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Mit ihrem Mann und ihren zwei bildhübschen Töchtern führt Ava ein beneidenswertes Leben. Bis zu einer grauenvollen Nacht, als zwei Maskierte in ihre Villa eindringen und sie und ihre Tochter June bedrohen. Schüsse fallen – und Ava wacht später schwer verletzt im Krankenhaus auf. Sie muss erfahren, dass die 12-jährige June im Koma liegt, doch damit beginnt der Albtraum erst. Denn Ava und ihre Familie sind nicht zufällig Opfer eines Verbrechens geworden. Um die Menschen, die sie liebt, zu schützen, muss Ava herausfinden, was in der Nacht des Überfalls wirklich geschah. Nur wem kann sie vertrauen, wenn sie selbst ein Geheimnis verbirgt?
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Seitenzahl: 411
Buch
Nach außen hin führt Ava ein beneidenswert perfektes Leben: liebevoller Ehemann, zwei bildschöne Töchter, eine hübsche Villa in einer Kleinstadt. Bis zu einer grauenvollen Nacht, als zwei Maskierte in ihr Haus eindringen und sie und ihre Tochter June bedrohen. Schüsse fallen – und Ava wacht später schwer verletzt im Krankenhaus auf. Mit Entsetzen muss sie erfahren, dass die 12-jährige June im Koma liegt, doch damit beginnt der Albtraum erst. Denn Ava und ihre Familie sind nicht zufällig Opfer eines Verbrechens geworden. Doch wer hegt gegen sie einen solchen Hass, dass er ihren Tod will? Während die Polizei im Dunkeln tappt, bleibt Ava keine andere Wahl, als selbst herauszufinden, was in der Nacht des Überfalls wirklich geschah. Nur, wem kann sie vertrauen, wenn sie selbst ein Geheimnis verbirgt?
Weitere Informationen zu Sarah Aldersonsowie zu lieferbaren Titeln der Autorinfinden Sie am Ende des Buches.
Sarah Alderson
Meine liebe Familie
Thriller
Aus dem Englischenvon Claudia Franz
Die englische Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel »In Her Eyes« bei Mullholland Books, an imprint of Hodder & Stoughton, an Hachette UK company, London.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Deutsche Erstveröffentlichung Mai 2020
Copyright © der Originalausgabe by Sarah Alderson 2019
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2020
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München
Umschlagmotive: Karina Vegas/arcangel images; FinePic®, München
Redaktion: Annekatrin Heuer
KS · Herstellung: kw
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN: 978-3-641-24525-2V001
www.goldmann-verlag.de
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Für Theo und Clarissa
Tag 1
Ein Vorschlaghammer knallt gegen meine Brust. Rippen splittern. Im nächsten Moment flammt Schmerz in meinem Körper auf.
»Ava!« Jemand ruft meinen Namen, wieder und wieder, aber ich kann niemanden erkennen. Der Nebel verdichtet sich, verschluckt sämtliches Licht. Kalte, knöcherne Finger legen sich um meine Kehle, gleiten über meinen Mund, pressen mir die Lippen zusammen – und ich gerate in Panik. Ich bekomme keine Luft mehr. Aber je heftiger ich mich wehre, desto unerbittlicher wird der Griff. Was geht hier vor? Wo bin ich? Wo ist June?
June. Als ihr Name vor mir aufblitzt, schnappe ich danach und klammere mich daran fest, als sei er ein Licht, das mir den Weg aus dem Nebel weist. June. Nicht nur ein Name oder ein Gefühl von Sommer. Auch ein Gesicht: dunkles Haar, tiefblaue Augen, mit Sommersprossen übersäte Wangen. Eine ist auf der Lippe gelandet und sieht wie ein Schokostreusel aus. Sie lächelt. Sie lächelt immer. Als ich nach ihr greife, verschwindet sie. Ich will ihren Namen rufen, doch ich kann den Mund nicht öffnen. Grauen steigt in mir auf. Ich muss sie unbedingt zu fassen bekommen. Ich versuche mich zu befreien – mit jedem Gramm Kraft, das mir noch bleibt, trete und schlage ich um mich, zwecklos.
Plötzlich beschleicht mich eine Ahnung: Sie ist tot. Wenn das stimmt, möchte ich es auch sein. Ich höre auf zu kämpfen und lasse den Nebel in meine Ohren dringen. Er dämpft jedes Geräusch und jagt mir seine Fäuste in die Augen, bis ich erblinde. Die Dunkelheit um mich herum ist so undurchdringlich, dass ich das Gefühl habe, in Blei zu schwimmen. In freiem Fall sinke ich auf den Grund des Ozeans.
Dankbar füge ich mich.
Tag 1: Zuvor
»Eine Affäre?«
Laurie reicht mir die Olive aus ihrem Martini und nickt.
»Du denkst wirklich, Dave hat eine Affäre?« Verwundert schüttele ich den Kopf. Das glaube ich keine Sekunde lang. Der Gedanke ist absurd. Eher würde ich vermuten, dass er der Große Hexenmeister des Ku-Klux-Klans ist.
Laurie stürzt ihren Martini in einem Zug hinunter. »Er weicht mir schon seit Monaten aus, arbeitet bis spät abends und verweigert sich jedem Gespräch.«
»Das ist ja mal was ganz Neues«, spotte ich, merke aber sofort, dass ich nicht nonchalant über die Sache hinweggehen sollte. Laurie ist todernst. Ich strecke den Arm aus und nehme ihre Hand. »Entschuldigung. Es fällt mir nur schwer, mir das vorzustellen.«
Meine Freundin ringt sich ein angespanntes Lächeln ab und bedeutet dem Kellner, ihr noch einen Martini zu bringen.
Jetzt begreife ich auch, warum sie den Tränen nahe schien, als sie mich anrief und um das Treffen bat. Eigentlich war ich mit Robert zum Dinner verabredet. Er hatte vollkommen überraschend unseren Hochzeitstag feiern wollen (wobei er zugeben musste, dass Hannah ihn daran erinnert hatte), und da seine letzte Einladung bestimmt dreihundert Jahre zurücklag, hatte ich mich richtig darauf gefreut. Er war nicht sehr glücklich, als ich das Essen verschob. Laurie hat mir aber schon so oft zur Seite gestanden, dass ich mich in dieser Stunde der Not nicht aus der Verantwortung stehlen konnte.
»Hast du denn Beweise?«, frage ich Laurie, immer noch skeptisch.
»Was meinst du damit? Lippenstift am Kragen? Kreditkartenbelege für ein Motel 8?« Sie schüttelt den Kopf. »Nein. Ich weiß einfach, dass da irgendetwas läuft.«
Ich trinke einen großen Schluck von meinem Wein und versuche, Lauries Verdacht ernst zu nehmen, aber es gelingt mir nicht. Dave ist Dave. Wenn die Antwort bei einer Spielshow »abhängig« lauten würde, dann müsste die Frage dazu lauten: »Was ist Dave?« Laurie und er sind nun schon fünfzehn Jahre zusammen. Ich war Brautjungfer bei ihrer Hochzeit und bin Patentante ihres Sohns Cory, der gerade aufs College gekommen ist.
Bei vielen Ehemännern meiner Freundinnen würde ich darauf wetten, dass sie nichts anbrennen lassen – in einer kleinen Stadt wie der unseren fliegen die Gerüchte wie die geflügelten Affen aus dem »Zauberer von Oz« durch die Gegend –, aber nicht Dave. Niemals. Zwei Jahre hat er gebraucht, um all seinen Mut zusammenzunehmen und Laurie zu fragen, ob sie mit ihm ausgehen würde. Und selbst dann musste er Robert und mich dazubitten, weil er Angst hatte, vor Nervosität kein Wort herauszubringen.
»Bist du sicher, dass du keine voreiligen Schlüsse ziehst?«, frage ich Laurie. »Das klingt gar nicht nach dem Dave, den ich kenne.«
Sie schnaubt. »Wie gut kennt man einen Menschen schon?«, kontert sie und zieht eine Augenbraue hoch.
Der Satz ist eine Überlegung wert.
»Er ist wie verwandelt«, fährt Laurie fort. »Plötzlich nimmt er sich Zeit für sich. Morgens steht er immer in aller Herrgottsfrühe auf und macht diese komische Sieben-Minuten-Gymnastik.«
Ich schaue sie irritiert an.
»Siri brüllt Befehle, und du machst Hampelmänner«, erläutert meine Freundin. »Das ist so eine Art Midlife-Crisis-App, mit der sich irgendjemand in der Welt eine goldene Nase verdient.« Sie wirft mir einen schnellen Blick zu, als sei ihr der Kommentar peinlich, dann tut sie es mit einem Achselzucken ab und fährt fort: »Und kürzlich fand ich all diese Fläschchen im Badezimmerschrank – lauter Pillen und Öle und Salben.«
»Pillen?«, wiederhole ich.
Sie tippt sich an den Kopf, und ich denke unwillkürlich an Antidepressiva. Dave hat früher schon welche genommen, das weiß ich, aber wer tut das nicht heutzutage? Die Ärzte werfen damit um sich wie mit Bonbons.
»Wegen der Haare«, stellt Laurie richtig. »Um ihr Wachstum anzuregen. Wir sind pleite, doch er leistet sich Schlangenöl, damit die Haare wieder sprießen. Dabei hat er seit Ewigkeiten eine Glatze, Ava. Eine Billardkugel ist nichts dagegen.«
Ich verkneife mir ein Lächeln, während der Kellner meiner Freundin einen weiteren Martini hinstellt.
»Was hast du denn gedacht, als ich von Pillen sprach?«, hakt Laurie nach und sieht mich über den Rand ihres Glases hinweg an. »Dass er Viagra nimmt?«
Unverbindlich zucke ich die Schultern.
»Darüber wäre ich sogar froh!«, faucht Laurie. »Ich kann mich nicht einmal erinnern, wann wir zum letzten Mal Sex hatten. An meinem Geburtstag wahrscheinlich. Wie lange ist das her? Sechs Monate? Und glaub mir, um die Kerzen auf meinem Geburtstagskuchen auszublasen, habe ich mich mehr verausgaben müssen. Und auch der Kuchen war besser, obwohl er vegan war. Denk doch mal nach.«
Ich trinke einen Schluck Wein und versuche, nicht darüber nachzudenken. Stattdessen wandern meine Gedanken zu Robert. Wann hatten wir das letzte Mal Sex? Letzte Woche? Nein, letzten Monat. Genau. Nach Junes Schulaufführung. Und er war ziemlich gut, definitiv besser als Kuchen, vegan oder sonst wie. Er war immer gut, wenn auch in letzter Zeit etwas sporadisch. Andererseits sind wir auch schon zweiundzwanzig Jahre zusammen, seit ich eine naive Neunzehnjährige war, daher ist es vermutlich keine große Überraschung, dass unser Sexleben auf dem absteigenden Ast ist. Die Tatsache, dass wir noch zusammen sind, Sex haben, wie selten auch immer, und uns nicht auf den Tod hassen, kommt mir wie eine Erfolgsgeschichte vor – wenn man bedenkt, wie viele Ehen unserer Freunde in der Gosse und dann vor dem Scheidungsrichter gelandet sind. Abgesehen davon verliert das Sexualleben mit Erreichen des vierzigsten Lebensjahrs sowieso an Bedeutung.
Ich lenke meine Aufmerksamkeit wieder auf Laurie. »Gut. Dave bringt sich also in Form. Wieso sollte das bedeuten, dass er eine Affäre hat? Vielleicht möchte er einfach nur mit dir mithalten können.«
Laurie ist einundvierzig, wie ich. Sie hat pechschwarze Haare und ein kantiges Gesicht, das die meisten Menschen als eindrucksvoll, wenn nicht gar als schön bezeichnen würden. Sie ist groß und schlank und hat nie in ihrem Leben Sport treiben müssen, um ihr Gewicht zu halten, was man von mir nicht behaupten kann. Ich muss härter dafür ackern als Beyoncé bei der Super-Bowl-Show und werde trotzdem nie wieder so aussehen wie vor der Geburt meiner Kinder. Von dieser Vorstellung kann ich mich verabschieden, wie von Millionen anderen auch.
Laurie stürzt den halben Martini hinunter und stellt das Glas ab. »Neulich habe ich ihn im Badezimmer belauscht. Er meinte wohl, ich schlafe. Ich bin aufgestanden, weil ich pinkeln musste, und höre ihn im Bad in sein Handy flüstern. Er sagte, er werde da sein, das verspreche er. Er müsse nur noch einen Weg finden, damit ich nicht dahinterkomme.«
»Vielleicht hat er eine Überraschung für deinen Geburtstag organisiert.«
Laurie blickt mich finster an. »Um drei Uhr morgens?«
Da hat sie nicht ganz unrecht … aber dennoch. »Warum hast du ihn nicht einfach zur Rede gestellt?«
»Hab ich doch.«
»Und?«
»Angeblich hatte sich jemand verwählt. Um drei Uhr morgens. Für wie bescheuert hält der Mann mich? Am nächsten Tag habe ich sein Handy kontrolliert.«
»Und?«
»Er hatte die Anrufliste gelöscht. Wer tut denn so etwas? Nur ein Mann mit einem schlechten Gewissen, klarer Fall.«
Laurie beugt sich näher zu mir und schaut sich verstohlen in der Bar um. Wir leben in einer kleinen Stadt, wo jeder jeden kennt, aber mitten in der Woche ist es im The Oak halb leer, also besteht keine Gefahr. »Ich nehme an, es ist jemand von der Arbeit«, sagt sie. »Wenn er nach Hause kommt, riecht er oft nach Parfüm. Und zwar nach einem billigen, aufdringlichen, so wie es eine Stripperin in Las Vegas tragen würde.«
Ich lehne mich zurück und mustere meine Freundin. Ist das Lauries Ernst? Dave ist der Geschäftsführer einer Weinstube hier in der Stadt. Ich weiß, dass dort ein paar jüngere Frauen arbeiten, Hipster aus L.A., die in den Norden gezogen sind, in unser kleines idyllisches Tal. Sie kleiden sich wie in »Unsere kleine Farm«, aber ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass Dave eine von ihnen verführt haben soll. Nicht dass Dave nicht attraktiv wäre – er hat einen wunderbar komischen Humor –, aber Brad Pitt ist er nicht gerade. Eher William H. Macy.
Laurie stochert in ihrem Glas nach der widerspenstigen Olive, immer wilder und ungehaltener. »Ich habe schon daran gedacht, einen Privatdetektiv anzuheuern.«
Ich verschlucke mich fast an meinem Wein. »Im Ernst?«, frage ich ungläubig. Es klingt zu sehr nach film noir; Menschen im normalen Leben tun so etwas nicht.
Doch meine Freundin lächelt keineswegs. »Absolut.« Wieder sticht sie nach der Olive, dieses Mal derart heftig, dass das Paprikaherz herausflutscht. »Leider kann ich mir keinen leisten«, erklärt sie mit einem Seufzer.
Meine Wangen werden heiß, und ich trinke noch einen Schluck Wein. Geld ist ein heikles Thema, und ich meide es tunlichst, wenn ich mit Laurie zusammen bin. Mir ist bewusst, dass Dave und sie mit finanziellen Problemen zu kämpfen haben, aber ich habe meine Lektion gelernt. Nicht dass ich ihr jemals anbieten würde, einen Privatdetektiv für sie zu bezahlen, denn ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass Dave sie betrügt. Lauries Beweis ist nicht gerade das, was ein Strafverfolger als hieb- und stichfest bezeichnen würde.
Laurie gleitet von ihrem Barhocker herunter und begibt sich leicht wankend zur Toilette. Ich bitte den Kellner, uns zwei Gläser Wasser zu bringen. Während ich auf Laurie warte, denke ich über ihre Bemerkung nach. Darüber, dass man einen Menschen nie richtig kennt. Stimmt das? Nein. Ich würde es ohne jeden Schatten eines Zweifels wissen, wenn Robert eine Affäre hätte – wobei mir durchaus bewusst ist, dass ich nur die Worte der unzähligen Frauen nachplappere, die in der Weltgeschichte schon betrogen wurden.
Aber in Roberts Leben ist kaum Platz für die Kinder und mich, wie sollte er da Zeit für eine Affäre haben? Er schließt sich jeden Tag in seinem Arbeitszimmer ein, taucht abends wie ein Vampir daraus hervor, um mit uns zu essen, und kehrt dann wieder zurück, um bis in die Nacht weiterzuarbeiten. Wenn Robert also nicht zufällig den ganzen Tag Pornos schaut … Ich muss lachen, aber dann halte ich inne, weil mir ein Artikel über einen pornosüchtigen Mann einfällt, den ich mal gelesen habe. Er hatte sein Haus belastet und war in den Bankrott geschlittert, um für Mädchen zahlen zu können – und zwar nicht einmal für echte aus Fleisch und Blut, sondern für solche, die sich vor einer Kamera zur Schau stellen, was mir wie eine gewaltige Geldverschwendung vorkam. Seine Frau fand es schließlich heraus, als sie auf seinem Computer ihre E-Mails kontrollieren wollte und stattdessen auf eine riesige enthaarte Vagina stieß. Bei der Lektüre des Artikels habe ich unwillkürlich die Augen verdrehen müssen, weil die Frau so blöd war, nicht mitzubekommen, was direkt vor ihrer Nase geschah. So blöd kann man doch gar nicht sein. Ich bin mir sicher, dass ich es wüsste, wenn Robert eine Affäre hätte.
Allerdings hätte ich meine Zweifel, ob er das auch über mich sagen könnte. Seit June vor sechs Jahren die Krebsdiagnose erhielt, hat sich Robert immer stärker zurückgezogen und das Interesse an den Vorgängen um sich herum verloren. Es ist, als würde er der wirklichen Welt nicht mehr trauen und sich lieber in das Universum der Binärzahlen zurückziehen, eine virtuelle Realität ohne Überraschungen, Ungewissheiten und Teppiche, die einem unter den Füßen weggezogen werden können.
Zurzeit arbeitet Robert an einer Welterschaffungs-App für Kinder. Ich scherze manchmal darüber und sage dann, in diesem Kosmos kann er gleichzeitig Architekt und Gott spielen. Die Beschäftigung damit nimmt ihn derart gefangen, dass ich direkt vor seinem Arbeitszimmer mit Javier, dem Gärtner, wilden Sex haben könnte, ohne dass Robert es merken würde. Nicht dass ich das vorhabe. Javier ist schon über sechzig und hat Hände wie rostige Schaufeln.
In meiner Tasche klingelt das Handy. Ich hole es heraus. Es ist June. Als ich mich melde, verspüre ich diese nagende Angst, wie immer, wenn ich an sie denke. »Hallo, mein Schatz«, sage ich.
»Mom«, platzt es aus June heraus. »Ich bin krank.«
»O Gott, was ist denn los?«, frage ich und schaue mich sofort um, weil ich den Kellner um die Rechnung bitten will.
»Ich habe das Gefühl, dass ich etwas ausbrüte. Mir tut der Kopf weh, und ich fühle mich ein bisschen fiebrig.«
Laurie taucht wieder auf und bahnt sich zwischen den Tischen einen Weg in meine Richtung. Sie winkt dem Kellner und hält einen Finger hoch. Noch einen Martini. Verdammt.
»Hast du versucht, deinen Vater zu erreichen?«, frage ich.
»Der geht nicht ran«, antwortet June. Ich höre den Seufzer in ihrer Stimme.
Mich packt die Wut. Vermutlich sitzt er zu Hause vor seinem Computer und hat das Handy ausgeschaltet. Es ist immer dasselbe mit ihm. Beide Male, als bei mir die Wehen einsetzten, hat Laurie mich zum Krankenhaus fahren müssen.
»Okay, bin schon unterwegs«, sage ich zu June im selben Moment, als Laurie mir gegenüber Platz nimmt. Sie blickt mich mit gerunzelter Stirn an. June, bedeute ich ihr stumm und zeige auf mein Handy.
»Danke, Mom«, erwidert June und legt auf.
»Es geht ihr nicht gut«, erkläre ich Laurie. »Ich habe versprochen, sie abzuholen. Eigentlich wollte sie bei einer Freundin übernachten.«
Das Lächeln, das Laurie mir schenkt, kann ihre Enttäuschung nicht verbergen. Ich schiebe dem Kellner meine Kreditkarte hin und hoffe, dass Laurie zu betrunken ist, um es zu bemerken.
»Tut mir leid«, füge ich hinzu, als ich von meinem Barhocker steige. »Das ist wirklich ein blöder Moment. Wie wär’s, wenn wir morgen weiterreden? Beim Brunch?«
»Morgen früh muss ich mich in die Arbeit stürzen«, lallt Laurie. Das hatte ich ganz vergessen. Sie ist Lehrerin und verbringt die meisten Sonntage damit, die kommende Woche vorzubereiten. »In die Arbeit«, betont sie noch einmal und nimmt ihre Tasche von der Stuhllehne. »Manche Menschen können es sich nicht leisten, einen Bogen darum zu machen.«
Ich unterschreibe den Kreditkartenbeleg und nehme meine Quittung entgegen. Währenddessen werfe ich Laurie einen Seitenblick zu. Die spitze Bemerkung, die ich auf ihren angetrunkenen Zustand schiebe, ignoriere ich lieber. Dann hake ich mich bei ihr unter und führe sie nach draußen auf den Parkplatz.
»Ich glaube, ich muss etwas essen«, verkündet sie, legt eine Hand auf den Bauch und schluckt unbehaglich. »Musst du June sofort abholen? Können wir nicht vorher noch einen Happen zu uns nehmen?«
Ich schüttele den Kopf. »Nein, tut mir leid.«
Laurie schürzt die Lippen, als würde jemand das Band eines Zugbeutels zusammenziehen. Natürlich bemängelt sie, dass ich immer renne, wenn die Kinder rufen, aber ich kann nicht anders, besonders nicht bei June. Es wurmt mich, dass Laurie mich das überhaupt spüren lässt. Ich hole meinen Autoschlüssel heraus. »Komm, ich bringe dich nach Hause.«
Widerstrebend klettert sie auf den Beifahrersitz, und ich beobachte, wie sie sich heimlich umschaut. Der Wagen ist nagelneu und strömt immer noch diesen chemischen Geruch aus – der einem, wie Robert spaßeshalber erklärte, noch stärker die Tränen in die Augen treibt als der Kaufpreis des Wagens. Als ich auf den Startknopf drücke und am Armaturenbrett wie bei einem Raumschiff die Lichter aufleuchten, bemerke ich, dass Laurie die Augenbrauen hebt, und warte auf einen Kommentar. Es kommt aber nichts, daher schalte ich schnell auf Drive und lenke den Wagen auf die Straße.
Laurie klappt die Sonnenblende herunter und betrachtet sich im Spiegel. Der Anblick entlockt ihr ein leises Stöhnen, dann reibt sie an ihrem verschmierten Lippenstift herum.
»Danke für den Hinweis, dass ich wie eine billige Nutte aussehe«, meint sie scherzhaft und klappt die Sonnenblende wieder hoch. »Wie spät ist es?«
»Halb elf.«
»Warum kommst du nicht hinterher zu mir?«, bietet sie an. »Bring June einfach mit. Wir könnten Pizza bestellen und einen Film ansehen. Auf Netflix läuft dieser neue Film mit Jennifer Aniston.«
Ich schüttele den Kopf. »Ich denke, ich sollte sie schnell ins Bett bringen. Sie klang am Telefon wirklich ziemlich krank.« Noch als ich das sage, bin ich mir nicht ganz sicher. Klang June krank? Vielleicht hat sie sich nur mit Abby gestritten und brauchte einen Vorwand, um sich verabschieden zu können. Ihr ist klar, dass sie bei mir nur die Krankheitskarte ausspielen muss und ich alles stehen und liegen lasse. Vielleicht hat mir Laurie diesen verkniffenen Blick nicht ganz zu Unrecht zugeworfen.
Schweigend fahren wir weiter, bis wir schließlich Lauries Haus erreichen, einen kleinen Craftsman-Bungalow im Osten der Stadt. Kein Licht brennt, und auch Daves Wagen steht nicht in der Einfahrt. Laurie runzelt die Stirn. »Wo ist er denn? Er sagte doch, er sei zu Hause.«
»Vielleicht arbeitet er heute länger.«
Laurie steigt wortlos aus und holt das Handy aus der Tasche.
»Melde dich morgen mal!«, rufe ich ihr hinterher. »Lass uns eine Wanderung machen oder so. Falls du nicht allzu viel zu tun hast«, füge ich hinzu, da mir wieder einfällt, dass sie ja arbeiten muss.
Laurie hört gar nicht zu. Sie wählt eine Nummer, vermutlich die von Dave. »Gute Nacht«, erwidert sie, knallt die Tür zu und eilt den Vorweg hoch.
Auf eine Eingebung hin wende ich den Wagen und beschließe, auf dem Weg zu June an dem Weinlokal vorbeizufahren. Hoffentlich werde ich Dave durchs Fenster an der Kasse sitzen und Quittungen ausstellen sehen. Doch im Lokal brennt kein Licht mehr, und an der Tür hängt krumm und schief das Geschlossen-Schild. Das hat nichts zu bedeuten, sage ich mir bestimmt. Man soll keine voreiligen Schlüsse ziehen, das haben uns die Ärzte nach Junes Diagnose auch immer gepredigt. Um über angemessene Maßnahmen nachdenken zu können, müssen erst sämtliche Tatsachen auf den Tisch.
June muss am Fenster gesessen und auf mich gewartet haben, denn noch bevor ich den Wagen in die Parkposition gebracht habe, fliegt bereits die Haustür auf, und sie kommt herausgerannt, den Kopf gesenkt, die Tasche über die Schulter geworfen. Sie trägt eine kurze Turnhose und Hannahs NYU-Kapuzenjacke. Abby – eine Freundin aus Vorschulzeiten – lehnt mit finsterer Miene am Türpfosten. Lächelnd winke ich ihr zu. Sie winkt flüchtig zurück und knallt die Tür zu. Reizend.
June springt auf den Beifahrersitz, lässt sich tief hinabrutschen und murmelt ein Hallo. Immerhin »Hallo« und nicht »Fahr!«, denke ich und trete aufs Gaspedal. Manchmal habe ich das Gefühl, ein besserer Chauffeur zu sein, aber ich verkneife mir jeden Kommentar. Sie ist zwölf, ermahne ich mich, da muss man das Beste draus machen. Ehe wir uns versehen, wird sie fort sein, aus dem Nest geflogen wie Hannah. Und dann?
Meine Tochter hat die Kapuze über den Kopf gezogen und wendet sich von mir ab, um aus dem Fenster zu schauen. Ich weiß, dass ich warten muss, bis sie von sich aus einen Schritt macht. Man darf die Kinder nicht drängen. Irgendwann setzt mir die Stille allerdings so zu, dass ich mich nicht mehr beherrschen kann. »Wie geht es dir denn?«, frage ich.
»Gut«, murmelt sie. Dabei erhasche ich einen kurzen Blick auf ihr Gesicht, dieses wunderschöne herzförmige Gesicht, das ich stundenlang angestarrt habe, während sie ahnungslos hinter ihrem Netz aus Schläuchen und Drähten schlief. Sie wirkt blass, ihre Augen sind rot gerändert. Ist sie tatsächlich krank? Das vertraute Grauen steigt in mir auf, und ich kämpfe dagegen an. Lass dich nicht davon überwältigen, Ava.
»War es nett bei Abby?«, frage ich.
Wieder brummt June etwas vor sich hin, und ich seufze. Früher war sie so wortgewandt, dass Erwachsene sie oft für älter hielten. Aber dann kam diese ganze Zeit, die sie in Krankenhäusern und mit Ärzten verbrachte. Ich bin mir nicht sicher, ob es eine gute Entscheidung war, sie danach auf eine Privatschule zu schicken. Ihre sprachlichen Fähigkeiten scheinen auf Kleinkindniveau gesunken zu sein.
Von dem Geld, das wir für Junes Schulbildung ausgeben, hätten wir eine Insel in der Karibik kaufen können, ganz zu schweigen von den Summen, die wir für Hannahs College auf den Tisch legen. Aber wie könnte ich mich darüber ärgern? Beide Mädchen sind glücklich, gesund und intelligent und berechtigen zu den größten Hoffnungen. Sie sollen es einmal gut haben und mehr erreichen als ich selbst. Ihr Leben soll erfolgreich und erfüllt sein und ihnen Möglichkeiten bieten, die mir verwehrt blieben.
Als wir die gewundene Straße zu unserem Haus hochfahren, schaue ich unauffällig zu June hinüber und kann mich gerade noch beherrschen, nicht die Hand auszustrecken und zu fühlen, ob ihre Stirn heiß ist.
Sie wirkt finster. Ihre Hände zerren an den Bündchen ihres Kapuzenpullis und reißen Löcher hinein. Was geht in ihrem Kopf vor? Vermutlich kommt sie in diese vorpubertäre Phase, für die ich mich schon einmal wappnen sollte, da ich weiß, was mir blüht. Hannah war genauso, wobei es mit June vermutlich schlimmer werden wird, weil wir eine viel engere Beziehung haben, als ich sie zu Hannah je hatte. Meine ältere Tochter war ein so unnahbares Kind, so selbstständig und unabhängig, dass ich mir manchmal fast überflüssig vorkam. Nicht selten habe ich mir sehnsüchtig gewünscht, sie wäre wie die anderen Kinder im Kindergarten, die ihre Mütter einfach nicht gehen lassen wollten. Sie hingegen schob mich zur Tür hinaus und marschierte zu ihrem Tisch, ohne sich auch nur zu verabschieden oder noch einmal umzuschauen.
Wenn ich mir unsere Familie als Zirkus vorstelle, wäre ich die Tellerjongleurin, Hannah die Zirkusdirektorin, Robert der Zauberkünstler (wegen seiner Begabung, unsichtbare Welten zu erschaffen, in denen die Menschen viele Millionen echte Dollar dafür ausgeben, um unechte Werte zu erwerben) und June der Clown. Gene wäre ein Mitläufer, der sich seinen Unterhalt nicht verdient und nachts unter dem großen Zeltdach schlafen muss.
June hat die Menschen immer zum Lachen gebracht. Selbst als sie Brocken erbrach, die wie ihre eigenen Organe aussahen, und mit kraterartigen Geschwüren im Mund zu kämpfen hatte, fand sie immer noch Anlass zu einem Scherz. Sie hatte ein Buch dabei – 10.001 Witze für Kinder – und hat so viele davon auswendig gelernt wie nur möglich. Wenn sie unsere Trauermienen bemerkte, zog sie so lange Witze aus dem Ärmel, bis wir wieder lächelten.
Wenn ich jetzt düstere Wolken über ihr Gesicht huschen und sich wie eine bedrohliche Gewitterfront zusammenballen sehe, packt mich große Sorge. Dagegen bin ich machtlos. Mit der Geburt der Kinder ist die Angst in mein Leben getreten, aber mit Junes Krankheit ist sie in meine DNA übergegangen. Die Furcht lässt mich nicht mehr los. In den meisten Nächten flüstert sie mir ins Ohr und hält mich wach oder flößt mir Träume ein, dass der Krebs zurückkehrt und wir dieses Mal nicht so viel Glück haben.
»Was ist schwarz-weiß und trotzdem rot?«, frage ich sie.
June verdreht die Augen und starrt weiter aus dem Fenster. »Die Zeitung«, grummelt sie.
Nun, das funktioniert offenbar nicht.
Normalerweise redet June wie ein Wasserfall und bombardiert mich mit so vielen Informationen über die Schule – wer was gesagt oder getan hat und wer in wen verknallt ist –, dass ich sie irgendwann bremsen muss. Das Schweigen, das sie jetzt an den Tag legt, hat etwas Verstörendes.
Vermutlich hat sie sich mit Abby gestritten, denke ich, und zwar höchstwahrscheinlich darüber, welchen Film sie sich anschauen. Abbys Eltern – verstockte Evangelikale, die Gottes Liebe und Vergebung predigen, dabei aber entschieden gegen gemischtgeschlechtliche Toiletten wettern und regelmäßig auf Facebook Antiabtreibungspropaganda posten – erlauben es Abby nicht, Filme anzusehen, die nicht für sämtliche Altersklassen freigegeben sind. Im letzten Schuljahr haben sie das arme Mädchen sogar aus dem Sexualkundeunterricht herausgenommen. Später hat mich Abbys Mutter Sam empört angerufen, weil June es übernommen hatte, Abby in allen Einzelheiten über die Entstehung der Babys aufzuklären. Man hätte denken können, dass June ihre Tochter dazu animiert hatte, dem Teufel einen Altar zu errichten und ihn anzubeten.
Natürlich habe ich mich entschuldigt. Dann bin ich mit June Eis essen gegangen und habe mit ihr über einvernehmlichen Sex und Geburtenkontrolle gesprochen, in der Hoffnung, dass sie schon einen Weg findet, die Informationen unauffällig an Abby weiterzugeben. Sonst könnte das arme Mädchen schon bald in die Fußstapfen von Bristol Palin treten: Wortführerin der Abstinenzapostel und minderjährige Mutter.
Wieder blicke ich zu June hinüber. Sie hat die Kapuze abgenommen und starrt immer noch gedankenverloren aus dem Fenster. Mir wird bewusst, dass sie nicht länger ein offenes Buch für mich ist. Sie hat Geheimnisse vor mir. Lauries Worte hallen in meinem Kopf wider. Kann man einen Menschen je richtig kennen?
Eine berechtigte Frage, oder? Ich strecke die Hand aus und stelle die Heizung höher. Niemand weiß das besser als ich.
Obwohl ich nun schon fünf Jahre hier wohne, verspüre ich immer noch dieselbe Begeisterung, wenn ich durch das Tor auf unser Haus zufahre. Als Kind habe ich immer zu diesen Villen auf dem Hügel hochgeschaut und mich gefragt, wer da wohl lebt und wie sich Menschen so etwas leisten können.
Wenn ich nachts durch die Zimmer laufe, ertappe ich mich manchmal dabei, dass ich auf Zehenspitzen schleiche und wie ein Dieb über die Schulter blicke. Ein Haus sollte die Handschrift seiner Bewohner tragen, aber es kommt mir vor, als hätten wir das – mal abgesehen von meinen Malereien, die eher auf Roberts Drängen überall herumhängen – nicht wirklich geschafft. Unser Haus fühlt sich zu groß, zu gewölbeartig, zu prächtig an. Ich hatte mir etwas Bescheideneres vorgestellt, aber Robert hatte darauf bestanden, dass es nur ein großes Anwesen in den Hügeln sein dürfe. Also habe ich eingelenkt, auch wenn das bedeutet, dass man nicht zu Fuß in die Stadt gehen kann und einen Gärtner und eine Haushälterin braucht, da Grundstück und Haus zu groß sind, um sich alleine darum zu kümmern.
Nach all den Jahren, in denen wir von der Hand in den Mund gelebt hatten und uns oft von meinen Eltern aus der Patsche helfen lassen mussten, wollte Robert ein Zeichen setzen, als sein Unternehmen den Durchbruch schaffte. Die Welt sollte Zeuge sein, dass er am Ende doch noch Erfolg hatte. Das verstehe ich auch, wirklich, zumal es schwer ist, sich nicht in das Anwesen zu verlieben. Es handelt sich um ein wunderschönes altes Ranch-Haus auf einem Grundstück von hundert Morgen. Dahinter steigen majestätisch die Topa-Topa-Berge auf, und zu seinen Füßen erstreckt sich das Tal.
Sobald ich in die Garage gefahren bin, springt June aus dem Wagen und läuft durch die Seitentür ins Haus. Ich folge ihr und bemerke stirnrunzelnd die wummernden Bässe, die von oben herabdröhnen. Gene ist zu Hause. Natürlich. Er ist immer zu Hause. Er ist wie eine lästige Warze am Fuß, die allen Behandlungsversuchen trotzt, sodass wir inzwischen nur noch ohnmächtig darauf hoffen können, dass sie irgendwann von allein verschwindet. Was nicht ausschließt, dass ich manchmal am liebsten flüssigen Stickstoff über ihn schütten und ihn verdampfen sehen möchte.
Heutzutage gibt es viele Sechsundzwanzigjährige, die bei ihren Eltern leben, was der Wirtschaftslage und gewaltigen Collegeschulden zu verdanken ist. Aber Gene hat keine Collegeschulden (er hat nicht einmal einen Collegeabschluss, da er das College schon im ersten Jahr geschmissen hat), und die Wirtschaftslage tangiert ihn nicht wirklich, da Robert und ich für seinen Lebensunterhalt aufkommen.
Wenn Gene mein Sohn wäre, würde er nicht über der Garage wohnen. Er hätte ein Studium abgeschlossen, hätte bereits seine erste, wenn nicht gar zweite Stelle angetreten und würde in einem eigenen Haus wohnen. Außerdem hätte er eine normale Frau, nicht eine dieser zweifelhaften Gestalten mit Ärmeltätowierung, die wie auf einem Hochgeschwindigkeitsfließband durch sein Apartment geschleust werden.
Gene ist aber nicht mein Sohn. Er ist Roberts Sohn aus erster Ehe. Achtzehn Monate war er alt, als ich ihm zum ersten Mal begegnete. Damals lebte er bei seiner Mutter auf der anderen Seite des Landes. Mit zwölf ist er zu uns gezogen, nach der Hochzeit seiner Mutter mit einem Typen, den sie in der Bar kennengelernt hatte, wo sie arbeitete. Wie sich herausstellte, hasste er Kinder. Also fuhr sie quer durchs Land und lud ihren Sohn ohne Vorwarnung auf unserer Schwelle ab. Sie erklärte, sie hole ihn bald wieder ab, kam aber nie zurück.
Nur mit Ach und Krach schaffte Gene die Highschool. Nicht weil er nicht clever wäre, denn das ist er schon – was Verstand und Aussehen betrifft, kommt er ganz nach seinem Vater –, sondern weil er ständig schwänzte, um Skateboard zu fahren oder zu surfen. Dass seine Mutter ihn verlassen hat, ist sicher ein wichtiger Auslöser für sein rebellisches Verhalten.
Ungefähr zu dieser Zeit wurde June krank, daher haben wir uns auch nicht viel um ihn gekümmert – und um anderes ebenfalls nicht, um ehrlich zu sein. Wir hatten nur Krebstherapien und Prognosen im Kopf. Roberts Schuldgefühle deswegen und weil er Gene für den Großteil seiner Kindheit der Mutter überlassen hat, sind vermutlich der Grund dafür, dass er seinem Sohn gegenüber jetzt so nachsichtig ist.
Nachdem er vom College geflogen war, ist Gene wieder zu uns gezogen. Als wir ihn zur Rede stellten, meinte er nur, dass ein Collegeabschluss wertlos sei. Da muss man sich doch nur Ava anschauen, lauteten seine genauen Worte – worauf mir leider keine Erwiderung einfiel. Er zog in das Apartment, das wir über der Garage eingerichtet hatten. Eine Weile verließ er es gar nicht mehr und sah den ganzen Tag fern, offenbar fest gewillt, den Weltrekord für die Menge an Gras aufzustellen, die man in einer einzigen Sitzung rauchen kann.
Wenn man bedenkt, wie viel er rauchte – die Garage erinnerte meist an eine Haschischhöhle –, war es erstaunlich, wie geistesgegenwärtig er noch war. Wenn wir uns mit ihm zusammensetzten, um ihm vor Augen zu führen, dass seine Unart schuld an seinem mangelnden Ehrgeiz sein könne, zog er die amtliche Bescheinigung eines Arztes heraus, dass er das Haschisch zur Stressbewältigung brauche. Das sei, erklärte ich den beiden, ungefähr so, als würde der Papst ein Rezept für Viagra verlangen. Genes Retourkutsche lautete, dass der Papst vermutlich genau das brauche, wie die meisten katholischen Priester auch. Vielleicht sollte er sich beruflich in Richtung Improvisationstheater orientieren.
Irgendwann setzte Robert ihm ein Ultimatum. Entweder höre er mit dem Rauchen auf und suche sich einen Job, oder er ziehe aus. Wir wollten seinen Drogenkonsum nicht länger finanzieren und auch June nicht mehr damit belasten. Gene nahm sich das Ultimatum zu Herzen – oder hatte vielleicht nur Angst, obdachlos zu werden –, denn schon am nächsten Tag besorgte er sich eine Stelle hinter dem Tresen des Bison Lodge, einer hiesigen Bar, und es wehten auch nie wieder schwere Grasdünste aus seinem Apartment herab.
Vielleicht raucht er jetzt woanders, sicher wäre ich mir da nicht, aber in jedem Fall wirkt der Junge nicht mehr so tranig. An den meisten Tagen steht er vor zehn auf, bringt den Müll raus, fischt die Blätter aus dem Pool, bringt June zum Soccer und zum Basketball und kommt gelegentlich sogar mit einem selbstgebackenen Kuchen herüber und wirft sich aufs Sofa, um mit mir American Crime zu schauen.
Seit er vor zwei Wochen seinen Job verlor (angeblich mussten sie Personal entlassen, doch ich hege eher den Verdacht, dass man ihn wegen notorischer Unzuverlässigkeit rausgeschmissen hat), rede ich auf ihn ein, dass er doch sein Backtalent nutzen und Konditor werden könne. Ich bin davon ausgegangen, dass er mich einfach auslacht, wie immer, wenn ich ihm Ideen für eine berufliche Zukunft unterbreite, für die er sich jeden Morgen vor sieben aus dem Bett bequemen müsste. Offenbar nimmt er die Idee aber ernst. Gestern zeigte er mir ein paar Kochkurse, die er auf seinem iPad markiert hatte. Ein kleines Licht am Ende des Tunnels. Vielleicht wird er mit sechzig tatsächlich flügge sein, obwohl es uns dann möglicherweise gar nicht mehr recht ist, weil wir dankbar dafür sind, wenn uns jemand aus dem Bett hilft, mit Brei füttert und die Windeln wechselt.
»Nie den Silberstreif am Horizont aus dem Blick verlieren«, hat mein Vater immer gesagt, und genau darum bemühe ich mich.
Als ich hinter June das Haus betrete, glaube ich eine erhobene Stimme über Genes Musik hinweg zu hören. Ich bleibe stehen. Nichts. Vielleicht läuft der Fernseher. Wehe, Gene schaut American Crime. Er hatte versprochen, die letzte Episode mit mir zusammen anzusehen.
June ist in der Küche. Die Milch hat sie draußen stehen gelassen, und die Kühlschranktür ist auch noch offen. Ich schließe sie, werfe die leere Milchpackung in den Mülleimer, wische eine kleine Pfütze weg, schalte die Alarmanlage an der Hintertür ein und gehe dann auf die andere Hausseite zu Roberts Arbeitszimmer. Die Tür ist geschlossen. Ich lege mein Ohr daran. Kein Mucks. Leise drücke ich die Klinke hinab. Abgeschlossen. Das ist ungewöhnlich. Ich verdränge den ersten Gedanken, der mir in den Sinn kommt, dass mein Mann nämlich da drinnen hockt und Pornos sieht. Ich klopfe und rufe seinen Namen. Mit der Wucht einer Guillotine knallt ein Aktenschrank zu, dann vernehme ich ein Räuspern, und Robert reißt die Tür auf.
»Du bist schon zurück«, sagt er überrascht.
Er wirkt nervös, sein Hemd hängt halb aus der Hose. Ich mustere ihn irritiert und versuche, über seine Schulter hinweg einen Blick auf seinen Computer zu erhaschen, aber er hat den Bildschirm weggedreht. »Ich musste June abholen, sie fühlte sich nicht gut«, erläutere ich und blicke meinen Mann misstrauisch an.
»June ist zu Hause?«, fragt Robert fast erschrocken.
»Ja. Sie ist gleich nach oben, ins Bett. Aber ich denke, sie ist wohlauf, keine Sorge.«
Robert reibt sich die Nasenwurzel und späht auf die Uhr. Er hat sich nicht rasiert, und ich stelle fest, dass die weißen Stellen in seinem Bart die schwarzen nun deutlich übertreffen. Das macht ihn aber nur umso attraktiver. Männer haben es so viel besser als Frauen, denke ich und nehme mir vor, mich um einen Friseurtermin zu kümmern.
»Hast du schon gegessen?«, frage ich in der Hoffnung, etwas vom Abend retten zu können.
Er nickt.
»Sollen wir ins Bett gehen?«
Robert schüttelt den Kopf. »Nein, nein«, erwidert er zerstreut. »Ich bin noch nicht ganz fertig.«
Ich gebe mir Mühe, das nicht allzu wörtlich zu verstehen. Andererseits wirkt er nicht wie ein Mann, den man mit heruntergelassener Hose ertappt hat. Eher wie einer, der sich in den letzten Zügen einer aufreibenden Schachpartie befindet.
»Aha«, sage ich und reiße mich zusammen, damit er mir meine Enttäuschung nicht anmerkt. »Gut.« Ich küsse ihn auf die Wange. »Na, dann gute Nacht. Entschuldige noch mal wegen der Planänderung. Vielleicht können wir das Dinner ja morgen nachholen?«
»Vielleicht«, antwortet Robert und schließt schnell die Tür. Eine Stimme in meinem Kopf zischt, dass er einfach nicht mehr so versessen auf mich ist. Ich versuche sie zu ignorieren.
Als ich mich durch das Wohnzimmer bewege und die Vorhänge zuziehe, bemerke ich plötzlich, wie jemand die Treppe von Genes Apartment herunterläuft. Wer auch immer das sein mag, er ist ganz in Schwarz gekleidet und trägt ein Sweatshirt mit einer Kapuze, die das Gesicht verdeckt. Adrenalin schießt in meine Adern, bis mir plötzlich klar wird, dass es sich nicht um einen Dieb handelt, sondern um Gene. Ich bin es nur nicht gewöhnt, dass er sich so flink bewegt. Und ich bin es auch nicht gewöhnt, dass er sich so modisch kleidet. Normalerweise hängt er in seiner kurzen, verlotterten Collegesporthose herum und trägt dazu Adidas-Latschen mit langen Baumwollstrümpfen – ein Anblick, der die Frauen nicht abzuschrecken scheint.
Ich sehe ihn am Carport vorbeilaufen, wo auch sein Highlander parkt. Schließlich verschwindet er die Einfahrt hinunter. Dabei hält er sich stets im düsteren Schatten der Bäume. Als er über die Schulter zurückschaut, ziehe ich mich unwillkürlich hinter den Vorhang zurück. Wo will er um diese Nachtzeit hin, und warum nimmt er nicht seinen Wagen? Wir wohnen drei Meilen von der Stadt entfernt, daher ist es seltsam, dass er zu Fuß aufbricht.
Auf halber Strecke, dort wo die Einfahrt eine Kurve beschreibt und im Orangenhain verschwindet, leuchten Scheinwerfer auf. Ich zucke zusammen. Einen kurzen Moment lang steht Gene in einem Lichtkegel, dann eilt er zur Beifahrertür und steigt ein. Der Wagen – ein dunkler SUV – entfernt sich über die Einfahrt, bis ich ihn nicht mehr ausmachen kann. Wer war das? Und was soll diese Maskerade?
Ich verlasse meinen Platz, schenke mir ein Glas Pinot Noir ein, ein Mitbringsel aus dem privaten Weinberg unserer Nachbarn, und gehe zur Treppe. In der Eingangshalle rücke ich ein Bild zurecht (mein Hochzeitsgeschenk für Robert, eine Skizze von ihm, die ich nach unserer ersten schicksalhaften Begegnung aus dem Gedächtnis anfertigte). Oben vor Junes Zimmer bleibe ich noch einmal stehen. Die Wand dort ist mit Fotos bedeckt, die ich über die Jahre hinweg aufgenommen habe. Ein Schwarz-Weiß-Bild zeigt Robert und mich an unserem Hochzeitstag. Ich sehe wie eine Kinderbraut aus, obwohl ich vor Glück strahle, und Robert ist umwerfend wie ein Filmstar. Daneben hängt ein Foto von mir, ein paar Monate später aufgenommen, mit dem unübersehbaren Babybauch, den Arm um einen lächelnden pausbäckigen Gene gelegt. Damals war ich jünger als Hannah heute, gerade neunzehn. Jedes Mal, wenn ich an dem Foto vorbeikomme und an das Mädchen von damals denke, verspüre ich einen Stich, eine Art Schmerz. Ich war so lächerlich jung. Wenn Hannah jetzt schwanger wäre, würde ich sie eigenhändig erwürgen.
Ich klopfe an Junes Tür und drücke die Klinke hinunter, halte aber inne, weil sie von innen brüllt, ich solle draußen bleiben. Dann höre ich sie herumkramen und Schubladen aufziehen und wieder zuknallen. Etliche Sekunden verstreichen, bis sie endlich die Tür aufreißt, sich gleichzeitig den Bademantel überwerfend, fast außer Atem. »Ja?«, fragt sie und verstellt mir die Sicht ins Zimmer.
Was ist nur mit meiner Familie heute los? Plötzlich haben alle Geheimnisse vor mir.
»Ich wollte mich nur erkundigen, wie es dir geht«, erkläre ich. Im Zimmer herrscht das reinste Chaos. Überall fliegen Klamotten herum, auf ihrem Schreibtisch stapeln sich Bücher und Zeichnungen, und der Hamsterkäfig sieht aus, als sei er schon seit Wochen nicht mehr gereinigt worden. Ich verspüre den Impuls, etwas zu sagen, wenigstens zum Tierwohl, beiße mir aber wie immer auf die Zunge.
»Mir geht es gut. Besser jedenfalls«, erwidert June schnell.
Ich mustere sie mit einem langen, harten Blick und fühle ihre Stirn. Sie entzieht sich mir. »Mom«, stöhnt sie. »Ich bin okay, wirklich. Ich habe nur Kopfschmerzen. Ich habe eine Advil genommen. Du musst dir nicht ständig Sorgen um mich machen.«
»Es ist mein Job, mir Sorgen um dich zu machen«, entgegne ich und küsse sie auf den Kopf.
Dieses Mal weicht sie nicht zurück, sondern lässt zu, dass ich sie umarme. »Ich hab dich lieb«, flüstere ich.
»Weiß ich doch«, antwortet sie seufzend. »Ich hab dich auch lieb.« Eine Pause entsteht, in der ich vor mich hin lächele. Jetzt kommt’s.
»Mom?«
»Hm.«
»Sollte man immer die Wahrheit sagen?«
»Natürlich«, erwidere ich.
»Und was ist mit damals, als du zu Dad meintest, dir gefallen die Ohrringe, die er dir zu Weihnachten geschenkt hat?«
»Die gefallen mir ja auch.«
»Und warum trägst du sie dann nie?«
Ich zögere.
»Siehst du!«, schlägt sie zu. »Du hast einfach gelogen. Du hast gesagt, sie gefallen dir, obwohl das gar nicht stimmt.«
Hm, erwischt. Es handelt sich um große Tropfendiamanten. Wenn ich sie anstecke, fühle ich mich wie ein wandelnder Kronleuchter.
»Und weißt du auch noch, wie du behauptet hast, ich sei nur ein bisschen krank und müsse keine Angst haben?«
Meiner Kehle entschlüpft ein Laut. Ich ahne, worauf das hinausläuft.
»Aber dann hat sich herausgestellt, dass ich Krebs habe und vielleicht sterben muss.«
»Bist du aber nicht, oder?«
»Aber Dad und du, ihr habt mir nicht die Wahrheit erzählt.«
»Nein. Weil wir dich beschützen wollten. Was hätte es dir gebracht, wenn wir dir die Wahrheit erzählt hätten?« Ich küsse sie auf die Stirn. »Es gibt Momente, in denen das nicht das Beste ist.«
Eine Weile schweigt sie. »Aber woher soll man wissen, wann es richtig ist und wann nicht?«
»Möchtest du mir verraten, woran du denkst? Hat Abby etwas getan?« Mir fällt ein, dass June ihre Freundin im letzten Schuljahr dabei ertappte, wie sie im Umkleideraum in der Tasche eines Mädchens herumwühlte. Abby hat das hartnäckig bestritten, als June sie zur Rede stellte – vermutlich weil ihre Eltern sie nach einem Geständnis auf die christliche Reformschule geschickt hätten, mit der sie immer drohen.
»Ist nicht so wichtig«, murmelt June.
»Na dann«, meine ich, weil ich nicht in sie dringen will. Wenn sie mir davon erzählen möchte, wird sie es schon tun. »Wenn du etwas brauchst, gib mir Bescheid.«
June lächelt, und es zerreißt mir fast das Herz. Sie lebt in diesem herrlich heiklen Zwischenreich, halb Mädchen, halb Frau. Langgliedrig und schlaksig, mit einer rosa Zahnspange, während ihr Gesicht allmählich die kindliche Sanftheit verliert. Auch ihr Sport-BH füllt sich langsam. Vielleicht wollte sie deswegen nicht, dass ich hereinkomme, während sie sich umzieht.
Ich muss daran denken, dass ich Angst hatte, sie nie groß werden zu sehen. Bevor ich an mich halten kann, schießen mir Tränen in die Augen.
June verdreht die Augen zur Decke. »Mom«, sagt sie und lacht. »Ich sterbe nicht, ja? Gute Nacht.« Sie schiebt mich aus dem Zimmer, und ich ziehe mich zurück, ebenfalls lachend.
Ich habe June nicht gewollt. Als ich herausfand, dass ich schwanger war, dachte ich ernsthaft über eine Abtreibung nach. Hannah war damals zehn, und ich hatte gerade mein Leben zurück. Ich hatte endlich das College abgeschlossen – mit neunundzwanzig, als Älteste in der Klasse – und meine erste Stelle angenommen, im Rahmen des schulpädagogischen Programms eines Museums. Die beiden blauen Striche waren wie Dolche, die meine Träume in Fetzen rissen. Robert habe ich zunächst nichts davon erzählt, sondern mich allein damit herumgequält, dann zusammen mit Laurie. Sogar einen Beratungstermin bei Planned Parenthood hatte ich schon, als ich es ihm schließlich gestand. Er überzeugte mich davon, dass wir das schon irgendwie schaffen. Aber als es dann so weit war, hatten wir natürlich nicht das Geld für die Kinderbetreuung, und ich konnte meine Stelle vergessen.
Als June mit fünf Jahren in den Kindergarten kam, bewarb ich mich auf ein Dutzend Stellen und fand schließlich einen Teilzeitjob als Kunsterzieherin in der Schulverwaltung. Die Bezahlung war schlicht unwürdig. Ich sah es als Eintrittskarte für meine Karriere, arbeitete mich dumm und dämlich und wurde nach sechs Monaten für eine Beförderung vorgeschlagen. Am Tag des Bewerbungsgesprächs erfuhren wir, dass June Krebs hat. Ein klarzelliges Nierenzellkarzinom, um genau zu sein. Meine beruflichen Pläne waren damit hinfällig. Das Einzige, wozu ich befördert wurde, war eine Rund-um-die-Uhr-Stelle als Krankenschwester, Mutter, Pflegekraft und unbezahlte Expertin dafür, wie man eine Pappschale hält, wenn das eigene Kind schwallartig erbricht, oder was man zu jemandem sagt, der kahl wie ein Ei ist und wissen will, wie er aussieht.
Nicht dass das jetzt von Belang wäre. Für June würde ich auf alles verzichten, selbst auf mein Leben – für jedes der Kinder. Ohne mit der Wimper zu zucken.
Ich trete in das Badezimmer, das an unser Schlafzimmer grenzt, stelle die Dusche an, ziehe mich aus und werfe die Sachen in den Wäschekorb. Als June aus dem Gröbsten raus war, schien mir meine Karriere nicht mehr so wichtig zu sein. Damals brauchten wir das Geld nicht mehr, und es war sicher sowieso zu spät, was auch immer die Frauenzeitschriften predigen. In letzter Zeit hatte ich aber zugegebenermaßen das Gefühl, dass es mir nicht reicht, zwei Mal in der Woche zum Yoga zu gehen, den Gärtner zu beaufsichtigen, an atemberaubend langweiligen Schulpflegschaftssitzungen teilzunehmen und eine Episode American Crime nach der anderen zu schauen.
In der Dusche lasse ich mir das heiße Wasser über den Leib fließen. Vielleicht besuche ich morgen mit meinem Portfolio die Galerie unten in der Stadt. Aber allein der Gedanke macht mich schon nervös. Das Wort »Portfolio« in den Mund zu nehmen oder auch nur zu denken verleiht mir das Gefühl, eine Hochstaplerin zu sein. Niemand will meine Gemälde sehen.
Ich greife nach dem Shampoo, massiere es mir ins Haar und bin gerade dabei, den Schaum wieder auszuwaschen, da höre ich einen Schrei.
Mein Herz wütet in meiner Brust wie eine Axt, die auf einen Holzblock eindrischt. Ich stelle die Dusche ab und bleibe tropfnass stehen. Habe ich mir das nur eingebildet? Ich spitze die Ohren, aber es herrscht nur eine vibrierende Stille. Als ich das Wasser schon wieder andrehen und das Geräusch auf die defekten Rohre schieben will, schrillt ein weiterer Schrei durchs Haus.
June.
Ich reiße die Tür der Duschkabine auf und wäre in meiner Eile fast ausgerutscht. Auf dem Weg in den Flur schnappe ich mir meinen Bademantel und ziehe ihn über. Die Tür zu Junes Zimmer steht weit offen, die Nachttischlampe brennt, aber sie selbst ist nicht da. Ich will schon ihren Namen rufen – ganz laut –, als ich aus dem Erdgeschoss einen weiteren Schrei vernehme. Der ist so markerschütternd, dass ich ihn im ersten Moment gar nicht mit June in Verbindung bringe, überhaupt nicht mit einem menschlichen Wesen, sondern eher mit einem Tier, das in einer Falle steckt. Mit weichen Beinen wanke ich in die Richtung, während sich mein Herz mit jedem Schlag weiter zusammenschnürt.
Adrenalin flutet meinen Körper, am liebsten würde ich drei Stufen auf einmal nehmen. Plötzlich höre ich Robert brüllen, undeutlich und verzerrt: »Lassen Sie sie los!«
Sofort erstarre ich und klammere mich ans Treppengeländer. Von meinem Standort aus kann ich einen Teil der Küche ausmachen. Ein schwarz gekleideter Mann steht in der Tür, mit dem Rücken zu mir, und hält June am Arm gepackt. Sie schluchzt und versucht sich loszureißen. Im ersten Moment denke ich, es ist Robert, und frage mich, was zum Teufel er da tut. Dann erkenne ich allerdings meinen Irrtum. Es ist ein Fremder. In unserem Haus.
Was geht da vor? Ich begreife gar nichts mehr. Mein Kopf ist leer, als habe jemand einen Stöpsel herausgezogen. Dann übernimmt mein Instinkt die Kontrolle. Ich will die Treppe hinuntereilen und mich auf diesen Fremden stürzen, der meine Tochter festhält und ihr wehtut. Aber ich halte inne, als ich eine weitere Stimme vernehme. Die Stimme eines zweiten Manns, der fragt: »Wo ist die Ehefrau?«
Es sind zwei. Der Mann, der June festhält, schaut zu mir hoch, und ich stoße einen erstickten Schrei aus. Ein Monster mit spitzen Zähnen blickt mich an, aus den Augen tropft Blut. Es dauert eine Weile, bis ich begreife, dass das kein Gesicht, sondern eine Maske ist.
Als der Mann mich hier oben stehen sieht, auf dem Treppenabsatz erstarrt, lässt er June los und stürzt in meine Richtung. Mein Gehirn braucht eine weitere Sekunde, um zu reagieren, und so ist der Unbekannte schon die halbe Treppe hoch, bevor ich mich umdrehen und zum Schlafzimmer zurücklaufen kann. Hinter mir höre ich das Klappern seiner Stiefel, und als ich über die Schulter schaue, hat er bereits den Treppenabsatz erreicht. Da ich nicht auf den Weg achte, renne ich gegen ein Tischchen und stöhne auf, als der Schmerz in meiner Hüfte explodiert. Wie eine Betrunkene taumele ich weiter.