Trust in Love - Sarah Alderson - E-Book

Trust in Love E-Book

Sarah Alderson

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Beschreibung

Olivia ist in New York, um ein neues Leben zu beginnen. Doch nach einem Mordanschlag auf ihre Gasteltern findet sie sich mitten in der Nacht als Zeugin in einem Polizeirevier wieder. Neben ihr – in Handschellen – der verdammt gutaussehende Autodieb Jamie. Als ein bewaffneter Angreifer den Raum stürmt, ist die halsbrecherische Flucht an Jamies Seite Olivias einzige Überlebenschance. Aber kann sie einem Kriminellen wie ihm wirklich trauen, auch wenn die Anziehung zwischen ihnen förmlich Funken schlägt? *** Adrenalingeladener und prickelnder YA-Thriller - einfach unwiderstehlich! ***Ich kralle mich ganz fest an sein T-Shirt und klammere mich verzweifelt an ihn – an etwas Zuverlässiges, einen Fels in der Brandung.»Alles ist gut«, flüstert Jay. Seine Stimme streicht ganz sanft über meine Haut. Er presst seine Lippen auf meine Stirn und verharrt, und da ist sie wieder, diese Verbindung – elektrisierend, fast magnetisch. Etwas, das mich zu ihm zieht …

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Deutsche Erstausgabe © 2018 Ravensburger Verlag GmbH Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel »Out of Control« Copyright © 2014 by Sarah Alderson Published by arrangement with Simon & Schuster UK Ltd 1st Floor, 222 Gray’s Inn Road, London, WC1X 8HB A CBS Company Lektorat: Ulrike Schuldes Umschlaggestaltung: Anna Rohner, unter Verwendung von Fotos von © rdrgraphe/Shutterstock; © Studio Peace/Shutterstock; © IM_photo/Shutterstock; © iPhoto-Thailand/Shutterstock Alle Rechte dieser Ausgabe vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH Postfach 2460, D-88194 Ravensburg eBook-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-473-47900-9

www.ravensburger.de

Widmung

Für Lauren

1

Der Polizist sieht mich an. Sein Kopf ist zur Seite geneigt, und zwischen seine Augenbrauen hat sich eine tiefe Falte gegraben. Sein Kugelschreiber klackt in einem langsamen Stakkato auf den Rand des Schreibtisches. »Was hast du auf dem Dach gemacht?«, fragt er.

Ich atme ein und versuche, meine Finger zu entknoten, die ich in die Taschen meines NYPD-Pullis geschoben habe. »Ich wollte nur ein bisschen Luft schnappen«, sage ich. Ich höre mich wie ein Roboter an, ganz tonlos und verloren. »Ich konnte nicht schlafen.«

Der Polizist hebt die Brauen. Er notiert etwas auf seinem Block, schaut kurz hoch und bemerkt jemanden hinter mir. Er springt auf und wirft seinen Kuli auf den mit Akten übersäten Schreibtisch. »Ich hole mir einen Kaffee«, sagt er und befreit eine Tasse aus dem Chaos. »Soll ich dir etwas mitbringen?«

Ich verneine und blicke ihm hinterher, während er sich am Nacken kratzt. An der gegenüberliegenden Seite des Raumes bleibt er stehen und unterhält sich mit einem anderen Detective, auf dessen Jacke unübersehbar »SPURENSICHERUNG« steht. Sie sehen immer wieder kurz zu mir. Ich kann mir schon denken, was sie sagen. Sie sagen, dass ich ein Glückskind bin. Dass es »ein Wunder« ist, dass ich noch lebe.

Aber wenn das ein Wunder ist, will ich lieber nicht wissen, an was für einen Gott die beiden glauben. Ein Schatten fällt auf mich und ich drehe mich ruckartig um. Vor mir steht der andere Detective, der mit der Spurensicherungsjacke. Mein Blick landet auf einer Pistole, die schwer im Holster an seiner Hüfte steckt. Ich weiß, was für eine das ist – eine Glock 19.

»Hallo, Olivia, ich bin Detective Owens. Darf ich?«, fragt er und zeigt auf den freien Stuhl neben mir.

Ich nicke, und er lässt sich darauf fallen, als würde das Gewicht von tausend Toten auf ihm lasten. Sein Hemd sieht genauso zerknittert aus wie sein Gesicht. Er reibt sich über die Augen. Mann, hat der heftige Tränensäcke! Aber als ich genauer hinsehe, bin ich mir sicher, dass er noch gar nicht so alt ist, wie ich zuerst dachte; fünfunddreißig vielleicht, dunkelbraune Haare und kurze Bartstoppeln.

»Ich hätte gerne«, sagt er mit einem heftigen Brooklyner Akzent, »dass du mir noch einmal genau erzählst, was heute Nacht passiert ist.«

Ich beiße die Zähne zusammen. Das habe ich doch schon drei Mal getan! Ein Mal bei dem Polizisten, der den Notruf entgegengenommen hat, und zwei Mal hier auf dem Revier.

»Ein letztes Mal«, sagt Detective Owens entschuldigend und versucht sich an einem Lächeln. »Ich weiß, du bist müde und du hast einiges durchgemacht, aber wir brauchen wirklich deine Hilfe, Olivia. Du bist die einzige Zeugin. Wenn es irgendetwas gibt, woran du dich erinnerst – selbst wenn es dir noch so banal erscheint –, müssen wir das wissen, denn genau das könnte uns dabei helfen, die Leute zu finden, die das getan haben.« Er hält kurz inne. »Ehrlich gesagt haben wir momentan nicht besonders viele Anhaltspunkte.«

Ich nicke, gebe mein Einverständnis.

»Also … du stehst auf. Wie spät ist es da?«, fragt er.

Ich überlege. »So gegen eins, glaube ich.«

»Geht das genauer?«

Ich kneife die Augen zusammen, versuche, mir das Zimmer vorzustellen. Auf dem Nachttisch stand ein Wecker, und als ich das Licht ausgemacht habe, habe ich flüchtig darauf geschaut. Da war es kurz nach zwölf. Danach habe ich mich dann bestimmt eine gute Stunde im Bett herumgewälzt, und irgendwann wusste ich, dass es mit dem Schlafen wohl nichts mehr wird. Aber auf den Wecker geschaut habe ich nicht noch einmal.

Daher schüttle ich den Kopf.

»Warum bist du aufgestanden? Hast du etwas gehört? Ein Geräusch im Haus? Hat dich etwas erschreckt?«

»Nein«, sage ich und schüttle weiter den Kopf. »Ich konnte einfach nicht gut schlafen. Wegen der Zeitverschiebung.«

»Das war dein Glück, nicht wahr?«

Darauf antworte ich nicht. Ich schaue ihn nur unverwandt an. Er erwidert meinen Blick eine Sekunde lang und sieht dann auf den Notizblock in seiner Hand.

»Also, du bist aufgestanden, und dann?«, fragt der Detective.

Ich schließe die Augen und versuche, mich zu erinnern …

Ich gehe zum Fenster. Es ist drückend heiß, die Nachtluft dort draußen ist träge und schwer wie vor einem Gewitter. Ich habe nur kurze Schlafanzughosen und ein dünnes Hemd an – dieselben Sachen, die ich jetzt noch immer unter dem übergroßen Pulli trage, den sie mir hier auf dem Revier gegeben haben. Das Haus scheint zu atmen. Irgendwo unten bei der Haustür tickt eine Uhr, die Klimaanlage summt und in den Leitungen gluckert es. Von der Straße hört man ab und zu ein vorbeifahrendes Auto, irgendwo weiter weg geht eine Autodiebstahlsicherung los. Mein Schlafzimmer liegt im zweiten Stock und weist zum Garten hinaus. Dort gibt es einen schmalen, gepflegten Grünstreifen und hohe Mauern und Bäume, die die Sicht auf die benachbarten Sandsteinhäuser verdecken. Unter meinem Fenster verläuft eine Steinkante, die so breit ist, dass man gut seinen Fuß daraufstellen kann.

Ich denke nicht lange nach, und schon hocke ich im Fensterrahmen, halte mich an der hölzernen Fensterbank fest und schiebe meine nackten Füße nach draußen, bis ich auf den verwitterten Backsteinen Halt finde. Ich atme tief ein, presse meine Hände gegen die Seitenwände und spüre das vertraute Ziehen im Magen, den Rausch, als würden Sterne durch meine Adern schießen. Ich schau nicht nach unten auf den Boden, der zwei Stockwerke unter mir liegt. Ich schaue nach oben, zum Mond, ein spülmaschinenschmutziger Halbmond, der teilweise von Wolken verdeckt wird, und spüre, wie jede Zelle in meinem Körper zum Leben erwacht.

»Erzähl weiter«, sagt Detective Owens. »Was ist dann passiert?«, fragt er.

Ich schiebe mich ganz vorsichtig am Fensterbrett entlang bis zu einem Fallrohr, das an die Hauswand geschraubt ist. Als ich es erreiche, klammere ich mich mit beiden Händen daran fest und beginne mit dem Aufstieg, die Schellen sind meine Trittsteine. Es ist nicht so hoch wie andere Gebäude, die ich erklettert habe, vielleicht drei Meter bis zum Dach. Als ich oben bin, schnappe ich trotzdem nach Luft und meine Beine zittern leicht. Ich stelle mich hin, wische mir den Schmutz von meinen Händen an den Shorts ab und balanciere dann den Dachfirst entlang. Meine Zehen schweben in der Luft und auf meinen nackten Armen spüre ich die ersten Regentropfen. Ich starre auf die Baumwipfel, die aussehen, als wären sie auf den Himmel gedruckt, und auf die fleckigen Wolken, und dann taucht da plötzlich ein Gedanke auf, jemand flüstert mir zu, dass ich wahnsinnig bin. Wenn ich aus dieser Höhe falle, bin ich ganz bestimmt tot … Aber der Gedanke wird von einer Welle aus purem Adrenalin fortgespült. Ich bin so leicht wie Luft und perfekt ausbalanciert. Ich würde niemals hinunterfallen.

Auf einmal höre ich von irgendwo ganz weit unten, wie Glas klirrt.

Ich rudere wie wild mit den Armen. Ich taumele nach hinten in Richtung Sicherheit, gehe tief in die Hocke und kralle mich dermaßen an den Dachvorsprung, dass meine Fingerknöchel weiß hervortreten. Ich kneife meine Augen zu und sage mir wütend, dass da sicher nur Glas zerbrochen ist, dass ich dumm bin und überreagiere. Aber gerade als ich aufstehen und nachsehen will, dringt aus dem Inneren des Hauses ein dumpfer Schlag.

Mein Magen verkrampft, und jetzt melden sich meine ganzen Instinkte und alles, was ich jemals von meinem Vater oder Felix gelernt habe: Atme ruhig, keine Panik, überleg dir, welche Möglichkeiten es gibt.

Vielleicht, sage ich mir, ist Mrs Goldman aufgewacht und hat ein Glas Wasser umgestoßen. Vielleicht ist einer von ihnen aus dem Bett gefallen. Sie sind alt. Das wäre durchaus möglich. Ich gehe zu schnell vom Schlimmsten aus. Verdammt noch mal, ich bin in New York. Hier ist es sicher. Zumindest etwas sicherer. Gerade als ich mich auf den Weg nach unten machen will, um nachzusehen, was passiert ist – ich habe schon ein Bein übers Dach geschoben und strecke meine Arme nach dem Fallrohr aus –, da höre ich, wie es zwei Mal leise knallt. Ich erstarre. Das Geräusch kenne ich. Ich höre es immer in meinen Träumen. Ich ziehe meine Beine zurück aufs Dach, kauere mich hinter den Dachfirst, schlinge meine Arme um den Kopf, halte mir die Ohren zu und blende alle Geräusche aus, bis gefühlte Stunden später endlich Polizeisirenen die Nacht zerreißen.

2

Detective Owens schreibt alles auf seinen kleinen Notizblock.

»Also hast du nicht gesehen, wer ins Haus eingedrungen ist?«, fragt er.

Ich seufze. Was glaubt er denn? Wenn ich etwas gesehen hätte, dann hätte ich es ihm doch längst erzählt. »Nein«, knurre ich. »Wie gesagt, ich war auf dem Dach.«

Detective Owens lehnt sich auf seinem Stuhl zurück und kaut an der Unterlippe.

»Warum tut jemand so etwas?«, frage ich schließlich und schlucke den Kloß in meinem Hals hinunter. »War das ein Raubüberfall?«

Er wirft mir einen kurzen Blick zu. »Soviel wir wissen, wurde nichts mitgenommen. Wie es aussieht, war das ein professionell ausgeführter Auftragsmord.«

Das ist entsetzlich. Ich blinzele nervös und versuche das Bild der schwarzen Reißverschlusstaschen, die auf Metallbahren aus dem Haus getragen wurden, aus meinem Kopf zu verbannen. »Warum sollte irgendjemand sie töten wollen?«, frage ich.

»Genau das versuche ich herauszufinden, Olivia. Mr Goldman war Rechtsanwalt und hat viele Kriminelle verfolgt. Vielleicht war da jemand nachtragend.«

Er reicht mir ein Taschentuch, und einen Moment lang starre ich ihn verwundert an, bis ich die Tränen bemerke, die meine Wange hinablaufen. Ich wische mir übers Gesicht. Wie können sie nur tot sein? Vor ein paar Stunden haben wir noch zusammen um ihren Mahagonitisch gesessen und zu Abend gegessen. Mrs Goldman hatte Parmesan-Hühnchen gekocht. Mr Goldman hat ein paar Gläser Wein getrunken und ist dann in sein Arbeitszimmer gegangen, um einige Sachen zu erledigen. Sie haben mich über mein letztes Schuljahr ausgefragt und über das Tanzstudium, das ich machen will. Und jetzt sind sie tot. Wie ist das möglich?

Meine Gedanken machen sich selbstständig, und plötzlich taucht eine ganz andere Frage auf. Wenn ich im Bett gelegen hätte, hätten die Mörder mich dann auch erschossen? Wenn ich nicht auf dem Dach gewesen wäre, wenn ich nicht mit der Zeitverschiebung gekämpft hätte, sondern geschlafen hätte … wäre ich dann jetzt auch tot? Das sind zu viele Wenns, um meinen Kopf darauf zu verwetten.

»Warum warst du überhaupt bei Mr und Mrs Goldman?«

Ich schaue zu Detective Owens hoch. »Sie sind Freunde meines Vaters. Sie waren Freunde meines Vaters, meine ich.« Der Kloß im meinem Hals wird größer und ich habe das Gefühl zu ersticken.

»Mein Beileid«, murmelt er.

»Ich habe sie nicht besonders gut gekannt«, sage ich. »Ich sollte nur ein paar Tage bei ihnen wohnen, bis mein Vater zurückkommt.« Ich schweife ab, damit ich nicht an die blutgetränkten Kopfenden und die roten Spritzer denken muss, die überall auf den Bettlaken waren.

»Dein Vater ist Daniel Harvey«, sagt Detective Owens, »richtig?«

Ich nicke. Jetzt betrachtet er mich wohl in einem neuen Licht.

»Und zurzeit ist er nicht im Land?«

»Er ist auf Geschäftsreise. Das habe ich schon Ihrem Kollegen gesagt. Ich glaube, jemand versucht, ihn gerade zu erreichen.« Ich sehe mich um. In dem Zimmer sind noch einige andere Detectives und Polizisten, und alle sind sehr beschäftigt. Solange ich hier bin, haben die Telefone ununterbrochen geklingelt. Eine Tafel ist mit Kreide vollgeschrieben. Ganz oben steht in Blockbuchstaben »TÖTUNGSDELIKTE«. Über ein Dutzend Fälle sind dort aufgelistet, und nur neben drei davon sind die Worte »FALL ABGESCHLOSSEN« geschrieben.

Ich beobachte, wie jemand in kleinen, ordentlichen Buchstaben »Goldman« in der letzten Reihe hinzufügt.

»Wo ist dein Vater auf Geschäftsreise?«

Ich versuche, mich auf die Frage zu konzentrieren. »Nigeria. Er arbeitet für die Regierung. Er leitet irgendeine Sondereinheit.«

Detective Owens lächelt mir beruhigend zu. »Und was ist mit deiner Mutter? Konntest du sie erreichen?«

Ich schüttele den Kopf. »Ich weiß ihre Nummer nicht auswendig. Die ist auf meinem Handy und das liegt noch im Haus.«

»Wo wohnt deine Mutter? Wir könnten einen Streifenwagen vorbeischicken, dann kann sie kommen und dich abholen.«

»Das ist leider nicht möglich. Sie wohnt im Oman.«

»Im Oman?«, fragt er und zieht dabei seine Augenbrauen so hoch, dass sie fast an den Haaransatz stoßen.

»Das ist im Nahen Osten.«

»Ja, ja. Weiß ich doch«, antwortet er schnell. »Also, habe ich das richtig verstanden – beide Elternteile sind nicht im Land und im Augenblick auch nicht erreichbar. Gibt es sonst jemanden aus deiner Verwandtschaft, den wir kontaktieren könnten? Du bist noch nicht volljährig. Wenn wir keinen nahen Verwandten finden, müssen wir das Jugendamt einschalten.«

»Nein«, sage ich alarmiert. Jugendamt? »Ich bin fast achtzehn«, argumentiere ich. »Ich komme gut allein zurecht. Ich kann in die Wohnung meines Vaters. Die ist in der Upper East Side. Ich kenne den Portier. Der wird mich reinlassen.«

Detective Owens schüttelt entschlossen den Kopf. »Tut mir leid. Regeln sind Regeln.« Er steht auf. »Denk noch mal nach, ob es nicht irgendjemanden gibt, den du anrufen könntest, damit er dich hier abholt. Und ich frage die Leute von der Spurensicherung, ob einer von ihnen vielleicht ein paar Sachen von dir vorbeibringen kann.«

Ich nicke stumm. Als er weggeht, sacke ich auf meinem Stuhl zusammen und überlege krampfhaft, ob es jemanden gibt, der mich hier abholen könnte, aber mir fällt absolut niemand ein. Ich bin erst seit einer Woche in New York. Die einzigen Leute, die ich kannte, waren die Goldmans. Am liebsten würde ich meinen Kopf auf den Schreibtisch legen und losheulen. Ich will meinen Dad. Ich will, dass dieser Albtraum ein Ende nimmt.

3

»Darf ich mal?«

Ein stämmiger Polizist mit einer ordentlichen Wampe versucht, sich am Schreibtisch vorbeizuquetschen, an dem ich sitze. Seine Hand liegt eisern auf dem Arm eines Typen, der ein dunkles Kapuzenshirt und Jeans anhat und nicht viel älter aussieht als ich. Ich mache mich so dünn wie möglich. Der Polizist stößt den Jungen nicht weit von mir entfernt auf einen Stuhl. Der Typ sieht wütend aus. Er lässt seinen Blick durch den Raum schweifen und schaut mich misstrauisch an, als er auch schon von dem Polizisten angeschnauzt wird, dass er gefälligst zuhören soll. Erst da bemerke ich die Handschellen. Er beugt sich nach vorn, als wollte er sie vor mir verstecken. Ich betrachte ihn genauer und frage mich, warum er hier ist. Dann fällt mir wieder ein, dass wir in der Mordkommission sitzen.

»Name?«, will der Cop wissen.

»Jaime Moreno«, antwortet er leise und buchstabiert seinen Namen. Er sagt ihn mit einem leicht spanischen Akzent, sodass sein Vorname wie Chai-me klingt. Während der Polizist das aufschreibt, schaut der Typ kurz zu mir, und ich sehe etwas in seinen Augen aufblitzen – Stolz oder Wut, ich weiß nicht genau. Vielleicht ja beides.

»Deine Rechte hat man dir vorgelesen«, sagt der Cop jetzt. »Du darfst einen Anruf machen, Moreno. Wenn ich du wäre, würde ich meine Mami anrufen und ihr sagen, dass ich für eine Weile nicht nach Hause komme.« Er angelt nach seinem Kugelschreiber. »Du könntest dir das Leben um einiges leichter machen, wenn du endlich reden würdest, Junge.«

Ich schaue mir den Typen genauer an. Er sitzt seitlich zu mir, hat den Kopf gesenkt und blickt den Polizisten finster durch seine langen Wimpern an, die fast wie eine Blende wirken, aber er sagt keinen Ton.

Der Cop lehnt sich zurück. »Wenn du nicht reden willst – auch gut«, sagt er und öffnet den obersten Knopf seines Hemdes. »Das juckt mich nicht. Mir stehen ja auch keine fünfundzwanzig Jahre Zuchthaus bevor. Wenn ich in deiner Haut stecken würde, würde ich vielleicht auch lieber nichts sagen. Das sind ein paar echte Schweine, mit denen du dich da eingelassen hast. Scheiße noch mal, wenn ich da sitzen würde, wo du jetzt sitzt, würde ich mir wahrscheinlich vor Angst die Hosen vollscheißen.« Er schiebt sich vom Schreibtisch zurück und lässt seinem Bauch ein wenig Luft zum Atmen. Dann steht er auf und streckt sich. »Ich sehe mal nach, ob schon eine Zelle für dich frei ist.«

Als der Cop weg ist, sitzt der Typ leicht vornübergebeugt da, und seine Kiefermuskeln machen Überstunden. Die Lippen hat er fest aufeinandergepresst, und seine Hände liegen gefaltet im Schoß, als würde er beten. Fast tut er mir leid. Dann fällt mein Blick auf die Wand mit den nicht abgeschlossenen Mordfällen, und mein Mitleid verpufft. Wenn dieser Typ schuldig ist, hoffe ich, dass sie ihn gut einsperren und den Schlüssel weit wegwerfen.

Ich drehe dem Typen den Rücken zu, wippe nervös mit dem Bein und warte darauf, dass Detective Owens endlich zurückkommt. Die Wanduhr zeigt fast schon fünf. Ich bin jetzt seit drei Stunden hier. Aber Owens soll sich lieber noch ein wenig Zeit lassen, mir ist nämlich nach wie vor niemand eingefallen, den ich anrufen könnte. Ich zermartere mir gerade mein Gehirn, als ich ein »Pssst« höre.

Ich reagiere nicht.

»Pssst. He.«

Ich scanne kurz das Zimmer, aber die drei Cops, die noch da sind, sind beschäftigt und schauen nicht in unsere Richtung.

»Bitte!«

Ich drehe mich minimal zu dem Typen. »Was?«, frage ich.

Sein Blick huscht durch den Raum, dann sieht er mich an und beugt sich zu mir. »Kannst du mir einen Gefallen tun?«, fragt er leise.

Ich kann es nicht fassen. Wie kommt er auf die Idee, dass ich ihm einen Gefallen tun könnte? Ich kenne ihn nicht. Er trägt Handschellen.

Als würde er genau wissen, was ich denke – was wahrscheinlich nicht schwer zu erraten ist, immerhin starre ich ihn unfreundlich an –, mustert er mich jetzt seinerseits kritisch. »Wie war das mit ›im Zweifel für den Angeklagten‹?«

Ich werfe ihm einen finsteren Blick zu. Da hat er nicht ganz unrecht. Aber trotzdem, er ist ein Fremder, und ich bin mir ziemlich sicher, dass der Gefallen, den ich ihm tun soll, nicht legal sein wird.

»Du wirst hier bald rausspazieren. Ich nicht. Nicht einmal gegen Kaution«, sagt er.

Darüber denke ich eine Weile nach. »Woher willst du wissen, dass sie mich nicht wegen dreifachen Mordes anklagen?«, sage ich schließlich.

Seine Augen, die verblüffend dunkelgrün sind, blitzen belustigt auf. Er streckt mir seine gefesselten Handgelenke entgegen und nickt zu meinen Händen. »Davon abgesehen«, sagt er, »passt du nicht ins Täterprofil. Du hast einen schicken NYPD-Pulli von der Polizei an. Und den geben sie normalerweise keinem Mordverdächtigen.«

Ich halte seinem flehenden Blick ein paar Sekunden lang stand. Er brennt sich regelrecht in meine Augen. »Hör mal, alles, worum ich dich bitte, ist, dass du jemanden für mich anrufst, wenn du hier rauskommst«, sagt er.

»Wieso sollte ich?«, frage ich ungläubig.

Er betrachtet mich kurz und lehnt sich dann zurück. »Weil du aussiehst, als hättest du ein Herz.«

Ich starre ihn verständnislos an. Herz? Was soll das denn heißen? »Dir steht doch ein Anruf zu, schon vergessen?«, sage ich.

»Den brauche ich für jemand anders«, murmelt er.

»Tja, Pech«, antworte ich schulterzuckend.

»Bitte«, bettelt er, und mir fällt auf, dass seine Stimme leicht wegbricht. Auf einmal wird mir klar, wie schwer es ihm fällt, mich zu fragen. Dieses Leuchten in seinen Augen, das ist Stolz und keine Wut. »Ich will einfach nicht, dass meine Mutter sich unnötig Sorgen macht«, sagt er.

Jetzt hat er meine Aufmerksamkeit. »Deine Mutter? Du willst, dass ich deine Mutter anrufe?«, frage ich leicht skeptisch.

Er sieht mich verlegen an und bekommt rote Wangen. »Ich will nur … sie soll nur wissen, dass es mir gut geht. Und dass es mir leidtut«, fügt er hinzu.

Ich zucke zusammen. Leidtut? Ist das nicht schon ein halbes Schuldeingeständnis, als würde er mir mit einem blutigen Messer vor dem Gesicht herumfuchteln? Als er meine Reaktion bemerkt, wirft er mir einen finsteren Blick zu.

»Woher weiß ich, dass ich am Ende nicht einen deiner Freunde anrufe und irgendeine Art von Botschaft weitergebe?«, frage ich. »Ich lasse mich nämlich nicht für dumm verkaufen.«

Sein finsterer Gesichtsausdruck verschwindet. Jetzt ist es ihm todernst. »Ich gebe dir mein Wort. Ich möchte wirklich nur, dass du meine Mom anrufst.«

Ich betrachte ihn genauer. Er wirkt aufrichtig, wenn nicht sogar verzweifelt. Aber er ist ein Fremder. Und ich befolge die Regel, dass ich keine Regeln verletze. Vom Klettern auf Dächer mal abgesehen. Nicht einmal für Freunde. Ich habe mein Lehrgeld gezahlt. Ich schaue über die Schulter zur Tür, durch die Detective Owens verschwunden ist, und hoffe inständig, dass er gleich wieder auftaucht, damit ich aus der Nummer rauskomme.

»Wenn du das für mich machst«, sagt der Typ und lehnt sich mit aneinandergepressten Händen zu mir, »bin ich dir was schuldig.«

»Aha, und wann willst du die Schuld begleichen?«, schieße ich zurück. »In fünfundzwanzig Jahren?«

Er zuckt leicht zusammen, setzt sich dann aber aufrecht hin, und mir tut mein Sarkasmus sofort leid. Ich hole tief Luft. Mir würde wahrscheinlich kein Zacken aus der Krone brechen, wenn ich das machen würde. Aber noch bevor ich mich entschieden habe, steht der Typ plötzlich auf. Er sieht sich schnell um, steht mit zwei Schritten vor mir und drückt mir etwas in die Hand. »Bitte«, sagt er und sieht flehend auf mich herunter.

Ich bin so überrascht, dass ich ihn nur anstarre.

»In Ordnung«, sage ich leise und verpasse mir im Geiste einen Tritt gegens Schienbein, als mir diese Worte herausrutschen.

Er lässt meine Hand fallen und nickt dankbar. Er ist dermaßen erleichtert, dass er förmlich in sich zusammensackt.

»Moreno!«

Bis der Cop zu uns getrottet ist, sitzt der Junge längst wieder auf seinem Stuhl und sieht aus, als könnte er kein Wässerchen trüben. »Hat er dich belästigt?«, fragt er mich.

Ich schüttle den Kopf und schließe die Finger um den Papierschnipsel in meiner Hand.

»Lass die junge Dame in Frieden«, knurrt der Cop ihn an. Er öffnet eine seiner Handschellen und klickt sie um ein Schreibtischbein, das mit Schrauben im Boden verankert ist. »Und bleib, wo du bist«, sagt er schlecht gelaunt.

4

Der Cop geht an mir vorbei und das Stück Papier brennt in meiner Hand. Gleich neben mir steht ein Papierkorb. Darin könnte ich den Zettel ganz einfach verschwinden lassen und dem Typen die kalte Schulter zeigen. Das wäre sicher am besten. Aber aus irgendeinem unerfindlichen Grund, wahrscheinlich weil er so erleichtert ausgesehen hat, als ich ihm sagte, dass ich es mache, tue ich es nicht. Stattdessen lasse ich den Zettel in der Tasche meines Pullis verschwinden und stehe auf. Ich muss unbedingt Detective Owens finden, bevor der Typ mich noch zu anderen Dingen überredet. Aber ich spüre, wie sich sein Blick in meinen Nacken bohrt, und das macht mich ganz kribbelig.

Ich komme gerade mal zwei Schritte weit, als irgendwo im Gebäude ein Schuss knallt und ich zurück auf meinen Stuhl sinke. Für den Bruchteil einer Sekunde sind alle wie erstarrt, dann drehen sich sämtliche Köpfe zur Tür, und drei, vier, fünf weitere Schüsse und Schreie dringen durch die Wände zu uns; markerschütternde Schreie, Schreie, die erschreckend kurz sind und von einer neuen Salve Schüsse abgeschnitten werden, die jetzt viel näher klingt.

Die drei Polizisten in unserem Raum laufen blitzschnell an mir vorbei zur Tür. Die ersten beiden schieben sich mit ihren Waffen im Anschlag in den Flur und rufen sich Kommandos zu. Der dritte – der den jungen Mann vorhin an den Schreibtisch gekettet hat – bleibt im Türrahmen stehen. Er sieht zu uns herüber. »Bleibt hier. Und rührt euch nicht vom Fleck«, ruft er uns zu. Wahrscheinlich hat er vergessen, dass einer von uns gar nicht wegkann, selbst wenn er es wollte. Dann folgt er seinen Kollegen und macht einen zögernden Schritt hinaus in den Flur.

Er wird sofort getroffen, und das Geschoss schleudert ihn mit Wucht zurück ins Zimmer. Um uns herum knallen Schüsse, die ich gar nicht richtig wahrnehme. Ich starre bloß auf die Leiche des Polizisten, der keine fünf Meter entfernt auf dem Boden liegt. Sein Gesicht ist nicht mehr zu erkennen, es ist ein Krater, aus dem etwas Rotes quillt und weiße Splitter hervorstehen.

Alles läuft auf diesen einen Moment zu; die Welt reduziert sich auf ein tödliches Pfeifen und das vollkommen irreale Bild des toten Polizisten zu meinen Füßen. Und dann, als wäre ich im Epizentrum einer Bombe, explodiert die Wirklichkeit um mich herum, Geräusche und Hitze strömen herein und füllen das Vakuum. Mir wird bewusst, dass mich jemand anschreit.

»Mach mich los!«

Ich drehe mich wie in Zeitlupe um. Die Luft fühlt sich auf einmal zäh an wie Teer. Es ist der Typ, der mich da anschreit. Er ist aufgestanden und zerrt an der Handschelle, mit der er an den Schreibtisch gefesselt ist. Seine Nackenmuskeln sind so angespannt, dass man fast Angst bekommt, sie könnten durch seine Haut platzen, und einen Augenblick lang ist das alles, worauf ich mich konzentrieren kann.

»Schlüssel! Schnapp dir die Schlüssel!«, brüllt er. Mit seiner freien Hand zeigt er auf den toten Polizisten.

Eine Weile sitze ich wie versteinert da. Ich kann mich nicht bewegen. Doch dann dringt sein Gebrüll durch meine Benommenheit.

»Sie sind in seiner Tasche!«

Ich taumle vom Stuhl auf die Knie, krieche zu dem leblosen Körper und ducke mich unwillkürlich, als Kugeln über meinen Kopf pfeifen. Die Scheibe über der Tür zerbirst, und Scherben zischen wie Dolche durch die Luft. Auf der anderen Seite des Zimmers erwacht ein Funkgerät knackend zum Leben. Die geisterhafte Stimme am anderen Ende ruft um Hilfe und wird dann von einem gewaltigen Rauschen erstickt.

Als ich bei dem Cop bin, schweben meine Hände über ihm, und ich starre auf den grauroten Brei, wo eigentlich ein Kopf sein sollte. Oh Gott, ich fange an zu zittern, ich kann den Brechreiz kaum unterdrücken, und in meinem Hirn macht sich Entsetzen breit. Ich atme durch den Mund und zwinge mich dazu, mich zu konzentrieren. Welche Tasche?

»Beeil dich!«

Die Stimme des Typen dringt durch meine Panik, und plötzlich ist es, als wäre ein Schalter umgelegt worden. Mein Gehirn blendet das Chaos aus. Irgendwie kann ich das Blut und die Wunden verdrängen. Ich spüre weder die warme, klebrige Flüssigkeit unter meinen nackten Knien, noch nehme ich den Kugelhagel wahr. Alles, was ich jetzt noch höre, ist mein hämmernder Puls und Felix, der mir in Gedanken befiehlt, ruhig zu bleiben.

Ohne zu zögern, schiebe ich meine Hand tief in die Hosentasche des Polizisten und finde den Schlüssel. Ich ziehe ihn heraus und krieche, so schnell ich kann, über den Scherbenteppich zurück zu dem Typen. Er reißt mir den Schlüssel aus der Hand und rammt ihn in das kleine Schloss. Die Handschelle springt auf, und er ist frei.

Schon in der nächsten Sekunde wirft er sich auf mich. »Runter!«

Während wir zu Boden fallen, schlägt eine Kugel in den Aktenschrank hinter uns. Seine Brust drückt gegen meine, seine Schulter bedeckt mein Gesicht. Schnell rollt er sich von mir und schiebt mich Richtung Schreibtisch. Ich rutsche darunter und stoße mit dem Kopf an die scharfe Metallecke des Schubladencontainers. Ich schreie auf.

»Schhh.« Er presst seine Hand auf meinen Mund.

Ich ziehe seinen Arm weg. »Was ist da los? Was passiert hier gerade?«, flüstere ich.

Bevor er mir antworten kann, wird das Feuer eingestellt, aber die Stille danach ist fast noch beängstigender als die Schüsse. Wir rühren uns nicht vom Fleck und starren uns nur Millimeter voneinander entfernt mit vor Schreck geweiteten Augen an. Zusammengedrängt auf dem engen Raum unter dem Schreibtisch lauschen wir in die Stille. Und über das Knistern des Funkgeräts und das Brummen der Klimaanlage hinweg höre ich weit entfernt gedämpfte Schreie, wie das unwirkliche wehklagende Heulen eines verletzten Tieres.

Der Typ verlagert sein Gewicht. Sein Rücken ist gegen den Aktenschrank gepresst, seine Füße drücken gegen den Schubladencontainer. Vorsichtig schaut er um den Schreibtisch, zieht dann aber schnell den Kopf wieder ein und atmet heftig. Ein Schweißtropfen läuft ihm übers Gesicht.

»Scheiße«, murmelt er und schließt die Augen.

»Was ist –?«, will ich gerade fragen, als mit einem leisen Knarren die Tür aufgedrückt wird. Ein Stiefel zermalmt Glasscherben. Der Junge reißt die Augen auf. Er hält mich fest und bringt den Schrei zum Verstummen, der gefährlich in meiner Kehle aufsteigt. Meine Beine beginnen zu zittern, es ist unmöglich, sie in dieser Position die ganze Zeit ruhig zu halten. Mit der rechten Hand drückt er fest mein Knie – noch eine Warnung. Er sieht mich durchdringend an, was so viel heißen soll wie: Keine Bewegung!

Auf der gegenüberliegenden Seite des Zimmers fällt etwas von einem Schreibtisch, und über die Schulter des Jungen hinweg sehe ich zwischen zwei Aktenschränken die Beine eines Mannes. Ist das ein Polizist? Wo stecken die anderen? Was ist mit den Polizisten passiert, die in den Flur gerannt sind?

Nein. Diesen Gedanken sperre ich aus, daran möchte ich nicht denken.

Der Mann steht regungslos mit dem Rücken zu uns. Was macht er da? Ich kann es nicht richtig sehen. Er schaut zur Wand, auf die Tafel mit den aufgelisteten Mordfällen. Die Sekunden dehnen sich zu Stunden, Tagen, Jahrzehnten, und ich halte den Atem an, während der Junge noch immer mein Knie drückt und mein Herz fast am Zerreißen ist, wirklich regelrecht am Zerreißen, wahrscheinlich weil zu viel Blut durchgepumpt wird. Meine Beinmuskeln brennen und auf einmal rutscht mein Fuß weg. Nur ein kleines Stück. Aber ich stoße an den Schreibtisch, und der Mann wirbelt sofort zu uns herum. Luft strömt aus meinen Lungen, und der Junge neben mir formt mit seinen Lippen ein Wort, das ich nicht verstehe, vielleicht das Gebet eines Todgeweihten.

Der Mann kommt in unsere Richtung, aber kurz bevor er uns erreicht, ruft jemand irgendwo etwas, was sofort in einem Kugelhagel untergeht, und der Mann stürzt in den Flur.

Der Junge schiebt seinen Kopf um die Ecke, und dann ist er auch schon unter dem Schreibtisch hervorgekrabbelt und streckt mir seine Hand entgegen.

»Beeil dich«, sagt er und zieht mich auf die Beine.

Ich sehe mich um und halte mich am Schreibtisch fest, um stehen zu bleiben. Das Zimmer dreht sich und kippt, als säße ich auf dem Jahrmarkt in einem Fahrgeschäft.

»Wir müssen hier weg!«, sagt der Junge und zieht mich zur Tür. Ich stemme meine Fersen in den Boden und kralle mich am Schreibtisch fest. Jetzt zerrt der Typ an meinem Arm. »Mach schon!«

Ich schüttle den Kopf. »Hier entlang«, sage ich, befreie mich aus seinem Griff und laufe in Richtung der Glastür, durch die Detective Owens verschwunden ist. Der Junge wirft noch einen Blick in den Flur, kommt mir dann aber schnell hinterher. Während ich mich an den Schreibtischen vorbeischlängle, spüre ich endlich das Adrenalin in meinem Körper und alle Gedanken in meinem Kopf sind gelöscht – außer einem: LAUF!

5

Die Glastür führt zu einem anderen Zimmer, das dem der Mordkommission ähnelt. Hier stehen reihenweise Schreibtische und Stühle und blinkende Computer und sogar ein klingelndes Telefon, aber es ist niemand da, der abhebt.

Eine Tür, die zu einem anderen Flur führt, steht Unheil verkündend offen. In dem Gebäude scheint die Stille widerzuhallen. Ich schaue mich kurz um. Sollen wir uns verstecken? Einen Weg nach draußen suchen? Aber das ist ein Polizeirevier. Es ist so gebaut, dass die Leute eher drinbleiben, und es gibt keine Fenster. Ich drücke gegen eine nicht weiter gekennzeichnete Tür, die aber verschlossen ist. Auf der anderen Seite bewegt sich jemand. Leute, die in Deckung gegangen sind? Scheiße.

Der Junge ist schon an der Tür zum Flur und schaut vorsichtig hinaus.

»Alles frei«, flüstert er mir zu.

Ich renne zu ihm. Der Flur liegt verlassen da. Er hat recht. Es ist alles leer. Abgesehen von den Leichen. Ich zähle sie: Eins. Zwei. Drei. Alles Polizisten in Uniform. Alle tot. Einer liegt gerade mal zwei Schritte von uns entfernt mit dem Gesicht nach unten in einer Blutlache. Ich starre wie gebannt auf den Fleck, der immer größer wird. Plötzlich merke ich, dass der Junge mich vorwärtsschiebt, und zwar Richtung Notausgang am Ende des Ganges.

»Warte.«

Ich drehe mich zu ihm. Er kauert neben einer der Leichen. Ich zögere und schaue zum Notausgang. Wir haben keine Zeit für so etwas. Ich renne zu ihm. »Was machst du?«, zische ich. »Los, wir müssen weiter!« Ich tripple unruhig auf dem klebrigen Linoleum.

Er fingert hastig an der Hüfte des Polizisten herum. Ich beuge mich zu ihm und schnappe ihn an der Kapuze, um ihn hochzuziehen, aber dann sehe ich, was er da tut. Er versucht, die Pistole aus der Hand des Polizisten zu lösen.

»Hilf mir«, sagt er gepresst.

Ich starre auf die Knöchel des Toten, die rot vor Blut sind, und taumle einen Schritt zurück. Der Junge schafft es auch ohne meine Hilfe. Er steht auf, atmet schwer, lässt sich sonst aber nichts anmerken, und dann sprinten wir durch den Notausgang. Bevor die Tür hinter uns zuknallt, fängt der Junge sie auf und drückt sie sanft ins Schloss. Wir sind im Treppenhaus. Hoch oder runter? Ich schaue zu dem Jungen, und schon flitzen wir im stillen Einvernehmen nach unten. Vermutlich gibt es im Keller mehr Ausgänge als im ersten Stock. Wir nehmen immer drei Stufen auf einmal und prallen gegen die Wände. Der Junge ist direkt hinter mir und schiebt mich immer weiter.

Als wir unten angekommen sind, drängt er mich zur Seite und streckt die Hand nach dem Türgriff aus.

»Bleib hinter mir«, sagt er, die Pistole gegen die Brust gepresst.

Ich schaue auf seine Waffe und will schon mit ihm diskutieren, aber da hat er die Tür bereits aufgestoßen, und ich gehe hinter ihm in Deckung, klammere mich an sein Sweatshirt und drücke mein Gesicht an seinen Rücken.

Die Tür kracht gegen die Betonwand. Vor uns liegt eine Tiefgarage voller Polizeiautos und Zivilfahrzeuge. Der Junge geht an den Reihen entlang und ich dicht hinterher. Wir scannen beide die Umgebung. Rechts der Tür ist eine kleine Kabine. Ich höre, wie der Junge keuchend Luft holt, und dann sehe ich den Toten – noch ein Polizist. Dieser hier sitzt mit ausgestreckten Beinen gegen die Wand gelehnt da und hat ein zerfetztes, rotschwarzes Loch, wo einmal sein linkes Auge war. Aber bis ich das richtig kapiere, poltert schon jemand die Treppe herunter.

Der Junge macht einen Satz über die Beine des toten Polizisten in die Kabine, aber ich stehe nur da und starre auf die Leiche, während die Schritte immer näher kommen.

Mein Hirn schreit mir zu, dass ich mich rühren soll, dass ich weglaufen soll, aber diese Schritte, dieses Blut überall, das schwarz auf dem Beton glänzt, halten mich fest und hypnotisieren mich regelrecht.

Doch dann steht der Junge plötzlich vor mir und schwenkt einen Schlüsselbund. Er packt mich am Arm und zieht mich durch die Garage. Meine Beine sind langsam und schwer, aber das ist egal, er rennt für uns beide und treibt mich weiter. Von der anderen Seite der Tiefgarage kommt ein Piepen, und die Lichter eines Autos blinken. Der Junge ändert die Richtung, weicht blitzschnell einer Säule aus und rennt zu dem Wagen.

Als wir nur noch drei Autos entfernt sind, hören wir, wie jemand durch die Tür stürzt. Wir ducken uns und hasten in die Lücke zwischen einem Betonpfeiler und einem Auto. So leise wie möglich gehen wir hinter dem Kofferraum eines Kleinbusses in Deckung. Hat uns jemand gesehen? Niemand schießt.

Ich überlege kurz, ob uns vielleicht ein Polizist nachjagt, um uns mitzuteilen, dass jetzt wieder alles sicher ist und dass wir nicht länger weglaufen müssen, aber mein Instinkt sagt mir etwas anderes. Wenn wir in den nächsten dreißig Sekunden nicht von dieser Tiefgarage wegkommen, sind wir tot.

Der Junge schaut vorsichtig am Heck des Kleinbusses vorbei und an der Reihe der Autos entlang. Los!, formt er mit seinen Lippen und ich folge ihm geduckt. Mein Herz fühlt sich ganz eng an. Wir schaffen es bis zum Wagen. Der Junge nickt zur Beifahrerseite und ich nicke zurück, ich habe verstanden. Ich schleiche zur Tür, während er auf die andere Seite verschwindet.

Ich schiebe meine Hand unter den Griff und versuche, die Tür möglichst geräuschlos zu öffnen. Aber da ist ein gedämpftes Klicken, und keine Sekunde später zischt eine Kugel knapp an meinem Gesicht vorbei und kracht ein Stück weiter in die Betonsäule. Obwohl es schrill in meinen Ohren pfeift, höre ich, wie der Junge mich anbrüllt. In dem Moment als ich die Tür aufreiße, schlägt die nächste Kugel in den vorderen Kotflügel.

Kaum habe ich mich ins Wageninnere geworfen, drehen schon die Räder durch und unser Auto schießt aus dem Parkplatz. Der Junge wartet gar nicht erst ab, bis ich die Tür zugemacht habe. Als wir um die nächste Kurve schleudern, schwingt sie dann auch auf, und während ich mich bemühe, sie zu fassen, sehe ich plötzlich den Mann. Ich sehe, wie er genau auf mich zielt, sehe das schwarze Loch, aus dem die Kugel herausdonnert, und höre den Schlag, als sie den Außenspiegel trifft. Sobald wir um die nächste Kurve preschen, fällt die Autotür von allein zu.

»Runter und unten bleiben!«, brüllt der Junge, was ich auch tue. Ich verschränke die Arme über meinem Kopf und ducke mich ganz tief.

Als wir die Rampe hinaufbrettern, heult der Motor auf. Der Junge umklammert direkt vor meiner Nase den Schaltknüppel und schaltet geschmeidig die Gänge hoch und runter. Einmal lässt er ihn los und greift stattdessen nach der Handbremse. Er reißt sie heftig hoch, und wir drehen uns mit kreischenden Reifen um zweihundertsiebzig Grad. Und schon steht er wieder auf dem Gas und ich schleudere nach hinten gegen den Sitz, nur um gleich danach auf das Armaturenbrett zu knallen. Kurz darauf holpern wir über etwas drüber, rasen um eine Ecke und bremsen jäh auf Normaltempo ab.

»Schnall dich an!«, sagt der Junge und sieht zu mir herüber.

6

Ich setze mich aufrecht hin, aber während ich mich mit zitternden Händen anschnalle, lasse ich die Straße nicht aus den Augen. Der Junge fährt über mehrere Kreuzungen und biegt ein paarmal scharf ab. Er schaut ständig in den Rückspiegel. Als ich mich umdrehe, liegen die Straßen gespenstisch verlassen da. Ein paar Müllautos sind unterwegs und einige frühe Pendler, aber das war’s dann auch schon. Der Himmel ist grau und violett. Die Lichter der Geschäfte leuchten uns hell und funkelnd entgegen. Es muss wohl heftig geregnet haben, aber inzwischen ist das Unwetter weitergezogen. Die Gehwege erstrahlen in neuem Glanz.

Bei der nächsten Kreuzung biegt der Typ links ab und fährt in eine Haltebucht vor einem geschlossenen Restaurant. Er lässt den Motor laufen, und ein paar Sekunden lang sitzen wir nur schweigend da. Mein Herz hämmert noch immer. Mir schwirrt der Kopf, ich muss verarbeiten, was ich gerade erlebt habe.

»Was zum Geier war das denn?«, fragt der Junge schließlich. Seine Stimme ist ein heiseres Flüstern. Er hält das Lenkrad immer noch fest umklammert.

Keine Ahnung! Ich kann keinen zusammenhängenden Gedanken fassen, geschweige denn irgendetwas in Worte. Mein Kopf fühlt sich an, als wäre er in Watte gepackt, meine Gedanken sind völlig benebelt, und das Gesicht des toten Polizisten überlagert alles wie ein zerkratzter Rotfilter.

»Hast du was gesehen?«, fragt er und dreht sich zu mir. »Hast du ihn gesehen?«

Ich nicke und wir starren uns in dem dämmrigen Auto an. Er ist genauso schockiert wie ich.

»Was sollen wir jetzt machen?«, frage ich schließlich.

»Ich bin raus«, sagt der Junge, und plötzlich kommt Leben in ihn. Er wühlt in den Taschen seiner Jeans und zieht den Schlüssel heraus, den er dort hineingesteckt hat. Er öffnet die Handschelle, die immer noch von seinem linken Handgelenk baumelt, und wirft sie nach hinten ins Auto. Erst jetzt wird mir bewusst, dass ich gerade zusammen mit einem Mörder in einem gestohlenen Polizeiauto sitze. Ich schätze, das macht ihn zu einem Flüchtigen. Und was macht das aus mir? Oh mein Gott. Ich mag gar nicht darüber nachdenken. Aber spielt das überhaupt eine Rolle, frage ich mich, nach allem, was gerade passiert ist? Spielt überhaupt noch irgendetwas eine Rolle? Als ich an die drei toten Polizisten im Flur denke und an den Detective, der genau vor meinen Augen erschossen wurde, hebt sich mein Magen. Wird überhaupt je wieder irgendetwas von Bedeutung sein, nachdem ich das gesehen habe?

Ich habe immer noch den penetranten Geruch von Blut und Rauch in der Nase, und wenn ich an all die Leichen denke, wird mir übel. Der Junge hat seine Hand schon auf den Türgriff gelegt, starrt mich aber mit weit aufgerissenen Augen an. Unsere Blicke landen gleichzeitig auf der Pistole, die er dem Polizisten abgenommen hat. Sie liegt zwischen uns auf dem Sitz.

Ich schlucke und starre unaufhörlich die Waffe an. »Wir sollten die Polizei anrufen«, erkläre ich sachlich. »Wir sind Zeugen. Die suchen wahrscheinlich schon nach uns.«

»Die sind momentan wahrscheinlich zu sehr damit beschäftigt, die Toten zu zählen, um nach uns zu suchen«, sagt er leicht gereizt. »Und nach dir suchen sie sowieso nicht.«

Als er das sagt, reiße ich meinen Blick von der Waffe los.

»Hör mal«, sagt er jetzt viel sanfter. »Falls du meinen Rat willst, dann halte dich von der Polizei lieber fern.«

Ich hole tief Luft, obwohl es sich anfühlt, als würde ich unter Wasser atmen. Jedes Mal, wenn ich blinzele, taucht der Schütze vor meinem Auge auf, als wäre sein Bild unauslöschlich auf meiner Netzhaut eingebrannt – die Pistole, die er auf uns richtet, und das ausdruckslose, totenstarre Gesicht. Nur seine Augen haben gefunkelt und wirkten hart wie Stahl. Aber an denen lag es nicht, dass mir ein Schauder über den Rücken fuhr, sondern an der Uniform, die er anhatte: dunkelblaue Hose, hellblaues Hemd, glänzend polierte Schuhe und das schimmernde Metall an seinem Revers, das allen verraten soll, wer er ist – ein Polizist.

»Alles in Ordnung mit dir?«

Ruckartig öffne ich die Augen. Ich zittere unkontrolliert, und während ich versuche, Luft in meine zusammengefallenen Lungen zu saugen, heben und senken sich meine Schultern. Der Junge hat seine Hand auf meine Schulter gelegt, und seine Stimme hört sich an, als würde er auf einem Berggipfel sitzen und ich auf dem Grund des Ozeans.

»Versuch, ruhig zu atmen«, sagt er. »Alles ist gut. Es ist vorbei.«

Leichter gesagt, als getan, aber ich probiere es. Vorsichtig zeichnet er Kreise auf meinen Rücken. Ich atme gleichmäßig ein und aus und hoffe, dass die Dunkelheit, die mich zu verschlingen droht, nicht die Oberhand gewinnt. Ich konzentriere mich auf seine Stimme, nur auf seine Stimme, tröstend und tief ist sie, bis ich merke, dass sich die Dunkelheit zurückzieht.

»He, sieh mich an«, sagt der Junge. »Sieh mich an.«

Ich hebe langsam die Augen und streiche meine Haare zurück, die sich aus dem hastig zusammengebundenen Pferdeschwanz gelöst haben.

»Kannst du irgendwo hin? Vielleicht jemanden anrufen?«

Ich schließe die Augen. »Meinen Dad«, sage ich und versuche, mich zusammenzureißen.

»Hast du ein Handy dabei?«, fragt er.

Ich schüttle den Kopf. Alles, was ich dabeihabe, trage ich am Leib. Ich habe nicht mal Kleingeld für ein Münztelefon.

Der Junge beugt sich über die Handbremse und öffnet das Handschuhfach. Dort liegt ein Kaugummi, Papierkram und eine Taschenlampe. Er macht es wieder zu und zieht am Aschenbecher, der tatsächlich voller Kleingeld ist. Er nimmt eine Handvoll heraus und gibt es mir. »Da drüben ist ein Telefon«, sagt er und zeigt auf das Münztelefon auf der anderen Straßenseite. »Am besten du rufst deinen Vater gleich an, oder?«

Ich zögere. Ich will das sichere Auto nicht verlassen. Einen Fuß auf den Gehweg zu setzen, scheint mir riskant, viel zu ungeschützt. Und offen gestanden finde ich die Vorstellung, die Straße zu überqueren, vollkommen absurd.

»Wenn du willst, warte ich auf dich«, sagt der Junge, wahrscheinlich spürt er, wie nervös ich bin. Ich sehe ihn aus den Augenwinkeln an. Er ist angespannt, seine Kiefermuskeln arbeiten, wie auf dem Revier, als der Polizist seine Personendaten aufgenommen hat. Er schaut ständig in den Seitenspiegel und behält die Straße im Blick. Aber noch bevor ich ihm sagen kann, dass er sich um mich keine Sorgen machen muss und dass es mir gut geht, ist er schon ausgestiegen, und mir bleibt nichts übrig, als ihm zu folgen. Prüfend schaut er die Straße hoch und runter und streicht sich nervös über seine kurz geschorenen Haare, bevor er sich die Kapuze tief ins Gesicht zieht.

Obwohl es noch ziemlich früh ist, ist es schwül und drückend, und ich zupfe mir den Stoff meines NYPD-Pullis vom Körper. Mir ist, als hätte ich Fieber; ich fröstle und schwitze. Meine Beine sind nackt, meine Schlafanzughose ist nämlich so kurz, dass sie gerade mal meine Oberschenkel bedeckt, und ich habe eine Gänsehaut. Ich jogge über die Straße und dann stehe ich ein paar Sekunden lang vor dem Telefon, bevor ich den angeknacksten Hörer abnehme. Es dauert mindestens eine halbe Minute, bis mir endlich die Handynummer meines Vaters einfällt, und als ich schließlich wählen will, zittern meine Finger so sehr, dass ich drei Anläufe brauche.

Endlich höre ich das Freizeichen! Ich drehe mich um und beobachte die Straße. Sie liegt verlassen da. Der Junge ist verschwunden. Mir sackt der Magen nach unten, als hätte mich jemand einen Felsvorsprung hinabgestoßen. Ein Gefühl von Panik, das geduckt wie ein verängstigtes Tier in mir gelauert hat, bäumt sich wieder auf und springt mir an die Gurgel. Ich schieße herum und ein erstickter Schrei kommt aus meiner Kehle. Die Straße ist menschenleer. Er ist weg. Er hat gelogen. Er hat gesagt, er würde warten. Das Auto steht zwar noch immer da, aber von ihm keine Spur. Ich gehe einen Schritt, der Hörer liegt locker in meiner Hand, doch dann klickt es in der Leitung und jemand sagt ein »Hallo?«, und ich presse den Hörer schnell zurück an mein Ohr.

»Dad …«, schluchze ich. Ich bin so erleichtert, seine Stimme zu hören, dass ich mich gegen die Telefonzelle lehnen muss, um mich auf den Beinen zu halten.

»Liva?« Mein Dad klingt ganz verzweifelt. Er muss davon erfahren haben. »Wo bist du? Was ist los?«, will er wissen. »Die Polizei hat mich angerufen. Jemand hat mir gesagt, dass du auf dem Polizeirevier bist und dass den Goldmans etwas passiert ist. Was ist los?«

»Das Polizeirevier – es …« Ich verstumme. Ich kann das Massaker nicht beschreiben und drücke meine Stirn gegen die schmuddelige Telefonzelle. »Alle sind tot«, ist alles, was ich herausbekomme.

»Was? Was redest du da?«, fragt mein Dad. Ich stelle ihn mir vor, wie er am anderen Ende der Leitung in irgendeinem Hotel in Nigeria das Telefon enger ans Ohr presst und sich auf einen Stuhl sinken lässt. Sein Tonfall ist jetzt anders, geschäftsmäßiger. Die Stimme hat er immer, wenn es um seine Arbeit geht. »Sag mir, wo du bist.«

»Ich weiß nicht«, antworte ich und schaue benommen auf die nichtssagende Straße. »Wir waren auf dem Revier, und dann wurde auf einmal überall geschossen und …« Ich schüttle den Kopf, um die Bilder loszuwerden, die sich darin eingenistet haben.

»Was soll das heißen, überall geschossen?«, fragt mein Vater nach. »Wo bist du jetzt?«

»Wir konnten fliehen«, flüstere ich in den Hörer.

»Wer konnte fliehen? Das ist doch völlig verworren, Olivia!«

»Ich und … dieser Junge«, sage ich, während ich die verlassene Straße scanne.

»Also gut«, sagt mein Vater, und seine strenge Stimme bewirkt, dass ich mich wieder auf ihn konzentriere. »Hör mir zu –«

»Und die Goldmans, sie sind tot«, unterbreche ich ihn, als mir plötzlich wieder einfällt, warum ich überhaupt auf diesem Polizeirevier war.

»Ich weiß, Liva. Ich weiß«, sagt mein Dad mitfühlend. »Die Polizei hat mich angerufen, um mir Bescheid zu geben, aber mitten in unserem Gespräch war auf einmal die Leitung unterbrochen. Ich versuche so schnell wie möglich zurückzukommen, Liva. Ich nehme den nächsten Flug von Lagos aus, aber du musst dich zusammenreißen. Hörst du mir zu?«

»Mmh«, sage ich und starre auf das Hörerkabel, das in meine Handfläche schneidet. Vor meinen Augen verschwimmt wieder alles.

»Liva.« Die Stimme meines Vaters dringt durch meine Trance. »Kannst du mir erzählen, was passiert ist? Hast du den Schützen gesehen? Weißt du, wie er aussieht?«

Ich atme tief ein. »Es war ein Polizist«, sage ich.

Mein Vater sagt ein paar Sekunden lang nichts, und ich frage mich schon, ob er mich verstanden hat. »Ich schicke sofort jemanden zu dir, der dich abholt«, sagt er dann. »Gib mir deine Adresse.«

»Ähm …« Ich lehne mich zurück und ziehe die Schnur bis zum Anschlag. An der nächsten Kreuzung steht ein Straßenschild, ich blinzle angestrengt durch das helle Morgenlicht, bis ich meinem Vater schließlich sagen kann, wo ich bin.

»In Ordnung. Hör mir jetzt zu«, sagt er. »Rühr dich nicht vom Fleck. Warte einfach ruhig ab. Ich rufe jemanden aus meinem Team an, und der kommt dann und holt dich.« Er stockt kurz. »Es wird alles gut, Schatz«, sagt er ganz sanft, aber ich höre, dass in seinen Worten Angst mitschwingt, und ich frage mich, wen genau er eigentlich überzeugen will. Mir gefriert das Blut in den Adern und ich zittere noch stärker.

»Liva«, sagt mein Vater und legt ein bisschen mehr Zuversicht in seine Stimme, »alles wird gut, versprochen! Ich mach mich jetzt gleich auf den Weg zum Flughafen, aber der nächste Flug geht erst in ein paar Stunden. Es dauert also noch etwas, bis ich bei dir sein kann. Aber morgen früh bin ich da.«

Ich atme hörbar ein. Morgen früh?

»Ich lege jetzt auf und kümmere mich um alles«, fährt mein Dad fort. »In zehn Minuten ist jemand aus meinem Team bei dir. Das alles ist bald vorbei, versprochen.«

Und dann legt er auf und die Münzen rauschen klimpernd in das Gerät. Ich lege meinen Kopf auf den Arm und spüre, wie ich schwanke.

Was hat er da gesagt?, überlege ich. Es ist doch schon vorbei, oder?

7

Als mir jemand auf die Schulter tippt, mache ich einen Satz nach vorn und stoße mit der Stirn gegen die Telefonzelle. Eine brühheiße Flüssigkeit tropft auf meine nackten Beine.

»Au!«, brülle ich.

Der Junge weicht ein paar Schritte zurück, er hält zwei Becher Kaffee in der Hand, der jetzt über seine Finger läuft und auf den Gehweg tropft.

»Hier, ich hab dir einen Kaffee geholt.« Er verzieht das Gesicht, schüttelt die heiße Flüssigkeit von seiner Hand und bietet mir einen an.

Ich sehe ihn verwundert an, allmählich kapiere ich. Er ist doch noch da. Er ist gar nicht gegangen. Er hat nur einen Kaffee besorgt. Als ich meine Hand nach dem Becher ausstrecke, überflutet mich Erleichterung. Ich starre ihn an, als wäre er das achte Weltwunder.

»Trink schon«, sagt er und nickt zu meinem Becher.

»Ich trinke keinen Kaffee«, sage ich.

»Du brauchst Zucker.«

Ich sehe ihn finster an und überlege, ob ich ihm stecken soll, dass ich auch keinen Zucker esse.

»Du stehst unter Schock«, erklärt er, als wäre ich bockig. »Du siehst aus, als würdest du gleich umkippen. Du solltest das wirklich trinken.«

Nur ungern gestehe ich mir ein, dass er recht hat. Ich fühle mich, als würde ich gerade auf dem weltgrößten Adrenalinbrecher surfen und meine Beine geben jeden Moment unter mir nach. Ich trinke einen Schluck. Der Kaffee ist so süß, dass ich ihn fast wieder ausspucke. Er hat garantiert sieben oder acht Päckchen Zucker da hineingekippt und dann noch ein bisschen Süßstoff draufgesprenkelt.

»Danke«, sage ich. Der Zucker wirkt sofort und strömt in meinen Blutkreislauf. Allmählich lichtet sich auch mein benebeltes Hirn, und ich schaue mir den Jungen zum ersten Mal richtig an. Er hat sein Kapuzenshirt ausgezogen und es sich um die Schultern geschlungen. Ich überlege, wie groß er ist, und taxiere