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Ein junges Ehepaar auf einer romantischen einsamen Insel. Doch sie sind nicht allein ...
Die junge Laura und ihr frisch gebackener Ehemann Liam verbringen ihre Flitterwochen auf einer abgelegenen einsamen Insel vor der Küste Schottlands. Nur sie beide, ein gemütliches kleines Cottage und die wildromantische Natur von Shura Island. Doch kurz nach ihrer Ankunft finden sie heraus, dass die Insel eine düstere Vergangenheit hat. Und sie werden das Gefühl nicht los, dass jemand sie auf Schritt und Tritt beobachtet. Als sie ein paar Tage später eine verstörende Botschaft entdecken, die in eine Fensterscheibe des Ferienhauses geritzt wurde, ist klar: Sie sind nicht allein auf der Insel …
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Seitenzahl: 418
Buch
Die junge Laura und ihr frischgebackener Ehemann Liam verbringen ihre Flitterwochen auf einer abgelegenen einsamen Insel vor der Küste Schottlands. Nur sie beide, ein gemütliches kleines Cottage und die wildromantische Natur von Shura Island. Doch kurz nach ihrer Ankunft finden sie heraus, dass die Insel eine düstere Vergangenheit hat. Und sie werden das Gefühl nicht los, dass jemand sie auf Schritt und Tritt beobachtet. Als sie ein paar Tage später eine verstörende Botschaft entdecken, die in eine Fensterscheibe des Ferienhauses geritzt wurde, wird ihnen klar: Sie sind nicht allein auf der Insel …
Weitere Informationen zu Sarah Alderson sowie zu lieferbaren Titeln der Autorinfinden Sie am Ende des Buches.
Sarah Alderson
Thriller
Aus dem Englischen von Claudia Franz
Die englische Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel »The Stalker« bei HarperCollinsPublishers, London.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Deutsche Erstveröffentlichung Januar 2023
Copyright © der Originalausgabe by Sarah Alderson 2021
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2023
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München
Umschlagmotive: Trevillion Images/Marie Carr, Silas Manhood; FinePic®, München
Redaktion: Annekatrin Heuer
KS · Herstellung: ik
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN: 978-3-641-29211-9V001www.goldmann-verlag.de
Für Vic
Die Insel liegt verborgen da. Finstere Wolken hängen wie nasse Laken über dem Fjord; es ist nicht zu erkennen, wo der Horizont endet und der Himmel beginnt. Mich fröstelt. Ich schlinge die Arme um den Leib, um mich gegen die kühle, feuchte Luft zu schützen. Eigentlich hatte ich auf Sonne gehofft – immerhin haben wir August –, aber so ist Schottland eben. Und dieses klamme, scheußliche Wetter passt auch irgendwie, es ist fast, als hätte ich es aus meinem Kopf heraufbeschworen.
Ich versuche mir ins Gedächtnis zu rufen, warum ich hier bin. Dies sind unsere Flitterwochen, wenngleich mit zwei Monaten Verspätung und auch nicht mehr in dem griechischen Inselparadies, das wir ursprünglich gebucht und auch schon bezahlt hatten. Das Gute daran ist, dass außer Liam und mir niemand hier sein wird. Wir werden die einzigen Menschen auf dieser Insel sein und in einer zu einem luxuriösen Ferienhaus umgebauten Schmiede aus dem achtzehnten Jahrhundert wohnen. Eine ganze Woche lang werden wir uns vor dem Kaminfeuer zusammenkuscheln, Wälder und keltische Ruinen erkunden, wilde, windgepeitschte Strände entlangwandern und die Vergangenheit nach Möglichkeit hinter uns lassen – das rede ich mir zumindest ein. Ich bete, dass es funktioniert.
Liam beendet sein Gespräch mit dem Fährmann und eilt über den Kiesstrand auf mich zu. Er ist groß und dunkelhaarig; selbst aus der Ferne bemerke ich das Eisblau seiner Augen.
Meine Mum fand, er sähe aus wie Leonardo DiCaprio, damals in Titanic. Ganz falsch ist das nicht: Die beiden haben eine gewisse Ähnlichkeit, dieses Funkeln in den Augen und der jungenhafte Charme. Als Liam jetzt über den Kiesstrand auf mich zu läuft, kommt es mir vor, als hätte jemand »Action« gerufen und ich wäre eine Schauspielerin in einem Film. Ich kann es immer noch nicht wirklich glauben, dass wir verheiratet sind; dass ich Liams Frau bin. Bei dem Grinsen, mit dem er mein Lächeln erwidert, spüre ich sofort ein Flattern im Bauch. Vermutlich ist es normal, wenn Frischverheiratete so empfinden. Manchmal frage ich mich aber auch, ob sich die Schmetterlinge je verziehen. Ich kann es mir nicht vorstellen.
»Der Mann sagt, er bringt uns sofort rüber, sobald sich das Wetter beruhigt«, verkündet Liam, als er mich erreicht. Der Fährmann ist verschwunden. Vermutlich wartet er irgendwo besseres Wetter ab.
»Und wann wird das sein?« Ich schaue skeptisch in den launischen Himmel.
Liam zuckt mit den Schultern. »Lange kann es nicht mehr dauern. Er schien der Meinung zu sein, dass es bald aufklart. Komm, wir trinken ein Bier, um uns die Wartezeit zu vertreiben.«
»Gute Idee.«
Liam führt uns vom Rand des Wassers weg den Strand hinauf. Gegenüber vom Pier, in einem der hübschen, alten Steinhäuser des Städtchens, liegt ein Pub. Eigentlich ist Arduaine zu klein, um Städtchen genannt zu werden. Im Grunde handelt es sich um nicht mehr als eine Ansammlung von Häusern, die dem Wetter trotzen. Auch der Pub ist klein, mit niedrigen Decken und engen Gängen; seine Wände sind so dick wie Gefängnismauern, und die Fenster liegen tief in ihnen, wie gierige Knopfaugen.
»Zum Bluteimer«, lese ich auf dem verwitterten Holzschild, das an einen Türflügel genagelt ist.
Liam öffnet die Tür. »Steht zu hoffen, dass sie hier zumindest ein anständiges India Pale Ale servieren«, meint er lachend, als ich unter seinem Arm hindurch in den Pub schlüpfe.
Im Innern ist es gemütlicher, als der Name an der Tür erwarten lässt. Im Kamin knistert ein Feuer, und die angeschwärzten Messingarmaturen glänzen, als hätten sie die Politur von Jahrhunderten in sich aufgenommen. Der Gastraum ist leer, abgesehen von dem Wirt, einem Mann mittleren Alters, dessen Gesicht so verwittert ist wie das Schild draußen, und einem weiteren Mann von Mitte, Ende zwanzig in Tarnjacke, der am anderen Ende des Tresens hockt und sich über sein Pint beugt.
»Guten Abend«, sagt der Wirt lächelnd, als wir unsere Kapuzen abstreifen und näher treten. »Was darf ich Ihnen anbieten?«
Liam, der in solchen Situationen immer freundlich und liebenswürdig ist, vertieft sich sofort in ein Gespräch über die hiesigen Fassbiere. Ich ziehe die Jacke aus und will mich aus meinem Schal pellen, als ich plötzlich innehalte, weil ich einen Blick auf mir ruhen fühle. Als ich mich umdrehe, bemerke ich, dass der Mann am Ende der Theke mich anstarrt. Ich schenke ihm ein höfliches Lächeln, aber seine Miene bleibt kalt und bohrend. Ich wende mich ab. Was ist sein Problem? Vielleicht gefällt es ihm nicht, dass Fremde seinen Pub besuchen. Schnell wickele ich mir den Schal wieder um den Hals und spüre, wie es mir trotz des prasselnden Kaminfeuers kalt den Rücken hinabläuft. Mit einem Mal scheint es eher Winter zu sein als ein Sommer, der in den letzten Zügen liegt.
»Limo mit Sprudelwasser?«, fragt Liam mich.
Ich nicke. »Ja, bitte.«
»Ich dachte, mit dem Essen warten wir, bis wir auf der Insel sind«, sagt Liam.
Wieder nicke ich. Ich habe ohnehin keinen Hunger. Der Arzt erklärte mir, dass Depressionen häufig mit Appetitlosigkeit einhergehen; ich solle warten, bis die Antidepressiva ihre Wirkung entfalten. Allerdings nehme ich die nun schon seit einem Monat und verspüre noch keinerlei Besserung, jedenfalls nicht, was meinen Appetit betrifft. Meine Stimmung hingegen hat sich schon ein wenig gehoben – ein Lichtblick im Dunkel. Aber wer weiß? Am Ende der Woche wird dieses entsetzliche Gewicht, das mich wie ein riesiger Felsbrocken niederdrückt, vielleicht abgefallen sein; dann kann ich wieder frei durchatmen.
Es ist ja nicht so, dass ich nicht glücklich sein möchte. Ich sehne mich sogar nach Glück. Aber in meiner Erinnerung ist das Glück wie die Schokoladentorte, die meine Mutter mir jedes Jahr zum Geburtstag buk, üppig bedeckt mit Schokobuttercreme und verziert mit Schokolinsen. Ich sehe sie deutlich vor mir – spüre sogar die Zinken der Gabel an der Zunge und die klebrige Wärme des ersten Bissens am Gaumen –, aber der Geschmack will mir beim besten Willen nicht in den Sinn kommen.
Als Liam unsere Getränke an den Ecktisch bringt, schenke ich ihm einen dankbaren Blick, weil es seine Idee war, die Flitterwochen, die wir so überstürzt abbrechen mussten, doch noch nachzuholen. Er hatte gedacht, es ziehe mich in die Sonne, und ein Hotel auf Santorini vorgeschlagen. Mir war aber nicht danach, mich so weit von zu Hause wegzubewegen und in der gleißenden Sonne an einem Pool zu liegen. Und nach Schottland wollte ich immer schon. Meine Mum und ich hatten oft darüber gesprochen, da wir uns beide in die Romane der Outlander-Serie verliebt hatten, aber wir schafften es nie, dorthin zu reisen. Liam hat schottische Wurzeln und interessiert sich brennend für Geschichte, daher sprang er sofort darauf an, als ich ihm diese Insel vorschlug.
»Cheers«, sagt er und stößt mit mir an.
»Cheers«, antworte ich.
»Auf uns«, fügt er hinzu, beugt sich über den Tisch und küsst mich. »Ich liebe dich.« Seine Lippen liegen warm auf meinen.
»Ich liebe dich auch.« Ich erwidere seinen Kuss. »Auf unsere Flitterwochen.«
Liam streicht mir eine Haarsträhne hinters Ohr und lässt seine Finger über meine Wange gleiten. Mir läuft ein Schauer über den Rücken. Als er grinst, blitzt vor meinem geistigen Auge der Moment auf, als ich ihn zum ersten Mal sah. Was mir als Erstes an ihm auffiel, waren das strahlende Blau seiner Augen und dieses Lächeln, das jungenhafte Sorglosigkeit und Abenteuergeist ausstrahlt. Außerdem eine innere Kraft, wie ich sie mir selbst immer gewünscht hatte. Ich verliebte mich sofort in ihn.
Nach einem weiteren Schluck Bier springt Liam auf. »Ich geh nur schnell aufs Klo«, verkündet er und schlendert zu einer Tür in einer fernen Ecke des Pubs.
Ich nippe an meinem Getränk und schaue mich um. Der Wirt sitzt auf einem Barhocker und liest den Sportteil der Scottish Times. Mein Blick wandert zu dem Mann am Ende des Tresens. Zu meiner Überraschung betrachtet er mich immer noch; derselbe bohrende Blick, die Augen finster zusammengekniffen.
»Ihr wollt nach Shura?«, erkundigt er sich leise, mit einem gerollten schottischen R.
Ich nicke, da ich den Namen der Insel herausgehört habe. »Ja.«
»Bleibt ihr lange?«, knurrt er.
»Eine Woche.« Warum will der Typ das wissen?
»Ihnen ist schon klar, dass es dort spukt?«
»Was?« Ich lache nervös. Der Mann will mich offenbar auf den Arm nehmen. Allerdings lächelt er nicht. Seine Miene ist todernst.
Der Wirt sieht von seiner Zeitung auf. »Tja«, sagt er und schielt zu dem grimmigen Gast hinüber, bevor er sich mir zuwendet. »Da hat er nicht ganz unrecht. Auf Shura spukt es wie nur was.«
Ich schaue zwischen den beiden Männern hin und her und überlege, ob die beiden sich einen Scherz mit einem Neuankömmling erlauben wollen oder ob es sich um eine Art Insiderwitz handelt. Aber der Jüngere lächelt immer noch nicht, und die Miene des Wirts ist bierernst. Wieder nickt er. »Dort hat ein grausamer Mord stattgefunden.« Nach einem weiteren Blick auf den Jüngeren fügt er hinzu: »Ich meine, es haben eine Menge grausamer Morde dort stattgefunden.«
Mir muss die Kinnlade heruntergefallen sein, denn seine Stimme ist sanfter, als er fortfährt: »Die Wikinger haben dort gewütet.«
»Oh«, bringe ich heraus.
»Auf Shura gab es einst ein Kloster. Leichte Beute. Viele Mönche wurden getötet. Man konnte ja nirgendwohin rennen. Oder sich verstecken.«
»Aha …« Ich weiß nicht, was ich sonst antworten soll.
»Sie werden auf der Insel ein paar alte Begräbnisstätten entdecken, wenn Sie die Augen offen halten. Keltische Ruinen aus uralten Zeiten.«
Ich lächele höflich und nicke. Liam wird begeistert sein.
Der Wirt setzt sich in Bewegung, um das leere Glas des jungen Mannes zu spülen. »Noch eins?«, erkundigt er sich.
»Ja«, antwortet der Typ mit finsterer Miene, bevor er sich zu mir umwendet. »Shura ist verflucht. Sie sollten nicht hinfahren.«
Ich schlucke trocken und spüre auf einmal ein mulmiges Gefühl im Magen.
»Nun komm schon, wir wollen dem Mädchen doch keine Angst einjagen«, ermahnt ihn der Wirt, da er offenbar die Panik in meinem Gesicht bemerkt. »Die Insel ist herrlich. Sie werden eine wunderbare Zeit dort haben«, versichert er mir.
Der junge Gast dreht sich auf seinem Barhocker zurück, um mit gebeugten Schultern auf den Tresen zu starren. Der Wirt widmet sich wieder seiner Zeitung. Ich hingegen bleibe meiner Fantasie überlassen, die wilde Blüten treibt. Die Vorstellung, dass es auf der Insel spuken soll, legt einen tiefen Schatten auf unsere Reise, die doch eigentlich ein romantischer Trip werden sollte. Und was meinte der junge Mann mit der Bemerkung, ein Fluch liege über der Insel?
In diesem Moment tritt Liam aus dem Waschraum. Die Atmosphäre im Pub entgeht ihm nicht, diese unterschwellige Anspannung. »Alles in Ordnung?«, erkundigt er sich, als er sich setzt. Misstrauisch sieht er zu den beiden Männern hinüber.
Ich nicke, obwohl ich immer noch nervös bin. »Alles bestens. Sie haben mir nur von der Insel erzählt.«
»Bloß ein paar historische Fakten«, mischt sich der Wirt mit einem Lächeln ein.
»Etwas Interessantes?« Liam lässt den Blick zwischen den beiden hin und her wandern.
»Sie behaupten, auf der Insel würde es spuken«, erkläre ich und achte auf seine Reaktion.
»Aha«, sagt er und verdreht grinsend die Augen. Als Polizist hat er es ständig mit grausamen Verbrechen zu tun – Mord, Raub, nackte Gewalt –, daher kann ihn nichts so schnell aus der Fassung bringen und ganz bestimmt nicht der Gedanke an Gespenster.
»Hör einfach nicht hin«, meint er und nimmt meine Hand. »Wir sind in den Flitterwochen und werden eine wunderbare Zeit haben.«
»Es sei denn, es spukt dort«, witzele ich.
»Es gibt keine Gespenster.« Liam trinkt einen Schluck Bier.
Ich nippe an meinem Getränk und schweige. Was das betrifft, bin ich mir nicht so sicher.
Nun kann man die Insel sehen, allerdings in Dunst gehüllt und umfangen von Nebelschwaden.
Liam hilft mir in das Boot mit dem Außenbordmotor, das uns hinüberbringen wird, und kontrolliert die Gurte meiner Rettungsweste. Er weiß, dass ich Angst vor Wasser habe, seit ich einmal fast ertrunken wäre. Manchmal habe ich immer noch Albträume deswegen.
Nervös beäuge ich die schwarze Wasseroberfläche, was Liam sofort bemerkt. »Dir kann nichts passieren«, erklärt er in demselben Tonfall, in dem er mit mir spricht, wenn ich aus einem schlimmen Traum hochschrecke. »Du wirst nicht hineinfallen, das verspreche ich dir. Und falls doch«, fügt er mit einem Augenzwinkern hinzu, »springe ich hinterher und rette dich.«
Ich ringe mir ein Lächeln ab und setze mich an den Bug. Die Knöchel meiner rechten Hand treten weiß hervor, als ich mich, Liams Versicherungen zum Trotz, an die Bordwand klammere. Er nimmt mir gegenüber Platz, dann greift er nach meiner freien Hand; seine Finger berühren den Diamantreif und den schlichten goldenen Ehering, der einst meiner Großmutter gehörte.
Der Fährmann, gekleidet in einen gelben Regenmantel und gelbe Gummischuhe, zieht die Startleine; stotternd springt der Motor an. Wir legen ab, und das Boot tanzt über die Wellen. Ich halte den Blick auf die Insel in der Ferne gerichtet. Der Wind reißt mir die Kapuze vom Kopf und peitscht mir die Haare um die Ohren. Ich schließe die Augen, als die Gischt in mein Gesicht spritzt, und genieße die Kälte auf der Haut. Sie hat etwas Erfrischendes, als könnte sie meine ganze Traurigkeit hinwegscheuchen.
»Wem gehört denn die Insel?«, fragt Liam den Fährmann. Ich öffne die Augen und schaue zu den beiden hinüber.
Der Fährmann zuckt mit den Schultern. »Großes Geheimnis. Das weiß niemand. Sie war ein paar Jahre auf dem Markt, aber wegen ihrer Geschichte wollte sie niemand. Vor ein paar Monaten wurde sie dann verkauft«, knurrt er.
»Was für eine Geschichte?«, erkundige ich mich.
»Ach, einfach … Sie wissen schon … Shura hat eine finstere Vergangenheit.«
»Sie meinen die Raubüberfälle der Wikinger?«, hake ich nach.
Der Fährmann blickt mich irritiert an. »Jaja«, sagt er, »das wird es wohl sein.«
Ich runzele die Stirn. Es ist offensichtlich, dass mehr hinter der Inselgeschichte steckt, aber niemand will damit rausrücken. Und ich bin mir auch gar nicht sicher, ob ich mehr darüber erfahren möchte.
»Sie sind die ersten Besucher«, fügt der Fährmann hinzu, um das Thema zu wechseln.
»Wirklich?«, Liam klingt erstaunt.
Der Fährmann nickt. »Ja. Ich muss es wissen, denn es gibt keine andere Möglichkeit, überzusetzen. Und Sie sind die Einzigen, die ich bislang hinübergebracht habe.«
»Wir sind in den Flitterwochen«, erzählt Liam dem Mann. Dabei strahlt er mich an und drückt meine Hand, immer noch mit dem Daumen über das glatte Gold meines Eherings streichelnd.
»Glückwunsch«, erwidert der Fährmann, aber es klingt nach einer Phrase, als könne es ihm nicht gleichgültiger sein. Mir fällt auf, dass er ebenfalls einen Ehering trägt, matt und verkratzt und fast mit seiner knorrigen Hand verwachsen.
»Wie lange sind Sie denn schon verheiratet?«, erkundige ich mich.
»Dreiundvierzig Jahre«, entgegnet er, wirkt aber nicht wirklich glücklich darüber.
Ganz ehrlich, ich glaube fest daran, dass Liam und ich zu dem Drittel der Paare gehören, die zusammenbleiben, »bis dass der Tod sie scheidet«. Obwohl wir nicht kirchlich heirateten, weil Liam nicht religiös ist, haben wir doch das traditionelle Gelöbnis geleistet. Und als ich die Worte aussprach, wurde mir so richtig bewusst, dass wir uns für immer und ewig aneinander binden.
Ich richte meine Aufmerksamkeit wieder auf die Insel, die nun klarer in Sicht kommt. Wie eine dunkle schweigende Armee ragt ein Wald auf ihr empor, als würde sich die Insel vor Besuchern verbarrikadieren, und die Klippen am anderen Ende lassen sie tatsächlich irgendwie verwunschen wirken. Ich denke über die Geschichte der Insel nach – die Wikingerüberfälle, die der Wirt erwähnte, und die finsteren Ereignisse, die der Fährmann soeben andeutete – und fröstele wieder, trotz Liams Wollpullover, den ich zusätzlich unter meiner Jacke trage. Ich neige zu Aberglauben und kann das ungute Gefühl, das mich gepackt hat, nicht abschütteln.
Während wir weiter über das Wasser schnellen und immer näher an etwas heranbrausen, was ich schließlich als schmalen Steg an der dem Kliff entgegengesetzten Inselseite ausmache, tritt allmählich die Silhouette eines Gebäudes hervor. Ein weißes Haus mit schwarzem Balkenwerk. Es liegt in einiger Entfernung vom Ufer. Das muss unser Haus sein, die alte Schmiede.
In diesem Moment bricht die Sonne durch die Wolken, und die Insel, bislang ein unwirtliches Stück Land in einem schwarzen, gnadenlosen Gewässer, erscheint plötzlich wie verwandelt, als hätte jemand die Hand gehoben und einen Zauber gebrochen. Die Strände leuchten weiß, und das Sonnenlicht glitzert auf dem Wasser und zwingt mich, die Augen zusammenzukneifen. Der Wald ist nicht länger eine schweigsame, feindselige Armee, sondern ein magischer Hain, der erkundet werden will. Die Sonne dringt durch weitere Risse in der grauen Wolkendecke, als würde jemand Packpapier herunterreißen, um das blaue Geschenk des Himmels zu enthüllen. Es ist fast, als würden zwei Inseln vor uns liegen, die eine aus einem Albtraum, die andere aus einem Märchen – obwohl natürlich, wenn man es recht bedenkt, viele Märchen Albträumen ähneln. Ich beschließe, meine Ängste abzuschütteln und die Vorstellung, die Insel sei verflucht, zu verdrängen. Diese Woche beginnt ein neues Kapitel.
Als der Fährmann den Motor abstellt, damit wir an den Steg treiben können, und der Höllenlärm in meinen Ohren verstummt, werde ich von Stille überwältigt. Nur das Schwappen des Wassers gegen die Bordwand höre ich, und das Flüstern des Windes in den Bäumen. Über unseren Köpfen schreit eine Möwe.
Mit großen Augen lächele ich Liam an. »Es ist wunderschön hier.«
Er grinst. Ich nehme seine Hand, verschränke meine Finger mit seinen und spüre die Wärme und Kraft darin. Mir ist bewusst, dass es in den letzten beiden Monaten nicht leicht gewesen sein dürfte, mit mir zusammen zu sein, aber Liam ist trotzdem geblieben. Ständig versicherte er mir, dass er mich nie verlassen würde. Seit unserer Heirat sei er ja sowieso auf Gedeih und Verderb an mich gekettet, witzelte er.
»Bist du glücklich?«, fragt er nun. Sein Blick ist von Sorge verschattet.
»Ja«, erwidere ich und wende mich wieder zur Insel um. Ausnahmsweise stimmt es sogar.
Als wir am Steg festgemacht haben, zeigt der Fährmann auf das Cottage. Es liegt hundert Meter vom Ufer entfernt auf einer kleinen Anhöhe.
»Der Schlüssel befindet sich in dem Schließfach neben der Eingangstür«, erklärt er uns, als er unsere Taschen absetzt. »Den Code haben Sie vermutlich.«
Liam nickt und lässt ihm einen Zwanziger Trinkgeld zukommen. Der Mann steckt das Geld mit einem dankbaren Lächeln in die Tasche. »In genau einer Woche bin ich wieder da«, verkündet er und steigt in sein Boot.
Ich hole mein Handy heraus, um auf die Uhr zu schauen, und merke, dass ich keinen Empfang habe.
»Hier draußen werden Sie kein Funksignal bekommen.« Der Fährmann nickt zu meinem Handy hinüber.
»Im Cottage gibt es ein Satellitentelefon, falls Sie im Notfall jemanden kontaktieren wollen. Aber das werden Sie bestimmt nicht in Anspruch nehmen müssen«, fügt er hinzu. Dann zeigt er auf den Fjord. »Halten Sie sich einfach vom Wasser fern.«
Ich ziehe ein Gesicht; ich habe nicht die geringste Absicht, mich auch nur in die Nähe des Wassers zu begeben.
»Viele Menschen ertrinken, Gott sei ihrer Seele gnädig«, bemerkt der Fährmann noch. »Sie ahnen gar nicht, wie tief der Fjord ist – an manchen Stellen fast zweihundert Meter. Tiefer als die Nordsee. Ehe man sichs versieht, hat man keinen Boden mehr unter den Füßen. Das Problem ist die Kälte. Es dauert nur ein paar Sekunden, und schon ist man tot.« Er schnipst mit den Fingern, um seine Ausführungen zu unterstreichen.
Mit wachsender Nervosität betrachte ich den Fjord, und mein Magen krampft sich zusammen, als hätte mich jemand bereits in die eisigen Tiefen gestürzt.
»Keine Sorge«, versichert Liam dem Mann. »Wir werden schon nicht schwimmen gehen.«
»Alles klar«, sagt der Mann und löst die Bootsleine. »Also, ich wünsche Ihnen eine schöne Zeit. Lassen Sie es sich gut gehen.«
»Danke«, rufe ich ihm hinterher, als er sich vom Steg abstößt.
Als das Boot davontreibt, legt der Fährmann den Kopf in den Nacken, als würde er etwas in den Wolken lesen, die nun fast völlig von der Sonne vertrieben wurden. »Nutzen Sie die Zeit«, ruft er dann. »Ein Ungewitter zieht auf.«
»In der Wettervorhersage wurde für die ganze Woche Sonne angekündigt«, ruft Liam zurück.
Der Fährmann zuckt mit den Achseln. »Diese Wetterleute haben keine Ahnung. Glauben Sie mir, ein Unwetter zieht auf.«
Liam runzelt die Stirn, als er unsere Taschen hochhebt und über den Landungssteg auf unser Cottage zusteuert. Ich blicke dem Boot hinterher, bis es in der Ferne verschwindet, und eile ihm dann nach. In mir regt sich etwas, das ich zunächst gar nicht benennen kann, während ich den Anblick der Insel und des Häuschens auf mich wirken lasse. Begeisterung. Das ist es. So etwas habe ich schon lange nicht mehr verspürt. Ich atme tief durch und merke, wie das Gefühl mich beflügelt.
Das werden die perfekten Flitterwochen, denke ich bei mir, und eile Liam hinterher.
Liam holt den Schlüssel aus dem Schließfach und öffnet die Haustür. Er muss sich bücken, um das Cottage zu betreten, da die Türöffnung so niedrig ist; sie wurde für kleinere Menschen in längst vergangenen Zeiten geschaffen. Vom Aussehen her würde ich sie auf mindestens vierhundert Jahre schätzen.
Ich bleibe einen Moment stehen, um den Lavendel und die Geranien zu bewundern, die in den Beeten und Blumenampeln neben der Haustür wachsen.
»Laura, das musst du dir anschauen!«, ruft Liam. Ich folge ihm ins Haus.
»Wahnsinn.« Ich bin vollkommen überwältigt, als ich ins Wohnzimmer komme. Holzbalken ziehen sich im Zickzack über die Decke, und in einen offenbar uralten Kamin ist ein brandneuer gusseiserner Brenner eingebaut. An einer Wand steht ein Plüschsofa mit blau meliertem Tweedbezug vor einem wuchtigen hölzernen Couchtisch und einem Ohrensessel aus rosa Damast. Weiche Teppiche bedecken den Steinfußboden. An den kleinen Fenstern, durch die ich ein Stück des Fjords und des Himmels erspähe, hängen dicke, graue Vorhänge. »Wie schön«, sage ich seufzend. Und das ist es auch. Das Zimmer scheint direkt einem Einrichtungsmagazin entsprungen.
»Das ist nun für eine ganze Woche unser Heim.« Liam ist sichtlich beeindruckt. »Los, lass uns die anderen Zimmer erkunden.«
Wir spazieren in die Küche im hinteren Bereich des Hauses. Sie ist schlicht, aber geschmackvoll eingerichtet, mit Arbeitsplatten aus Granit und hochmodernen Armaturen, einschließlich einer Espressomaschine, die Liam überglücklich machen wird, das weiß ich. Er liebt seinen morgendlichen Kaffee.
Prompt strahlt Liam, als er sie erblickt, und lässt die Hand darübergleiten. Dann begibt er sich zum Kühlschrank und öffnet die Tür. Er ist mit Lebensmitteln vollgestopft: Milch, Käse, Gemüse sowie Pakete aus braunem Packpapier. Vermutlich die Steaks und der Fisch, die wir im Vorfeld bestellt hatten. In der Tür stehen zwei Flaschen Weißwein, außerdem sechs Dosen India Pale Ale. Im Flaschenregal an der Hintertür habe ich bereits drei Flaschen Rotwein entdeckt.
»Von unserer Bestellliste scheint alles da zu sein«, sagt Liam, nachdem er auch noch die Küchenschränke in Augenschein genommen hat, die mit Grundnahrungsmitteln gefüllt sind.
Wie zwei überdrehte Teenager rennen wir die Treppe hinauf, um das Schlafzimmer zu inspizieren. Im Türrahmen bleibe ich stehen und betrachte das Doppelbett unter der Dachschräge, die warme Steppdecke und die vielen darauf verstreuten Kissen. Dann gehe ich zu dem großen Mansardenfenster hinüber.
»Schau dir mal die Aussicht an«, schwärme ich, als ich über den endlosen Fjord hinwegblicke. Es kommt mir vor, als wären wir auf einem Schiff auf dem Meer.
»Mach ich doch schon«, antwortet Liam.
Ich drehe mich um und stelle fest, dass er mich von der Schwelle aus beobachtet. Beim Anblick seines Grinsens vollführt mein Magen einen Satz. Ich weiß, wonach ihm der Sinn steht, das ist sonnenklar, aber ich brauche erst eine Dusche. Wir sind seit sechs Uhr morgens unterwegs, und ich fühle mich schmutzig und zerknittert.
Ich tappe ins Bad, das an das Schlafzimmer grenzt. Am Fenster steht eine Badewanne mit Krallenfüßen. Von hier blickt man auf den Garten hinaus; er erstreckt sich bis zum Wald, der stolz ein paar Hundert Meter weiter aufragt.
Liam erscheint hinter mir, schlingt mir die Arme um die Taille und legt sein Kinn auf meine Schulter. »Soll ich dir ein Bad einlassen?«, murmelt er mir ins Ohr.
Ich schließe die Augen und lehne mich an seine breite Brust. »Mmmm. Klingt nicht übel.«
Als er die Wasserhähne öffnet, drehe ich mich um. Unvermittelt erblicke ich mich im Spiegel über dem Waschbecken. Ich zucke zusammen, wie so oft, wenn ich mich in dieser Zeit zu sehen bekomme. Es ist, als würde aus dem Nichts eine Fremde auftauchen und mich entsetzt anstarren. Ich bin unglaublich dünn geworden. Ich muss unbedingt wieder mehr essen. Die frische Luft wird hoffentlich meinen Appetit anregen.
Ich kehre ins Schlafzimmer zurück, um meine Sachen auszupacken und ordentlich zusammengefaltet in die Kommodenschubladen zu legen. Die oberste lasse ich für Liam frei. Unwillkürlich stelle ich mir vor, wie es wäre, hier zu leben. Wir reden ja immer wieder davon, uns gemeinsam ein Haus zu kaufen. Dabei ist Liam vor einer Weile bei mir eingezogen. Das war naheliegend, da ich ein Reihenhaus mit zwei Schlafzimmern habe, während er mit einem Kollegen in einer Wohngemeinschaft lebte. Er spart schon jahrelang, um Kapital für etwas Eigenes beiseitezulegen. Und da mir meine Mutter nun eine kleine Erbschaft hinterlassen hat, ziehen wir ernsthaft in Erwägung, uns zusammenzutun und etwas Größeres zu kaufen.
Als ich das Bad betrete, hat Liam eine halbe Flasche Badeschaum in die Wanne geschüttet. Sie läuft fast über, und er freut sich wie ein Kind. Ich muss lachen.
»Rein mit dir«, sagt er.
Langsam ziehe ich mich aus und spüre, wie Liam mich beobachtet. Zu meinem Körper habe ich ein eher schwieriges Verhältnis, das war schon immer so, aber ich weiß, dass Liam mich gern anschaut. Und obwohl ich derart abgemagert bin, erklärt er jedes Mal, wie umwerfend ich aussähe, und macht mir Komplimente. Zunächst konnte ich das nicht gut vertragen. Ich habe ihm nicht geglaubt, da mir noch nie jemand so viel Aufmerksamkeit geschenkt hat – und selbst jetzt noch, acht Monate später, habe ich mich nicht wirklich daran gewöhnt.
Ich bin mit einem Vater aufgewachsen, der meiner Mutter und mir ständig Schimpfworte an den Kopf geworfen hat. Für ihn war ich eine fette, faule Kuh. Vor Liam hatte ich zwei andere Beziehungen, mit einem Typen in der Schule und mit einem anderen erst letztes Jahr. Beide erwiesen sich als genauso grässlich wie mein Vater, obwohl ich das zunächst natürlich nicht erkennen konnte. Ich fühlte mich einfach geschmeichelt, dass sich überhaupt jemand für mich interessierte. Wenn ich jetzt daran zurückdenke, zieht sich alles in mir zusammen – wie bemitleidenswert ich war, wie bedürftig, nur allzu bereit, meine eigenen Wünsche Menschen unterzuordnen, die das nicht verdienten.
Meinen ersten Freund, Dean, habe ich in der Schule kennengelernt. Erst als er Schluss machte, erfuhr ich, dass er mich die ganze Zeit betrogen hatte. Er betrachtete mich nicht einmal als seine Freundin, wie sich herausstellte – es ging nur um eine Wette, ob er es schaffen würde, mich in sich verliebt zu machen und mir die Jungfräulichkeit zu rauben. Ich habe sie ihm auf dem Silbertablett dargeboten. Bei der Erinnerung daran möchte ich immer noch vor Scham im Boden versinken. Sobald er sein Ziel erreicht hatte, verbreitete Dean überall in der Schule widerwärtige Lügen über mich. Am Ende verließ ich im letzten Jahr die Schule und bereitete mich zu Hause auf die Prüfungen vor, weil ich die Hänseleien nicht mehr ertrug.
Dann gab es noch Paul, den ich in dem Tierheim traf, in dem ich ehrenamtlich jobbte. Er war älter als ich und arbeitete für den Tierschutzbeauftragten der Stadt. Er brachte Hunde zu uns, die von der Polizei als gefährlich eingestuft wurden und eingeschläfert werden mussten. Paul wirkte lieb und fürsorglich, aber nach ein paar Verabredungen versetzte er mich an Silvester, und ich hörte nie wieder etwas von ihm.
Allmählich war ich zu der Überzeugung gelangt, dass alle Männer wie mein Vater waren, und wollte schon die Hoffnung aufgeben. Da kreuzte Liam auf, wie ein Märchenprinz, und riss mich von den Beinen.
Als ich die Unterwäsche ausziehe, zittere ich. Die Heizung läuft nicht, und im Cottage ist es kühl. Daher steige ich schnell in die Wanne und lasse mich ins Wasser gleiten.
»Wie ist es?«, fragt Liam, der auf dem Wannenrand hockt, als ich mich vom Schaum umschmeicheln lasse.
»Herrlich«, sage ich.
»Ich werde mal die Heizung anstellen und Tee kochen. Ganz schön kühl, was?«
»Wir sind in Schottland«, lächele ich.
»Es ist aber noch Sommer«, klagt er.
»Immerhin haben wir Zentralheizung. Stell dir vor, wie es für die Kelten und Mönche gewesen sein muss, die früher hier lebten.«
Er grinst. »Stimmt. Ich bin froh, dass ich kein Mönch bin. Nicht nur aus diesem Grund.« Er zwinkert mir zu.
Sobald er fort ist, lege ich den Kopf nach hinten und hole tief Luft. Langsam atme ich wieder aus und spüre, wie sich meine verspannten Schultern lockern. Unvermittelt breche ich in Tränen aus. Melancholie überkommt mich wie ein plötzlicher Sturm im Sommer. Manchmal steigt die Traurigkeit wie aus dem Nichts auf, ein Tsunami des Leidens. Dann strömen die Tränen stumm über mein Gesicht und benetzen meinen Schoß, bevor ich auch nur merke, dass ich weine. Zu anderen Zeiten werde ich von gewaltigen Schluchzern geschüttelt und kann nichts tun, als den Kopf in einem Kissen zu vergraben und zu schreien, denn der Schmerz fährt mir wie eine Axt in den Bauch und bringt mich zu Fall; in diesen Augenblicken presse ich die Hände in die Seiten und schnappe nach Luft, weil ein Schluchzer in mir steckt und kein Ventil findet.
Ich vermisse meine Mutter so unendlich, wie ich es niemals für möglich gehalten hätte. Unser Verhältnis war ungewöhnlich eng, wir waren fast wie Schwestern; oder eher so etwas wie beste Freundinnen. Nachdem mein Vater, als ich fünfzehn war, an einem Herzinfarkt starb, gab es jahrelang nur uns beide. Ich hätte mir auch vorstellen können, für immer und ewig mit ihr zusammenzubleiben, aber sie wollte, dass ich in die Welt hinausgehe und mir ein eigenes Leben aufbaue – darauf hat sie strikt bestanden. Als ich nach meinem Uniabschluss einen Job fand, hat sie ihr Erspartes angebrochen, damit ich den Grundstock für ein Reihenhaus legen konnte. Aber selbst nach meinem Auszug verbrachte ich noch jede Woche einige Abende bei ihr. Wir aßen zusammen zu Abend und sahen The Great British Bake-Off oder Escape to the Continent.
Mum war es auch, die mich ermunterte, am örtlichen College Tiermedizin zu studieren, obwohl ich mir das nicht zutraute. Immer drängte sie mich, meinen Träumen zu folgen, auch wenn mir der Mut dazu fehlte. Das ist auch der Grund, warum ich jetzt hier bin – warum ich zugestimmt habe, die Flitterwochen nachzuholen. Ich gebe mir Mühe weiterzumachen, versuche, stark zu sein. Das ist mir wichtig, denn ich möchte das Andenken an meine Mum ehren. Sie würde nicht wollen, dass ich herumsitze und Trübsal blase. Sie würde wollen, dass ich mich zusammenreiße und mein Leben in die Hand nehme. Und vor allem würde sie sich wünschen, dass ich glücklich bin.
Sie hatte Liam sehr gern, daher finde ich es tröstlich, dass sie es noch zu unserer Hochzeit schaffte. Es heißt, die Hochzeit sei der schönste Tag im Leben, aber in meinem Fall war es der schönste Tag im Leben meiner Mutter. Ich habe sie nie so glücklich gesehen. Die gesamte Zeremonie über weinte sie, und als sie ihre Unterschrift als Trauzeugin leistete, tropften ihre Tränen auf das Dokument. Nie werde ich ihren Blick vergessen, als ich im Brautkleid die Treppe hinabstieg, und ihre Stimme, als sie mir versicherte, ich sei wunderschön. Dann führte sie mich durch den Gang im Standesamt. Die Erinnerung an diesen Tag ist unauslöschlich: Liam küsste sie auf die Wange und hauchte Danke, als sie meine Hand in seine legte; danach sprachen wir den Schwur. Ich bin unendlich dankbar für diese Stunden, obwohl mich gleichzeitig die Wut darüber packt, dass es keine gemeinsamen Erlebnisse mehr geben wird.
Schnell wasche ich mir die Haare, indem ich meinen Kopf ins Wasser tauche – sorgsam darauf bedacht, mit dem Gesicht an der Wasseroberfläche zu bleiben –, und klettere aus der Wanne. Ich muss mich am Rand festhalten, weil sich meine Beine wie Watte anfühlen. Mit einem weißen Bademantel, der an der Tür hängt, trockne ich mich ab, dann ziehe ich Jeans und Wollsocken an, außerdem ein T-Shirt und einen dicken Pullover. Ich bin froh, dass ich warme Sachen mitgebracht habe. Das Wetter im hohen Norden Schottlands kann wechselhaft sein, das weiß ich.
Auf dem Weg aus dem Bad erblicke ich mich wieder im Spiegel und stelle missmutig fest, dass die Haaransätze deutlich zu sehen sind. Mein Haar ist nicht wirklich blond, sondern hat eher die Farbe schmutzigen Spülwassers. Außerdem bin ich totenbleich. Für einen kurzen Moment droht mein Vorsatz, stark zu sein, zu zerbröseln. Ich atme tief durch und zwinge mich zu einem Lächeln. Neuanfang, ermahne ich mich.
Als ich hinunterkomme, ist der Tee, den Liam gekocht hat, schon fast kalt. Ich nehme trotzdem ein paar Schlucke und setze mich dann zu Liam aufs Sofa. Er blättert in einem Buch. Ich schiele nach dem Titel: A History of the Isle of Shura. Eine Geschichte der Insel. Auf dem Cover prangt das Foto einer großen gotischen Burg.
»Hier gibt es eine Burg?«, frage ich.
Liam nickt. »Sie wurde auf den Ruinen des mittelalterlichen Klosters errichtet.« Er blättert weiter. »Mir war auch nichts davon bekannt. Auf der Website wurde sie jedenfalls nicht erwähnt. Wir sollten unbedingt hingehen und sie erkunden. Vielleicht kommen wir sogar hinein.«
Ich betrachte das Foto genauer. Die Burg mutet an wie einem Roman der Brontë-Schwestern entsprungen: Tausende von Spitzbogenfenstern und Türmchen und Wasserspeiern. Kein Wunder, dass die Menschen glauben, auf der Insel spuke es. Wenn ein Gespenst einen Ort für sein Unwesen suchte, würde es hier zweifellos fündig.
Liam schiebt mir einen Teller mit Shortbread hin. Ich schnappe mir eins, kann mich aber nicht überwinden, hineinzubeißen. Plötzlich ist mir übel. Mir ist heiß vom Bad, und mein Kopf schwirrt. Ich lege es wieder zurück.
»Die Burg hat sechshundert Jahre der Familie McKay gehört«, liest Liam vor. »Wahrscheinlich mussten sie verkaufen, weil der Unterhalt zu teuer wurde. Von so etwas habe ich schon häufiger gehört.«
Er blättert um.
»Ist das die Familie?«, erkundige ich mich, als ich ein weiteres Foto entdecke. Es zeigt einen Mann, eine Frau und einen etwa achtjährigen Jungen, die sich auf der Burgtreppe versammelt haben. Die massive Holztür hinter ihnen ist geöffnet und gibt den Blick frei auf die holzgetäfelte Eingangshalle mit Porträts und ausgestopften Tierköpfen an den Wänden.
Liam studiert die Bildunterschrift. »Andrew und Nancy McKay mit ihrem Sohn Elliot. Ja, scheint so, als seien das die letzten Besitzer gewesen. Das Buch ist vor sieben Jahren erschienen.«
Ich betrachte das Foto. Andrew, ungefähr in den Vierzigern, hat ein längliches Gesicht mit stechenden Augen. Er ist groß und sehnig und starrt missmutig in die Kamera, als wolle er einen Gegner niederstarren.
Seine Frau Nancy wirkt wie Mitte dreißig, eine schöne Frau mit wachem Blick. Sie ist offenbar sehr schlank und zart, ein Eindruck, der sicher noch einmal dadurch verstärkt wird, dass sie neben Andrew steht.
Elliot ähnelt seiner Mutter. Er ist schmächtig und hat sehr helle Haare, obwohl man die Farbe nicht bestimmen kann, da es sich um ein Schwarz-Weiß-Foto handelt. Aber er ist zweifellos blass, und um die Nase herum und an den Wangen kann man Sommersprossen erkennen. Neben ihm hockt ein großer Windhund, dem er die Hand auf den Rücken legt. Mir fällt auf, dass auch Nancy ihrem Sohn die Hand auf die Schulter legt. Andrew hingegen berührt weder seine Frau noch seinen Sohn oder den Hund, sondern hält sich abseits. Seine zu Fäusten geballten Hände hängen seitlich herab.
Liam klappt das Buch zu und greift zu einer Karte der Insel. Sie ist alt und zerknittert. Er breitet sie über unser beider Schoß aus und zeigt auf die Stelle, wo das Cottage eingezeichnet ist. »Hier sind wir«, sagt er. »Wir befinden uns am südöstlichen Ende der Insel.«
Ich schaue auf den Maßstab unter der Karte und rechne aus, dass die Insel ungefähr zwei Meilen lang und ungefähr eineinhalb Meilen breit sein muss. Die Burg liegt in der Inselmitte, zwischen dem Wald zur Rechten und den hoch aufragenden Klippen im Westen.
»Laut Buch soll es auch irgendwo ein altes Hügelgrab geben.« Liam klingt ganz aufgeregt.
Verwirrt schüttele ich den Kopf. »Was ist ein Hügelgrab?«
»In Hügelgräbern haben die Druiden und Pikten ihre Toten bestattet«, erläutert Liam bereitwillig. »Sie bestehen aus Steinblöcken und einer Erdkammer. Davon habe ich gerade in dem Buch gelesen. Vielleicht können wir es ja besichtigen.«
Mir fällt ein, dass auch der Wirt von alten Begräbnisstätten sprach. »Warum nicht«, meine ich und versuche, Begeisterung aufzubringen. Ich weiß ja, dass Liam sich brennend für Geschichte interessiert, daher werde ich mich wohl von ihm auf der Insel herumschleppen lassen, um dieses Hügelgrab aufzuspüren. »Hast du irgendeinen Hinweis darauf entdeckt, wo es liegt?«, erkundige ich mich.
Er schüttelt den Kopf. »Nein, aber wir werden es schon finden. Ich bin nicht umsonst Polizist.«
Ich betrachte die Karte. Der Wald scheint zwei Drittel der Insel einzunehmen, wobei er im Westen, wo die Klippen beginnen, in Weideland übergeht. Ein gewaltiges Gebiet, wenn man etwas aufspüren will, das letztlich aus einem Erdhügel besteht.
»Hier scheint ein schöner Strand zu sein.« Liam zeigt auf einen langen Abschnitt auf der Nordseite. Das klingt schon verlockender. Mit ein bisschen Glück vergisst Liam die Idee, alte Gräber aufzuspüren, und möchte lieber dorthin.
»Vielleicht können wir dort picknicken«, schlage ich vor.
Er nickt und studiert weiterhin die Karte. Mir ist klar, dass er sie auswendig lernt. Er hat ein fotografisches Gedächtnis, der Glückliche: Namen, Gesichter und Dinge, die er einmal gesehen oder gehört hat, merkt er sich bis ins kleinste Detail. Selbst Gespräche behält er Wort für Wort im Kopf, auch solche, die wir vor Monaten geführt haben und die mir gänzlich entfallen sind. Das macht ihn zu einem brillanten Detective und Vernehmungsexperten. Während Liam noch über der Karte brütet, greife ich zu einem anderen Band. GÄSTEBUCH ist in Goldlettern in den Umschlag eingeprägt. Ich blättere darin herum, die Seiten sind alle leer. Dann halte ich überrascht inne.
»Er hat sich geirrt«, sage ich.
Liam schaut von der Karte auf.
»Der Fährmann«, erkläre ich und zeige Liam das Gästebuch. »Er hat doch gemeint, wir seien die ersten Gäste.« Auf der ersten Seite hat jemand etwas eingetragen, in einer krakeligen blauen Handschrift. »Das hier wurde letztes Jahr Weihnachten hineingeschrieben.«
»Sonderbar«, murmelt Liam, nimmt mir das Buch aus der Hand und tippt auf das Datum. »Vielleicht waren das die letzten Besucher, bevor die Insel verkauft und das Cottage umgebaut wurde.«
Er liest den Eintrag laut vor. »Unser Aufenthalt fand leider ein überstürztes Ende, aber bis dahin war es wundervoll. Unsere Suche nach dem Hügelgrab war allerdings erfolglos. Ich freue mich schon auf unseren nächsten Besuch. Eine Warnung an andere Gäste: Halten Sie sich von den Klippen fern. Ein Sturz könnte fatale Folgen haben.«
Liam klappt das Buch zu und legt es auf den Couchtisch zurück. »Lust auf eine kleine Erkundungstour?«, fragt er und ist schon aufgesprungen.
»Um das Hügelgrab zu suchen?« Ich lächele ihn schief an.
Er schüttelt den Kopf. »Das machen wir morgen, wenn wir mehr Zeit haben. Lass uns die Burg auskundschaften. Die ist vermutlich leichter zu finden!«
Wir verlassen das Haus durch die Hintertür. Liam schließt ab, obwohl wir allein auf der Insel sind und es eher unwahrscheinlich ist, dass jemand einbrechen und uns ausrauben könnte. »Macht der Gewohnheit«, bemerkt er lachend und steckt den Schlüssel ein.
An der Hausseite sind Holzscheite aufgestapelt, sicher eineinhalb Meter hoch und mit einer Plane bedeckt. »Das reicht für einen ganzen Winter.« Liam nickt zu dem Stapel hinüber. »Und für den Sommer auch noch. Wahnsinn, ist das kalt. Wenn wir zurückkommen, mache ich erst einmal ein Feuer im Kamin.« Er verzieht das Gesicht und wickelt sich fester in seine Jacke. Dann nimmt er meine Hand, und wir spazieren in den Wald. Ich bin froh und dankbar, dass ich Schal und Winterjacke eingepackt habe.
Das Sonnenlicht dringt kaum durch die Baumwipfel, und wenn gelegentlich doch ein Sonnenstrahl die finsteren Äste durchbricht, scheint es fast, als fiele Licht durch Kirchenfenster. Auch die gedämpfte Stille hat etwas Sakrales. Ich atme tief durch, atme tief die frische Luft in die Lunge und gebe mich dem Gefühl von Freiheit hin, das in mir aufkeimt, einfach weil ich in der Natur bin. Ich fühle mich, als hätte ich die Vergangenheit hinter mir gelassen und würde nun die ersten zaghaften Schritte auf einem neuen Weg machen. Auf gewundenen Pfaden schlagen Liam und ich uns durch den Wald. In welche Richtung wir steuern, ist mir nicht ganz klar; der Boden ist feucht und moosbedeckt, und einen richtigen Pfad gibt es nicht. Im nächsten Moment habe ich die Orientierung verloren.
»Hier entlang«, sagt Liam, der uns mühelos durch den Wald lotst.
Nach wenigen Minuten erreichen wir eine Lichtung, auf die ich so schnell hinauswill, dass ich Liam in die Hacken laufe. Vor uns ragt die Burg auf – aber sie hat nicht die geringste Ähnlichkeit mit dem mächtigen Bau auf dem Foto. Sie ist eine Ruine. Ein Feuer hat ihre Eingeweide fast vollständig aufgefressen, sodass sie nun wie ein schwarzer, angenagter Kadaver vor uns liegt.
»Das ist vermutlich der Grund, warum sie auf der Website nicht erwähnt wird.« Liam lacht auf.
Ich starre die Ruine an und unterdrücke ein Schaudern. Obwohl es erst fünf Uhr ist und die Dunkelheit noch lange nicht hereinbrechen wird, werfen die geborstenen Dachbalken lange Schatten. Unwillkürlich muss ich an das Gespräch im Pub denken – all dieses Gerede von Gespenstern. Ist vielleicht jemand in den Flammen umgekommen?
»Wieso sie wohl abgebrannt ist«, überlege ich. »Ob jemand verletzt wurde?« Dabei fällt mir das Foto von Nancy, Andrew und Elliot ein.
Wir gehen am Rande der Lichtung entlang, in gebührendem Abstand zur Burg. Sie ist vier Stockwerke hoch, aber das Dach ist stellenweise eingebrochen, sodass die Sparren wie zersplitterte Rippen in den Himmel ragen. Ein Burgflügel wurde fast vollständig zerstört, während die andere Seite mehr oder weniger unversehrt blieb. Doch auch dort sind etliche Fenster zersprungen; vorwitzige Efeuranken wachsen ins Innere.
Die Fenster im Erdgeschoss wurden offenbar mit Brettern vernagelt, auch wenn ich mir nicht vorstellen kann, warum. Vielleicht kommen manchmal Kinder vom Festland zum Spielen hierher, auf der Suche nach ein bisschen verbotenem Spaß. Vermutlich will man jedoch eher Tiere fernhalten, damit sie nicht Besitz von der Burg ergreifen. Sonderbar, dass man den Bau nicht abgerissen hat, aber das ist vielleicht zu teuer und der Mühe nicht wert. Irgendwann wird die Natur alles zurückerobern; sie hat ja bereits damit angefangen.
Die Rückseite der Burg befindet sich in einem noch schlimmeren Zustand. Stellenweise sind die Mauern gänzlich eingefallen, sodass die Ruine wie ein offenes Puppenhaus anmutet. In einem der Zimmer im oberen Stockwerk kann ich sogar eine Blümchentapete erkennen, verblasst und fleckig, und im ersten Stock steht ein einsames Schaukelpferd in einem Raum, der vermutlich das Kinderzimmer war. Wie viele Erinnerungen ein Haus doch bewahrt, fährt es mir durch den Kopf – vielleicht brennen sie sich sogar in Backsteine und Mörtel.
»Sollen wir mal versuchen, ob wir diesen Strand finden?«, fragt Liam und stupst mich am Ellbogen an.
Ich nicke, denn ich will nur fort von diesem Ort und seiner unheimlichen Ausstrahlung. Aus irgendeinem Grund fühle ich mich hier unbehaglich.
Wir tauchen wieder in den Wald ein. Liam leitet uns sicher zwischen den Bäumen hindurch und bahnt uns den Weg durch Farn und Unterholz. Wie lange es wohl her sein mag, dass jemand genau dort entlanggeschritten ist, wo meine Füße den Boden berühren?, überlege ich. Man könnte leicht meinen, wir seien die einzigen Menschen in dieser Welt oder seien sogar in ein anderes Zeitalter zurückversetzt worden.
Als wir nach einem Marsch von zehn Minuten den Strand erreichen, schnappe ich vernehmlich nach Luft. Es ist ewig her, dass ich mich richtig bewegt habe, und zu meinem Entsetzen wird mir klar, dass ich völlig außer Form bin. Das kommt davon, wenn man immer zu Hause hockt, im Bett herumliegt und Trübsal bläst. Sonst bin ich dreimal die Woche joggen gegangen und habe im Vorjahr sogar einen 10-Kilometer-Benefizlauf absolviert, um Geld für die Krebshilfe einzutreiben. Jetzt beschleichen mich Zweifel, ob ich, selbst wenn es um mein Leben ginge, von einer Seite der Insel zur anderen rennen könnte.
Der Strand erstreckt sich über eine knappe halbe Meile und ist wahrscheinlich der schönste Ort, den ich je gesehen habe. Der Blick zur anderen Seite des Fjords ist spektakulär: Berge ragen in der Ferne auf, dunkel und schattenhaft. Mir fällt die Verfilmung von Der Herr der Ringe ein, mit all ihrer Majestät und ihrer Aura einer anderen Welt. Das Gefühl des Grauens, das mich an der Burg überkam, ist wie weggeblasen.
Hand in Hand schlendern Liam und ich über den Strand. Der Wind schlägt uns entgegen, als würde uns jemand Fäuste ins Gesicht jagen. »Woran denkst du?«, fragt Liam nach einer Weile.
Tatsächlich hatte ich mich, den Blick aufs Wasser gerichtet, in Erinnerungen verloren. Um ehrlich zu sein, waren meine Gedanken zu meiner Mutter gewandert – wie sie es häufig tun –, aber das kann ich nicht zugeben. Liam macht sich natürlich Sorgen wegen meiner Depression und möchte, dass ich glücklich bin. Daher antworte ich mit einem Lächeln: »Ich musste gerade an unsere Hochzeit denken.«
»Und woran genau?«, hakt Liam nach.
»Einfach, wie perfekt alles war«, erwidere ich und lehne mich an ihn.
»Obwohl es nicht die rauschende Hochzeit war, die du dir erträumt hast?« Er schaut mich unsicher an.
Das hat er mich schon häufiger gefragt, und ich habe ihm stets versichert, dass unsere Hochzeit in ihrem bescheidenen Rahmen alles war, was ich mir wünschte. Trotzdem fürchtet er immer noch, ich hätte mir eigentlich ein prunkvolles Fest erträumt und fühlte mich nun betrogen.
»Sie entsprach absolut meinen Vorstellungen«, beteuere ich ihm aufs Neue. »Es hätte nicht schöner sein können.«
Liam legt mir den Arm um die Schultern. »Da kann ich dir nur zustimmen«, sagt er und drückt mir einen Kuss auf den Kopf.
Mein Lächeln muss sich verflüchtigt haben, vielleicht weil die Erinnerungen an unsere Hochzeit so bittersüß sind, denn Liam runzelt plötzlich die Stirn. »Was ist?«
»Nichts.« Ich versuche, das Gefühl zu verscheuchen. »Mir geht es gut. Alles bestens.«
Er soll nicht glauben, ich wolle unsere Flitterwochen durch meine Übellaunigkeit ruinieren. Bei den ersten ist es mir ja schon gelungen. Wir konnten unser junges Glück nie wirklich genießen, da meine Mum am Tag nach der Hochzeit starb. Wir waren bereits auf dem Weg zum Flughafen, als mich der Anruf ihrer Nachbarin erreichte.
»Deine Mum würde nicht wollen, dass du traurig bist, das weißt du«, sagt Liam, meine Gedanken erratend. »Sie würde wollen, dass du unbeschwert und fröhlich bist.«
Das hatte ich mir zuvor im Bad schon selbst vorgeworfen, daher nicke ich bloß und schlucke. In meinem Hals hat sich ein dicker Kloß gebildet. »Ich begreife nur nicht, warum sie sterben musste«, flüstere ich und wünsche bereits im nächsten Moment, ich hätte meinen Gedanken für mich behalten.
Meine Mutter hatte Brustkrebs. Vier Jahre lang hat sie dagegen angekämpft, aber sie sprach gut auf die Behandlung an, und die Ärzte hegten große Hoffnungen, dass sie es schaffen würde. Das ist so ungerecht. Sie hätte uralt werden sollen. Sie hätte Großmutter werden sollen. Sie hätte nicht derart früh sterben dürfen. Mit dieser Ungerechtigkeit kann ich mich immer noch nicht abfinden.
»Das Beste, was du tun kannst, ist, dein Leben zu leben«, klärt Liam mich auf. »Und glücklich zu sein – ihr zuliebe. Das ist es, was sie gewollt hätte.«
»Ich weiß.« Ich gebe Liam einen Kuss auf die Wange. »Isis wäre begeistert von der Insel«, setze ich hinzu, das Thema wechselnd. »Schade, dass wir sie nicht mitnehmen konnten.«
»Isis ist gesund und munter, mach dir mal keine Sorgen«, antwortet Liam, während wir weiter den Strand entlangspazieren. »Die Hundepension ist ja eher ein luxuriöses Hunde-Spa. Der Preis ist horrend.«
Ich lache. Dabei haben wir noch einen Rabatt bekommen, weil ich den Betreiber aus meiner Zeit beim Tierarzt kenne. Unser Labradormischling Isis wird sicher gut versorgt, aber ich vermisse sie trotzdem. Sie leistet mir tagsüber Gesellschaft, wenn Liam bei der Arbeit ist. Oft bleibt sie bei mir und liegt auf meinen Füßen, wenn ich zu müde oder zu traurig bin, um mich aus dem Bett zu quälen. Es ist ein sonderbares Gefühl, jetzt ohne das Tier zu sein, als würde mir ein Glied fehlen. Ständig halte ich Ausschau nach Stöckchen, die ich für sie werfen könnte.
»Ist dir klar, dass dies unser erster gemeinsamer Urlaub ist?«, fragt Liam. »Kaum zu glauben, oder?«