ausgestreckten Armen hätten sie sich berühren können. Einige Jahre jünger als er, kurze wilde Haare und dunkle Augen.

Abermals hielt die Straßenbahn.

Offen schaute sie ihm ins Gesicht. Er hielt ihrem Blick eine Weile stand, sah dann aber nach unten, als die Bahn anzog. Nach ein paar Sekunden blickte er doch wieder hoch. Den Boden zu erkunden war erst recht peinlich, da war ihm die Unsicherheit sofort anzusehen. Er fuhr sich nervös durchs Haar. So was Blödes, in einem Club wäre er bei einem solchen Flirtversuch souveräner gewesen. So profan in einer Straßenbahn, das war nicht seine Plattform.

„Nora“, sagte sie mit einem Lächeln.

„Vinzenz.“

Dieses Strahlen steckte ihn sofort an. Er lächelte zurück. Nächster Halt, es gab Gedränge in beide Richtungen. Dann stiegen drei Typen ein. Noch bevor die Tür sich wieder schloss, fingen sie an zu pöbeln. Die hatten offensichtlich einiges getankt.

Vinzenz schob sich unauffällig auf die andere Seite des Gangs neben Noras Sitzbank. Eigentlich hatte er vorgehabt, eine lockere Konversation mit ihr zu beginnen. Doch es war wohl besser, stattdessen die Situation im Blick zu behalten. Die Typen waren auf Krawall aus, das war nicht zu übersehen. Der größte von ihnen trug Springerstiefel light, war sicherlich über eins neunzig, und auf seinem schwarzen T-Shirt stand „Scheißstaat“. Die kurzen Haare standen bürstenartig nach oben. So, wie seine Muskeln das Shirt ausbeulten, hatte er vermutlich einen Großteil seiner bisherigen Lebenszeit im Fitnesscenter verbracht. Der Hagere neben ihm, der ebenfalls in schwarz gekleidet war, hatte die Kapuze seines Hoodys tief ins Gesicht gezogen und hielt eine Bierdose in der Hand. Schief grinsend stellte er sich mit seinem Schritt direkt vor das Gesicht einer Jugendlichen, die in der Nähe der Tür saß. Der Dritte präsentierte seinen Rücken, mit abgewetzter Lederweste über dem T-Shirt. Tätowierte Totenköpfe verunstalteten jeden Quadratzentimeter seiner Arme. Jeder im hinteren Teil des Straßenbahnabteils, der ab jetzt aussteigen wollte, musste zwangsläufig an diesen Dream-Boys vorbei. Scheißtypen, ging es Vinzenz durch den Kopf, Auftritt von Bürste, Bierdose und Skull.

Der nächste Halt kam in Sichtweite.

Zwei Jugendliche erhoben sich von ihren Sitzen. Sie steuerten eilig den vorderen Ausgang an, um der Begegnung mit dem Trio zu entgehen. Ansonsten rührte sich niemand. Skull begann sich in die andere Richtung durch den Gang zu drängen. Wenn man es genau betrachtete, hatte er freie Bahn, die Umstehenden wichen zurück. Er blieb bei einem jungen Mann stehen, der in einem lindgrünen Pulli am Fenster saß und so unauffällig aus dem Fenster sah, dass es erst recht auffiel.

„Steh auf, du schwule Sau“, blökte Skull, „und nimm dir ´nen Strick! Sonst besorgen wir das für dich!“

Zwei Senioren mit Rollator erhoben sich und schoben Richtung Ausgang, Vinzenz hätte nicht sagen können, ob ihre geduckte Haltung ihrer Angst oder ihrem Alter geschuldet war.

„Ihr bleibt schön hier.“ Bürste stellte sich ihnen direkt in den Weg, kein Durchkommen. „Was haben wir denn da?“ Er grinste breit. „Einen Porsche und einen Ferrari. Dürft ihr alten Säcke sowas überhaupt noch fahren?“

Die beiden anderen lachten.

Bürste zog dem Alten den Rollator aus der Hand und beförderte das Gefährt mit einem wuchtigen Tritt zu Boden. Einen Herzschlag lang rührte sich niemand, dann sprang eine Frau auf, um das Gefährt aufzurichten.

„Hab ich was von Aufstehen gesagt, du blöde Schlampe?“

Sofort setzte sie sich auf ihren Platz zurück und starrte auf ihre Hände. Im gleichen Moment bremste die Bahn. Der alte Mann geriet ohne seinen Rollator aus dem Gleichgewicht. Er taumelte seitlich, versuchte noch, eine Haltestange zu greifen, kippte gegen den Hageren mit der Bierdose und landete auf dem Boden.

„Pass mal auf, du Drecksack!“, brüllte der sofort, „ich lass mich doch von einem Scheintoten nicht anrempeln!“ Dann trat er mehrmals zu.

Der hilflose Senior krümmte sich zusammen.

Bierdose ließ von dem Alten ab, der stöhnend auf dem Boden liegen blieb, und hielt nach einem neuen Opfer Ausschau. Vinzenz tastete nach seinem Smartphone, um den Notruf zu wählen. In diesem Moment traf ihn Bürstes Blick. Langsam ließ er den Arm wieder sinken. Die Straßenbahn hielt und alle, die jenseits der Dreiergang saßen und unbehelligt die nächste Tür erreichen konnten, stiegen jetzt hastig aus. Vermutlich war ein Großteil von ihnen hier nicht zu Hause. Aber in Anbetracht dessen, was sich hier gerade abspielte, war es die bessere Option, in das hintere Abteil umzusteigen oder auf die nächste Bahn zu warten. Sicher hätten auch alle im hinteren Teil des Waggons gern den Ort des Geschehens verlassen. Doch niemand rührte sich, jeder hätte unweigerlich an dieser hochaggressiven Truppe vorbei gemusst.

Nächster Versuch. Vinzenz drehte sich weg und angelte so unauffällig wie möglich sein Handy aus der Hosentasche. Aus dem Augenwinkel konnte er sehen, dass Nora bereits tippte. Ihre Blicke trafen sich kurz.

„Ihr zwei da, Handys weg.“ Bürste kam mit großen Schritten auf ihn zu und holte ohne Vorwarnung aus.

Vinzenz hatte keine Zeit zu reagieren, der Schlag beförderte ihn zu Boden. Die Umstehenden wichen zurück. Der Schmerz zog von der Nase bis in den Hinterkopf, sofort breitete sich der Geschmack von Blut in seinem Mund aus. Jetzt war der Typ über ihm. Vinzenz robbte rückwärts. Die ersten Tritte trafen ihn hart in den Oberschenkel. Er japste vor Schmerz, reflexhaft trat er zurück, traf aber nicht.

„Halt die Beine still, du Wichser!“

Die zwei anderen lachten wieder.

Vinzenz hob ihnen beschwichtigend die Handflächen entgegen.

„Wolltest du etwa die Bullen rufen, du Opfer? Weißt du, was wir mit dir machen? Wir schneiden dir die Eier ab!“

Bürste zog ein Messer und ließ es aufspringen.

„Mach keinen Scheiß, Mann“, japste Vinzenz.

Nora entfuhr ein „Nicht!“.

„Hat dich einer gefragt, du kleine Nutte?“, bellte Bierdose und rückte auf. Er legte seine Hand auf ihre Kehle und drückte sie rücklings in den Sitz.

„Lass sie los!“, keuchte Vinzenz und trat zu. Diesmal traf er direkt zwischen die Beine. Bürste heulte auf. Vinzenz konnte sehen, dass Bierdose von Nora abließ, doch jetzt konzentrierten sich alle drei auf ihn. Das hatte ihm noch gefehlt, er war ohnehin in einer denkbar schlechten Position.

„Gib her!“ Skull schob sich neben seinen Kumpel und zog ihm das Messer aus der Hand. Er positionierte sich, beugte sich hinab und stach zu.

Das hat er jetzt nicht getan!, war Vinzenz´ flüchtiger Gedanke, dann kam der brennende Schmerz. Der zweite Stich ließ nicht lange auf sich warten und traf ihn in die Seite. Vinzenz wollte wieder treten, doch der Schmerz war so heftig, dass seine Beine ihm nicht gehorchten. Sein Blick schweifte für den Bruchteil einer Sekunde in die Menge, über eine Staffage erstarrter Figuren. In diesem Moment wurde ihm bewusst, dass er auf sich allein gestellt war.

Skulls Blick war anzusehen, dass er noch nicht fertig war. Reflexhaft riss Vinzenz die Arme hoch, um den Angreifer abzuwehren oder sich zumindest notdürftig zu schützen. Er nahm den Lichtschimmer wahr, der über die Klinge blitze, fast gleichzeitig verletzte sie seine Hand. Er stieß einen erstickten Schrei aus.

Skull war jetzt offensichtlich so richtig in seinem Element. Er schien nicht einmal die ältere Frau zu bemerken, die an seine Seite trat.

„Ich kann das nicht mehr mitansehen“, sagte sie fest, als er zum nächsten Angriff ansetzte. Sie drückte Skull die Mündung einer Pistole an den Kopf. Der stutzte. In dem Moment, als sein Gesicht einen ungläubigen Ausdruck annahm, drückte sie ab.

Der Himmel war sternenklar, die Straßenbeleuchtung verteilte ihr warmweißes Licht über die Haltestelle, das Blaulicht einiger Einsatzfahrzeuge flirrte in den Scheiben der Straßenbahn. Die Nacht hatte keine Chance, diesen Flecken der Stadt in Dunkelheit zu tauchen. Obwohl Mitternacht schon lange vorüber war, beobachteten einige Anwohner das Spektakel aus den Fenstern ihrer Wohnungen. Spezialisten in weißen Einweganzügen bevölkerten das Straßenbahnabteil und die Haltestelle. Uniformierte Polizisten befragten Zeugen in dafür bereitgestellten Fahrzeugen. Der Straßenabschnitt am Rahnstädter Weg war durch leichte Sichtschutzzäune notdürftig abgesperrt worden. Außer der blutbespritzten Seitenscheibe des Abteils deutete von außen nichts auf eine Straftat hin.

Kriminalhauptkommissar Rune Kahlberg und Kriminalhauptkommissarin Imani Krohn standen am Notarztwagen, der vor wenigen Minuten den jungen Mann mit den Stichverletzungen an Bord genommen hatte.

Kahlberg warf einen kurzen Blick zu Krohn herüber. Seit zwei Jahre arbeiteten sie schon gemeinsam in seinem buntgemischten Team. Er wusste es zu schätzen, dass sie selbst dann ruhig blieb, wenn sie wegen ihrer dunklen Hautfarbe dumm angemacht wurde.

„Wir fahren jetzt los“, informierte sie der Notarzt.

„Wie schätzen Sie seine Chancen?“, wollte Kahlberg wissen.

„Hoher Blutverlust, doch wir konnten ihn so weit stabilisieren. Wir bringen ihn ins Uniklinikum, das OP-Team macht sich schon bereit.“

Kahlberg nickte. So ein junges Leben. So eine sinnlose Aktion. So eine verdammte Scheiße.

Er blickte dem Notarztwagen nach, der den Ort des Geschehens unter Blaulicht verließ, spürte Krohn an seiner Seite, schweigend, bewegungslos und doch irgendwie tröstlich.

„Herr Kommissar, darf ich jetzt fahren?“ Der Senior stützte sich auf seinen Rollator und sah erschöpft aus. „Ich habe dem Streifenpolizisten meine Telefonnummer gegeben. Mein Bruder ist bei dem Vorfall verletzt worden. Ich muss zu ihm ins Krankenhaus.“

Der Rollator erinnerte Kahlberg an seinen eigenen Vater, daran, wie schnell der Alte abgebaut hatte. Er verabschiedete sich vom Leben, bevor er auch nur einmal mit der Gehhilfe durch die Gegend schob. Mit einem Mal war die fast vergessene Hilflosigkeit wieder präsent.

„Wie kommen Sie denn jetzt da hin?“, fragte Kahlberg.

Der Senior zuckte mit den Schultern. „Ich werde mir wohl ein Taxi nehmen.“

„Ich rufe Ihnen eins.“ Kahlberg nestelte sein Smartphone aus der Innentasche seines Sakkos. Es war das Mindeste, was er jetzt tun konnte.

Hauptkommissar Benno Sievermann, Leiter der Spurensicherung, stieg aus dem Straßenbahnabteil und schritt zügig auf Kahlberg zu.

„Wir sind so weit.“

„Ihr Taxi ist unterwegs.“ Kahlberg nickte dem alten Mann freundlich zu. Der bedankte sich wortreich.

Endlich konnte sich Kahlberg dem Kollegen zuwenden. Der stand breitbeinig in seiner weißen Einwegkluft vor ihm, den Mundschutz hatte er abgenommen.

„Ihr könnt jetzt einen Blick auf den Toten werfen. Ich sag mal nix. Macht euch selbst ein Bild.“

Während sie gemeinsam auf die Straßenbahn zugingen, stieg gerade der Rechtsmediziner aus seinem Dienstwagen. Sie hielten inne und warteten, bis er zu ihnen aufschloss. Die Streifenpolizisten schoben derweil die Absperrung an ihren Platz zurück. „Hallo, Dr. Jessen! Seit wann sind Sie unter die Nachteulen gegangen?“, grüßte Kahlberg ihn mit Handschlag.

„Ich habe den Bereitschaftsdienst getauscht, das hat man dann davon.“ Jessen seufzte, dann huschte ein jungenhaftes Grinsen über sein Gesicht. „Schönes Gemetzel, habe ich gehört. Dann wollen wir mal.“

Erst direkt vor der Straßenbahn war das Durchschussloch in der Scheibe des Abteils zu erkennen. Sie zogen sich die Plastikoveralls über, die ein Kollege der Spurensicherung ihnen reichte, und stiegen in das Abteil. Die Luft stand, Kahlberg schlug ein Geruchscocktail aus Schweiß, Alkohol und Blut entgegen. Er warf Krohn einen Blick zu, den sie ausdruckslos entgegennahm.

Der Tote lag rücklings im Gang, mit dem Kopf in einer Blutlache. An der rechten Schläfe war das Einschussloch deutlich zu erkennen, an der linken Schädelseite war das blonde Haar blutverklebt. Der Tote trug dunkle Jeans, eine alte Lederweste über einem schwarzen T-Shirt und Turnschuhe, die ihre besten Zeiten hinter sich hatten. Beide Arme waren komplett mit Totenköpfen in allen Größen und Variationen tätowiert. Ein blutverschmiertes Messer lag fast zwei Meter von seiner Hand entfernt. Vermutlich war es ihm im Sturz entglitten und ein Stück den Gang entlanggerutscht. Auch auf Höhe seiner Knie gab es reichlich Blut am Boden, großflächig verwischt. Kaum einen halben Meter entfernt, an einer Haltestange, lag ein Smartphone.

Dr. Jessen zog sich Nitrilhandschuhe über und hockte sich zu dem Toten. Während er arbeitete, hielten die Ermittler die Szenerie im Blick.

„Die Leiche hat halb auf einem jungen Mann gelegen, der mehrere Stichverletzungen hatte. So wie der Tote hier liegt, ist er aber nicht gefallen. Er lag wohl zunächst auf dem Bauch und wurde von den Ersthelfern zur Seite gerollt, die sich um den Verletzten kümmern wollten“, erklärte Sievermann.

„Ja, das deckt sich mit den ersten Zeugenaussagen. Er hat auf den jungen Mann eingestochen und wurde dabei erschossen.“ Imani Krohn hielt kurz inne. „Von einer Seniorin, vermutlich siebzig plus.“

„Auch nicht gerade ein Alter, um noch mit dem Töten anzufangen“, murmelte Sievermann. Seine Leute begannen, ihr Equipment zusammenzupacken.

Kahlberg nickte abwesend. Er betrachtete die Blutsprenkel an der Scheibe. Einige hatten kleine Rinnsale hinterlassen. Die Flugbahn des Projektils musste leicht schräg von unten nach oben erfolgt sein, das Einschussloch im Glas befand sich definitiv über Kopfhöhe.

„Wenn wir mit allem fertig sind, wird der Waggon polizeilich versiegelt und beim Betriebshof Hamburger Straße abgestellt“, erklärte Sievermann. „Falls wir nochmal nachfassen müssen. Die Rostocker Straßenbahn AG ist bereits darüber informiert. Das Projektil haben wir übrigens auf der andren Straßenseite gefunden. Also, falls ihr noch mit Zeugen einen Ortstermin braucht, der Waggon bleibt bis auf weiteres beim Betriebshof.“

„Das wird wohl nötig sein. Es gibt unter den bisherigen Aussagen zwar viele Übereinstimmungen, aber auch ein paar Details, die nicht zueinander passen“, sagte Krohn. Kahlberg nickte. Seine Kollegin hatte einen guten Blick für Zusammenhänge.

„Sieht nach einem aufgesetzten Schuss aus. Es sind deutliche Pulvereinsprengungen zu sehen.“ Dr. Jessen erinnerte mit seinem Statement daran, dass er noch anwesend war.

„Das deckt sich mit den Zeugenaussagen. Sie hat ihm die Waffe wohl direkt an den Kopf gehalten“, bestätigte Kahlberg.

„Ich frage mich, weshalb eine Seniorin an einem schlichten Freitagabend mit einer Schusswaffe unterwegs ist“, warf Krohn ein. „Und um auf deinen Gedanken von vorhin zurückzukommen, Benno – vielleicht hat sie nicht erst jetzt mit dem Töten begonnen. Wir müssen so schnell wie möglich ihre Identität ermitteln. Und wir müssen herausfinden, ob sie bereits in der Vergangenheit in dieser Hinsicht straffällig geworden ist.“

Benno Sievermann rang sich ein gequältes Lächeln ab.

„Das herauszufinden ist Gott sei Dank nicht meine Aufgabe. Ich bin froh, dass ich mich lediglich mit den glasklaren Fakten befassen muss.“

„Ich bin hier fertig“, sagte Dr. Jessen und gähnte hörbar. „Sorry, ist schon die zweite Nacht, die ich mir diese Woche um die Ohren schlage.“

Kahlberg sah auf seine Armbanduhr.

„Okay. Geht auf drei Uhr zu. Wieviel Schlaf brauchst du, Imani?“

„Wir könnten direkt zur Polizeiinspektion fahren. Schlaf wird definitiv überbewertet.“

Sie lächelte und ein Grübchen erschien auf ihrer rechten Wange. Sie hatte ihm vor längerer Zeit erzählt, dass sie dieses Merkmal von ihrer Mutter geerbt hatte.

„Ist jetzt nicht dein Ernst, oder?“

„Doch.“

Sie klang sogar todernst. „Morgen um acht?“, schlug er vor. Er war schließlich keine dreißig mehr.

„Okay, Rune. Dann gönnen wir uns ein paar winzige Stündchen.“

Direkt nach dem Schuss war die Bahn an der Haltestelle Rahnstädter Weg stehengeblieben. Jemand musste den Türöffner betätigt haben. In Panik waren die Leute nach draußen geströmt und der Pulk hatte sie mit sich geschwemmt. Fast automatisch war sie nach draußen gelangt und sofort weitergegangen.

Das Piepen im rechten Ohr war noch immer überdeutlich. Sie lief die Straße zügig entlang, ohne zu wissen, ob sie überhaupt den richtigen Weg eingeschlagen hatte. Der Wind frischte auf, sie schob ihre Hand in die Manteltasche und tastete nach ihrem Halstuch. Als sie nur das kalte Metall spürte, gaben ihre Finger die Suche auf. Deutlich hörte sie Schritte und Stimmen, die Geräusche waren hinter ihr und kamen allmählich näher. Ein Hauch von Erinnerung wallte in ihr auf, doch ihre Gedanken waren fahrig und hinterließen eine innere Unruhe. Sie bog in eine dunkle Seitenstraße ab und drückte sich in einen Hauseingang. Da waren doch Männer in der Straßenbahn gewesen. Konnten die ihr gefolgt sein? Instinktiv hielt sie den Atem an. Wo eigentlich ihr Herz sein sollte, arbeitete eine Dampframme.

Lautstark passierte eine Gruppe Jugendlicher den Weg. Sie harrte noch eine Weile aus. Ihr Hirn formte ungefragt einen losen Gedanken, mit dem sie nichts anfangen konnte. Leicht schräg von unten nach oben schießen. Sie verließ ihr Versteck und irrte eine gefühlte Ewigkeit durch die Straßen. Die ersten Anhaltspunkte nahm sie eher unbewusst wahr. Bekannte Gefilde, der Briefkasten, die Verkehrsinsel mit dem abgeknickten Bäumchen. Wie ferngesteuert folgte sie den Straßen und Biegungen, nahm die Abkürzung über den unbeleuchteten Fußweg, hielt auf ihren Wohnblock zu und blieb plötzlich wie angewurzelt stehen. Wie eine aufgeschreckte Traumwandlerin starrte sie auf den Flachbau. Die letzten Minuten waren ein diffuser Wirrwarr, sie hätte nicht sagen können, was sie zuvor gemacht hatte. Die Straßenbahn, daran konnte sie sich vage erinnern. Die Haltestelle war nicht weit von hier. Doch ihre Füße schmerzten, als sei sie stundenlang durch die Stadt geirrt. Sie musste eine lange Strecke zu Fuß gegangen sein, doch das konnte nicht sein.

Die Fenster ihres Wohnblocks waren allesamt dunkel. Sie sah auf ihre Armbanduhr. Fast drei Uhr in der Früh, auch das konnte nicht sein. Ihre Beine waren bleischwer, dennoch lief sie die Treppe in den vierten Stock hoch, ganz so, wie sie es gewohnt war. Sie war fit und trainiert. Erstaunt betrachtete sie das Zittern des Türschlosses, als sie mit ruhiger Hand versuchte, den Schlüsselbart hineinzuschieben. Sie schaltete die kleine Lampe auf dem Schuhschränkchen im Flur ein, mehr Licht brauchte sie nicht. Die Handtasche stellte sie auf die Ablage der Garderobe, der Schlüsselbund landete in der kleinen Holzschale, die auf dem schmalen Bord über dem Heizkörper stand. Ihren Mantel mit der Waffe darin hängte sie an der Garderobe auf. Dunkle Sprenkel waren an dem Stoff zu sehen. Eine Weile betrachte sie das zufällige Muster gedankenverloren. Eine bleierne Müdigkeit machte sich in ihr breit, mit einem Fingerschnippen hätte sie sich ins Bett gewünscht. Stattdessen stand sie unschlüssig im Flur, wie angewachsen, ihr Blick ruhte minutenlang auf dem hellen Mantel. Alles normal, Elisabeth, alles normal, außer das Piepen im Ohr und die seltsamen Sprenkel am Stoff.

Nach einer kurzen Nacht

Die Polizeidienststelle an der Ulmenstraße war auch am Samstag belebt. Kahlbergs Leute waren nicht die einzigen, die am Wochenende im Dienst waren. Sein Team hatte sich in den Besprechungsraum zurückgezogen, Ermittlungen fanden schließlich nicht nur da draußen, sondern auch am Reißbrett statt.

„Hat nicht gelohnt, nach Hause zu gehen.“ Krohn zwinkerte und goss sich einen Kaffee ein.

„Ich bin froh, dass ich noch drei Stunden in die Waagerechte konnte“, entgegnete Kahlberg. Sein dunkelblondes Haar lag nicht so perfekt wie sonst. Er hielt ihr seinen Kaffeebecher hin.

Krohn goss ihm ein, es fühlte sich vertraut an. Das hatte seine Zeit gebraucht. Ihr Start miteinander war alles andere als geschmeidig gewesen. Jetzt schien diese Zeit Lichtjahre zurückzuliegen, und seit jenem Moment, als er ihr während einer nächtlichen Observation von seiner Scheidung erzählt hatte, wusste sie, dass das Eis gebrochen war.

Kriminalkommissar Achim Schneider reckte den Arm und angelte nach der Kanne, die ihm Krohn herüberreichte. Eigentlich hätte er noch bis einschließlich Sonntag frei gehabt, doch Leichen nahm er persönlich. Meist brauchte Kahlberg seine Leute nicht wirklich zu motivieren, sie waren auch so bei der Sache, arbeitseifrig, wie auch Kriminalkommissarin Elisa Göthefeld und die junge Anwärterin Fiona Lambers, die in der Runde saßen.

„Ich habe da was läuten hören“, warf Achim Schneider in die noch ungeordnete Zusammenkunft. „Stimmt es, dass eine Rentnerin den Mann in der Straßenbahn erschossen hat?“

„Vermutlich ja. Aber eins nach dem anderen.“ Da fährt er wieder mit angezogener Handbremse, dachte Krohn. „Nu leg schon los“, forderte sie ihn auf.

„Die Nacht war kurz, Imani. Also, zunächst ein knapper Einblick anhand der Zeugenaussagen.“ Kahlberg nahm noch einen Schluck Kaffee und stellte dann seine Tasse ab.

„An der Haltestelle Maßmannstraße sind um 23.30 Uhr drei Männer in die Linie 1 in Richtung Lütten Klein Zentrum eingestiegen. Sie haben direkt damit begonnen, die Fahrgäste zu drangsalieren. Es ist zu Tätlichkeiten gekommen und die Situation ist eskaliert. Ein Rentner wurde von einem der drei krankenhausreif getreten, ein jüngerer Fahrgast wurde zunächst niedergeschlagen und anschließend mit einem Springmesser schwer verletzt. Außerdem wurde eine Frau gewürgt. Eine ältere Dame ist dann aufgestanden und hat den Messerstecher mit einem Kopfschuss niedergestreckt.“

„Einfach so erschossen?“, fragte Göthefeld.

„Es könnte sich um eine Notwehrsituation gehandelt haben“, antwortete Kahlberg. „Wir werden bei den Zeugen dringend nochmal nachfassen müssen. Außerdem müssen wir unverzüglich einen Aufruf starten. Etliche Fahrgäste sind bereits eine Haltestelle vorher ausgestiegen. Und nach dem tödlichen Schuss haben mindestens neun Personen den Tatort an der Haltestelle Rahnstädter Weg verlassen.“

„Haben wir schon Daten zu dem Toten?“, fragte Göthefeld.

„Ja.“ Krohn erhob sich und brachte das erste Bild am Whiteboard an. „Der Mann hatte seinen Ausweis bei sich. Es handelt sich um Pascal Wetzki, aufgrund seiner Tätowierungen in der Szene auch Schädel genannt. Für die Polizei ist er kein Unbekannter. Vierundzwanzig Jahre alt, hat bereits eine beachtliche kriminelle Karriere hingelegt, bevor er strafmündig wurde. Bis heute ein Jahr Jugendknast, danach eine längere Strafe im Erwachsenenvollzug. Schwerer Diebstahl, schwere Körperverletzung, Fahren unter Alkoholeinfluss und ohne Führerschein, unerlaubter Waffenbesitz.“

„Sympathisches Kerlchen, und die ganze Scheiße ist ihm jetzt um die Ohren geflogen“, sagte Schneider.

„Was ist mit den Verletzten? Sind die vernehmungsfähig?“ Göthefeld blickte in die Runde.

„Wir hatten noch keine Zeit, uns darum zu kümmern. Wäre super, wenn das nachher jemand übernehmen könnte“, bat Kahlberg. „Beide sind gestern ins Uniklinikum eingeliefert worden.“

„Ja, ich rufe da nachher an“, erklärte Krohn sich sofort bereit. Es war immer gut, die Zeugen zeitnah zu befragen. Da waren die Erinnerungen noch klar.

Kahlberg nickte. „Wir haben in der Nacht vor Ort bereits fünf Zeugen vernommen. Die müssen alle hier erscheinen, um die beiden anderen Männer zu identifizieren. Ich will nicht Rune heißen, wenn die nicht auch polizeibekannt sind.“

Krohn huschte ein Lächeln über das Gesicht. Wer sollte Rune heißen, wenn nicht dieser Mann da? Rune, geheime Weisheit, verpackt in einen trainierten, nicht mehr ganz jungen Körper, intelligent, lässig.

„Ich kümmere mich darum“, sagte Göthefeld.

Kahlberg reichte der Kollegin ein Dossier. „Adressen und Telefonnummern.“

„Jep.“

„Kommen wir zur Spurenlage“, fuhr der Teamchef fort. „Sievermann und seine Leute haben da keinen leichten Job. Ihr könnt euch vorstellen, was an DNA-Spuren und Fingerabdrücken in einem Straßenbahnabteil zu finden ist. Lediglich die Blutspuren werden wir zügig und eindeutig zuordnen können. Alles andere wird dauern. Heute wird Sievermann mit den Kollegen von der Ballistik die Schussbahn rekonstruieren.“

„Vor Ort, im Straßenbahnabteil?“, fragte Schneider.

„Ja, der Waggon steht am Betriebshof Hamburger Straße“, antwortete Kahlberg. „Jetzt kommen wir zu unserem dringlichsten Problem. Der Dame, die geschossen hat. Keiner unserer fünf Zeugen konnte eine Personenbeschreibung abgeben. Selbst zur Kleidung hat niemand Angaben gemacht. Zwei Zeugen haben sich allerdings verquatscht und angegeben, dass sie die Waffe aus der Manteltasche gezogen hat. Ich gehe davon aus, dass unsere Zeugen mehr gesehen haben als sie zugeben.“

„Ja, zumindest den Mantel.“ Schneider verzog den Mund zu einem kaum wahrnehmbaren Grinsen und zwinkerte.

„Ich kann nur vermuten, weshalb sich die Zeugen bedeckt halten“, ergriff Kahlberg wieder das Wort. „Sie betrachten die alte Dame wohl als eine Art Heldin.“

„Schöne Heldin ist das“, warf Göthefeld ein. „Sie knallt einem Typen so mir nichts, dir nichts das Hirn weg. Die könnte zur tickenden Zeitbombe werden.“

„Ich gehe erst mal davon aus, dass unsere Täterin aus der Notsituation heraus gehandelt hat. Für mich ist sie keine eiskalte Killerin“, wandte Kahlberg ein.

„So habe ich das auch nicht gemeint. Aber wer weiß, wie sie nach einer solchen Extremsituation …“ Göthefeld hielt kurz inne, als würde sie nach der passenden Formulierung suchen. „Wir wissen nichts über ihren Charakter oder ob sie psychische Probleme hat.“

Kahlberg nickte. „Es hilft alles nichts, wir müssen dringend den Zeugen nochmal auf den Zahn fühlen.“

Das Piepen im Ohr war weg. Doch beim Aufwachen tönte sofort dieser eine Satz in ihrem Kopf. Leicht schräg von unten nach oben schießen. Er erstickte Elisabeths vage Hoffnung, sie habe alles nur geträumt. Jetzt, nach ein paar Stunden Schlaf, war die Erinnerung so klar, dass es keinen Zweifel gab. Sie hatte dem Mann die Waffe an den Kopf gehalten, den Bruchteil einer Sekunde gezögert, um den Winkel leicht zu ändern. Auch wenn alles in ihr wie betäubt gewesen war, daran hatte sie gedacht. Das Risiko, Unbeteiligte in der Straßenbahn zu verletzen oder womöglich zu töten, wäre bei einem glatten Durchschuss ansonsten noch höher gewesen. Leicht schräg von unten nach oben schießen und darauf hoffen, dass das Projektil nicht zum Querschläger wird.

Sie seufzte schwer und quälte sich aus dem Bett. Normalerweise stand sie gern früh auf, aber was war jetzt noch normal? Ihr erster Gang führte sie an diesem Morgen in den Flur, um den Mantel an der Garderobe in Augenschein zu nehmen. Die feinen Sprenkel gaben Zeugnis über die Geschehnisse der letzten Nacht. Das getrocknete Blut war beim besten Willen an dem hellen Stoff nicht zu übersehen.

Elisabeth hatte in ihrem Leben hunderte von Krimis gelesen. Es gab kaum eine deutsche Krimiserie, die sie nicht kannte. Sie liebte ‚Friesland‘, ‚Nord bei Nordwest‘, ‚Harter Brocken‘ und ‚Stralsund‘. Ihr Favorit war der ‚Polizeiruf‘ aus Rostock, die Ermittlerin König und der verwegene Bukow.

Und jetzt saß sie da mit einem blutbesudelten, hellen Mantel. Bukow und König waren nur Fiktion und die Polizei war auf der Suche nach ihr. Vor ungefähr sieben Stunden hatte sie ohne Vorwarnung auf einen Menschen angelegt und ihn erschossen. Ihr Körper begann unkontrolliert zu zittern, sie schaffte es gerade noch bis in die Küche, auf die Kante des Stuhls, dann gaben ihre Knie nach. Was hast du nur getan? Sie brauchte sich das Szenario nicht einmal in Erinnerung zu rufen, es spulte sich ungefragt in ihrem Kopf ab. Immer und immer wieder. Sie schluckte schwer. Aber war es nicht die einzige Chance gewesen, diese Kerle zu stoppen? Die hätten doch die bloße Drohung mit einer Waffe nicht ernst genommen. Vermutlich hätte einer der drei ihr das Ding im Bruchteil einer Sekunde aus der Hand geschlagen und an sich genommen. Die Männer waren durch ihre Rohheit allen Fahrgästen überlegen gewesen. Es blieb, wie es war, sie hatte in diesem Moment gehandelt. Wenn sie jetzt darüber nachdachte, gab es zumindest einen winzigen Hauch von Richtigkeit. Doch dann war sie einfach gegangen, sie konnte selbst nicht sagen, weshalb. Auch erinnern konnte sie sich an diesen Moment nicht. Es wäre besser gewesen, dort zu bleiben. Doch es war anders gekommen. Und jetzt war es zu spät dafür. Es war keine Option, sich zu stellen. Ihr Entschluss stand fest. Sie hatte keine Ahnung, wie das Gericht eine solche Lage einschätzte, vielleicht erkannte es die Notwehr nicht als solche an. Sie würden fragen, weshalb sie gegangen war, und sie hatte keine Antwort darauf. Was, wenn sie ins Gefängnis musste? Nach den wenigen Jahren, in denen sie die Freiheit genossen hatte, konnte sie den bloßen Gedanken daran nicht ertragen. Erst nach dem Tod ihres Mannes hatte sie zu leben begonnen. Sie wollte nicht in einer Zelle verschwinden, wieder eine unsichtbare, fremdbestimmte Existenz führen.

Schwerfällig erhob sie sich von ihrem Stuhl und warf einen Blick aus dem Fenster. Nein, Elisabeth, Gefängnis, das überstehst du nicht. Im diesem Moment wusste sie , dass sie alles tun würde, um das zu verhindern.

Als erstes musste der verräterische Mantel verschwinden. Sie fasste in die rechte Manteltasche und stutzte. Vorsichtig nahm sie die Waffe und legte sie auf die Ablage. Wo waren ihr Halstuch und der Brief geblieben, den sie für Gerda auf dem Nachhauseweg hatte einwerfen wollen? Das Stück Papier, auf dem Gerdas Absender und die Adresse ihrer Krankenkasse standen? Der Schreck durchfuhr sie heiß und ließ sich dumpf im Magen nieder. Erinnerungsfetzten kamen zurück, bereits auf dem Rückweg hatte sie das Halstuch vermisst. Sie durchwühlte die anderen Taschen, obwohl sie es besser wusste. Sie hatte den Brief eilig in die rechte Tasche geschoben, als sie sich draußen, in der lauen Nachtluft, vor Gerdas einsamen Häuschen verabschiedet hatten. Gemeinsam mit Karla und Lore fuhr sie mit dem Taxi noch in die Innenstadt zum „Neuen Markt“, um den Abend ausklingen zu lassen. Ohne Gerda, die früh ins Bett wollte, um für die Reise zu ihrer Tochter am nächsten Tag fit zu sein. Sie erinnerte sich, dass sie draußen vor dem Restaurant ihr Halstuch abnahm, weil es doch noch lauer war als erwartet. Zu dritt gingen sie später zur Straßenbahnhaltestelle und fuhren gemeinsam bis zum Doberaner Platz. Karla wohnte im Rosenweg, Lore in der Nähe der Schwimmhalle, sie hatten die gleiche Richtung. Ihre Freundinnen stiegen dann um. Sie blieb allein in der Straßenbahn Richtung Evershagen sitzen. Wann und wo waren Tuch und Brief verloren gegangen? Waren sie womöglich schon in der Straßenbahn herausgerutscht, als sie die Waffe aus der Manteltasche zog?

Unvermittelt sah Elisabeth die Kerle vor sich, der Schuss hallte geräuschlos in ihrem Kopf. Ihr Blick streifte die schockstarren Fahrgäste. Die Bahn hielt. Sie senkte den Kopf, wendete sich von dem Blutbad ab, spürte nur noch das Gedränge ringsum.

Was war danach hinter ihrem Rücken geschehen? Es war nicht ausgeschlossen, dass einer der Fahrgäste den Brief an sich genommen hatte. Oder war er in die Hände dieser Kerle gelangt? Der Puls schoss ihr bis in die Schläfen. Gerdas Absender auf dem Schreiben, die Männer mussten doch denken, ihre Freundin hätte geschossen. Krampfhaft versuchte Elisabeth, sich mit den verschiedensten Erklärungen zu beruhigen. Wahrscheinlich hatte niemand gesehen, dass ausgerechnet ihr der Brief aus der Tasche gefallen war. Vermutlich war er bei dem Gedränge unter die Schuhe der Fahrgäste geraten oder unter eine Sitzbank gerutscht. In diesem Fall lag der Brief jetzt bei der Polizei, denn die Spurensicherung hatte das Abteil sicher gründlich unter die Lupe genommen. Sie stellte sich vor, wie ein Konvoi von Polizeiwagen mit Blaulicht zu Gerda in die Sackgasse fuhr, wie die Nachbarn die Gardinen zur Seite schoben und den Fahrzeugen hinterhersahen. Die Kriminalbeamten würden niemanden antreffen. Ihre Freundin war heute Morgen früh in Richtung Köln aufgebrochen und würde erst am Mittwoch zurück sein. Seniorin auf der Flucht, werden die denken. Wenn Gerda wegen des Briefes unter Verdacht geriet, gab es genug Zeugen, um sie zu entlasten. Es gab im Gegenzug genauso viele Zeugen, die sie selbst belasten konnten. Dieser Umstand konnte ihr gefährlicher werden als das verlorene Halstuch. Sie war zwar traurig, dass es verloren war, aber als Spur war das Tuch denkbar ungeeignet. Da stand nur ihr Vorname drauf, die Kurzform, mit der ihre Freundinnen sie ansprachen, Elli. Es gab noch die Möglichkeit, den Weg abzulaufen, um nach dem Halstuch zu suchen. Inzwischen waren ihr zumindest einige Stationen ihrer nächtlichen Odyssee wieder eingefallen. Wie ein Hase auf der Flucht, im Zickzack, war sie durch die Stadt gelaufen. Du warst wohl ziemlich durcheinander, altes Mädchen. Ein erschöpftes Lächeln huschte über ihr Gesicht. Gleichzeitig kamen die Tränen. Mit dem Ärmel wischte sie sich über die Augen. Du kannst dein neues Leben jetzt nicht einfach aufgeben. Erinnerungen wallten in ihr hoch.

Damals, vor fünf Jahren, als sie gerade erst nach Rostock gezogen war, hatte sie die Anzeige in der Ostsee-Zeitung entdeckt.

Junggebliebene Witwe Mitte 60 sucht gleichgesinnte Frauen 65 plus für Kultur, Reisen, Genießen und jede Menge Spaß, Gerda freut sich auf euch. Chiffre OZ-2013-38001T.

Bereits zwei Wochen später hatten sie sich zu viert getroffen, Gerda, Karla, Lore und Elli. Es war, als hätten sie sich schon ewig gekannt. Die Stimmung war vom ersten Moment an gelöst und herzlich gewesen. Und dann hatte Lore ihnen diese zartblauen Halstücher bestickt, ein jedes mit ihrem Namen.

Nervös knetete Nora die Hände, während sie wartete. Es dauerte eine Weile, bis die Eingangstür zur Intensivstation geöffnet wurde.

Die Krankenschwester in blauer Arbeitskleidung hatte sichtbare Schatten unter den Augen. „Ja?“ Nur ein Wort und dennoch eine Frage mit unendlichen Möglichkeiten für Erklärungen und Halbwahrheiten.

„Hallo, ich möchte zu Vinzenz. Ist gestern eingeliefert worden nach einem Messerangriff.“ Nora bemühte sich, ruhig und souverän zu wirken. Doch ihr Puls signalisierte ihr noch immer das Gegenteil.

„Und weiter?“

„Was weiter?“

„Der Nachname.“

„Den weiß ich leider nicht.“

„Und Sie sind?“

„Nora, Nora Schewe. Ich bin seine Freundin“, log sie. Unumwunden zeigte sie dabei ihr ehrlichstes Lächeln. Es wäre vielleicht nicht einmal gelogen, wenn er in ihrem Bett gelandet wäre, anstatt blutüberströmt in einem Straßenbahnabteil. Vinzenz hätte auch im Klinikum Südstadt sein können, aber das Uniklinikum lag ein paar Straßen näher an der Haltestelle, an der es geschehen war.

„Sie kennen den Nachnamen nicht und behaupten, seine Freundin zu sein? Wie passt denn das zusammen?“, fragte die Krankenschwester. Ihr Ton war jetzt spitz.

„Fragen Sie ihn bitte selbst, ob er Besuch von mir möchte.“ Wenn sie noch eine Chance haben wollte, musste sie jetzt alles auf eine Karte setzen.

„Hier liegt kein Vinzenz.“ Die Antwort klang schroff. Bevor Nora reagieren konnte, zog die Krankenschwester die Tür zu. Unentschlossen verharrte Nora einige Sekunden, dann klingelte sie ein weiteres Mal. Diesmal wurde die Tür nach kurzer Zeit geöffnet. Die gleiche Frau stand im Rahmen.

„Bitte, ich …“ Weiter kam sie nicht.

„Das ist doch nicht zu fassen.“ Mit diesen Worten schloss sich der Zugang zur Intensivstation schneller, als es ihr lieb war. Entmutigt steuerte sie auf eine Sitzbank zu und ließ sich darauf sinken. Entweder war diese Krankenschwester total unsensibel, oder Vinzenz lag tatsächlich nicht auf ihrer Station. Vielleicht war sie auch gestresst und überarbeitet. Ob er doch im Klinikum Südstadt war? Oder bereits auf einer Station? Nein, mit den Verletzungen war er sicher noch auf der Intensivstation. Plötzlich schoss ein Gedanke in ihr hoch. Es konnte doch unmöglich sein, dass er jetzt noch im OP war. Nora erhob sich, es machte keinen Sinn hier noch länger herumzusitzen. Mit hängenden Schultern nahm sie den Korridor in Richtung Ausgang. Da hatte sie in der Straßenbahn diesen süßen Typen getroffen, und dann kam da so ein Arschloch und rammte ihm ein Messer in die Rippen. Das war alles so surreal. Der gestrige Abend fühlte sich wie ein Film an, der wie ein Rausch in ihr nachwirkte. Die Frau, eine Seniorin, sie war so nervenstark gewesen. Die hatte beinahe gelassen gewirkt, als sie neben ihr aufgetaucht war. Nora sah die Pistole, hatte in diesem Moment aber nicht wirklich begriffen. Schließlich gab es so etwas nicht, eine Seniorin, die in der Straßenbahn eine Waffe zieht. Schnell und trotzdem gleichsam wie in Zeitlupe hielt die Frau dem Typen die Mündung an den Kopf und zögerte nur kurz, bevor sie abgedrückte. Sie agierte, wie man sich eine Profikillerin vorstellte, nur, dass sie ein paar Semester zu alt für so einen Auftritt war.

Nora hielt inne, holte ihr Smartphone aus der Handtasche und öffnete die Fotogalerie. Sie hatte unauffällig fotografiert. Genau in dem Moment, als der Mann mit dem hellgrünen Pulli als schwule Sau beschimpft worden war. Auf dem Foto war die ältere Frau zu sehen, die zwei Reihen vor ihm gesessen hatte. Nora vergrößerte das Bild und betrachtete das Gesicht, das gepflegt und freundlich wirkte. Die Polizei wusste nichts von dem Foto, das musste auch so bleiben. Sie fragte sich, ob das falsch war. Aber sollte sie die Frau verraten, die Vinzenz das Leben gerettet hatte? Nora war heute vorgeladen, sie musste in die Polizeiinspektion, um in die Verbrecherkartei zu schauen. Vielleicht konnte sie diese Männer sogar identifizieren. Die Ermittler würden auch nach dieser Frau fragen, damit musste sie rechnen. Schnell schob sie das Handy zurück und atmete mehrmals tief durch. Da musste sie aufpassen, dass sie sich nicht verquatsche. Am besten blieb sie exakt bei dem, was sie in der Nacht ausgesagt hatte. Es war eine schlüssige Erklärung, dass sie nach dem Würgeangriff neben sich gestanden hatte, was auch stimmte. Ihr Blick war danach nur auf die Waffe und nicht auf die Frau fixiert gewesen. Letzteres war schlichtweg gelogen.

„Schauen Sie sich die Fotos in Ruhe an. Sie können sich so viel Zeit nehmen, wie sie möchten“, erklärte Kriminalkommissarin Göthefeld.