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Dich zu berühren, bedeutet, alles zu riskieren. Zoey ist auf der Flucht vor ihrer Vergangenheit – nie wieder soll Angst ihr Leben bestimmen, das hat sie sich geschworen. In einem kleinen kalifornischen Küstenstädtchen findet sie einen sicheren Zufluchtsort. Nur warum muss ihr Nachbar Tristan so verdammt hilfsbereit sein? Wider Willen knistert es gewaltig zwischen Zoey und dem einfühlsamen Lifeguard. Mit jedem Blick, mit jeder Berührung schenkt Tristan ihr einen Hoffnungsschimmer. In seinen Armen kann sie zum ersten Mal ohne Albträume einschlafen. Doch sosehr Zoey sich es auch wünscht: Bei Tristan zu bleiben, bedeutet, ihn in allergrößte Gefahr zu bringen. * Eine Szene aus EVERYTHING WE FEEL * "Wenn ich ehrlich bin, hatte ich gehofft, dass er mich nie wieder loslässt. Mein Leben lang hatte ich das Gefühl, jeden Moment zu ertrinken – und da war er plötzlich, zog mich aus dem Wasser, in Sicherheit. Aber es war dumm von mir, mich auf ihn einzulassen. Ich muss lernen, selbst zu schwimmen. Wenn ich ein anderer Typ Mädchen wäre, eins das nicht aus ihren Fehlern lernt, dann würde ich jetzt vielleicht stehenbleiben. Würde mich umdrehen, warten, dass er mich einholt. Und dann würde ich den Kopf in den Nacken legen und mich von ihm küssen lassen. Und wenn die Welt eine andere wäre – eine Welt, wie man sie aus dem Kino kennt, eine Welt, in der es so etwas wie wahre Liebe gibt –, dann würde es für uns beide vielleicht sogar ein Happy End geben."
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Seitenzahl: 484
Deutsche ErstausgabeAls Ravensburger E-Book erschienen 2021Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg© 2021 Ravensburger Verlag GmbHDie englische Originalausgabe erschien erstmals 2019 unter dem Titel »Watch Over Me« unter dem Pseudonym Mila Grey bei SIMONPULSE. An imprint of Simon & Schuster Children’s Publishing Division, 1230 Avenue of the Americas, New York, New York 10020Text copyright © 2019 by Mila GrayPublished by arrangement with Intercontinental Literary Agency.Umschlaggestaltung: unter Verwendung von Motiven von © Shutterstock.com (Iana Lisina und janniwet)Übersetzung: Sarah Heidelberger (www.sarah-heidelberger.de)Lektorat: Emily BrodtmannAlle Rechte dieses E-Books vorbehaltenPrinted in GermanyISBN 978-3-473-47193-5www.ravensburger.de
Für Karthi
TRIGGERWARNUNG
(Achtung: Spoiler!)Dieses Buch enthält Themen, die potenziell triggern können. Diese sind: häusliche Gewalt, Stalking, Waffengewalt.
ZOEY
In Las Vegas gibt es keine Dunkelheit. Es ist die hellste Stadt der Welt – so hell, dass man sie vom All aus erkennen kann. So hell, dass ich seit drei Jahren die Sterne nicht mehr gesehen habe.
Es gibt auch keine Stille in Las Vegas. Selbst hier draußen, meilenweit entfernt vom Strip und den Touristenmassen, herrscht ständiger Lärm. Ein andauerndes Hintergrundrauschen aus Verkehr, Sirenengeheul und wummernder Musik. Streitereien, durchsetzt von gackerndem Lachen. Das unablässige Fernsehgeschnatter, das durch die geöffneten Fenster auf die Straßen hinausschwebt.
Die Stille vermisse ich. Die Dunkelheit nicht.
Ich erledige den Abwasch und verstaue Coles Schulsachen in seinem Rucksack. Die Heftumschläge sind mit bunten Comiczeichnungen bedeckt. Plötzlich halte ich inne. Nein, das sind keine Comiczeichnungen. Unter seinem Namen – COLEWARD, geschrieben in großen, unregelmäßigen Druckbuchstaben – hat er einen Mann mit einer Pistole gemalt. Meine Hände zittern, während ich die Zeichnung näher betrachte: Kugeln fliegen aus der Mündung, und um den Mann herum liegen in Blutlachen aus rotem Filzstift ein halbes Dutzend Strichmännchen mit heraushängenden Zungen und abgehackten Gliedmaßen.
Warum malt ein Achtjähriger so was? Machen das alle kleinen Jungs, die hin und wieder Videospiele spielen dürfen? Aber auch wenn ich nach Ausreden suche – tief in mir drin weiß ich ganz genau: Was Cole da gemalt hat, ist alles andere als normal.
Ich lasse mich auf einen verschrammten Küchenstuhl sinken und überlege, was ich tun soll. Mit Mom kann ich nicht darüber reden, so viel ist sicher. Das wäre zu viel für sie. Endlich hat sie ihr Leben wieder im Griff, da will ich nicht riskieren, dass sie in eins von ihren dunklen Löchern fällt.
Am besten, ich spreche direkt mit Cole. Vielleicht hängen seine Gewaltfantasien mit Will zusammen, schließlich ist unser älterer Bruder ein Marine, und Cole vergöttert ihn. Aber vielleicht kopiert er auch nur irgendwas, das er im Fernsehen oder Internet gesehen hat. Ich versuche, ein Auge darauf zu haben, wie viel Zeit er vor dem Bildschirm verbringt, aber ich bin nun mal nicht rund um die Uhr zu Hause, und Mom hat es nicht so mit Disziplin. Sie kann nicht mit Konflikten umgehen. Vielleicht sollte ich auch mit seiner Lehrerin sprechen, wobei sie bei meinem letzten Besuch mehr als deutlich gemacht hat, dass es eigentlich Moms Aufgabe wäre, die Verantwortung für Cole zu übernehmen, und nicht die seiner großen Schwester.
Ich stopfe das letzte Heft in Coles Rucksack und nehme mir vor, morgen früh vor der Schule mit ihm zu reden – falls ich trotz meiner Frühschicht überhaupt Zeit finde. Was mich daran erinnert, dass ich aufhören sollte zu trödeln, damit ich nicht zu spät ins Bett komme. Die Wäsche muss noch gemacht werden, und die Pausenbrote für morgen auch.
Ich spähe ins Kinderzimmer und stelle fest, dass Kate immer noch nicht schläft. Sie sitzt in dem Einhorn-Onesie, den ich ihr zu Weihnachten geschenkt habe, im Schneidersitz oben auf dem Stockbett und tippt auf ihrem Handy herum. Ihre Finger fliegen im Fünfhundert-Emojis-pro-Minute-Takt über die Tastatur. Das Handy ist wie ein Teil von Kate, manchmal glaube ich, man würde es nicht mal mit dem Stemmeisen von ihren Händen losbekommen.
»Hey, es ist schon spät«, sage ich, aber sie hat Kopfhörer drin. »Kate!«, füge ich etwas lauter hinzu, und sie blickt auf, wobei ihr Haar aufleuchtet wie ein flammender Sonnenuntergang. »Schlafenszeit.«
Sie verdreht die Augen, als sei ich ein Plagegeist, einzig auf die Erde entsendet, um ihrem Snapchat-Marathon ein unzeitiges Ende zu bereiten. Aber es geschehen noch Zeichen und Wunder, denn sie hört auf zu tippen, nimmt die Ohrstöpsel raus und sieht mich mit hochgezogenen Augenbrauen an.
»Gute Nacht«, murmelt sie schließlich und dreht am Horn der kleinen Einhorn-Leselampe an ihrem Bett, um die Helligkeit zu dimmen. Als wir hergezogen sind, habe ich versucht, es ihr so gemütlich zu machen wie möglich. Sie war unglücklich über unseren Umzug, vor allem, weil sie sich hier ein Zimmer mit Cole teilen muss. Aber auf den Büchern, die ich ihr ins Regal gestellt habe, sammelt sich der Staub, weil Kate inzwischen nur noch Chatnachrichten und Instagram-Storys liest.
Sie schiebt das Handy unter die Decke, und ich weiß, dass sie weitertexten wird, sobald ich den Raum verlasse. Ehe ich gehe, mache ich Coles Bett in der unteren Koje. Normalerweise schläft er hier, aber Kate und er haben sich vorhin so heftig gestritten, dass er in Moms Bett ausgewandert ist.
Als ich die Tür zum Kinderzimmer schließe, klingelt mein Handy. Wieder mal ein Anruf mit unterdrückter Rufnummer, schon der dritte heute. Beim ersten Mal bin ich drangegangen, weil ich gehofft hatte, dass es um den Job ging, auf den ich mich neulich beworben habe, in einem Restaurant, das näher bei unserem Haus liegt. Aber am anderen Ende der Leitung erwartete mich nur Schweigen. Ich legte schnell auf, doch ein paar Sekunden später klingelte es erneut. Und als ich nach kurzem Zögern wieder abnahm, war bis auf ein lautes Atemgeräusch nichts zu hören.
Keine Reaktion, als ich »Hallo« sagte, nur dieses Atmen.
Einige Stunden später meldete sich der Anrufer noch mal. Und jetzt, um zehn Uhr abends, schon wieder.
Mein Atem geht stoßweise, mein Herz rast. Das ist nicht er, weise ich mich wütend zurecht. Wenn er es wäre, würde ich zu Anfang das Piep-Piep-Piep des Telefonsystems der Bundesgefängnisse hören, und dann würde mich eine Computerstimme fragen, ob ich den Anruf eines Insassen des Penitentiary of New Mexico entgegennehmen möchte. Das alles weiß ich, weil er vor einigen Jahren mal versucht hat, sich bei mir zu melden. Damals hatte ich noch meine alte Handynummer. Ich habe den Anruf abgelehnt und gleich darauf meine Nummer geändert. Er kann es nicht sein, wiederhole ich für mich selbst, bis ich wieder einigermaßen Luft bekomme. Es gibt nichts, wovor ich Angst haben müsste.
Ich schalte mein Handy ab und lege es auf den Tisch, versuche, das ungute Gefühl abzuschütteln, das mich beschleicht. Ohne Vorwarnung fallen mich die Erinnerungen an, schießen aus dem Dunkel heraus, in dem ich sie zu begraben versuche: Coles Schreie, Kates Schluchzen, Moms Gesicht, wie es unter den niederprasselnden Schlägen aufplatzt. Die Kühlschranktür, die nur noch an einer Angel hängt. Dann das blau-weiß-rote Flackern der Lichter draußen und das wütende Brüllen meines Vaters. Du kleine Schlampe! Ich bring dich um!
Es klingelt erneut, und ich zucke zusammen. Wie lange habe ich hier gestanden und ins Nichts gestarrt, mich an Dinge erinnert, die ich besser vergessen sollte? Diesmal ist es das Festnetz. Ich mache einige Schritte darauf zu, unentschlossen, ob ich abnehmen soll. Etwas sagt mir, dass ich es besser bleiben lassen sollte. Aber da ist noch eine zweite, streitlustigere Stimme in meinem Kopf, die mir befiehlt, es trotzdem zu tun. Ich greife nach dem Hörer. »Ja?«
Stille.
»Wer ist da?«, flüstere ich. Mein Herz hämmert wie wild.
Das Schweigen hält noch einen Augenblick an, dann klickt es in der Leitung. Der Anrufer hat aufgelegt. Während ich noch auf den Hörer starre, ertönt ein gewaltiges BUMM! Das Küchenfenster zerspringt, Scherben fliegen durch den Raum. Eine Hitzewand lässt mich nach Luft schnappen, die Wohnung ist erfüllt von knisterndem, ohrenbetäubenden Tosen. Schützend reiße ich die Arme vors Gesicht und werfe mit zusammengekniffenen Augen einen Blick durch die geborstene Scheibe. Oh Gott. Mein Auto, das ich draußen in der Einfahrt geparkt habe, direkt vor dem Haus.
Es steht in Flammen.
Verfolgt von Rauch und Hitze, weiche ich stolpernd vom Fenster zurück und renne ins Kinderzimmer, reiße die Tür auf, schreie Kate an, dass sie aufstehen soll. »Feuer! Los!«, brülle ich und laufe weiter in Moms Zimmer, um Cole zu wecken.
Wie erstarrt bleibe ich im Türrahmen stehen. Das Bett ist leer.
»Cole?«, rufe ich, sehe unter dem Bett nach, im Schrank, durchwühle den ganzen Raum. Doch er ist nicht da.
Rauch quillt durch das kaputte Fenster ins Haus. Hustend dränge ich mich an Kate vorbei, die längst aus dem Bett gesprungen ist und sich ins Wohnzimmer geflüchtet hat.
»Ruf die Feuerwehr!« Meine Stimme überschlägt sich fast.
Die Haustür ist der einzige Ausgang, und das Auto parkt direkt davor, also sitzen wir hier fest. Hinter mir höre ich Kate mit dem Notruf sprechen. »F…feuer«, stammelt sie. »Hier b…brennt es.«
»Cole!«, brülle ich, laufe von Raum zu Raum und überlege fieberhaft, wo er stecken könnte. Ich sehe im Bad, in der Küche, den Schränken nach – an jedem Ort, der mir einfällt. Aber Cole bleibt verschwunden. Ich huste, brülle seinen Namen, doch er antwortet nicht. Der Rauch ist so dicht und erstickend, dass wir kaum mehr atmen können, also packe ich Kate am Arm und zerre sie in Moms Schlafzimmer.
»Los!«, sage ich und ziehe sie weiter zum Fenster. »Wir müssen hier raus!«
Hinter unserem Haus befindet sich ein verwahrloster Hof, den wir uns mit vielleicht zwei Dutzend weiteren Häusern teilen. Eigentlich sollte das eine Gemeinschaftsfläche sein, es gibt Grillstellen, Picknicktische aus Beton und einen Spielplatz. Aber der Spielplatz ist wegen des rostigen Klettergerüsts und der kaputten Schaukeln abgesperrt, und die einzigen Leute, die die Picknicktische benutzen, sind Dealer.
Ein Mann kommt über den Hof gelaufen und hilft Kate aus dem Fenster, fängt sie auf, als sie ins Stolpern gerät. Danach reicht er mir die Hand. Er ist einer unserer Nachbarn, ein Typ um die fünfzig, Busfahrer, wenn ich mich nicht täusche. Sein Name ist Winston.
»Haben Sie meinen Bruder gesehen?«, frage ich, während er mir durchs Fenster hilft.
Als er den Kopf schüttelt, kann ich die Panik nicht mehr unterdrücken. Mein Blick zuckt über die Nachbarn, die teilweise im Schlafanzug nach und nach aus den Häusern strömen, um zu sehen, was los ist. Aber keine Spur von Cole. In der Ferne höre ich Feuerwehrsirenen.
Ich nehme Kate bei der Hand und ziehe sie an der Hausseite entlang zur Straße. Das Auto steht immer noch in lodernden Flammen, die nun auch auf das Hausdach übergehen und die Regenrinnen zum Schmelzen bringen. Funken tanzen durch die zersprungene Scheibe und landen auf den Wohnzimmervorhängen, die so schnell verbrennen, dass Sekunden später nur noch Asche übrig ist. Die Flammen, hungrig nach mehr, züngeln in Richtung Sofa.
Zwei Löschzüge halten mit quietschenden Bremsen vor dem Haus. Wir beobachten, wie die Feuerwehrmänner mit einem Wasserschlauch an uns vorbeirennen. Die eine Gruppe löscht das Auto und braucht nicht einmal eine Minute, um die Flammen unter Kontrolle zu bringen. Das Feuer zischt, erlischt, geht in einer schwarzen Rauchschwade auf.
Die Feuerwehrmänner aus dem anderen Wagen versuchen, das Haus zu löschen. Das Wasser dringt durchs Fenster und auf die Flammen, die sich inzwischen im ganzen Wohnzimmer ausgebreitet haben. Zwei der Männer hacken mit einer Axt die Haustür auf und hasten nach drinnen. Ich sinke auf dem Bürgersteig in die Knie, und Kate bricht schluchzend neben mir zusammen. Was, wenn Cole noch da drin ist? Was, wenn er sich versteckt hat?
Der Brand im Wohnzimmer ist schnell gelöscht, aber als die Feuerwehrmänner endlich wieder aus dem Haus kommen, fühlt es sich an, als hätten wir Stunden gewartet. Einer von ihnen geht zu Winston, der daraufhin auf mich zeigt. Der Feuerwehrmann kommt mit ernstem Blick auf mich zu, und wieder hämmert mir das Herz wild in der Brust. Kate klammert sich an meiner Hand fest.
Er kniet sich neben mich. Wie Winston ist er um die fünfzig und hat einen buschigen Schnauzer und blaue Augen. »Ich bin Lieutenant Franklin«, sagt er. »Ist das euer Haus?«
Ich nicke. »H…haben Sie ihn gef…funden?«, stammle ich. »Meinen Bruder? Ich weiß nicht, wo er ist.«
Stirnrunzelnd schüttelt er den Kopf. »Im Haus ist keiner mehr.«
Vor Erleichterung schluchze ich auf und höre Kate dasselbe tun.
»Wie alt ist er? Kannst du ihn uns beschreiben?«
Ich wende mich wieder Lieutenant Franklin zu und versuche, mich zu sammeln. »Er heißt Cole. Er ist acht und hat braunes Haar, braune Augen und Sommersprossen. Er trägt einen Spider-Man-Schlafanzug.«
Franklin wiederholt die Angaben in sein Funkgerät, und ein Mitarbeiter in der Zentrale bestätigt die Informationen.
»Ist das alles?«, fragt mich Franklin. »Gibt es sonst noch etwas, woran man ihn erkennen kann?«
Ich öffne den Mund, bringe aber kein Wort heraus. Wie soll ich meinen kleinen Bruder beschreiben? Meine Schilderung wird ihm überhaupt nicht gerecht. Er ist blitzgescheit, will ich sagen, aber er hasst die Schule. Er liebt es, sich Witze auszudenken, und einer ist schlechter als der andere. Derzeit ist er verrückt nach Dschingis Khan, LeBron James und Lionel Messi. Wenn er groß ist, will er Rennfahrer werden, aber nur, falls aus ihm nicht vorher ein berühmter Fußballer wird. Keine dieser Informationen wird dabei helfen, ihn zu finden. Doch wie viele achtjährige Jungs im Spider-Man-Schlafanzug werden um diese Uhrzeit schon allein durch Las Vegas irren?
»Wann hast du ihn zuletzt gesehen?«, fragt mich Franklin.
»Ich habe ihn gegen acht ins Bett gebracht. Nach der Explosion bin ich sofort zu ihm, aber er war nicht mehr da. Und ich habe keine Ahnung, wo er stecken könnte.«
Ich muss gegen die Tränen ankämpfen. Ich will – ich sollte – nach ihm suchen, aber Kate hält meinen Arm fest umklammert, damit ich bei ihr bleibe. Die ganze Zeit über hat sie kein Wort gesagt. Sie scheint unter Schock zu stehen. Jemand hat uns Decken – diese Dinger aus Alufolie – um die Schultern gelegt.
»Bitte«, flüstere ich Franklin zu. »Sie müssen ihn finden.«
»Keine Sorge«, erwidert er mit einem aufmunternden Nicken. »Alle Streifenwagen in der Gegend suchen nach ihm. Er wird schon wieder auftauchen.« Dann fragt er: »Wo ist eure Mutter?«
»Bei der Arbeit. Sie müsste bald nach Hause kommen.«
Als er das hört, verzieht er das Gesicht, und ich kann ihm ansehen, wie er uns in eine Schublade steckt. Vermutlich fragt er sich, was für eine Mutter ihre Kinder allein zu Hause lässt, um Nachtschichten zu schieben, und das ärgert mich. Ich bin fast neunzehn und damit kein Kind mehr. Es ist nicht so, dass wir irgendwelche Gesetze brechen. Und überhaupt kennt er uns gar nicht. Er weiß nicht, dass Moms Job das Beste ist, was ihr seit Langem passiert ist, weil er ihr wieder Selbstvertrauen geschenkt hat, und das Gefühl, wichtig zu sein. Sie verdient vielleicht nicht viel, aber immerhin verdient sie überhaupt etwas – genug, dass wir ein Dach überm Kopf haben und keine Essensmarken mehr benötigen. All das würde ich ihm gern sagen, aber es ist besser, wenn ich den Mund halte, damit er seine Arbeit machen kann.
»Und euer Vater? Ist der vielleicht irgendwo in der Nähe?«
Ich schüttle den Kopf. »Nein.«
»Du solltest deine Mutter anrufen.«
»Mein Handy ist drinnen«, antworte ich und deute mit dem Kopf in Richtung Haus.
»Okay, dann sorge ich dafür, dass jemand sie kontaktiert. Wo arbeitet sie?«
»Im Luxor«, erkläre ich. »Sie macht Haare und Maske für die Show.«
»Die Akrobatikshow? Mit den Trapezkünstlern und so weiter?«
Ich nicke. Vor ein paar Monaten hat Mom uns zu Kates Geburtstag Karten zum Sonderpreis besorgt. Das war einer der schönsten Familienabende, die wir je hatten. Danach hat sich Cole wochenlang an jeder Stange und jedem Geländer in Reichweite herumgeschwungen, bis er bei dem Versuch, eine Wand hochzulaufen, gestürzt ist und sich den Ellenbogen aufgeschlagen hat.
»Wie heißt deine Mom?«, fragt Franklin.
»Gina Ward«, murmle ich, in Gedanken wieder bei Cole. Wo ist er hin? Und vor allem: Warum ist er überhaupt weggelaufen?
»Hat sie ein Auto?«, will Franklin wissen.
»Nein, sie nimmt immer den Bus.«
Er nickt. »Ich schicke jemanden, der sie abholt.« Dann stellt er sich etwas abseits, um über Funk Meldung zu machen, und ich sitze einfach auf dem Bordstein und versuche, Kate zu trösten und mir nicht auszumalen, was Cole alles passiert sein könnte.
Zehn Minuten später, wir sehen gerade zu, wie die Feuerwehrmänner die Schläuche einrollen, und warten auf Mom, kommt Franklin wieder und kniet sich vor uns. »Euer Bruder wurde gefunden.«
Wieder schluchze ich auf vor Erleichterung, und Kate drückt meine Hand so fest, dass es wehtut. »Oh, Gott sei Dank, wo war er?«
»Ein paar Blocks entfernt. Ein Streifenwagen hat ihn entdeckt. Er ist vor ihnen davongerannt, sie mussten ihn verfolgen.«
»Was?«, frage ich verblüfft. Wieso sollte er davonrennen?
»Sie bringen ihn gerade her. Könnten wir vielleicht kurz …?« Er gibt mir mit einer Kopfbewegung zu verstehen, dass er gern ein paar Meter weiter, wo Kate uns nicht hören kann, unter vier Augen mit mir sprechen möchte.
Ich winde meinen Arm aus ihrem Griff und folge Franklin. Er weist auf das Auto. »Sieht nach Brandstiftung aus. So intensiv wird ein Feuer normalerweise nur, wenn Brandbeschleuniger im Spiel ist.«
Brandstiftung. Ich wiederhole das Wort in Gedanken, während ich auf die rauchende Ruine blicke, die vor einer Stunde noch mein in die Jahre gekommener, aber zuverlässiger Toyota war.
»Ihr habt Glück gehabt«, fährt Franklin fort. »Etwas mehr Benzin im Tank, und meine Männer würden jetzt wahrscheinlich immer noch gegen das reinste Inferno kämpfen. Der ganze Wohnblock hätte abbrennen können.«
»Oh Gott«, flüstere ich. Mein Herzschlag dröhnt mir in den Ohren.
»Fällt dir jemand ein, der euch schaden wollen könnte?«
Ich will schon Nein sagen, aber dann halte ich inne. Denn ja, natürlich kenne ich jemanden, der mir schaden will. Jemanden, der bereits damit gedroht hat, mich umzubringen. Aber er sitzt im Gefängnis. Und er weiß nicht, wo wir wohnen. Er kann es nicht gewesen sein. Doch das habe ich heute Abend schon einmal gedacht, und ich gehöre nicht zu den Menschen, die an Zufälle glauben.
Franklin zuckt mit den Achseln. »Vielleicht nur ein paar gelangweilte Kids. So was kommt vor.« Sein Blick bohrt sich in meinen, als er das sagt. »Insbesondere Jungen im Alter zwischen acht und zwölf durchleben öfter eine Phase, in der sie Feuer aufregend finden und häufiger mal herumzündeln.«
Anfangs verstehe ich nicht, worauf er hinauswill, aber dann trifft es mich wie ein Faustschlag. »Sie denken, mein Bruder hat das Feuer gelegt?«, frage ich. Meine Stimme bebt vor Zorn.
Doch Franklin macht hastig einen Rückzieher, schüttelt den Kopf. »Das hab ich nicht gesagt.«
Aber gedacht. Ich starre ihn finster an. Nicht nur, weil ich wütend bin, sondern auch, weil er mich auf dem falschen Fuß erwischt hat. Denn ein Teil von mir fragt sich, ob Franklin recht haben könnte. Ist Cole deshalb davongelaufen? Weil er Angst hatte, dass er Ärger bekommt? Andererseits kann ich mir einfach nicht vorstellen, dass Cole so was tun würde. Also … jedenfalls glaube ich es nicht. Ich seufze und schließe für einen kurzen Moment die Augen. Denn die Wahrheit lautet: Ein Teil von mir fragt sich, ob es ihm nicht vielleicht doch zuzutrauen wäre.
»Habt ihr eine Hausratversicherung?«, fragt Franklin. »Das Feuer und der Rauch haben ganz schön viel Schaden angerichtet.«
»Nein«, erwidere ich entmutigt.
Er drückt mir die Schulter. »Das Haus wird für eine Weile nicht bewohnbar sein«, sagt er. »Könnt ihr irgendwo unterkommen?«
Ich starre auf die kaputte Haustür und die rußbedeckten Wohnzimmerwände. »Nein«, wiederhole ich. »Das hier ist alles, was wir haben.«
TRISTAN
»Was haben die sich denn nur dabei gedacht, Mann?«, fragt Gunnie, während wir zum Ufer rennen.
»Dass heute ein fantastischer Tag ist, um zum ersten Mal im Leben Kajak zu fahren?«
Gunnie flucht still vor sich hin. Er hat eine ziemlich niedrige Toleranzschwelle, was »Schwachköpfe und Idioten« betrifft, die seiner Meinung nach rund neunundneunzig Prozent der Bevölkerung ausmachen.
Ich muss grinsen, weil die zwei Kajakfahrer, die sich einen knappen Kilometer von der Küste entfernt im eiskalten, aufgewühlten Wasser an ihr umgekipptes Boot klammern, für mich vor allem eins bedeuten, nämlich eine Möglichkeit, Jetski zu fahren. Ich will nicht lügen: Wenn ich so über die Wellen brettere, um Leute zu retten, läuft in meinem Kopf in voller Lautstärke der The Fast and The Furious-Soundtrack mit. Offiziell heißt das Teil übrigens nicht Jetski, sondern »Fahrzeug für die Wasserrettung«. Aber eigentlich ist es nichts anderes als ein Jetski.
»Ich darf Leuten das Leben retten und dabei Jetski fahren und Hubschrauber fliegen«, habe ich meiner Familie erklärt, als ich der Küstenwache beigetreten bin und sie wissen wollten, was zum Henker ich mir dabei gedacht habe.
»Aha, war das Plan B, nachdem dir Tom Cruise die Hauptrolle in Mission: Impossible weggeschnappt hat?« Meine Schwester Dahlia warf mir ein spöttisches Grinsen zu.
Ich lachte zwar mit den anderen mit, aber insgeheim musste ich mir eingestehen, dass Dahlia den Nagel ziemlich genau auf den Kopf getroffen hatte. Auch wenn mir bei der Entscheidung eher der Tom Cruise aus Top Gun vorgeschwebt hatte. Das ist ein alter Film aus der 80ern, und alte Filme aus den 80ern sind eine meiner zahlreichen Leidenschaften. Niemand hält heutzutage mehr so hochtrabende Reden wie Tom Cruise in seinen 80er-Jahre-Filmen. Niemand wirft mehr so theatralisch Schnapsflaschen durch die Gegend und verdreht Frauen mit seinem rebellischen Charme den Kopf wie der junge Tom Cruise.
Gunnie und ich lassen die Jetskis aufheulen und jagen los zu den Koordinaten, die uns der Heli-Trupp übermittelt hat. Aber ich kann den orangefarbenen Hubschrauber, der über den Kajakfahrern am Himmel steht, auch ohne die Koordinaten erkennen. Eines Tages werde ich dort oben sitzen – das ist mein größterTraum: Pilot zu werden. Aber solange ich noch darauf warte, dass ein Platz an der Flugschule frei wird, bin ich auch hier draußen auf dem Wasser glücklich.
Unser Küstenabschnitt, der direkt nördlich von San Diego liegt, ist ebenso schön wie tödlich, die Unterströmung gnadenlos. Selbst erfahrene Boots- und Kajakfahrer geraten hier regelmäßig in Schwierigkeiten, ganz zu schweigen von Schwimmern. Jeden Monat bergen wir Dutzende Leute. Aber bei meinem Job geht es um mehr als nur Rettungsaktionen, sage ich immer, wenn mich die Leute fragen, ob man bei der Küstenwache dasselbe macht wie als Rettungsschwimmer. Wir von der Küstenwache gehören zum Militär, Rettungsschwimmer nicht. Und das bedeutet, dass wir im Gegensatz zu Rettungsschwimmern auch Drogen und Waffen beschlagnahmen, die über den Seeweg in die USA geschmuggelt werden, in Kriegsgebieten eingesetzt werden, und uns an Militäroperationen beteiligen.
Gunnie und ich brauchen nur ein paar Minuten, um die Kajakfahrer zu erreichen. In Küstennähe ist das Wasser von einem strahlenden Aquamarinblau, aber hier draußen hat es die Farbe von gebürstetem Stahl, und ein harter Wind peitscht die Wellen auf, sodass wir die Jetskis nur unter Mühen länger neben den Schiffbrüchigen halten können. Der Mann und seine Begleiterin – beide noch recht jung – sind durch den Kampf ums Überleben und die Kälte des Wassers maßlos erschöpft. Sie hatten großes Glück, dass sie überhaupt um Hilfe rufen konnten. Ein paar Minuten länger hier draußen, und die Frau wäre vermutlich ertrunken.
Der Mann trägt eine Rettungsweste, die Frau nicht. Was für ein Gentleman. Ich reiche der Frau meine Hand, die sie dankbar ergreift.
Sie klettert hinter mir auf den Jetski und sinkt gegen meinen Rücken. Sie zittert so heftig, dass ich ihr Zähneklappern sogar über den starken Wellengang hinweg hören kann.
Ich reiche ihr eine Rettungsweste und sage: »Nur ein paar Minuten, dann sind Sie auf dem Trockenen.«
»Danke«, erwidert sie bibbernd, während Gunnie den Mann auf seinen Jetski zieht. Er ist professionell genug, um den Typen nicht als Idioten zu beschimpfen, aber ich weiß genau, was er denkt.
Ich drehe mich zu der Frau um und weise sie an, sich festzuhalten. Sie bombardiert den Typen, bei dem es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um ihren Freund handelt, mit wütenden Blicken, und ich frage mich, ob dieses kleine Unglück hier wohl der Grund für ihre Trennung sein wird. Ich kann es ihr nur wünschen, der Typ ist echt der letzte Arsch.
Nachdem wir das Paar zurück an Land gebracht und unseren Einsatzbericht ausgefüllt haben, ist meine Schicht vorbei. Ich dusche, ziehe mich um, hole meinen Motorradhelm aus dem Spind und checke mein Handy.
»Na, heißes Date heute?«, fragt Gunnie.
Ich schüttle den Kopf, meine Lippen bleiben versiegelt. Mein Liebesleben ist für Gunnie und den Rest der Mannschaft ein Quell ständiger Faszination. Sie halten mich für den letzten Weiberhelden, und da sie größtenteils schon verheiratet sind und sich bei ihnen in der Hinsicht nicht mehr viel tut, fiebern sie eben mit mir mit. Nur dass sie mit ihren Vermutungen total falsch liegen. Ich meine, hin und wieder kommt es schon vor, dass nach einem meiner Dates was läuft, aber meistens … laufen sie eher ins Leere. Ich hatte ungefähr eine Million erste Dates und so gut wie kein zweites.
Meine Schwester Dahlia behauptet, ich hätte Bindungsängste und wäre zu sprunghaft, aber das stimmt nicht. Mein Leben ist voller Bindungen. Da ist meine Arbeit, dann sind da meine Freunde, meine Familie. Und sprunghaft bin ich auch nicht. Schließlich verfolge ich seit einer Ewigkeit beharrlich das Ziel, den besten Burger an der gesamten Westküste zu finden. Außerdem sammle ich seit meiner Kindheit Baseballkarten, und zwar mit einer solchen Leidenschaft und Hingabe, dass mich Dahlia immer damit aufgezogen hat, als wir noch jünger waren. Seit sie weiß, dass die Sammlung in meiner Schuhschachtel rund achtzigtausend Dollar wert ist, hält sie allerdings die Klappe.
Ich habe keine Bindungsängste, sage ich immer zu ihr. Ich habe einfach nur noch nicht den Menschen gefunden, an den ich mich binden will.
Eilig mache ich mich auf den Weg nach draußen zu meinem Motorrad, neben dem die junge Frau steht, der ich vor einer Stunde das Leben gerettet habe. Meine Schritte werden etwas langsamer. Sie trägt Shorts und ein weißes Tanktop. Und, wie schwerlich zu übersehen ist, keinen BH.
»Hi«, sagt sie.
»Hi«, antworte ich.
Sie wirft mir ein schüchternes Lächeln zu. »Ich wollte mich nur dafür bedanken, dass Sie …« Sie mustert mich kurz, dann entscheidet sie sich um, »… dass du mir das Leben gerettet hast. Ich war mir nicht mehr sicher, ob ich dir das vorhin gesagt habe.«
»Gern geschehen«, antworte ich leicht verwundert. Deswegen hat sie die ganze Zeit hier rumgestanden und auf mich gewartet?
Dann betrachtet sie mich, klimpert mit ihren langen Wimpern und knabbert an ihrer Unterlippe herum. Ich muss lächeln. Sie flirtet mit mir, und sie ist hübsch. Sehr hübsch sogar, wenn man auf blonde Verkörperungen des California Lifestyle steht. Sie ist ein bisschen älter als ich, fünfundzwanzig vielleicht. »Mann, hatte ich Schiss, ich war mir total sicher, dass ich ertrinke«, erzählt sie und wickelt sich dabei eine Haarsträhne um den Finger.
Ich nicke. »Klar, war echt eine raue See heute. Du hättest eine Rettungsweste tragen sollen.«
Sie nickt. »Mein Freund meinte, dass wir keine brauchen, aber als wir umgekippt sind, hat er sich sofort die Notfallweste geschnappt.«
»Und trotzdem ist er noch dein Freund?«, frage ich und lege meine Tasche auf dem Motorrad ab.
Sie schüttelt den Kopf und sieht mir in die Augen. »Nein.«
Mir fällt auf, dass sie die Zeit gefunden hat, sich zu schminken. Die Mascara hat sie so dick aufgetragen, dass ihre Wimpern aussehen wie arthritische Spinnenbeine, und ihre Lippen glänzen im gleichen Rot wie mein Motorrad.
Sie legt die Hände auf den Lenker. Die Geste stört mich, sie ist aufdringlich. Als hätte sie unerlaubt mich berührt.
»Ich dachte, ich könnte dir als Dankeschön vielleicht einen Drink ausgeben«, sagt sie.
Ich zögere, denn ein Teil von mir will Ja sagen. Aber ich muss mich professionell verhalten, und mit ihr auszugehen wäre grenzwertig.
»Heut Abend hab ich schon was vor.«
Sie zieht zwar ein langes Gesicht, schluckt ihren angekratzten Stolz aber tapfer herunter, und ich bekomme ein schlechtes Gewissen. »Aber ich weiß es wirklich sehr zu schätzen, dass du extra hier auf mich gewartet hast, um dich zu bedanken.«
Als sie das hört, hellt sich ihr Gesicht sofort wieder auf. »Also, dann vielleicht wann anders?«, fragt sie hoffnungsvoll.
»Wir sollen keine Privatbeziehungen zu Personen unterhalten, die wir gerettet haben.«
»Wer hat denn hier was von Beziehung gesagt?« Sie wirft mir einen vielsagenden Blick zu, der deutlich macht, dass es ihr nun um eines geht – und dabei handelt es sich weder um meine Intelligenz noch um meinen Charme.
»Hier ist jedenfalls meine Nummer«, sagt sie und hält mir ein Stück Papier hin. Als sie näher kommt, um es mir zu reichen, streift sie halb absichtlich mit den Brüsten meinen Arm. Einen Herzschlag lang ziehe ich ernsthaft in Erwägung, auf ihr Angebot einzugehen. Schließlich ist es schon eine ganze Weile her, dass ich …
»Ruf mich einfach an, falls du deine Meinung ändern solltest.« Sie drückt mir den Zettel in die Hand und lässt ihre Finger dabei einen Moment länger als nötig auf meinem Handgelenk ruhen.
Ich sehe nach unten. Neben ihrer Nummer steht ihr Name, Brittany. Darunter hat sie ein ertrinkendes Comic-Mädchen gemalt.
Aus dem Augenwinkel kann ich erkennen, dass Gunnie gerade das Gebäude verlässt, also ergreife ich schnell die Flucht, indem ich meine Tasche schultere, das Bein über mein Bike schwinge, ein »Mach’s gut dann« murmle und mit heulendem Motor vom Parkplatz presche.
ZOEY
»Also, hier könnt ihr jedenfalls nicht bleiben«, sagt Tante Chrissy und ringt dabei die Hände, dreht wieder und wieder das halbe Dutzend Ringe an ihren Fingern, als wolle sie sie abschrauben. »Ich würde euch sofort aufnehmen, wenn ich könnte. Aber ihr wisst ja, wie Javi ist!« Als sie das sagt, blickt sie mich flehentlich an, und ich nicke.
»Um fünf Uhr früh kommt er von der Arbeit zurück, und er braucht seinen Schlaf«, fährt sie fort. »Wir haben hier einfach nicht genug Platz für euch alle.«
»Das verstehen wir doch«, beruhige ich sie und zwinge mich zu einem Lächeln. »Wir wussten nur einfach nicht, wo wir sonst auf die Schnelle hinsollten.«
Chrissy geht zu Mom und legt den Arm um sie. Mom wirkt wie versteinert, als hätte sie gerade erfahren, dass ein Familienmitglied gestorben ist. »Wir haben fast alles verloren, was wir haben«, murmelt sie fassungslos. »Wer tut denn so was?«
Ich habe ihr nichts von meinem Verdacht erzählt, dass es dieselbe Person gewesen sein könnte, die auf meinem Handy und dem Festnetz angerufen hat.
Chrissy tätschelt ihre Schulter. »Kommt, ich mach euch was zu trinken. Wollt ihr eine heiße Schokolade, Kinder?« Sie sieht Kate an, die auf dem Sofa sitzt und jetzt, wo sie sich von dem ersten Schock erholt hat, wieder so emsig auf ihrem Handy herumtippt, als müsse sie die verlorene Zeit aufholen. Cole hockt daneben und trommelt mit den Fersen auf den Boden.
»Nein! Ich will meine Sachen!«
»Aber wir können sie im Augenblick nicht holen«, erkläre ich ihm. »Das ist zu gefährlich. Jedenfalls solange wir nicht wissen, wer das Auto angezündet hat.«
»Und wie lange dauert das?«
Ich atme tief durch. »Ein paar Tage bestimmt.«
»Aber wo sollen wir bis dahin denn bleiben?«, fragt Mom, und da begreife ich, dass sie keine Lösung parat hat. Dass sie darauf wartet, dass ich mir etwas einfallen lasse. Tante Chrissy, so lieb ich sie auch habe, wird uns keine Hilfe sein. Als Reinigungskraft in einem Hotel auf dem Strip verdient sie gerade eben so genug, um selbst halbwegs über die Runden zu kommen. Und ihr Freund Javi ist der totale Widerling.
»Ich will nach Hause!«, brüllt Cole, springt auf und rennt zu Mom. Ich will ihn aufhalten, aber er schlägt einen Haken um mich. »Ich will meine Xbox!«, schreit er Mom mitten ins Gesicht. Sie zuckt zurück, und ich muss dazwischengehen und ihn von ihr wegziehen.
»Cole«, sage ich sanft. »Komm schon. Wir kriegen deine Xbox zurück, okay? Mach dir keine Sorgen.«
Da sieht er mich an, und ich erkenne den verstörten kleinen Jungen, der sich hinter dem wütenden Zwergmonster versteckt. Ich knete seine Schultermuskeln, die hart wie Drahtseile sind, und er entspannt sich ein wenig. Manchmal kann eine Berührung – eine Hand an seinem Rücken oder auf seinem Haar – schon ausreichen, um ihn abzulenken. Diesmal aber funktioniert es nicht. Als ich gerade denke, dass ich ihn runtergeholt habe, reißt er sich von mir los. »Lass mich! Ich hasse dich!«
Verblüfft starre ich ihn an. Was hab ich falsch gemacht?
Über das Feuer konnte ich noch nicht mit ihm sprechen. Als ihn die Cops zu mir brachten, war er wütend und wortkarg, weigerte sich, mir in die Augen zu sehen, und behauptete, er habe den Rauchmelder gehört, sei aus dem Fenster gesprungen und dann weggelaufen, weil er Angst hatte. Er trug aber nicht mehr seinen Schlafanzug, sondern Jeans, Turnschuhe und einen Kapuzenpulli. Auch darauf habe ich Cole nicht angesprochen, aber ich weiß, dass es Franklin ebenfalls nicht entgangen ist.
Hat Cole tatsächlich den Brand gelegt? Die Frage rumort in mir, aber ganz ehrlich: Ich kann nicht darüber nachdenken, jedenfalls nicht jetzt. Wir brauchen ein Dach überm Kopf. Das hat im Augenblick oberste Priorität. Ich rechne kurz nach. Unser Geld reicht vielleicht für ein oder zwei Nächte im Motel. Und dann was? Ich arbeite in einem Coffeeshop und verdiene zehn Dollar die Stunde. Mom bekommt etwas mehr als ich, aber unser gesamtes Geld geht für die Miete und unseren Lebensunterhalt drauf. Wir kommen gerade eben so zurecht. Wir hätten nicht mal genug Geld, um die Kaution für eine neue Wohnung zu bezahlen.
»Und wenn wir es im Heim versuchen?«, sagt Mom und sieht mich an, als ob sie hofft, dass ich die Sache in die Hand nehme.
Ich knirsche mit den Zähnen. Alles, nur nicht das Heim. Nicht mit Cole und Kate. Ich will nicht, dass sie das noch mal durchmachen müssen: die ständige Unsicherheit, das Kommen und Gehen von immer neuen Fremden, die man größtenteils beim besten Willen nicht zum Nachbarn haben will. Meine Mom, dunkelhaarig, zart wie ein Spatz und mit dem Gesicht einer Porzellanpuppe, sieht aus wie ein Teenager. Viele Leute halten uns für Schwestern. Tatsächlich fühle ich mich im Augenblick auch wie ihre ältere Schwester – und wünschte mir so sehr, es wäre anders.
»Was ist mit Romeo?«, fragt Kate plötzlich.
»Oh nein«, murmelt Mom.
»Oh Gott«, sage ich gleichzeitig.
»Wo ist er?«, fragt Cole und klingt dabei fast so besorgt wie Kate.
»Bestimmt geht es ihm gut«, versuche ich, die beiden zu beschwichtigen. »Er ist ein Kater. Kater sind schlau. Wahrscheinlich ist er aus dem Fenster gesprungen.«
»Wir müssen zurück und ihn suchen!«, ruft Kate und springt auf. »Er hat bestimmt Angst. Was, wenn er wegläuft?«
Romeo ist eine Hauskatze. Er geht nie nach draußen, wegen des Verkehrs und all der anderen Gefahren, die in unserem Block lauern, unter anderem zwei Rottweiler und ein Dobermann.
»Wir holen ihn später«, versichere ich Kate, die kurz davor ist, hysterisch zu werden. Tränen strömen ihre Wangen hinab. »Wir holen ihn, okay? Versprochen.« Ich lege den Arm um sie, aber sie schüttelt ihn wütend ab.
Auch Cole mustert mich voller Zorn, und ich sehe etwas durch seinen Blick zucken, das ich noch nie an ihm wahrgenommen habe: Hass. Das Entsetzen trifft mich bis ins Mark. Es muss das Feuer gewesen sein, das ihn so durcheinandergebracht hat. Er sucht jemanden, dem er die Schuld geben kann. Oder liege ich vielleicht falsch, und was ich in seinen Augen erkenne, ist nicht Hass, sondern Schuldbewusstsein? Einen Moment lang sieht es so aus, als würde er gleich losschreien, aber da greift Chrissy ein und reicht ihm die Fernbedienung, was ihn zum Glück gerade noch rechtzeitig ablenkt.
Im selben Moment klingelt Tante Chrissys Telefon. Sie verschwindet im Schlafzimmer, um den Anruf entgegenzunehmen. Ich schiebe mich unauffällig in Richtung Tür und spitze die Ohren, um etwas zu verstehen. Nachdem wir vor einer Stunde hier aufgetaucht sind, habe ich Chrissy meinen Verdacht zugeflüstert, und sie hat ein paar Freunde drüben in Scottsdale angerufen, um herauszufinden, ob mein Vater vielleicht aus dem Gefängnis entlassen wurde.
»Hast du … Was? … Okay …« Chrissys Stimme bricht, und von da an habe ich Gewissheit. Ich spähe durch den Türspalt. Sie steht da, den Hörer ans Ohr gepresst, die andere Hand vor dem Mund. »Oh Gott«, flüstert sie.
Meine Knie geben nach.
Chrissy kommt aus dem Schlafzimmer, ihr Blick fast so schreckerfüllt und ängstlich wie der meiner Mutter. Sie sieht mich an. »Dein Dad ist vorzeitig entlassen worden«, raunt sie mir zu, damit Mom und die Kinder es nicht hören. »Mein Bekannter sagt, er hat ihn in der Stadt gesehen, im Jim and Rob’s. Kennst du die Bar?«
Ich nicke.
Er ist draußen. Mehr kann ich gerade nicht verarbeiten. Warum hat uns keiner informiert?
»Und dann ist er verschwunden«, fährt Chrissy fort. »Es heißt, dass er vor ein paar Tagen die Stadt verlassen hat.«
Es fühlt sich an, als würde mir jemand ein Messer zwischen den Rippen hindurch mitten ins Herz rammen. Er ist draußen. Plötzlich habe ich nur noch sein Gesicht vor Augen – seine hassverzerrten Züge, als er zu mir sagte, dass er mich eines Tages finden und umbringen würde. Das Feuer war kein Unfall. Es war Brandstiftung. Und er war es, der den Brand gelegt hat. Als Warnung, als Drohung, oder auch in der Hoffnung, dass ich dabei draufgehe. Keine Ahnung.
Chrissy umfasst meinen Ellenbogen. »Keine Panik«, flüstert sie.
Ich sehe rüber zu Mom, die am Esstisch sitzt. Ihre Wimperntusche ist durch all die Tränen ganz verlaufen, ihr Gesicht gerötet. Und gleich werde ich ihr mitteilen müssen, dass der Mann, der sie fast totgeprügelt hat, der Mann, gegen den ich ausgesagt habe und der deswegen zu einer achtjährigen Gefängnisstrafe verurteilt wurde, nach nur drei Jahren wieder auf freiem Fuß ist.
»Wie konnte er wissen, wo wir sind?«, frage ich Chrissy mit zitternder Stimme.
Sie schüttelt den Kopf. »Das weiß ich auch nicht.«
Wir haben einen neuen Nachnamen angenommen und sind an einen Ort gezogen, an dem uns niemand kennt, bis auf Chrissy, die Moms Schwester ist. Keiner von uns hat Social-Media-Accounts, mit Ausnahme von Kate, die aber einen falschen Namen nutzt und alle Einstellungen auf privat gesetzt hat. Sie weiß, wie wichtig das ist. Mein Blick schießt zu Chrissys Wohnungstür.
Ich bin so dumm. Wir sind hier nicht sicher.
»Wir müssen gehen«, flüstere ich. Wir müssen raus hier. Sofort.
Cole starrt wie gebannt auf den Fernseher, meine Schwester auf ihr Handy. Wie soll ich ihnen sagen, dass wir nicht in Vegas bleiben können? Dass sie schon wieder ihre Freunde und die Schule und alles, was wir uns hier aufgebaut haben, hinter sich lassen und von vorn anfangen müssen?
Es kostet mich alle Kraft, den Impuls zu bezwingen, einfach abzuhauen. Aber ich kann ohnehin nicht vor meiner Situation weglaufen, erstens, weil ich kein Auto mehr habe, und zweitens, weil ich gar nicht wüsste, wohin.
Mal ganz abgesehen davon, dass ich die anderen nie im Stich lassen würde.
»Ich rufe die Polizei«, sagt Chrissy. »Die werden euch beschützen.«
Doch ich schüttle den Kopf. »Die Polizei? Glaubst du im Ernst, die würden uns helfen?«
Chrissy weicht meinem Blick aus, starrt auf den Boden. Sie weiß, wie ich zur Polizei stehe. Mein Vater war ein Cop. Und die Polizei hat noch nie einen Finger gerührt, um uns zu helfen. Stattdessen hat sie sich schützend vor den Mann aus den eigenen Reihen gestellt. Er musste Mom und mich erst fast umbringen, damit es zur Anklage kam, und selbst das passierte nur, weil ein Nachbar bereit war, als Zeuge auszusagen. Ich vertraue also kein bisschen darauf, dass die Polizei ihre Arbeit macht und uns hilft. Und selbst wenn, würde nicht mehr dabei herauskommen als eine einstweilige Verfügung gegen meinen Vater, die ihn nicht aufhalten wird. So gut kenne ich ihn.
Ich höre ein Geräusch und drehe mich um. Mom hat ihren Stuhl zurückgeschoben und ist aufgestanden. »Er ist draußen, oder?«, fragt sie.
Chrissy sieht mich an, und ich nicke. »Ja.«
Irgendwie gelingt es Mom, sich aufrecht zu halten. Nach einem Augenblick räuspert sie sich. »Dann werde ich mal Will anrufen«, sagt sie.
Ich funkle sie wütend an, aber es bringt nichts, zu diskutieren. Weil wir keine andere Wahl haben.
TRISTAN
»Willst du noch ein Bier?«, fragt Will.
Mitternacht ist schon vorbei, und wenn ich morgen früh vor der Arbeit ins Fitnessstudio will (noch so was, das ich mit Leidenschaft und Hingabe betreibe), muss ich um sechs aufstehen. Trotzdem nicke ich, schließlich sehe ich Will heute zum letzten Mal. In zwei Tagen wird er für die kommenden eineinhalb Jahre in Afghanistan stationiert.
»Aber diesmal geht die Runde auf mich«, erwidere ich und zücke meinen Geldbeutel.
Will und ich sind seit der Grundschule befreundet. Obwohl sich meine Eltern vor acht Jahren scheiden ließen und ich mit meiner Mom von Scottsdale, Arizona, einen Bundesstaat weiter nach Kalifornien gezogen bin, ist der Kontakt nie abgebrochen. Will ist gleich nach der Highschool zu den Marines gegangen, ich nach meinem Collegeabschluss zur Küstenwache. Wann immer Will von einem Einsatz zurückkommt, treffen wir uns auf Bier und Billard, manchmal auch zu dritt mit meinem Kumpel Kit.
Ich bestelle noch zwei Burger, ein alkoholfreies Bier für mich, worüber sich Will kaum mehr einkriegt, und ein weiteres Budweiser für ihn. Er ist schon ein bisschen drüber. Wenn er noch mehr trinkt, werde ich ihn später heimfahren müssen. »Wie geht’s dir damit, dass du nach Afghanistan zurückmusst?«, frage ich.
Er zuckt mit den Achseln. »Bestens. Solange ich am Ende lebendig und mit zwei Armen und Beinen wieder nach Hause komme.«
Er nuckelt an seiner Flasche und wirkt dabei so niedergeschlagen, dass ich ihm am liebsten den Arm um die Schulter legen und ihm sagen würde, dass er sich keine Gedanken machen soll. Dass alles gut wird. Aber ich lasse es bleiben, weil ich weiß, das sind nur leere Worte. Will musste so viele Freunde im Kampf sterben sehen, so viele Kameraden, die versehrt aus dem Einsatz zurückgekehrt sind. Ich mustere ihn aus dem Augenwinkel, wünschte, es gäbe irgendwas, das ich sagen oder tun könnte. Ein Teil von mir fühlt sich immer wie der letzte Feigling, weil ich nur bei der Küstenwache bin und nicht bei den Marines oder der Army. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich jemals an die Front geschickt werde, geht gegen null. Außerdem konnte ich direkt als Offizier einsteigen, weil ich nach dem College auf die Offizierschule gegangen bin. Will dagegen hat sich von ganz unten hochgearbeitet, vom Gefreiten zum Unteroffizier. Und weiter wird er trotz Eignung – er würde einen tollen Offizier abgeben – vermutlich nicht mehr kommen. Für Will ist sein Militärdienst keine Berufschance, sondern eine Gefängnisstrafe. Dieser Einsatz wird sein letzter, danach kann er gehen, und er zählt die Tage, bis er endlich wieder frei ist.
Er stößt mit mir an. »Aufs Überleben«, sagt er.
»Aufs Überleben«, wiederhole ich und bete in Gedanken, dass ich ihn heute nicht zum letzten Mal sehe, nur um mich im nächsten Augenblick dafür zu verfluchen, dass ich überhaupt an so etwas denke. Das bringt Unglück.
Will setzt gerade an, um sein Bier zu exen, da klingelt sein Handy. Als er den Namen auf dem Display sieht, runzelt er die Stirn. »Wer ist dran?«, frage ich.
»Meine Mom«, antwortet er. Ihm ist anzusehen, dass er besorgt ist. Es ist ganz schön spät für einen Anruf von Gina. Er nimmt ab. »Hallo?«
Ich beobachte, wie er stocksteif wird, und plötzlich macht sich ein starkes Unbehagen in mir breit. Wills Gesicht wirkt wie versteinert, als er die Faust auf den Tresen krachen und dann fest geballt dort liegen lässt. »Okay, bin schon auf dem Weg«, sagt er, dann legt er auf.
»Was ist los?«, frage ich.
»Er ist draußen.«
Das kann nur eins bedeuten: Sein Vater wurde aus dem Gefängnis entlassen. »Ich dachte, er wurde zu acht Jahren verurteilt?« Die Neuigkeiten schockieren mich genauso wie Will.
Er schüttelt den Kopf. »Offenbar bedeutet das bei guter Führung nur drei.«
Ich fluche in mich hinein. »Ist mit deiner Mom alles in Ordnung?«
Erneutes Kopfschütteln. Dann stellt Will heftig seine Bierflasche auf dem Tresen ab. »Ich muss los.«
Ich springe auf. »Warum? Was ist passiert?«
»Er hat sie gefunden.«
»Was hat er getan?«
»Zoeys Auto angezündet. Zumindest glauben sie das. Die Flammen sind auf ihre Wohnung übergegangen, es gibt Rauchschäden. Allen geht es so weit gut, aber sie haben kein Dach mehr überm Kopf.« Zum ersten Mal seit dem Anruf sieht er mich an, und für einen Sekundenbruchteil erkenne ich in ihm wieder den kleinen Jungen von früher. Den Jungen, der mein bester Freund wurde, nachdem wir beide losgelaufen sind, um einen Achtklässler davon abzuhalten, den kleinen Randy Meisterburg zu verkloppen. »Ich weiß nicht, was ich jetzt machen soll«, sagt er.
Ich lege ihm den Arm um die Schulter. »Schon okay, wir finden einen Weg.«
Er nickt mir zu, und ich lotse ihn zur Tür. »Komm, wir fahren.«
ZOEY
Will mustert mich immer wieder im Rückspiegel, aber ich weiche seinem Blick konsequent aus und starre aus dem Fenster, hinter dem die Sonne langsam über der Wüste aufgeht und den Himmel blutrot färbt. Cole liegt auf meinem Schoß, er ist sofort eingeschlafen. Ich streiche ihm übers Haar und wünsche mir, er wäre immer so ruhig und friedlich. Kate ist ebenfalls eingeschlafen. Sie hat sich, ihr Handy fest umklammert, auf der Sitzreihe hinter mir zusammengerollt.
Mom sitzt vorn. Will fährt, aber das Auto gehört Tristan. Als Will und er bei Chrissy ankamen, habe ich kaum ein Wort mit den beiden gewechselt, weil ich damit beschäftigt war, Cole und Kate davon zu überzeugen, dass wir gehen müssen. Viel zu sagen habe ich Will ohnehin nicht.
Tristan sitzt neben mir, Coles Beine ragen bis auf seinen Schoß. Ich will ihn befreien, aber Tristan lächelt nur und schüttelt den Kopf. Schon okay, formt er lautlos mit den Lippen.
Ich sehe weg, bin zu verlegen, um ihm in die Augen zu sehen. Früher, als wir noch in Scottsdale wohnten und es richtig schlimm um uns stand, war er ständig bei uns. Er weiß alles über meine Familie, Will hat es ihm erzählt. Und ich glaube, einiges hat er auch mit eigenen Augen gesehen.
Ich weiß noch, wie es mal an meiner Zimmertür klopfte und ich aufmachte, weil ich dachte, es sei Will, der mich weinen gehört hatte. Aber stattdessen stand Tristan draußen. Er sagte kein Wort, kam einfach rein, umarmte mich und hielt mich fest, während ich gegen seine Brust schluchzte. Ich schätze, er muss damals vierzehn gewesen sein und ich elf. Ich weiß nicht mal mehr, worum es eigentlich ging, aber ich weinte so heftig, dass ich kaum Luft bekam und von gewaltigen, erstickten Schluchzern durchgeschüttelt wurde. Ob er sich wohl auch noch an diesen Tag erinnern kann? Wie er mich ablenkte, indem er mir die Handlung von Alien erzählte?
Wieder werfe ich Tristan einen verstohlenen Blick zu. Kaum zu glauben, dass er dieselbe Person ist, die mich damals in die Arme nahm. Er hat sich so verändert, wirkt so erwachsen – in einer Weise, die eine seltsame Befangenheit in mir wachruft, gemischt mit dem Bedürfnis, ihn ständig anzustarren. Als ich ihn zuletzt gesehen habe, war er fünfzehn und schlaksig und unbeholfen und schien nur aus Armen und Beinen zu bestehen. Seine Schultern waren knochig, und er hatte eine Hühnerbrust. Nichts davon ist mehr der Fall: Er ist bestimmt 1,85 groß, und sein Kreuz ist breiter als Wills. Obwohl er die Oberarme gar nicht anspannt, sprengen sie fast seine T-Shirt-Ärmel. Sein Haar ist dunkelbraun wie Wills, und seine Augenfarbe ist echt außergewöhnlich: karamellbraun mit bernsteinfarbenen Sprenkeln.
So durchtrainiert, wie er ist, und so aufrecht, wie er sich hält, könnte er auch ein Marine sein. Trotzdem würde es mich wundern. Tristan war Klassenbester, es war klar, dass er aufs College gehörte. Seine Eltern waren wohlhabend und erfolgreich. Ich glaube, seine Mom arbeitete im Marketing für ein großes Outdoor-Label, und sein Vater war Professor für irgendwas. Wenn also jemand prädestiniert für einen Platz auf einem Elitecollege und eine erfolgreiche Karriere war, dann Tristan. Und dann das Auto, in dem er uns abgeholt hat: ein teurer SUV von Lexus. Jetzt fällt mir auch wieder ein, wie sehr er auf Autos stand. Und auf Baseball. Und dass er mehr Essen in sich reinstopfen konnte, als ich jemals für möglich gehalten hätte. Ich will ihn weiter ansehen, will jede kleine Veränderung an ihm registrieren. Aber er spürt meinen Blick und schaut zu mir rüber. Hastig wende ich mich ab und betrachte die Wüste, die sich endlos in alle Richtungen erstreckt. Jetzt bin ich es, die seinen Blick spürt. Mein Magen krampft sich zu einer kleinen, harten Kugel zusammen, und mein Gesicht glüht vor Hitze. Ich bin hin- und hergerissen zwischen Freude über unser Wiedersehen und Demütigung, weil er uns so sieht. Es ist so was von erniedrigend, seine Hilfe zu brauchen.
»Hast du Hunger?«
Er hält mir einen Proteinriegel hin. Ich schüttle den Kopf, bereue es aber noch im selben Moment. Doch aus irgendeinem Grund habe ich nun mal abgelehnt und kann das jetzt schlecht wieder zurücknehmen. Wahrscheinlich liegt es daran, dass ich nichts mehr von ihm annehmen will. Es reicht schon, dass er nach Vegas gekommen ist und wir jetzt in seinem Wagen alle zusammen die ganze Strecke zurück Richtung San Diego fahren, wo er wohnt und einen Unterschlupf für uns gefunden hat.
»Sicher?«, fragt er. »Zwölf Erdnüsse, drei Eier und zwei Datteln sind gestorben, damit dieser Riegel leben kann. Und er schmeckt genial.«
Ich sehe ihn an, und er wirft mir ein schiefes Lächeln zu, durch das ein tiefes Grübchen in seiner linken Wange zum Vorschein kommt. Der Anblick löst eine neue Erinnerung aus: daran, wie er immer versuchte, alle zum Lachen zu bringen. Wie er Witze riss und sich zum Deppen machte, egal was, Hauptsache, er erntete zumindest ein Lächeln. Ich weiß, dass er genau das auch jetzt versucht, aber mir ist einfach nicht nach Lachen zumute.
»Danke, ich brauche nichts«, sage ich, und er gibt sich geschlagen und legt den Proteinriegel auf die Mittelkonsole zwischen den Vordersitzen.
»Vielleicht bekommst du ja später doch Hunger«, erklärt er.
Ich blicke aus dem Fenster auf die Berge, die sich in der Ferne abzeichnen, und kämpfe gegen die Tränen an. Wie kann es sein, dass wir schon wieder auf der Flucht sind, mit nichts als den Kleidern, die wir am Leib tragen? Ich weiß noch nicht mal, wo genau wir hinfahren, geschweige denn, wovon wir leben sollen, wenn wir erst mal dort sind. All die Dinge, um die ich mich kümmern muss, fallen mir ein: im Coffeeshop kündigen und in Coles und Kates Schulen Bescheid geben, dass die beiden nicht wiederkommen. Telefon, Strom, Wasser, Gas kündigen, und …
»Es wird euch gefallen«, sagt Tristan.
Ich wische die Träne weg, die mir über die Wange rollt, und sehe ihn wieder an.
»Oceanside, meine ich«, erklärt er, »das Städtchen, in dem ich wohne. Es fällt einem leicht, sich dort wohlzufühlen.«
Ich weiß, dass er mich nur aufmuntern will, aber selbst wenn er mir erzählen würde, dass wir in einer Villa auf Hawaii oder einem Luxuspenthouse in New York wohnen werden, bekäme ich im Augenblick kein Lächeln zustande. Weil Tristan eines nicht weiß: Er könnte uns ans andere Ende der Welt, an den sichersten Ort auf der Erde, meinetwegen sogar auf den Mars verfrachten … und trotzdem würde mein Vater uns finden. Und was dann? Vielleicht wäre es besser gewesen, einfach gleich in Las Vegas zu bleiben, in unserem nach Rauch stinkenden, verrußten Haus ohne Fenster und Tür. Zumindest hätten wir dort gewusst, dass wir nicht länger davonzulaufen brauchen, weil der große Knall unmittelbar bevorsteht. Jetzt werde ich die ganze Zeit in Alarmbereitschaft sein, weil ich nicht weiß, wann der nächste Schlag kommt.
»Mein Vermieter hat noch eine Wohnung frei«, fährt Tristan fort. »Direkt gegenüber von meiner. Das Paar, das bisher dort gewohnt hat, ist gerade erst ausgezogen. Die Wohnung ist klein, aber schön.«
Gegenüber von ihm? Dann wird er bei dir sein, flüstert eine Stimme in meinem Kopf. Ganz nah bei dir. Ich müsste lügen, wenn ich behaupten würde, dass ich die Vorstellung nicht irgendwie beruhigend finde.
Nach einem Weilchen wage ich einen erneuten verstohlenen Blick in Tristans Richtung.
»Liegt die Wohnung nah beim Strand?«, frage ich.
Tristan grinst mich an. »Jupp, direkt am Wasser. Bei offenem Fenster kann man das Meeresrauschen hören.«
Wow. In Anbetracht der Umstände fühlt es sich falsch an, zu lächeln. Aber als ich Tristan direkt ansehe und mich endlich traue, seinem Blick zu begegnen, kann ich einfach nicht anders.
TRISTAN
Zoey hat sich an die Tür gelehnt, im Schlaf ist ihre Stirn leicht gerunzelt. Sie drückt Cole fest an sich, als ob sie Angst hat, dass er verschwinden könnte, während sie sich ausruht. Ich bin mir nicht sicher, ob es richtig ist, sie aufzuwecken, aber am Ende tippe ich ihr doch ganz vorsichtig gegen die Schulter. Sie fährt erschrocken hoch, sinkt aber sofort wieder gegen die Autotür. Für einen Sekundenbruchteil flackert Angst durch ihren Blick, dann erinnert sie sich, wo sie ist, und beruhigt sich wieder.
»Wir sind da«, sage ich.
Sie blickt aus dem Fenster, reibt sich die Augen. Dann rüttelt sie sanft Cole wach. »Wir sind da«, wiederholt sie leise.
Cole regt sich, und ich mache mich auf einen seiner berüchtigten Ausbrüche gefasst. Der Junge ist nicht gerade einfach, wobei Zoey noch am besten mit ihm zurechtzukommen scheint. Vielleicht ist sie auch einfach die Einzige in der Familie, die es überhaupt versucht. Ihre Mom scheint aufgegeben zu haben, was mich allerdings wenig überrascht.
Zoey sieht aus wie ihre Mutter – die gleichen haselnussbraunen, mandelförmigen Augen, die gleichen braunen Locken. Die gleiche makellose Haut, nur dass ihre übersät ist mit Sommersprossen. Zoey ist größer als ihre Mom, aber genauso schlank. Mehr lässt sich von ihrer Figur nicht erkennen, erstens, weil sie so weite Sachen trägt, und zweitens, weil ich mir Mühe gebe, nicht hinzusehen. Große Mühe sogar.
Ich war nicht einfach überrascht, als ich sie wiedergesehen habe – es hat mich total aus den Latschen gehauen. Keine Ahnung wieso, aber ich bin einfach davon ausgegangen, dass sie immer noch genauso aussieht wie vor sechs Jahren, als ich ihr das letzte Mal begegnet bin. Damals war sie ein mageres, kleines Ding voller Sommersprossen. Aber stattdessen stand ich vorhin in der Wohnung ihrer Tante vor einem Mädchen, das so atemberaubend ist, dass es mir … na ja, eben den Atem geraubt hat.
Ich kann nicht aufhören, ihr auf die Lippen zu starren, und auf die süße kleine Lücke zwischen ihren Schneidezähnen, die sich leider nur selten zeigt, weil Zoey kaum lächelt.
Kate, die bisher nicht ein einziges Mal aus dem Fenster geblickt hat, um ihr neues Zuhause zu begutachten, ähnelt mit ihrer blassen Haut und dem rotbraunen Haar, das nach der langen Nacht im Auto ganz zerzaust ist, eher ihrem Dad. »Haben sie ihn schon gefunden?«, fragt Kate mich jetzt.
Es bricht mir fast das Herz, den leisen Hauch von Hoffnung in ihrer Stimme zunichtemachen zu müssen.
Sie spricht von ihrem Kater, den sie in Las Vegas zurücklassen mussten. Als Will und ich gestern Nacht bei ihrer Tante eintrafen, schluchzte Kate hysterisch um Romeo, und die Tränenspuren auf ihren Wangen sind immer noch zu sehen.
»Gehört habe ich noch nichts«, erwidere ich. Ich habe gestern Abend noch bei der Feuerwehr Bescheid gegeben, dass sie nach dem Kater suchen sollen, und warte seitdem auf Rückmeldung. »Sobald ich mehr weiß, erfährst du es als Erste, versprochen.«
Dann steigen wir aus, gähnen, strecken uns.
Kate sieht sich mit finsterer Miene um, und Cole reibt sich die Augen. »Wo sind wir hier?«, blafft er und stiert wütend auf die Wohnanlage, vor der wir stehen.
»Ihr werdet eine Zeit lang hier wohnen«, antworte ich und werfe einen Blick auf die Uhr. Der Vermieter Robert meinte, dass er gegen zwei herkommt, um seine neuen Mieter kennenzulernen. Ich habe ihm die Situation bereits geschildert, nachdem ich ihn um ein Uhr nachts mit meinem Anruf aus dem Schlaf gerissen hatte, um ihn zu bitten, Wills Familie die Wohnung zu überlassen, die er eigentlich renovieren wollte. Anfangs war er zwar nicht gerade begeistert, aber Robert ist einer von den Guten, und sobald ich ihm erklärte, dass sie auf der Flucht vor dem gewalttätigen Vater sind, hat er sich einverstanden erklärt. Außerdem hab ich ihm die Sache noch ein bisschen schmackhaft gemacht und ihm angeboten, später bei der Renovierung zu helfen, wenn er ihnen die Wohnung für sechs Monate überlässt. Das müsste reichen, damit sie wieder auf die Beine kommen.
Ich werfe Zoeys Mom Gina einen Blick zu und frage mich, ob die Entscheidung richtig war. Sie wirkt wie ein Kind, das sich verlaufen hat, Will muss ihr den Arm um die Schulter legen und sie in Richtung Tür lotsen.
Die Wohnanlage besteht aus acht Apartments. In ihrem Gebäude sind vier Wohnungen untergebracht, und gegenüber stehen zwei weitere Häuser mit jeweils zwei Wohneinheiten. Zusammen bildet die Anlage ein kleines u, dessen offene Seite zur Straße hinausgeht. Die Wohnung, die Zoeys Familie bekommt, liegt im ersten Stock, meine in einem der Häuser gegenüber im Erdgeschoss.
»Der Schlüssel befindet sich in einem kleinen Safe«, erkläre ich Will, während wir im Gänsemarsch die Treppe hochlaufen. Ich nenne ihm die Zahlenkombination, und er schließt auf.
Cole drängelt vor und sieht sich um. »Wo ist der Fernseher?«, lautet seine erste Frage.
Zoey verzieht peinlich berührt das Gesicht und weist ihn sanft zurecht.
»Ich glaube nicht, dass es hier einen Fernseher gibt, Cole. Aber ich schaue mal, was sich machen lässt, ja?«, biete ich an.
Zoey wirft mir einen Blick zu, ihre Lippen sind zu einem schmalen Strich verzogen – mehr lässt sie von ihrer Verärgerung nicht durchblitzen. »Das brauchst du nicht.«
»Ach, ist doch kein Problem«, versichere ich ihr.
Will hat seine Mom an den kleinen Resopaltisch im Küchenbereich gesetzt. Ich trete ans Fenster und ziehe die Vorhänge auf. »Schaut mal, von hier aus könnt ihr das Meer sehen.«
Cole kommt angerannt, bremst schliddernd neben mir ab und schaut mit weit aufgerissenen Augen auf den glitzernden blauen Streifen in der Ferne.
Es ist das erste Mal, dass ich ihn sprachlos erlebe. Auch Kate lässt ihr Handy sinken und kommt zum Fenster, um sich den Ausblick anzusehen. Ich bilde mir ein, dass ihr dauerfinsterer Gesichtsausdruck gerade ein winziges bisschen weicher geworden ist, aber ich könnte mich auch irren. Dann sehe ich Zoey an, die neben mir steht, so nah, dass sich beinahe unsere Arme berühren. Es wirkt so, als ob sie eine Träne wegblinzelt. »Alles in Ordnung?«, frage ich ganz leise.
Sie wirft einen kurzen Blick in meine Richtung, dann deutet sie auf die Wohnung. »Ich … also … Ich glaube nicht, dass wir uns … dass wir uns das leisten können.« Röte kriecht ihre Wangen hinauf.