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Alex hat sich gegen seine Eliteeinheit und für Lila entschieden. Doch nun werden sie beide erbarmungslos verfolgt. Als sie sich entscheiden müssen, ihr eigenes Leben zu retten oder die anderen Psy zu befreien, trennen sie sich im Streit. Aber ohne Alex an ihrer Seite, schwebt Lila in Lebensgefahr.
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Seitenzahl: 446
Als Ravensburger E-Book erschienen 2017© 2013, 2017 der deutschen Fassung Ravensburger Verlag GmbHDie Originalausgabe erschien 2012 bei Simon & Schuster UK Ltd unter dem Titel »Losing Lila«Copyright © 2012 by Sarah AldersonPublished by arrangement with Simon & Schuster UK Ltd1st Floor, 222 Gray’s Inn Road, London, WC1X 8HBA CBS CompanyAll rights reserved. No part of this book may be reproduced or transmitted in any form or by any means, electronic or mechanical, including photocopying, recording or by any information storage and retrieval system without permission in writing from the Publisher.Übersetzung aus dem Englischen: Karlheinz DürrUmschlaggestaltung: Carolin Liepins unter Verwendung von Fotos von © Artem Meleshko/Shutterstock; © Aleshyn_Andrei/Shutterstock; © Ambient Ideas/ShutterstockAlle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbHISBN 978-3-473-47844-6www.ravensburger.de
Für Nichola und Vic, weil ihr immer für mich da seid, auch wenn uns Tausende Meilen trennen.In Liebe, S.
1
Ich blickte in den Badspiegel. Das Haar: wirr; dunkle Ringe unter den Augen. Ich sah blass aus, ein wenig abgemagert. Alex stand hinter mir, mit nacktem Oberkörper und in Jeans, die Hände leicht auf meine Schultern gelegt. Der Bluterguss auf seiner Wange war verblasst, die Narbe, die sich über den Wangenknochen bis zum Auge zog, war kaum noch zu sehen. Auch er wirkte müde. Die letzten Wochen waren hart gewesen und hatten ihre Spuren an ihm hinterlassen.
»Fang endlich an!«, sagte ich.
Er fasste mein Haar wie zu einem Zopf zusammen, setzte die Schere am Nacken an und schnitt. Blonde Strähnen fielen auf die Fliesen, aber ich schaute nur auf Alex, der sich ganz auf die Arbeit konzentrierte. Allein seiner Gegenwart war es zu verdanken, dass ich nicht den Verstand verlor und Hals über Kopf nach Kalifornien zurückfuhr, um meine Mutter und Jack zu befreien. Seit acht Tagen kreuzten wir nun schon südlich der amerikanischen Grenze herum, versuchten die Einheit abzuschütteln und waren schließlich hier gelandet, in der drückend schwülen Hitze von Mexico City, in diesem Hotelzimmer.
Als Alex fertig war, beugte er sich herab und küsste mich auf den Nacken. Die Berührung schickte wohlige Schauder über meinen Rücken. Er lächelte meinem Spiegelbild zu.
»Du siehst wunderbar aus.«
Wunderbar? Mein Kopf fühlte sich jedenfalls leichter an. Die Augen wirkten plötzlich riesig. Ich hatte damit gerechnet, dass ich mit kurzen Haaren kindlicher aussehen würde, tatsächlich aber schien ich irgendwie älter. Das Gesicht kam mir härter vor, der Hals länger. Als hätte ich mich mit dem langen Haar vom letzten Rest der Kindheit verabschiedet. Alex folgte der Nackenlinie bis zum Haaransatz mit seinen Lippen, dann drehte er mich herum, nahm mein Gesicht zwischen beide Hände und küsste mich direkt auf den Mund.
Trotz meiner wirren Gefühle – einer unangenehmen Mischung aus Furcht, Hoffnung und Verzweiflung – reagierte ich unwillkürlich. Ich schlang die Arme um seine Schultern und drückte ihn eng an mich.
Seit der Nacht, als wir gegen die Einheit gekämpft hatten und Jack niedergeschossen worden war, fühlte ich mich völlig durcheinander. Als ob ich nur noch durch das Leben taumelte. Alex gab mir Halt – genau wie damals, vor vielen Jahren, als meine Mutter gestorben war. Aber sie war gar nicht tot, erinnerte ich mich, sie war ebenso am Leben wie Jack. Dass mein Bruder lebte, musste ich einfach glauben, um nicht an den schrecklichen Selbstvorwürfen zu verzweifeln, angesichts dessen, was hätte geschehen können.
Nein, sagte ich mir zum hundertsten Mal, sie lebten, alle beide. Wir mussten nur noch einen Weg finden, sie zu befreien.
Plötzlich verspannte sich Alex; sein Kopf fuhr herum, als hätte er ein Geräusch gehört.
»Bleib hier.« Er schob mich zur Seite und griff nach der Türklinke.
Im selben Augenblick hörte ich es auch: Reifen quietschten, Autotüren wurden zugeschlagen. Alex lief vorsichtig durch das Schlafzimmer und tastete dabei automatisch nach der Pistole, die im Bund seiner Jeans steckte. Ich blickte mich im Bad um: Es bot kein Versteck und nur wenige Gegenstände, die ich auf die Eindringlinge schleudern konnte. Also folgte ich ihm.
Alex stand am offenen Fenster und beobachtete die Straße, während er sich hastig ein T-Shirt über den Kopf zog. »Sie haben uns gefunden«, sagte er.
Mein Magen verkrampfte sich. Keine Frage, wer uns gefunden hatte.
»Wir müssen weg!« Er griff nach meiner Hand und zog mich zur Tür. Ich hatte noch gar nicht begriffen, wie mir geschah, und blieb wie erstarrt stehen. »Lila, mach schon!«, schrie er.
Die Einheit hatte uns aufgespürt. Wie zum Teufel war das möglich?
Während er sich unsere Reisetasche über die Schulter warf, zerrte Alex mich aus dem Zimmer. Wir sprinteten durch den Flur zum Notausgang am anderen Ende. Kurz davor befand sich eine Abstellkammer. Alex riss sie auf, warf die Tasche auf das oberste Regal und schlug die Tür wieder zu. In der Tasche waren unser gesamtes Geld, zwei Pistolen und unsere Kleider. Ich hätte ihn gern gefragt, warum er alles einfach hier zurückließ, aber dazu blieb keine Zeit – er stand schon am Notausgang.
Zuerst öffnete er die Tür nur einen schmalen Spalt. Die Fluchttreppe war aus Beton und bebte unter dem Gewicht von schweren Stiefeln. Die Männer mussten noch zwei Stockwerke tiefer sein, aber sie kamen schnell näher.
Alex fluchte leise. Dann holte er tief Luft, drückte die Tür weiter auf und zog mich mit sich. Mit dem Rücken zur Wand schoben wir uns so leise wie möglich die Fluchttreppe hinauf. Die Verfolger kamen schnell voran; das Geräusch vieler Schritte auf Beton echote dröhnend von den Wänden des schmalen Treppenhauses.
Mein Atem ging stoßweise. Ich presste mich an die Wand und wartete bei jedem Schritt darauf, dass sich der wahnsinnige Schmerz in meinen Kopf bohren würde. Ich wusste, was mich erwartete. Er würde mich in die Knie zwingen. Alex’ Griff an meinem Arm wurde stärker, als rechnete er ebenfalls damit und sei bereit, mich jede Sekunde aufzufangen.
Bis die Männer den vierten Stock erreichten und durch den Notausgang in den Flur stürmten, durch den wir gerade geflohen waren, hatten wir es zum Dachgeschoss geschafft. Während unten die Tür krachend aufflog und gegen die Wand prallte, öffnete Alex die Tür zum Dach. Das Geräusch wurde vom Befehlsgebrüll und Getrampel unter uns übertönt.
Ich trat auf das Flachdach des Hotels hinaus. In der Ferne war die Kuppel der Kathedrale zu sehen; einen Fluchtweg nach unten zur Straße konnte ich nirgends entdecken. Wir saßen in der Falle – auf einem ungeschützten Betonplatz von der Größe eines Basketballfelds.
»Wohin jetzt?«, fragte ich.
Alex rannte zum Rand des Dachs, ging in die Knie und spähte vorsichtig hinab. Sofort zuckte er zurück und duckte sich hinter die niedrige Brüstung. Anscheinend hatte die Einheit Leute an den Hotelausgängen positioniert. Wir saßen wie Mäuse in einem Loch, das von einer hungrigen Katze bewacht wurde. In Alex’ Gesicht las ich blanke Panik. Mir drehte sich vor Angst fast der Magen um.
Ich wirbelte zur Tür herum. Die Schritte kamen näher, zu uns herauf. Stimmen hallten durch das Treppenhaus, Männer brüllten sich Befehle zu. Sie wussten, dass wir hier oben waren. Verdammt. Was jetzt? Was jetzt?
Ich starrte die Tür an, konzentrierte meine ganze Gedankenkraft darauf und sie schlug krachend zu. Ein paar Meter entfernt entdeckte ich ein Stück Holz, ließ es mir direkt in die Hände fliegen und rammte es unter den Türgriff. Vielleicht brachte uns das ein paar Sekunden Vorsprung.
»Lila!«
Alex stand auf der anderen Seite des Dachs. Ich eilte zu ihm hinüber und spähte über die Kante. An dieser Seite des Hotels führte eine schmale Gasse vorbei; sie war mit überquellenden Mülltonnen vollgestellt, aber völlig menschenleer und schien nicht überwacht zu werden. Nur befanden wir uns eben sechs Stockwerke darüber und ich sah keine Möglichkeit hinunterzukommen. Ich warf Alex einen fragenden Blick zu. Aber er schaute gar nicht nach unten, sondern zum gegenüberliegenden Dach.
»Wir müssen springen.«
»Du machst wohl Witze?«
Es war sein voller Ernst. Wir fuhren gleichzeitig herum, als schwere, metallene Schläge über das Dach hallten. Das Stück Holz unter dem Türgriff bog sich schon. Auf der anderen Seite des Notausgangs drängelte sich bestimmt eine halbe Armee. Wir hatten vielleicht zehn Sekunden, dann würde ich den Folterknechten meiner Mutter Auge in Auge gegenüberstehen.
Ich ging ein paar Schritte zurück, holte Anlauf und rannte los. Mit aller Kraft schnellte ich mich von der Kante, die Beine strampelten im luftleeren Raum, dann spürte ich auch schon das andere Dach unter den Füßen. Ich stolperte, rollte mich ab und blieb erschöpft auf dem Rücken liegen. Als ich aufblickte, sah ich, wie Alex mich von der anderen Dachkante aus ungläubig betrachtete. Gleich darauf folgte er meinem Beispiel. Für ihn war es ein Katzensprung. Leichtfüßig landete er neben mir und ging in die Hocke.
Er schüttelte nur verwundert den Kopf über mich, dann zog er mich mit einem Ruck auf die Füße. Wir rannten zu einem Durchgang am anderen Ende des Dachs. Kaum waren wir hindurch, hörten wir auch schon ein metallisches Krachen. Offenbar hatten unsere Verfolger die Tür aus den Angeln gebrochen. Schwere Stiefel trampelten über das Hoteldach, während sie zur Dachkante liefen, hinabschauten und nach unserem Fluchtweg suchten.
»Warum schießen sie nicht?«, flüsterte ich. Ich meinte nicht Bleikugeln. Ich meinte die spezielle Waffe, die sie nur gegen Leute wie mich einsetzten – gegen Menschen, die über besondere, ungewöhnliche mentale Fähigkeiten verfügten, die Telepathen oder, wie ich, Telekinetiker waren. Ein Schuss aus dieser Spezialwaffe würde dafür sorgen, dass mir fast der Kopf explodierte, ein furchtbarer, alles durchdringender Schmerz, schlimmer als ein wild gewordener Schwarm Hornissen im Gehirn.
»Sie haben nur einen Schuss pro Minute«, flüsterte Alex zurück, »und den sparen sie sich auf, bis sie dich klar im Visier haben.«
Ein einziger Schuss. Aber der reichte vollkommen, um mich außer Gefecht zu setzen. Einen zweiten würde es nicht brauchen.
»Komm, schnell«, drängte Alex.
Wir schlichen weiter, immer noch außer Sichtweite der Verfolger. Dieses Dach stieß fast an das des Nachbarhauses, nur ein schmaler Überhang trennte die Gebäude. Wir sprangen auf den Vorsprung, kletterten um einen Müllberg herum und schon befanden wir uns auf dem nächsten Dach. Auch hier gab es einen Notausgang, aber er war von innen verschlossen. Frustriert hämmerte Alex mit der Faust dagegen und fluchte.
»Hierher!«, schrie eine tiefe Stimme hinter uns.
Ich schaute zurück. Auf dem Hoteldach nahmen gerade vier der Männer Anlauf, um über die Lücke auf das nächste Dach zu springen.
»Lila, kriegst du die Tür auf?«
Hilfe! Wir standen vor einer soliden Brandschutztür aus Metall, völlig glatt, ohne einen Türgriff. Normalerweise brauchte ich irgendetwas, auf das ich mich konzentrieren konnte, um einen Gegenstand durch Gedankenkraft zu bewegen. Hier war nichts.Also versuchte ich, mir den Türgriff auf der anderen Seite vorzustellen.
Nichts geschah.
»Geht’s nicht ein bisschen schneller?«
»Ich versuch’s ja!«, zischte ich.
»Streng dich an!«, stieß Alex durch zusammengebissene Zähne hervor. Er stand mit dem Rücken flach an der Wand und hielt die Pistole mit beiden Händen. Ich presste die Augen zu und versuchte noch einmal, mir den Türgriff vorzustellen. Wie er sich anfühlen würde, wenn ich ihn niederdrückte …
Die Tür sprang mit einem harten Knacken auf. Stolz grinste ich Alex an und er grinste zurück. Ich zog die Tür hinter uns zu und wir rannten durch ein düsteres, muffig riechendes Treppenhaus hinunter. Unten an der Eingangstür hielten wir kurz an, um wieder zu Atem zu kommen, dann nickte ich Alex zu. Er schob die Tür mit dem Fuß einen Spalt auf und spähte hinaus.
»Okay, alles klar. Ich zuerst. Halte dich dicht an die Hausmauern. Wir gehen nach links. Bück dich, aber lauf, so schnell du kannst.«
Die Gasse war eher eine Art Durchgang, höchstens zwei Meter breit. Ich warf einen Blick nach oben. Über uns zog sich ein Sims an den Häusern entlang, der uns vielleicht fünfzehn Zentimeter Sichtschutz bot. Ein Stein fiel vom Dach und wirbelte direkt vor meinen Füßen eine kleine Staubfontäne auf.
»Pass auf!«, rief Alex und ich begriff, dass es kein Stein, sondern eine Kugel gewesen war. Die Männer der Einheit standen oben auf dem Dach und feuerten auf uns herab. Alex drückte mich mit dem Arm gegen die Wand, was völlig unnötig war, denn ich hatte nicht vor, im Kugelhagel herumzuhüpfen.
»Das sind keine echten Kugeln, sondern Gummigeschosse«, sagte er. »Sie wollen uns nicht umbringen, sie wollen uns lebend haben.«
War das als Beruhigung gedacht?
Dann hörten wir Rufe; sie kamen hinter der nächsten Ecke hervor.
Sie versuchten uns einzukesseln.
Ich blickte über Alex’ Schulter und entdeckte einen großen Müllcontainer, der am Ende der Gasse stand. Ich stellte mir vor, ihn über den unebenen Straßenbelag zu schieben, und spürte, wie er sich in Bewegung setzte. Konzentriert ließ ich ihn drehen, bis er quer stand. Als er fast an die Mauer gegenüber stieß, rammte ich ihn zwischen beiden Wänden fest. Nun bildete der schwere Eisencontainer eine Barrikade zwischen uns und unseren Verfolgern. Kugeln prallten mit dumpfem Geräusch gegen das Eisen und jaulten als Querschläger durch die Gasse.
»Lauf!«, schrie ich und packte Alex’ Hand. Wir drückten uns so eng wie möglich an die Mauern. Rings um uns schlugen Kugeln ein und ließen Dreck und Kiesel aufspritzen.
Wir bogen um eine Ecke und kamen in eine Gasse, die etwas breiter war als die vorige. Nach etwa dreißig Metern blieb Alex vor einer schlichten Holztür stehen, nahm Anlauf und warf sich mit voller Wucht dagegen. Krachend splitterte sie aus den Angeln. Atemlos stolperte ich durch die Tür – und riss den Mund überrascht auf: Zwei halbnackte Männer standen, Badetücher um die Hüften, vor einer Reihe alter, verbeulter Metallspinde. Mitten im Raum befand sich eine lange Holzbank; offenbar war das hier ein Umkleideraum. Unter der Decke wallte Dampf, aber ich achtete kaum darauf. Alex wartete bereits an einer weiteren Tür und brüllte mir zu, mich zu beeilen. Mit einer flüchtigen Entschuldigung stürmte ich an den verblüfften Halbnackten vorbei, kurvte um einen Haufen benutzter Handtücher herum und nahm Alex’ Hand.
Wir stießen die Tür auf und kamen in einen langen Korridor, in dem Frauen in einer Art Zimmermädchenuniform hin und her eilten, stürzten durch eine weitere Tür und standen plötzlich in der gediegenen Stille einer großen, luxuriösen Hotellobby. Mehrere Gäste, die an der Bar an der Längsseite der Halle saßen, drehten sich verwundert zu uns herum, während uns der Empfangschef wütend aufforderte, sofort stehen zu bleiben. Wie aus dem Nichts tauchte ein Sicherheitsmann auf und stellte sich uns in den Weg. Ich warf einen Blick über die Schulter zurück, und obwohl die Verfolger noch nicht zu sehen waren, spürte ich Panik aufsteigen. Aber Alex musste nur schweigend die Pistole vorzeigen, die er in der Hand hielt, und der Sicherheitsmann sprang sofort zur Seite.
Wir schoben uns durch die Drehtür und kamen auf eine Straße, die von Touristen nur so wimmelte. Alle waren zum Zókalo unterwegs, dem großen Platz vor der Kathedrale.
»Geh direkt vor mir her«, murmelte Alex. Er verlangsamte den Schritt und zog den Kopf ein, um kleiner zu wirken. »Bleib dicht bei den Leuten dort.« Ein paar Meter vor uns war eine Touristengruppe, die einem Fremdenführer mit gelbem Schirm folgte. Mit gesenktem Kopf mischte ich mich unter die Leute; jeden Moment rechnete ich damit, Schüsse oder bellende Befehle zu hören.
Auf dem großen Platz holte mich Alex wieder ein. Er hielt sich direkt hinter mir und flüsterte: »Geh immer nur weiter. Geh mit der Gruppe in die Kathedrale.«
Es kostete meine ganze Willenskraft, nicht sofort zu fliehen. Der Platz war zu hell, zu offen, und mitten in diesen Horden von Touristen mit ihren Kameras und Stadtführern kam ich mir noch verdächtiger vor. Am liebsten hätte ich mich seitwärts in eine der dunkleren Nebengassen geschlichen, um dann im Chaos der riesigen Stadt unterzutauchen, aber ich hörte auf Alex und zwang mich, so lässig wie möglich mit den Touristen in die Kathedrale zu schlendern.
Im Innern herrschte düsteres Licht und es war so kühl, dass ich fröstelte. Meine Augen hatten sich noch nicht völlig an die Dunkelheit gewöhnt, als Alex mich bereits am Ellbogen packte und einen Seitengang entlang in eine Kapelle am hinteren Ende steuerte. Ohne ein Wort schob er mich in einen Beichtstuhl und zog den Vorhang zu.
Im fahlen Licht, das durch das vergitterte Fenster fiel, standen wir eng aneinandergedrängt. Alex zog mich an sich.
»Alles okay?«, flüsterte er.
Ich nickte.
»Supersprung auf dem Dach – kaum zu glauben.«
»Und ich kann kaum glauben, wie sie uns finden konnten. Was machen wir jetzt?«
Er gab keine Antwort, drückte mich nur noch enger an sich. So verharrten wir schweigend. Mein Herz hämmerte so laut, dass ich zuerst nicht verstand, was er gesagt hatte.
»Es muss einer von uns beiden sein«, murmelte er vor sich hin.
»Was?«
»Sie haben uns den ganzen Weg hierher verfolgt. Wussten immer, wo sie uns suchen mussten. Ganz genau. Sogar in welchem Hotelzimmer wir waren. Sie sind sofort in den vierten Stock hoch.«
Ich schüttelte den Kopf; ich verstand nicht, was er damit sagen wollte.
»Es muss einer von uns sein.« Er zögerte kurz, schob mich von sich und musterte mich von oben bis unten. »Aber du bist es nicht – sie hatten noch gar keine Gelegenheit, dir etwas einzupflanzen.« Plötzlich brach er ab. Wir starrten einander an. Endlich begriff ich, was er meinte: einen Peilsender.
»Meine Klamotten können es auch nicht sein.« Kleider und Uhr waren neu, er hatte sie vor zwei Tagen in einer Grenzstadt gekauft. »Die Tasche auch nicht – die lag in Jacks Auto. Sie war nicht registriert, die Einheit wusste gar nicht, dass wir sie dabeihatten. Sie war sowieso nur für den Notfall bestimmt. Und ich habe sie genau untersucht.«
Wieder dachte Alex eine Weile nach, dann gab er mir plötzlich die Pistole und zog sich das T-Shirt über den Kopf. Wie gebannt blickte ich auf seinen Oberarm. Im düsteren Licht waren gerade noch die Umrisse der Tätowierung zu erkennen – die gekreuzten Schwerter, darüber die unauslöschlichen Wörter Semper Fi. Alex strich mit dem Zeigefinger darüber.
»Meinst du das im Ernst? Dass sie dich verwanzt haben? Dir einen Sender eingepflanzt haben?«
»Hier, fühl mal.« Er nahm meinen Zeigefinger und führte ihn über die Tätowierung. Ich ertastete einen winzigen Buckel, fast unmerklich klein, wie eine längst und gut verheilte Narbe. Ich riss die Augen auf.
»Ich habe schon mal gesehen, wie sie es machen«, flüsterte er und fuhr mit dem Finger immer wieder über die Stelle. »Nicht bei uns, aber bei Leuten, die verdeckt arbeiten. Sie setzen ihnen den Sender direkt unter die Haut, sodass sie sie jederzeit verfolgen können. Der Sender ist kaum zu entdecken. Nur habe ich keine Sekunde lang gedacht, dass sie …« Er schüttelte den Kopf und zog das T-Shirt wieder an.
»Aber wenn sie dich die ganze Zeit verfolgen konnten, warum haben sie uns dann nicht gleich auffliegen lassen?«, fragte ich. »Als sie glaubten, dass Demos uns gefangen hatte, als wir beide verschwanden, warum sind sie dann nicht einfach ihrem Sender gefolgt? Warum haben sie gewartet, bis wir in einem anderen Land sind?«
Das alles ergab keinen Sinn.
»Ich weiß es nicht.« Alex betrachtete stirnrunzelnd seinen Oberarm.
»Was hast du jetzt vor?«, fragte ich und fuhr mit der Hand behutsam unter seinen Ärmel, um den winzigen Buckel noch einmal abzutasten.
Statt einer Antwort zog er ein Taschenmesser aus der Gesäßtasche. Ich wich zurück. Alex schob den Ärmel hoch und setzte die Messerspitze an. Im selben Augenblick wurde die Tür aufgerissen.
Vor uns stand ein Priester in schwarzem Talar. Sein Mund blieb offen stehen, während sich sein Hirn abmühte zu begreifen, was er da sah – Alex mit dem erhobenen Messer und mich mit einer Pistole in der Hand. Stöhnend tastete er nach dem Rosenkranz, der um seinen Hals hing, wandte den Blick zum Himmel und begann laut auf Spanisch zu jammern. Ich warf einen Blick über seine Schulter in die Kapelle. Einige Leute hatten sich umgedreht und starrten uns entgeistert an.
»Sorry«, murmelte ich, als wir uns an dem Priester vorbei aus dem Beichtstuhl drängten. Er schrie uns etwas nach, aber wir rannten bereits auf das Portal der Kathedrale zu, durch den Mittelgang, in dem sich die Menschen drängten. Ich presste die Pistole an den Schenkel und versuchte, so harmlos wie möglich auszusehen.
Auf halbem Weg bremste Alex abrupt ab und renkte mir dabei fast den Arm aus. Nicht weit entfernt boxten sich sechs Männer in schwarzen Kampfuniformen vom Hauptportal her brutal durch die dichte Menschenmenge. Während sie stehen blieben, um ihre Augen an das düstere Licht zu gewöhnen, machten wir kehrt und liefen wieder durch den Mittelgang zurück. Aber nicht bis zum wütenden Beichtvater, stattdessen schoben wir uns durch eine lange Kirchenbank und mischten uns unter die zahlreichen Touristen, die den Altar bewunderten. Ich riskierte einen schnellen Blick zurück: Die Uniformierten schwärmten aus. Zwei liefen zu den beiden Kapellen neben dem Portal, zwei weitere entfernten sich von uns und gingen zur anderen Seite der Kathedrale, während die übrigen zwei durch den Mittelgang direkt auf uns zukamen. Einer hielt ein kleines, handyähnliches Gerät in der Hand, auf das er immer wieder blickte.
Wir drängten uns weiter durch die Menge, um zu einer kleinen Seitentür hinter dem Altar zu gelangen. Als Alex die Tür aufstieß, schaute ich mich suchend um: Wir brauchten ein Ablenkungsmanöver. In einer Nische am anderen Ende der Kirche entdeckte ich einen geeigneten Gegenstand: eine Heiligenstatue in einem kleinen Alkoven hoch über dem Eingang. Niemand stand in der Nähe. Ich schickte eine kurze Entschuldigung an den betreffenden Heiligen im Himmel, konzentrierte mich darauf und kippte die Statue vom Sockel. Krachend fiel sie zu Boden und zersplitterte in mehrere Teile. Im gedämpften Murmeln, das in der Kathedrale herrschte, wirkte das plötzliche Geräusch wie eine Explosion. Die Leute schrien auf und rannten zu den Ausgängen. Im allgemeinen Lärm und Chaos schlüpften Alex und ich durch die kleine Seitentür.
Wir betraten eine Sakristei. Eine Wand wurde von einem riesigen Kruzifix beherrscht; an zwei weiteren Wänden hingen Messegewänder, Chorhemden und Talare. Unter dem Kreuz brannten ein paar Kerzen.
»Wegen der Statue komme ich bestimmt in die Hölle«, murmelte ich.
»Ich geh mit dir«, sagte Alex.
Er schob den Ärmel des T-Shirts hoch, hielt die Messerspitze kurz in eine Kerzenflamme und ritzte dann die Haut um das Logo auf.
»Mein Gott.« Mir wurde plötzlich schwindlig. Ich lehnte mich gegen die Tür, konnte aber den Blick nicht von dem Messer lösen.
Blut rann über Alex’ Arm. Er verzog das Gesicht. Schnell warf ich ihm einen langen, schalähnlichen Streifen zu, der an einem Haken gehangen hatte, vermutlich eine Priesterstola. Alex hielt mir das Messer vor die Augen – auf der blutigen Spitze lag eine winzige Metallkugel.
»Ist es das?«
»Ja.« Er ließ die Kugel auf den Steinboden fallen und zermalmte sie mit dem Absatz. Dann wickelte er die Stola um den Arm und verknotete sie über der kleinen Wunde.
»Gut – gehen wir«, sagte er.
Wir liefen weiter – unter Steinbögen hindurch und durch leere Räume, bis wir durch eine massive Holztür aus der Kathedrale traten. Die Sonne ging bereits unter. Dächer und Giebel warfen lange, dunkle Schatten über den Vorplatz.
Wir hielten uns im Schatten und warteten. Alex drückte mich gegen eine Wand und schob sich schützend vor mich. Nach etwa einer Minute beugte er sich zu mir herab. »Sie kommen«, flüsterte er.
Ich spähte unter seinem Arm hindurch. Die sechs Männer kamen aus der Kathedrale gerannt, wie Spinnen aus einem Nest. Vor dem Eingang blieben sie stehen und blickten sich auf dem Platz um, während die Touristen verängstigt vor ihnen zurückwichen. Der Mann mit dem Gerät starrte auf den kleinen Monitor und schüttelte den Kopf.
Schließlich gaben sie auf und gingen zu einem schwarzen Van, der am anderen Ende des Platzes aufgetaucht war. Etwa eine Minute lang blieb der Wagen mit laufendem Motor stehen, dann fädelte er sich in den dichten Verkehr ein und verschwand.
»Wohin jetzt?«, fragte ich. Plötzlich verspürte ich den starken Drang, mich hinzulegen und die Augen zu schließen.
»Zurück zum Hotel. Wir müssen die Tasche holen, da ist unser ganzes Geld drin.«
Streng genommen war es nicht unser Geld, sondern der Rest der Summe, die wir in Kalifornien erhalten hatten, als wir Jacks Auto verhökerten. Aber das war alles, was wir hatten, und wir würden jeden Cent davon brauchen, um aus dieser Stadt heraus- und irgendwo hinzukommen, wo uns die Einheit nicht mehr aufspüren konnte.
»Bist du sicher, dass das eine gute Idee ist? Bestimmt suchen sie dort nach uns!«
Alex schüttelte den Kopf. »Sie nehmen an, dass wir genau das denken und nicht so blöd sein werden, uns in die Nähe des Hotels zurückzuwagen. Im Moment ist es dort für uns vielleicht sogar am sichersten.«
Ich seufzte. »Okay. Also holen wir erst mal die Tasche. Und was dann? Suchen wir uns irgendwo ein Plätzchen zum Schlafen?«
»Keine Zeit. Wir müssen heute Abend noch was anderes erledigen.«
Seine Miene war grimmig. Was immer wir noch zu erledigen hatten – ein romantisches Dinner bei Kerzenlicht und sanfter Musik war es garantiert nicht.
2
Zurück im Hotel holten wir die Tasche aus ihrem Versteck und brachen die Tür zu einem leeren Gästezimmer im obersten Stock auf, von dem aus wir die Straße überblicken konnten. Ich lag auf dem Bett, während Alex den Inhalt der Tasche neben mir ausbreitete.
Wir hatten noch ungefähr fünfzigtausend Dollar, drei Pistolen und mehrere Munitionsmagazine, unsere Pässe und ein paar frische Kleider. Dann packte er alles wieder ein, steckte aber ein Bündel Dollarscheine in seine Geldbörse. Die Wunde an seinem Arm hatten wir mit einer Binde und Heftpflastern versorgt. Ich strich sanft über den Verband und Alex verharrte mitten in der Bewegung, schob seufzend die Tasche zur Seite und legte sich neben mich. Ich kuschelte mich eng an ihn.
»Wie fühlst du dich?«
Ich gab keine Antwort. Wie ich mich fühlte? Ich versuchte, mein Herz zu befragen, als sei es ein eigenständiges Wesen mit sichtbaren Blessuren, aber so funktionierte das natürlich nicht. Bei jeder Frage kapselte es sich ein wie eine störrische Auster. Ich schob meine Gedanken beiseite und überließ mich dem wohligen Gefühl, Alex warm und lebendig neben mir zu spüren.
»Er wird es schaffen, Lila.«
Jack. Er meinte Jack.
»Hey – nicht weinen!«
Ich hatte nicht gemerkt, dass mir Tränen über die Wangen rollten und auf seine Brust tropften. Ich wollte sie zurückdrängen, aber sie flossen einfach weiter.
»Wir haben ihn im Stich gelassen, Alex.«
Alex schlang einen Arm um mich. Er schob meinen Kopf hoch, sodass er mir direkt in die Augen schauen konnte.
»Wir hatten keine andere Wahl, Lila.«
Hatten wir wirklich keine andere Wahl gehabt?
»Wenn wir versucht hätten, ihm zu helfen, hätten sie auch auf uns geschossen. Darüber haben wir doch schon oft gesprochen. Jack hätte genau dasselbe getan. Er hätte nichts anderes im Sinn gehabt, als dich in Sicherheit zu bringen.«
Tief im Innern war mir klar, dass das stimmte, aber es reichte nicht, um den Knoten aus Sorgen und Selbstvorwürfen zu lösen, der sich in mir gebildet hatte.
»Aber Alex, vielleicht ist er schon …«
Ein Bild schoss mir durch den Kopf: Ryder, der tot auf dem staubigen Wüstenboden lag, daneben Jack, mit einer Schusswunde in der Brust. Ich presste die Augen zu. Es ging Jack nicht gut – das hatte ich von Key erfahren. Mein Bruder lag im Koma. Vielleicht war er gelähmt. Vielleicht war er tot. Und ich wusste es nicht, weil ich nicht bei ihm sein durfte. Wo Jack jetzt war, war auch meine Mutter. Und ich konnte nicht zu ihnen, weil die Einheit zwischen uns stand.
Alex legte beide Hände um mein Gesicht und sprach ernst auf mich ein. »Jack wird es schaffen, das weiß ich. Er ist ungeheuer zäh. Außerdem hat er einen sehr guten Grund, am Leben zu bleiben.«
»Meine Mutter?« Das war wirklich ein guter Grund. Jahrelang hatten wir geglaubt, dass sie tot sei – aber seit Kurzem wussten wir, dass sie lebte.
»Das natürlich auch.« Ein Lächeln zuckte um seine Mundwinkel. »Ich dachte aber eher daran, dass er sich mich vorknöpfen will.«
Trotz der Tränen musste ich lachen. »Stimmt – er war nicht sehr zufrieden mit dir.«
»Ich hab nichts anderes verdient.«
»Sag das nicht.« Ich setzte mich auf. »Und tu das nie wieder! Du darfst mich nie mehr verlassen, nur weil du Rücksicht auf Jack nehmen willst! Nur weil du glaubst, er hätte etwas dagegen, dass wir zusammen sind. Ich könnte das nicht … will das nie mehr durchmachen müssen.«
Ich dachte kurz an die Zeit zurück, bevor das ganze Schlamassel losgegangen war. Wie Alex versuchte hatte, sich immer korrekt zu verhalten und auch meine Gefühle nicht zu verletzen. Womit er genau das Gegenteil erreicht hatte.
Er setzte sich ebenfalls auf und nahm meine Hand. »Lila, ich verspreche dir, dich nie mehr zu verlassen. Nie mehr. Ich werde dafür sorgen, dass du in Sicherheit bist. Wir werden Jack und deine Mutter herausholen. Und selbst wenn sich Jack eines Tages tatsächlich meine Wenigkeit vorknöpft, werde ich dich nicht verlassen.«
Ich wog seine Worte sorgfältig ab. Es wäre nicht das erste Mal, dass er etwas sagte und etwas anderes meinte. Aber sein Blick war klar und zwischen den Augenbrauen stand die so vertraute steile Falte, die ich immer am liebsten wegwischen wollte.
»Versprochen, Lila. Keine Zweideutigkeiten mehr. Ich verlasse dich nie mehr.«
Er beugte sich vor und küsste mich. Und ich schmolz dahin, ließ mich von ihm umfangen und wurde weich wie ein Schwamm, der in warmes, duftendes Badewasser getaucht wird. Schuldgefühle, Selbstvorwürfe, Sorgen zogen sich in den hintersten Winkel meines Bewusstseins zurück und meinetwegen konnten sie für immer dort bleiben.
Nach einer Weile schob er mich sanft von sich, stand auf und schraubte die Birne in der Lampe neben dem Bett wieder in die Fassung. Wir hatten uns angewöhnt, elektrische Geräte auszustecken, sobald wir in ein Hotelzimmer kamen. Das war eine Vorsichtsmaßnahme, denn in Alex’ Nähe geriet meine mentale Kraft leicht außer Kontrolle. Das Letzte, was wir brauchten, waren Lampen, die wilder als die Light Shows von Las Vegas flackerten und blitzten – sie hätten die Einheit sofort zu uns gelockt.
»Im Ernst, wir müssen uns konzentrieren.« Er zog sein T-Shirt straff und fuhr sich durch das Haar.
»Auf was denn?«, fragte ich schmollend. Ein Bett schien mir für Konzentrationsübungen echt gut geeignet.
»Steh auf!«, befahl er.
Misstrauisch und leicht widerwillig schob ich die Beine über die Bettkante, blieb aber sitzen.
»Okay. Wir müssen trainieren.«
Ich stöhnte. »Ich bin total geschafft!«
»Ich weiß. Aber im Notfall solltest du dich selbst verteidigen können. Keine Widerrede. Wir müssen nur noch eine Sache erledigen, dann verlassen wir diese Stadt und suchen uns einen sicheren Platz, wo wir auf Demos und die anderen warten können.«
Ich erschrak. »Wir müssen hier auf sie warten, Alex. Sie kommen hierher.« Meine Stimme klang schrill.
Alex schüttelte den Kopf. »Wir können nicht länger in Mexico City bleiben. Hier wird uns die Einheit gnadenlos jagen. Mach dir keine Sorgen – Nate und Key werden uns überall aufspüren.«
Ich konnte nur hoffen, dass er damit Recht behielt. Und beten, dass Nate und Key nicht schon gefangen genommen worden waren. Als wir uns in Kalifornien von ihnen getrennt hatten, hatten sie vorgehabt, die Einheit von uns weg in den Norden zu locken. Inzwischen war klar, dass dieser Plan schiefgelaufen sein musste, denn die Einheit war uns ständig auf den Fersen geblieben. Unser letzter Kontakt mit Demos lag schon mehr als eine Woche zurück. Bei meinem Vorschlag, die Handynummern auszutauschen, hatte Alex nur die Augen verdreht und mir erklärt, dass sämtliche elektronischen und anpeilbaren Geräte wegzuwerfen die allererste Übung jeder Flucht und Widerstandstaktik sei. Ich verkniff mir eine Bemerkung über den Sender in seinem Arm. Aber die Sorge musste trotz allem deutlich auf meinem Gesicht zu lesen sein, denn er zog mich von der Bettkante hoch.
»Demos und die anderen werden uns aufspüren. Bisher haben sie uns immer gefunden. Und jetzt komm endlich – wir müssen trainieren.«
Er drehte sich blitzschnell um und nahm die Pistole vom Bett. Sein Finger lag bereits auf dem Abzug, bevor ich es schaffte, sie ihm mit meiner Gedankenkraft aus der Hand zu reißen und auf das Kissen zurückzuschleudern.
»Nicht schlecht. Aber du musst schneller werden.« Wieder griff er nach der Pistole.
Ach so, noch schneller? Ich ließ prompt die Waffe aus seiner Hand fliegen. Sie landete neben dem Bett, außerhalb seiner Reichweite.
Er bedachte mich mit einem schiefen Grinsen. »Schnell genug?«, fragte ich spöttisch.
Sein Blick war eindringlich und mein Herz klopfte aufgeregt. Dann trat er hinter mich. Sein Atem kitzelte mich am Nacken.
»Und wenn jemand von hinten kommt, was machst du dann?«, fragte er, die Lippen direkt an meinem Ohr.
»Ich werfe ihm irgendwas an den Kopf oder so«, schlug ich vor.
»Nein. Die Leute dürfen nichts von deiner Kraft erfahren. Versuch es doch damit.« Er legte mir eine Hand auf die Schulter, griff mit der anderen nach meiner linken Hand und legte sie darauf. »Und jetzt verdrehst du ihm den Arm.« Er zeigte mir die Bewegung und wir übten sie so lange, bis ich sicher war, dass ich mich aus dem Griff des Angreifers befreien könnte. Und dann übten wir noch eine Weile weiter, weil mir das Umarmen so gut gefiel, obwohl ich natürlich vorgab, mir den Verteidigungsgriff besonders gut einprägen zu wollen.
Schließlich stellte er sich wieder vor mich. »Willst du nicht mal versuchen, mich zu bewegen?«
Ich verdrehte die Augen. »Das haben wir doch schon probiert. Du weißt, dass ich das nicht kann.«
»Du kannst es bestimmt. Denk nur daran, was du heute alles in Bewegung versetzt hast – den Müllcontainer zum Beispiel. Du musst es nur probieren.«
Ich seufzte. »Du bist kein Müllcontainer, Alex, und ich bin nicht Demos. Durch Anschauen allein kann ich keinen Menschen aufhalten oder von der Stelle versetzen.«
»Mag sein, aber ich habe gesehen, dass du große Gegenstände bewegen kannst, sogar sehr große und sehr schwere.«
Er meinte die Humvees – Fahrzeuge, die fast so groß wie Panzer waren. Die Einheit fuhr solche Vehikel. Aber ich hatte keine Ahnung, wie ich das geschafft hatte. Die beiden Humvees waren auf uns zugerast und ich hatte einfach keine andere Wahl gehabt, wenn ich nicht ein vorzeitiges Ende auf der Straße finden wollte.
»Du kannst bestimmt auch Menschen bewegen«, beharrte er. »Es ist nur eine Frage der Übung.«
Er streckte den Arm aus. Ich starrte darauf – er war von der Sonne gebräunt und muskulös – und schon konnte ich an nichts anderes mehr denken als an das wohlige Gefühl, wenn dieser Arm nachts um mich lag. Alex räusperte sich.
»Das lenkt mich alles zu sehr ab«, sagte ich und zuckte die Schultern. »Es ist eben dein Arm. Ich kann mich nicht konzentrieren.«
Er unterdrückte ein Grinsen. »Okay. Versuchen wir’s mal damit.« Rasch trat er hinter mich und legte mir den Arm um den Hals, wie um mich zu erwürgen.
»Es ist immer noch dein Arm.«
Er drückte fester, bis es wirklich unangenehm wurde. Jetzt konzentrierte ich mich tatsächlich darauf, den Würgegriff abzuschütteln. Nichts geschah.
»Stell dir vor, ich bin Rachel«, flüsterte er mir fies ins Ohr.
Der Arm wurde ihm fast aus der Schulter gerissen, als ich ihn von mir stieß. Alex stolperte ein paar Schritte zurück. Ich fuhr herum.
»Oh Gott, tut mir leid. Echt. Alles okay? Verdammt – ich hab doch gar nicht dich gemeint … Aber den Namen hättest du nun wirklich nicht bringen dürfen …«
Alex rieb sich die Schulter und betrachtete mich mit großen Augen – keine Ahnung, ob er geschockt war oder nur verblüfft. Dann grinste er breit.
»Gleich noch mal«, befahl er. Dieses Mal umklammerte er mich mit beiden Armen von hinten an der Hüfte.
Ich schloss die Augen, stellte mir Rachels wunderschönes, aber bösartiges Gesicht vor, das triumphierende Grinsen, als sie mir sagte, dass meine Mutter noch lebte. Innerhalb von Sekunden hatte ich mich aus Alex’ Umklammerung gelöst. Es war nicht schwerer, als eine Banane zu schälen.
Alex betrachtete mich nachdenklich, fast ehrfürchtig. Jedenfalls hoffte ich, dass es Ehrfurcht war. Dann kam er mit ausgestreckten Armen auf mich zu. Rachel. Ein Gedanke genügte und seine Arme wurden weggestoßen.
Die Sache begann mir richtig Spaß zu machen. Jetzt, nachdem ich es endlich kapiert hatte, fiel es mir immer leichter. Rachel war der Schlüssel. Eigentlich komisch, dass mir das nicht schon früher klar geworden war. Jedes Mal, wenn ich wütend oder aufgewühlt war, hatte ich die Kontrolle über meine Kraft verloren. Und weil Rachel eben unweigerlich diese Gefühle in mir hervorrief, war sie der ideale Auslöser.
Alex ging ein bisschen auf Distanz. Er lächelte auch nicht mehr. Er schien fast zu nervös, um mich erneut anzugreifen. War das ein Funken des Misstrauens in seinem Auge? Kaum hatte ich es bemerkt, verschwand es schon wieder und er lächelte mir zu. Flüchtig schoss mir die Frage durch den Kopf, ob ich meine Kraft auch andersherum einsetzen könnte – um ihn zu mir zu holen, zum Beispiel. Seine Arme um mich zu legen. Sein T-Shirt auszuziehen. Aufs Bett zu legen. Mich zu küssen … Unwillkürlich begann ich breit zu grinsen. Eine Welt voller neuer Möglichkeiten eröffnete sich mir und sie hatten viel mit der Beseitigung höchst überflüssiger Klamotten zu tun. Und mit dem Wegfegen von Alex’ entschlossener Keuschheit.
Nein. Böse Lila. Ganz böse Lila. Krieg dich wieder ein.
»Dazu brauchst du die Kraft nicht«, sagte Alex leise und nahm mich in die Arme.
»Verdammt, kannst du meine Gedanken lesen?«, murmelte ich in sein T-Shirt.
»Nicht nötig. Du bist wie ein offenes Buch.« Er küsste mich leicht auf den Nacken, dann auf den Mund, und in all dem Chaos, dem Albtraum, zu dem mein Leben geworden war, blieb mir immer noch das.
3
Ob wir uns ganz sicher seien, fragte der Taxifahrer.
»Sí«, antwortete Alex.
Ich verstand nur teilweise, was sie besprachen, mein Spanisch bestand bestenfalls aus Grundkenntnissen. Ich konnte vielleicht einen Burrito bestellen oder ein Hotelzimmer buchen, aber das war’s dann auch schon.
»Warum fragt er denn ständig, ob wir sicher sind?«, flüsterte ich Alex zu.
»Weil Touristen normalerweise nicht unbedingt in diesen Stadtteil gefahren werden wollen.«
»Nein? Keine Ahnung, was sie gegen dieses Viertel haben«, murmelte ich sarkastisch und schaute durch das Seitenfenster. Jede Menge roter Leuchtreklamen, dunkler Gassen und blinkender Bierwerbung für Negra Modelo oder Corona. Es war fast zwei Uhr morgens und die Straßen waren wie ausgestorben. Offenbar waren selbst die Bewohner des Viertels vernünftig genug, nachts im Haus zu bleiben.
»Erklär mir doch noch mal, was wir hier zu suchen haben?«, fragte ich.
»Wir brauchen neue Pässe. Und zwar schnell. Mit den alten können wir nicht mehr in die Staaten zurück – die Einheit lässt garantiert per Suchbefehl an allen Grenzen nach uns fahnden.«
»Und illegale Pässe gibt’s nicht in Supermärkten zu kaufen, das weiß ich. Aber trotzdem: Warum fahren wir ausgerechnet in diesen Bezirk?« Eine Leuchtreklame für einen Reisepassladen war natürlich nirgendwo zu sehen.
»Ich hab dem Fahrer gesagt, er soll uns ins schlimmste Viertel fahren.«
»Aha. Okay«, sagte ich, als wäre mir nun alles klar.
Alex redete in fließendem Spanisch auf den Fahrer ein. Ich hörte verblüfft zu – gab es etwas, was dieser Junge nicht konnte?
»Aquí?«, fragte der Fahrer und deutete auf das Viertel, als sei es eine Cholera-Sperrzone. Ich konnte es ihm nachfühlen – die Gegend sah wirklich nicht so aus, als würde man hier gerne spazieren gehen, auch nicht in Begleitung von Alex und seiner Kanone.
Sie diskutierten noch eine Weile, wobei der Fahrer immer wieder den Kopf schüttelte, bis er schließlich an den Rand der schmalen Straße fuhr. Alex gab ihm ein paar Geldscheine. Der Fahrer parkte den Wagen zwischen zwei Autos und schaltete den Motor aus. Ungefähr fünfzig Meter vor uns befand sich ein Gebäude, dessen Fensteröffnungen mit Brettern vernagelt waren. Rötliches Licht schimmerte durch die Spalten und Ritzen.
Etwa zehn Minuten lang blieben wir im Auto sitzen. Alex schien einen Mann zu beobachten, der halb verborgen in einem dunklen Hauseingang stand. Ab und zu hielt ein Wagen direkt vor ihm an; jedes Mal beugte sich der Mann herab und redete kurz mit dem Fahrer. Dann wurde irgendetwas übergeben und das Auto fuhr davon.
»Ich dachte, wir interessieren uns für Pässe, nicht für Drogen«, flüsterte ich.
»Zuerst folgst du dem Straßendealer, er bringt dich zum Boss im Viertel, der bringt dich zum Oberboss.«
»Was für ein Oberboss? Für wen arbeiten die Leute?«
»Mafia.« Alex ließ den Mann im Schatten keinen Moment lang aus den Augen. »In Mittelamerika gibt es verschiedene Kartelle. Sie kontrollieren alles – Drogen, Geldwäsche, Waffen, Pässe.«
Ich starrte ihn ungläubig an. Eigentlich war nur das Wort Mafia bei mir angekommen. Aber Alex meinte es offenbar völlig ernst. Ich nickte langsam. »Wunderbar. Wir spazieren also zu dem freundlichen Herrn dort an der Ecke hinüber, bitten ihn höflich, uns zum Mafiaboss zu bringen, von dem wir dann ganz lieb ein paar neue Pässe verlangen. Klingt wie ein super Plan.«
»Danke«, sagte Alex trocken, ohne auf meinen Sarkasmus einzugehen.
»Okay«, begann ich noch mal, »sitzen wir nun die ganze Nacht hier im Taxi herum? Warum stellen wir uns nicht einfach dem Drogendealer vor?«
Als wir schon aussteigen wollten, legte Alex plötzlich die Hand auf mein Knie. Okay – also blieben wir doch die ganze Nacht sitzen. Ich ließ mich wieder in den Sitz zurücksinken.
»Lila …«, sagte Alex und brach ab.
»Was ist?«
Er schüttelte den Kopf. »Nichts. Ich wollte dich gerade warnen, immer dicht hinter mir zu bleiben. Aber du kannst natürlich ganz gut selbst auf dich aufpassen.«
Ich sah einen irritierten Ausdruck in seinen blauen Augen und ich konnte mir denken, woran das lag. Ich beugte mich zu ihm und legte meine Hand auf seine. »Ich brauche dich trotzdem, Alex«, flüsterte ich ihm zu.
Er lächelte, aber seine Augen blieben ernst. Dann stieß er die Tür auf. Ich stieg ebenfalls aus. Kaum hatten wir die Türen geschlossen, als das Taxi auch schon mit quietschenden Reifen davonschoss.
Ich blickte mich um und wappnete mich. Alex ging auf den Mann an der Ecke zu, der uns misstrauisch beobachtet hatte und nun hektisch in beide Richtungen sah, als rechnete er damit, dass bewaffnete Polizisten hinter jedem geparkten Auto hervorsprangen. Wir blieben vor ihm stehen.
Er grinste nervös und entblößte eine große, schwarze Zahnlücke. Unruhig wechselte er immer wieder das Standbein. Ich musterte ihn von oben bis unten und suchte nach Anzeichen für eine versteckte Pistole oder ein Messer. Das hatte ich mir in den letzten Wochen angewöhnt. Tatsächlich entdeckte ich eine verräterische Beule unter dem Hemd oberhalb des Gürtels und auch sein rechtes Hosenbein hing ein wenig höher, wahrscheinlich weil er ein Wadenholster umgeschnallt hatte. Ich beschloss, mich zuerst um die Pistole zu kümmern, falls es sein musste.
Alex unterhielt sich kurz mit dem Mann, der aber anscheinend nicht mitspielen wollte, sondern immer wieder den Kopf schüttelte. So unauffällig, dass ich es kaum bemerkt hätte, schob Alex ihm ein paar Dollarnoten in die Hand. Der Mann warf einen kurzen Blick darauf, zuckte dann die Schultern, murmelte etwas Unverständliches und ging die Straße entlang. Wir folgten ihm.
»Was hat er gesagt?«, fragte ich flüsternd.
»›Deine Entscheidung. Nur schade um die hübsche Mieze‹«, sagte Alex grinsend.
»Oh, danke. Der ist aber lieb.«
»Ich hätte dich nicht mitnehmen dürfen«, murmelte Alex und blickte stirnrunzelnd über die Schulter.
»Du hattest gar keine andere Wahl«, gab ich zurück und stieß ihn mit dem Ellbogen an. »Du hast geschworen, mich nie mehr allein zu lassen, schon vergessen?«
Statt einer Antwort legte er mir den Arm um die Schultern und drückte mich an sich, aber seine Miene blieb grimmig.
Wir gingen eine enge, dunkle Hintergasse entlang und hielten vor einer schweren, mit Eisenbeschlägen verstärkten Tür an. Der Dealer hämmerte dreimal mit der Faust dagegen. Drinnen wurde ein Riegel zurückgeschoben und die Tür öffnete sich einen Spaltbreit. Es folgte ein längerer, immer lauter werdender Wortwechsel zwischen dem Dealer und der Person auf der anderen Seite. Dieser Jemand schien sich über unseren Besuch nicht sonderlich zu freuen. Ich presste Alex’ Hand und schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass sein Spanisch gut genug war, um uns hier wieder heil herauszureden. Und falls nicht, dass er genügend Patronen in der Pistole hatte.
Dann wurde der Spalt ein paar Zentimeter breiter. Der Dealer trat zur Seite, sodass der Lichtstreifen von innen auf Alex und mich fiel. Ich reckte die Schultern und versuchte so entspannt auszusehen wie Alex. Tatsächlich wirkte er nicht nur entspannt, sondern geradezu gelassen, als hätte er es tagtäglich mit Drogenhändlern und Mafiabossen zu tun. Ein kurzes Schweigen folgte, dann schwang die Tür noch weiter auf. Wir traten ein. Hinter uns krachte die Tür donnernd wieder ins Schloss.
Bevor ich mich umblicken konnte, wurde ich grob gepackt und gegen die Wand gestoßen. Hände tasteten mich ab, die Beine hinauf, über die Schenkel – und von da an war es kein Abtasten mehr, sondern definitiv ein Grapschen. Ich schrie empört auf, als eine Hand meinen Po berührte, konnte aber gerade noch meine Kraft beherrschen. Mir fiel ein, dass mir Alex eingeschärft hatte, meine besondere Gabe nicht zu verraten, solange es nicht »absolut unvermeidlich« war. Deshalb biss ich die Zähne zusammen, aber als die Hände über meine Rippen weiter nach oben krochen, überlegte ich doch, an welcher Stelle meines Oberkörpers Gegenwehr »absolut unvermeidlich« werden würde.
»La chica no tiene armas!«, brüllte Alex wütend. »Sie ist unbewaffnet! Wir sind beide unbewaffnet!«
Alex – unbewaffnet? Vor Überraschung vergaß ich momentan sogar die grapschenden Hände. Alex stand breitbeinig neben mir, die erhobenen Händen gegen die Wand gestützt, während ihm der größte Typ, den ich je gesehen hatte, eine Knarre an den Hinterkopf drückte und ihn mit der anderen Hand abtastete. Ich konnte es nicht fassen: Eine Woche lang war Alex praktisch mit seiner Pistole verwachsen gewesen und ausgerechnet jetzt, als wir einen Mafiaboss besuchten, hatte er beschlossen, sich von seiner Waffe zu trennen? Aber er schüttelte nur ganz leicht den Kopf und blickte mich warnend an.
Der Kerl, der mich gegen die Wand presste, ließ endlich von mir ab und ich wirbelte herum, holte fast automatisch zum Schlag aus, während die Wut über seine fetten, grapschenden Hände in mir kochte. Aber mein Zorn wich sofort eiskaltem Schock, als ich mich den vier Männern gegenübersah.
Der Grapschertyp hatte eine Narbe, die sich quer über seine ganze Wange zog und an den Rändern ausgefranst war wie ein von einem Dornenstrauch zerfetzter Seidenschal. Er beäugte mich mit glasigem Blick und leckte sich lüstern die Lippen. Der Typ neben ihm hatte versucht, sein Erscheinungsbild mit einem enormen Tattoo aufzumotzen. Es zeigte eine nackte Frau mit riesigen Brüsten, die sich aus seinem halb offenen Hemd heraus schlangenartig um seinen Hals wand. Der dritte Mann – der Alex abgetastet hatte – war ein einziger Muskelberg. Wir würden einen Rammbock brauchen, um diesen Panzerschrank aus dem Weg zu räumen, und dann hätten wir immer noch die eisenbeschlagene Tür vor uns. Aber erst als mein Blick auf den vierten Mann fiel, schob ich mich instinktiv ein wenig näher an Alex heran.
Der Mann saß an einem Tisch im hinteren Teil des Raums. Er war älter als die drei anderen. Sein Schädel war glatt rasiert, die Wangenknochen stachen scharf heraus, darüber glitzerten pechschwarze, tief in den Höhlen liegende Augen. Sein Hemd stand bis zum Bauchnabel offen; über der tätowierten Brust baumelte ein großes Kreuz. Er sah zwar nicht genau wie Marlon Brando im Film Der Pate aus, aber wer diesem Typ begegnete, wusste, dass er es nicht mit einem Unschuldslamm zu tun hatte. Jedenfalls entsprach er voll und ganz dem Klischee eines Mafiabosses. Oder eines eiskalten Profikillers. Egal.
Alex trat einen kleinen Schritt vor, als wollte er mich vor dem schlangenartigen, kalten, starren Blick des Mannes schützen.
»Amerikaner?«, fragte der Mann, wobei er mich anzüglich musterte.
»Ja«, sagte Alex.
»Ihr wollt etwas haben, habe ich gehört.« Jetzt wanderte sein Blick langsam zu Alex, wobei seine Augen schmal wurden.
»Ja.« Alex’ Stimme klang völlig unbewegt. »Und ich habe gehört, dass Sie der Mann sind, der es mir beschaffen kann.«
»Vielleicht.« Der Mann rieb sich nachdenklich das Kinn. »Kommt drauf an, wer es haben will. Und wie viel er dafür auf den Tisch blättert. Ein Drink?« Er deutete auf eine Flasche ohne Etikett, die vor ihm auf dem Tisch stand.
»Warum nicht?«, antwortete Alex.
Ich bemerkte, dass Alex unauffällig den Raum musterte – suchte er etwa nach einem Fluchtweg? Oder schätzte er unsere Chancen ab, lebend hier herauszukommen? Allmählich kamen mir Zweifel, ob dieser Besuch eine gute Idee gewesen war. Und ob es sonderlich klug war, etwas aus der Flasche zu trinken, die der Mafioso nun auf den Tisch stellte. Soweit ich sehen konnte, schwamm unten in der Flasche so etwas wie ein verschrumpelter Wurm herum.
Aber Alex setzte sich an den Tisch und ich tat es ihm nach. Die drei Schlägertypen standen so dicht hinter uns, dass ich ihre Körperdünste roch. Alle drei waren bewaffnet, zwei mit Knarren, der dritte mit einem Messer, das fast so groß wie ein Schwert war. Der Weg zurück war uns jedenfalls versperrt. Zwar gab es noch eine weitere Tür an der Wand direkt hinter dem Tisch, aber sie war zu und möglicherweise auch verschlossen. Ich konnte mir lebhaft vorstellen, dass in diesem Raum eine Menge fragwürdiger Geschäfte ausgeheckt wurden. Als ich vor uns auf dem Tisch ein paar Alufolienschnipsel und eine kleine Waage entdeckte, fiel es mir auch nicht schwer zu erraten, womit hier gehandelt wurde. Ganz von selbst tappte mein Fuß nervös auf den Boden. Ich presste die Hände auf die Schenkel und bemühte mich, ruhig zu bleiben.
Der Mann am Tisch schüttete den Inhalt der Flasche in drei schmierige Schnapsgläser und schob zwei davon zu uns herüber. Ich warf einen Seitenblick auf Alex – er wirkte zwar immer noch gelassen und unbekümmert, aber seine schmalen Lippen zeigten mir, dass er innerlich angespannt war.
»¡Salud!«, sagte der Mann, kippte den Inhalt des Glases in den Mund und stellte das Glas krachend auf den Tisch zurück. Er ließ mich keine Sekunde aus den Augen; sein lüsterner Blick schickte mir eine Gänsehaut nach der anderen über den Rücken. Alex hob ebenfalls das Glas und leerte es in einem Zug, ohne seinerseits den Blick von dem Mann zu lassen.
»Und du?«, fragte mich der Mann und deutete mit dem Kinn auf mein Glas. »Wie heißt du eigentlich, Señorita?«
»Lila«, sagte ich mit einem unsicheren Seitenblick auf Alex. Durfte ich meinen richtigen Namen überhaupt verraten?
»Und warum trinkst du nicht mit uns, Lila?«, fragte der Mann und nickte noch einmal auf mein übervolles Glas hinunter.
Musste man hier irgendwelche Benimmregeln beachten? »Äh – ich steh nicht auf Alkohol«, sagte ich lahm.
»Ich denke aber, du solltest es austrinken«, beharrte er.
Das war eindeutig ein Befehl. Ich zögerte, aber dann fielen mir die Typen hinter uns wieder ein und ich kippte das Zeug in die Kehle. Oh, wie es brannte! Ich keuchte und hustete.
Der Mann lachte, während ich mühsam nach Luft schnappte. »Ich heiße Carlos«, sagte er.
Na prima. Jetzt war ich mit einem Mafiaboss per Du und trank Tequila zur Verbrüderung. Dad würde glatt durchdrehen, wenn er das wüsste.
»Also – ihr wollt Pässe?«
»Ja«, sagte Alex.
Carlos grunzte und wandte sich an mich. »Du läufst doch nicht etwa vor irgendwas davon, Lila?«
Ich hielt seinem Blick stand. »Jetzt nicht mehr.« Ein verblüffter Ausdruck huschte über sein Gesicht, dann hatte er sein Pokerface wieder unter Kontrolle.
»Zehntausend Dollar«, sagte Carlos zu Alex. »In bar, sofort hier auf den Tisch.«
»Fünf jetzt, die andere Hälfte nach Lieferung«, erwiderte Alex kühl.
Carlos betrachtete ihn abschätzend, während ich mich am Stuhl festklammerte und Alex still anflehte, den vollen Preis sofort auf den Tisch zu werfen, damit wir verschwinden konnten, solange wir noch alle Körperteile beieinander hatten.
Carlos lachte leise vor sich hin. »Für einen gringo bist du ganz schön frech. Okay, sí, jetzt die Hälfte, den Rest zahlst du später.« Lässig zündete er eine Zigarette an und inhalierte tief, während sein Blick zu mir zurückglitt.
»Wie lang dauert es?«, wollte Alex wissen.
»Ich nehme an, du willst Expresslieferung – sagen wir mal, vierundzwanzig Stunden. Habt ihr Fotos dabei? Namen könnt ihr nicht aussuchen, ihr müsst die Namen nehmen, die wir auf Lager haben, aber es werden amerikanische Pässe sein. Wirklich sauber. Ihr werdet keine Probleme damit bekommen.«
Alex griff in seine Gesäßtasche und zog einen Umschlag heraus. Darin befanden sich die Passfotos, die wir erst vor ein paar Stunden in einer Metrostation gemacht hatten. Er zählte fünftausend Dollar ab und legte sie auf den Tisch. Carlos zählte nach, dann sagte er etwas zu einem seiner Gorillas – dem mit der nackten Schlangenfrau auf der Brust. Der Typ kam zum Tisch, nahm das Geld und die Fotos und verschwand durch die Tür hinter dem Tisch.
»Morgen liefern wir.«
»Um Mitternacht, im McDonald’s neben der Kathedrale«, sagte Alex und stand auf. Erleichtert folgte ich seinem Beispiel, wobei ich einen nervösen Blick zur Tür warf. Wie konnten wir sicher sein, dass sie die Pässe tatsächlich lieferten und nicht einfach nur das Geld kassierten? Ich hatte wirklich keine Lust, noch mal hier aufzukreuzen und diese Typen aufzufordern, uns doch bitte schön unsere fünftausend Dollar zurückzuerstatten.
»Du willst schon gehen?«, fragte mich Carlos. »Komm, trink noch ein Glas mit mir.«
»Nein, danke«, sagte ich, nahm Alex’ Hand und schob mich rückwärts zur Tür. »Wir müssen los.«
»Okay, okay, ich sehe schon, ihr beide habt was am Laufen. Du hast mehr Glück als Verstand, amigo.«
Alex sagte nichts und ich wandte mich zur Tür. Einer der Männer schob den Riegel zurück – aber er ließ sich sehr viel Zeit dabei. Währenddessen sagte der andere Mann etwas auf Spanisch zu Carlos; Alex packte meine Hand fester und zog mich näher zu sich. Sein Blick war entschlossen auf die Tür gerichtet.