Endspiel Europa - Ulrike Guérot - E-Book

Endspiel Europa E-Book

Ulrike Guérot

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Beschreibung

Europa ist mit einem grausamen Krieg an seiner Grenze konfrontiert und steht dreißig Jahre nach Wiedervereinigung und Maastrichter Vertrag am Scheideweg. Ulrike Guérot und Hauke Ritz beleuchten in ihrem Essay "Endspiel Europa" die Entwicklung der Europäischen Union seit 1992 und besinnen sich auf die ursprünglichen europäischen Werte und Ziele: ein souveränes Europa und eine kontinentale Friedensordnung. Die Entwicklungen, die dem Ukraine-Krieg vorangingen, beleuchten sie genau und bringen bisher weitgehend Unbekanntes ans Licht. Ulrike Guérot und Hauke Ritz fordern ein Umdenken hin zu einem eigenständigen Europa, das gegenüber Amerika und Russland als gleichwertiger Partner auftritt.

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Seitenzahl: 203

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Ebook Edition

Ulrike Guérot & Hauke Ritz

Endspiel Europa

Warum das politische Projekt Europa gescheitert ist – und wie wir wieder davon träumen können

Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.westendverlag.de

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN: 978-3-86489-893-8

© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2022

Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin

Inhalt

Titel

Worum es in diesem Buch geht

Vorwort

Der europäische »Horror Vacui«

Europa als Rumpf

Teil I: Die europäischen Träume der 1990er Jahre

Das »Ende der Geschichte« 1989 aus Sicht Europas und der USA

Europa als »Friedensprojekt«, nach 1989 auch im Osten

Amerikanische Hybris

Die USA als »Weltpolizist«

Europa plant die politische Union, die USA planen den nächsten Krieg

Wirtschaftskrieg gegen Russland

Die Kolonialisierung Russlands

Die schwache Subjektivität der europäischen Eliten

Der Jugoslawien-Krieg und die mediale Steuerung der europäischen Politik

Up Hill: Europas Aufbruch in den 1990er Jahren

Der Weg in die Währungsunion

Les grands projets européen und die europäische Seele

Vertiefung und Erweiterung gehören zusammen

Laurent Gaudé/ Roland Auzet L’Europe, Banquet des Peuples

Laurent Gaudé/ Roland Auzet Europa, das Bankett der Völker32

»Meine Europäerin«, Damien Saez

Teil II: Die 2000er Jahre Das Platzen der europäischen Träume

Die Zeitenwende

Euroeinführung

Die europäischen Großprojekte

Die europäische Verfassung

Krieg im Irak 2003

EU-Osterweiterung

Europa und die Neokonservative Wende in den USA

Anderer Wind aus Washington: Der Aufstieg der Neocons

NATO-Osterweiterung

»Regime-Change« in Tiflis und Kiew

»Full Spectrum Dominance« und der Raketenschild

Putins Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz

Der Georgienkrieg 2008

Kriege fangen in der Presse an

Informationskriegsführung und Propaganda

Teil III: Europa, du Schöne, wo bist du?

Down Hill: Der europäische Abstieg beginnt

Die Bankenkrise als Auslöser

Deutschland als Scharnier

Kulturelle Hegemonie und umgekehrter Totalitarismus

Die Zerstörung der europäischen Sozialdemokratie

Herzstück Ukraine

Die zweite Farbenrevolution in der Ukraine

Europa und das Minsker Abkommen

Das Geschenk der Wiedervereinigung und die Teilung des russischen Kulturraums

Westliche Einmischung und fragile Demokratien

Der letzte Versuch einer Verhandlungslösung

Amerikas Pläne zur Spaltung Europas

Die Vorbereitungen auf den Krieg laufen an

Die Eskalation beginnt

Zum Schluss: Falls Europa erwacht – wie wieder von Europa träumen?

Verrat an Europa

Die Gründe des europäischen Scheiterns

Europa: Was tun?

Das Ende der kulturellen Hegemonie Amerikas

Was ist Europa?

Der europäische Selbstbetrug

Wir sind nicht die Guten

Vom Zerfall

Endlich das Eigentliche diskutieren

Die Schlüsselbegriffe: Nation, Staat, Souveränität

Ein Europäischer Staat?

Die EU-Zukunftskonferenz

Der Ukraine-Krieg als europäische Katharsis

Kann es gelingen?

Anmerkungen

Vorwort

Der europäische »Horror Vacui«

Teil I: Die europäischen Träume der 1990er Jahre

Teil II: Die 2000er Jahre Das Platzen der europäischen Träume

Teil III: Europa, du Schöne, wo bist du?

Zum Schluss: Falls Europa erwacht – wie wieder von Europa träumen?

Orientierungspunkte

Titel

Inhaltsverzeichnis

Gewidmet

Michail Sergejewitsch Gorbatschow (1931 bis 2022)

und

Jacques Delors (*1925)

Worum es in diesem Buch geht

Am Beginn

Ein Blick in den europäischen ›Horror Vacui‹

Europa als Rumpf

I. Die europäischen Träume der 1990er Jahre

Up Hill: Politische Union Europa und kontinentale Friedensordnung

Deutsche und europäische Einigung gehören zusammen

Das europäische Haus von Lissabon bis Wladiwostok

Jacques Delors, Les grands projets européen & die europäische Seele

Und wie die Amerikaner den Mauerfall verstanden...

II. Das Platzen der Träume in den 2000er Jahren

Die Zeitenwende

Die Einführung des Euro und die europäischen Großprojekte

Der Spagat zwischen europäischer Vertiefung und Erweiterung

Der Krieg im Irak 2003

Wenn Nachrichten zu Waffen werden

III. Europäische Absence: Europa, du Schöne, wo bist du?

Down Hill: die europäische Krisendekade

Bankenkrise und Europäische Technokratie 2012

Der Maidan 2014

Von der Teilung der Ukraine zur Teilung Europas

Der lange Weg in den heißen Krieg

IV. Zum Schluss

Die Lateinamerikanisierung Europas?

Vom Verfall: Der europäische Selbstbetrug

Was Europa eigentlich ist

Souveränität für Europa

Wie wieder von Europa träumen?

»Ich hatte den Gegner erkannt, gegen den ich zu kämpfen hatte – das falsche Heldentum, das lieber die anderen vorausschickt in Leiden und Tod, den billigen Optimismus der gewissenlosen Propheten, der politischen wie der militärischen, die, skrupellos den Sieg versprechend, die Schlächterei verlängern, und hinter ihnen den Chor, den sie sich mieteten, all diese ›Wortemacher des Krieges‹, wie Werfel sie angeprangert in seinem schönen Gedicht. Wer ein Bedenken äußerte, der störte sie bei ihrem patriotischen Geschäft, wer warnte, den verhöhnten sie als Schwarzseher, wer den Krieg, in dem sie selber nicht mitlitten, bekämpfte, den brandmarkten sie als Verräter. Immer war es dieselbe, die ewige Rotte durch die Zeiten, die die Vorsichtigen feige nannte, die Menschlichen schwächlich, um dann selbst ratlos zu sein in der Stunde der Katastrophe, die sie leichtfertig beschworen.«

(Stefan Zweig, Die Welt von gestern)

Vorwort

Lieber Leser, liebe Leserin,

in diesem Buch werden Sie mit Blick auf die Entwicklung der Europäischen Union und die vorherrschende Debatte über den Ukraine-Krieg für Sie vielleicht ungewöhnliche Argumente und neue Sichtweisen lesen.

Wir bürsten das in den Medien vorherrschende Narrativ eines ausschließlich von Russland begonnenen Krieges gegen den Strich. Wir betten es ein in den historischen Kontext seit 1989 und belegen mit vielen Quellen, dass dieser Krieg nicht am 24. Februar 2022 begann und die Motive für diesen Krieg nicht nur in Moskau zu suchen sind.

Da es heute in Zeiten sichtlich eingeschränkter Diskurskorridore für viele schon fast unerträglich ist, eine ganzandere Sichtweise überhaupt zuzulassen oder anzuhören, möchten wir Folgendes klarstellen:

Wir verteidigen den russischen Einmarsch in die Ukraine nicht und wir können die wehrhafte Reaktion der ukrainischen Bevölkerung ohne Frage nachvollziehen. Ja, mehr noch: Wir verteidigen grundsätzlich keine Kriege und Landnahmen, denn wir sind generell gegen Krieg, egal wer ihn beginnt, provoziert oder aus welchen vermeintlich edlen Motiven auch immer der Krieg geführt wird.

Wir lehnen den lächerlichen Begriff Putinversteher ab, finden es aber tatsächlich wichtig und richtig, Putins beziehungsweise Russlands Motivation und Interessen zu verstehen. Denn ohne Kenntnis und Verständnis der gegnerischen Position können Verhandlungen nicht erfolgreich geführt werden.

Wir argumentieren in diesem Essay zum einen, dass die EU als politisches Projekt gescheitert ist; zum anderen, dass das Russland-Bild im Westen falsch oder doch zumindest sehr unzureichend ist, auch wenn die demokratischen Defizite Russlands offensichtlich sind, zum Beispiel mit Blick auf Medien, Gerichte und Gefängnisse oder den Umgang mit Oppositionellen.

Auf der Grundlage dieser beiden Annahmen erlauben wir uns, in zweierlei Hinsicht ganz neu zu denken: einmal mit Blick auf die Genese des Ukraine-Krieges; zum anderen mit Blick darauf, wie Europa als dezentrale politische Einheit jenseits der EU in einer europäischen Demokratie ausgestaltet werden könnte, damit Europa auch im 21. Jahrhundert geeint bleibt und auf diesem Kontinent friedlich zusammen mit Russland leben kann. Wir haben uns erlaubt, bei diesem Blick vom aktuellen Zeitgeschehen zu abstrahieren.

Sie mögen viele der Sichtweisen und Vorschläge hier für unrealistisch, naiv oder gar illusorisch erachten. Darüber, was möglich ist und was nicht, gilt es zu diskutieren. Aber bitte ohne kategorisches Framing: Wir, die Autoren, sind weder rechts noch links, weder eine 5. Kolonne Moskaus, Putinversteher, EU-Adepten oder Europa-Populisten noch antiamerikanisch. Wir möchten vorab klarstellen, dass wir uns all diesen Zuschreibungen und Kategorien bei der Diskussion über diesen Essay entziehen.

Überhaupt möchten wir dem voraussichtlichen Übereifer unserer Kritiker etwas vorgreifen, indem wir darauf verweisen, dass es sich bei der vorliegenden Schrift um einen Essay handelt. Das Wort Essay stammt aus dem Französischen und heißt Versuch. Der Philosoph Theodor W. Adorno hat in seiner berühmten Schrift Der Essay als Form die Legitimität solcher Essays / Versuche verteidigt:

»Das Wort Versuch, in dem die Utopie des Gedankens, ins Schwarze zu treffen, mit dem Bewusstsein der eigenen Fehlbarkeit und Vorläufigkeit sich vermählt, […].«1 »Der Essay lässt sich sein Resort nicht vorschreiben. […] Er fängt nicht mit Adam und Eva an sondern mit dem, worüber er reden will; er sagt, was ihm daran aufgeht, bricht ab, wo er selber am Ende sich fühlt und nicht dort, wo kein Rest mehr bliebe.«2

Doch bereits Adorno wusste, dass der Essay als Ausdruck geistiger Freiheit insbesondere in Deutschland einen schweren Stand hat: »In Deutschland reizt der Essay zur Abwehr, weil er an die Freiheit des Geistes mahnt.« Grund sei eine »seit Leibnizischen Tagen nur laue Aufklärung […, die] stets bereit war die Unterordnung unter irgendwelche Instanzen als ihr eigentliches Anliegen zu verkünden.«3

Wir befürchten, dass es eine derartige reflexartige Unterordnung unter Instanzen und Autoritäten gewesen ist, die Europa überhaupt erst in die aktuelle Krise geführt hat. Wir glauben aber auch, dass an die in verschiedenen Aufklärungsschüben unter Beweis gestellte Stärke Europas, nämlich sich selbst zu kritisieren und infrage zu stellen, erneut angeknüpft werden kann.

Wir wünschen uns daher von Herzen eine aufgeschlossene und sachliche Diskussion über die zentralen Thesen dieses Essays, der im Wortsinn einen Versuch darstellt, die Dinge auf dem europäischen Kontinent ganz neu zu denken ...

Wir wünschen eine angeregte Lektüre!

Ulrike Guérot & Hauke Ritz

Berlin, im September 2022

Der europäische »Horror Vacui«

»Wir sehen jetzt, dass der Abgrund der Geschichte groß genug ist für alle.«

Paul Valéry

Europa, das einstige Friedensprojekt, ist im Krieg! Wer hätte sich das noch vor Kurzem vorstellen können? Selbst wenn noch kein Staat der Europäischen Union formal im ukrainisch-russischen Krieg Kriegspartei ist, dominiert das dortige Kriegsgeschehen die Berichterstattung, die Politik und die gesellschaftlichen Entwicklungen in ganz Europa seit Monaten. Für den Herbst wird ein aktives Eingreifen der EU-Staaten im Rahmen der NATO in den Krieg diskutiert, in Teilen sogar forciert. In Großbritannien werden Soldaten und Angehörige bereits durch die Presse auf ein Eingreifen vorbereitet.1 Die britische Premierministerin Liz Truss verkündet, ohne mit der Wimper zu zucken, sie sei bereit, den »nuclear button« zu drücken.2 Annalena Baerbock freut sich darüber, dass deutsche Kinder beim Frühstück über die NATO reden,3 »Kriegsmüdigkeit« ist ein moralisches Vergehen. Wer vom Frieden redet oder Verhandlungen fordert, ist schnell ein Lumpenpazifist. Was für ein Verrat am Wesenskern Europas!

Denn Europa, das hieß siebzig Jahre lang nie wieder Krieg! Und Alle Menschen werden Brüder! Jene Liedzeile aus der Ode an die Freude von Friedrich Schiller, vertont von Ludwig van Beethoven, ist heute die »Europa-Hymne«. Wie oft wurde diese Sinfonie auf europäischen Festen aller Art gespielt in den letzten siebzig Jahren? Aber ist es überhaupt noch erlaubt, die Russen zu den Menschen zu zählen? Während auf jedem Balkon die blaue Europafahne mit den zwölf gelben Sternen hängt und die EU eine europäische Friedenskonferenz einberufen müsste, nimmt Europa derzeit undifferenziert Partei für eine geeinte ukrainische Nation, die es in dieser Form nie gab, noch gibt, sondern die wie alle Nationen in Europa ein multi-nationales und multi-ethnisches Produkt der Geschichte ist, eine »imaginierte Gemeinschaft«, die zu überwinden Europa im letzten Jahrhundert angetreten war. Wo ist ein Peter Scholl-Latour, der im deutschen Fernsehen über Jahrzehnte die Kriegsgeschehen aus aller Welt kommentierte, und der, befragt zum ukrainischen Maidan 2014, als ersten Satz sagte, »Man hat gar nicht zur Kenntnis genommen, dass die Ukraine kein geeintes Land ist«,4 für das zu kämpfen und zu frieren – koste es, was es wolle – Europa aber heute aufgewiegelt wird?

»U-kraine« heißt etymologisch so etwas wie ›an der Grenze‹. Die Krim war in der Geschichte immer entweder ottomanisch oder russisch, Kiew, eine der ältesten Städte Europas, gilt in Erzählungen als »Mutter der Rus«. Odessa wurde später zum kulturellen und religiösen Melting-Pot, wie die meisten europäischen Städte, sei es Prag, Triest oder Wien. Galizien, die Westukraine, also Lemberg, gehörte bis 1918 zum Habsburger Reich. Die ›geeinte ukrainische Nation mit anti-russischer Identität‹ ist eine mit enorm viel amerikanischem Geld geförderte Erzählung der letzten zehn Jahre.5

Wie schnell das FriedensprojektEuropa, die EU, mithilfe einer sagenhaften Kriegspropaganda seit Februar 2022 zu einer Drehscheibe für den »Ringtausch schwerer Waffen« wurde, einem Zirkus gleich, kann nur noch fassungslos, wütend und traurig zugleich machen. Seit einem halben Jahr brüllt sich Europa erschütternd kriegslüstern und geschichtsvergessen in diesen Krieg hinein, der Russe ist wieder da, ganz als ob Europa auf einen Feind gewartet habe, um sich endlich zu einen.6 Kämpfen gilt wieder als chic, vor allem in den Mündern jener Politiker oder Journalisten, die ihre eigenen Kinder niemals in den Krieg schicken würden. Es geht fast nur noch um den militärischen Sieg, es geht wieder um Imperialismus und Einflusszonen – amerikanische hier, russische dort: Europa muss nun in Kiew verteidigt werden, so wie damals am Hindukusch, so heißt es im Überschwang der politischen Erregung.

Es ist ganz so, als hätte Europa sich entschieden, noch einmal alle Elemente der Kriegspropaganda zu wiederholen, wie die belgische Historikerin Anne Morelli7 sie für den Ersten Weltkrieg aufgeschrieben hat: Wohin man schaut, überschwängliche Parteinahme für die Ukraine, völlige Dämonisierung des Gegners, Reduzierung des Feindes auf eine Person (Putin), fehlende Kontextualisierung, klare Teilung in Gut und Böse, empörte Abwehr von Mitverantwortung, Moral statt Geostrategie, der Gegner ist allein für alle Gräuel verantwortlich, man selbst verteidigt ein edles Ziel und keine Interessen, nur der Feind begeht Grausamkeiten, eigene Fehler passieren unabsichtlich, der Feind benutzt unerlaubte Waffen, wer die eigene Berichterstattung in Zweifel zieht, ist ein Verräter, in diesem Fall ein »Russlandversteher« oder Ähnliches. Die Psychodynamik der Kriegshetzer erinnert an 1914.8 Europa in der kompletten Regression!

Derweil, diese Zeilen sind Mitte September 2022 geschrieben, gehen durch Tod oder Verwundung mindestens 1 000 Soldaten pro Tag verloren, die meisten davon Ukrainer.9 Durchgestochene Dokumente der ukrainischen Regierung, die auf den 21. April datiert sind, lassen sogar noch viel höhere Opferzahlen erahnen.10 Mitunter sind die Verluste in einer einzelnen Brigade so hoch, dass die verbleibenden Soldaten desertieren. Herr Präsident, ich möchte keinen Krieg machen, ich bin nicht auf Erden, um einfache Leute zu töten, so sang der große Boris Vian im Februar 1954. Wenn Sie Blut geben wollen, dann geben Sie Ihr eigenes, Monsieur le Président! Wer kennt das Lied überhaupt noch? Es ist ein europäischer Erinnerungsort!

Der anachronistische Krieg, geführt mit schweren Waffen im Zeitalter der Drohnen, des Cyberwars und des neurological warfare,11 geführt um nationale Grenzen im Zeitalter der Entgrenzung, mutet an wie ein Krieg des letzten Jahrhunderts, zumindest in Europa.12 Ein Relikt aus der Zeit vor 1949, der jetzt wie ein Dämon noch einmal auftaucht. Seit jeher war Europa das Territorium – um nicht zu sagen: das Schlachtfeld – für Weltkriege. Die beiden Weltkriege des letzten Jahrhunderts nahmen von Europa aus ihren Lauf. Die Soldatenfriedhöfe von Verdun bis Riga erinnern daran: Ce que nous partageons, c’est d’avoir été, chacun, bourreau et victime. »Was wir teilen, ist, dass wir alle zugleich Schlächter und Opfer waren«, schreibt Laurent Gaudé in seinem großartigen Epos, L’Europe, Banquet des Peuples. Wollen wir wieder damit anfangen?

Der ganze Wahnsinn der ahistorischen Betrachtungsweise dieses Krieges zeigt sich allein in der fast gebetsmühlenartigen Betonung des »russischen Angriffskrieges« vom 24. Februar, als sei dieser Krieg punktgenau an diesem Tag plötzlich vom Himmel gefallen.13 Seit Februar wird den europäischen Fernsehzuschauern eingebläut, dass der aktuelle ukrainisch-russische Krieg, der im Herbst 2022 – zum kolossalen Schaden Europas – als Stellvertreterkrieg der NATO gegen Russland zu entgleisen droht, an diesem und erstan diesem Tag angefangen hat. Und dass es dafür nur einen Schuldigen gibt: Putin. Mit dem man nicht reden könne und der deswegen militärisch besiegtwerden müsse.14 Was treibt Europa in diese historische Selbstvergessenheit, seine Selbstschädigung gar? Verteidigt wird ein Nationalstaat, obgleich Europa die Überwindung des klassischen Nationalstaates sein sollte. Was als Verteidigung europäischer Werte deklariert wird, ist im Grunde deren Perversion: Krieg für einen Nationalstaat ist das Vokabular des letzten Jahrhunderts, des »dreißigjährigen Krieges von 1914 bis 1945« (Philipp Blom), als gekämpft wurde um Eupen-Malmedy, das Elsass, Schlesien oder Ostpreußen. Und heute um den Donbass oder die Krim? Was soll dieser Rückfall ins 20. Jahrhundert, nachdem die EU als größtes Friedensprojekt des 20. Jahrhunderts genau aus diesen Erfahrungen lernen und Europa alle seine Staaten und Völker in eine gesamteuropäische Friedensordnung einbetten wollte?

»Putin« mag der Auslöser sein für die aktuelle Kopflosigkeit europäischer Politik, der Grund oder der Vorwand gar, greift aber als Antwort zu kurz. Denn »Putin« lenkt vom Eigentlichen ab! Das Eigentliche ist, dass die beiden europäischen Großprojekte, die 1989 am Ende des Kalten Krieges – am vermeintlichem »Ende der Geschichte« (Francis Fukuyama)15 – die Hoffnungsträger für eine Neugestaltung des europäischen Kontinentes waren, gescheitert sind. Daran ist nicht »Putin« schuld, sondern Europa allein, das sich behaglich und geschichtsvergessen in einen »Westen« gebettet hat, den es längst nicht mehr gibt,16 anstatt nach 1989 an seiner Emanzipation zu arbeiten.

Das eine europäische Großprojekt im Moment des Mauerfalls von 1989 war die Ever CloserUnion, eine immer engere Europäische Union, besiegelt durch den Maastrichter Vertrag von 1992. Europa sollte eine politische Union und Föderation werden. Von einem europäischen Bundesstaat war die Rede. Das andere war der Aufbau einer kooperativen, kontinentalen Friedensordnung, jenes »europäische Haus von Lissabon bis Wladiwostok«, von dem Michail Gorbatschow stets sprach. Jener Michail Gorbatschow, der Deutschland die Wiedervereinigung schenkte, im selben historischen Moment, in dem Helmut Kohl das Versprechen abgab, dass deutsche und die europäische Einigung zwei Seiten derselben Medaille seien.

Die immer engere Europäische Union fand bis heute, rund dreißig Jahre später, nicht statt. Ihre Umsetzung ist gescheitert. Die EU ist bestenfalls ein Phantom dieses geeinten Europas, wie Régis Debray es noch 2019 in einem fulminanten Essay17 beschrieben hat. Der augenblickliche Krieg in und um die Ukraine ist darum nicht nur ein weiterer blutiger Krieg. Er ist auch und vor allem die Zerstörung des politischen Europas als Idee!

In den 1990er Jahren gab es noch das Bemühen, dieses politische Europa voranzutreiben, doch dieses versandete spätestens nach dem Versuch einer Europäischen Verfassung von 2003. Ein neuer Anlauf für eine Verfassung wurde nicht gewagt. Vertiefung und Erweiterung der EU, die in den 1990er Jahren noch zusammen gedacht wurden, drifteten ab 2004 auseinander. Die EU-Osterweiterung glückte, die sogenannte Vertiefung oder Demokratisierung der EU aber ist bis heute nicht gelungen. Übrig von den Projekten der 90er Jahre blieb 2002 der Euro, der aber ohne politisches Dach und europäische Sozialpolitiken zum trojanischen Pferd für eine Neoliberalisierung der Europäischen Union werden konnte.18 Eine politisch ungeeinte und institutionell fragile Europäische Union geriet dann ab 2008 in den Strudel der Bankenkrise, die der Auslöser für eine europäische Krisendekade wurde, von der sich die EU bis heute nicht erholt hat und wohl auch nicht mehr erholen wird. Zwischen 2010 und heute gab es in loser Folge Austeritätspolitik, die Spaltung Europas in Nord und Süd, linken Populismus im Süden, rechten im Norden, Flüchtlingskrise, Populismus, Nationalismus, dann den Brexit 2016, dazu Regionalismus in Schottland und Katalonien, soziale Spaltung nie gekannter Dimension in ganz Europa, dann eine semi-autoritäre Corona-Politik der EU und jetzt wieder heißen Krieg. Europa, du Schöne, wo bist du?

Europa als politisches Projekt wird derzeit aufgeribbelt wie ein Strickpullover, als würde jemand mit atemraubender Geschwindigkeit an einem Faden ziehen. Ein Tor, wer in öffentlichen Diskussionen die EU noch verteidigen möchte. Politiker aller Couleur in allen EU-Ländern haben das längst aufgegeben. Die AfD, Marine Le Pen oder die FPÖ bearbeiten das »Phantom Europa«, eine technokratisch erstarrte EU, längst mit Hammer und Meißel. Die Nachrufe auf die EU sind schon geschrieben19 – doch niemand trauert. Der Pulse of Europe – erinnern Sie sich? – ist längst von den Straßen verschwunden.

Die europäischen Bürger befinden sich im historischen Analphabetismus. Eine kolossale Geschichtsvergessenheit hat um sich gegriffen. Ever closer Union, eine immer engere Union, was sollte das noch einmal sein? Jacques Delors, Helmut Kohl oder Francois Mitterrand sind tempi passati, ihre damaligen Ambitionen und Pläne für die EU sind heute Träume und Schäume. Die Sehnsucht nach einem anderen Europa aber, die Sehnsucht nach Frieden, Kooperation, europäischer Solidarität, die Sehnsucht nach der ursprünglichen Idee eines Europas jenseits von Nationalismus, diese Idee ist bei vielen nach wie vor ungebrochen. Doch immer mehr wird klar, dass die EU nicht mehr dieser Sehnsucht entspricht!

Die kontinentale, föderale Friedensordnung, das zweite europäische Großprojekt von 1989, erlitt das gleiche Schicksal, obgleich das Bemühen ebenfalls groß war. Schon im November 1990 sollten die europäischen Weichen neu gestellt werden. In der Charta von Paris für ein neues Europa wurde die KSZE, die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, der wichtigste Konferenzmechanismus der Entspannungspolitik, aufgerufen, einen Beitrag zur Bewältigung der in Europa vor sich gehenden historischen Veränderungen und der neuen Herausforderungen für die Sicherheit in der Zeit nach dem Kalten Krieg zu leisten. Der Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE-Vertrag) von 1991 war davon ein erster Ausdruck.

Doch auch dieses Bemühen wurde in den letzten dreißig Jahren nicht konsequent fortgesetzt. Heute sitzen wir auf den Trümmern der einstigen europäischen Ostpolitik. Längst geschreddert sind die Ideen eines Bruno Kreisky oder Olof Palme, eines Herbert Wehner, Egon Bahr oder Willy Brandt, die bereits in den 1990er Jahren versandeten. Schon in den 90er Jahren begann, wie wir in diesem Essay aufzeigen werden, dass russisch-amerikanische Gerangel um Europa. Schon damals hatten die USA andere Vorstellungen von Europe whole and free als viele in Europa. Nach der EU-Osterweiterung 2004 geriet das europäische Kräftegleichgewicht zwischen Ost- und Westeuropa aus dem Tritt. Konkurrierende europäische Erinnerungskulturen rangen um die außenpolitische Ausrichtung der EU. Europa wurde nicht mehr kontinental, sondern nur noch westlich gedacht.

L’Europe est russo-americain, Europa ist amerikanisch und russisch zugleich, singt Damien Saez in seinem – hier in der Buchmitte kommentierten – Lied Mon Européenne (»Mein Europa«), eine lyrische Hommage an den europäischen Kontinent. Doch der Fluch der Sowjetunion, die Gräuel von Stalin und der Gulag von Alexander Solschenizyn überschatteten den europäischen Osten, alle Zusammenhänge und Leistungen der Sowjetunion wurden negiert. Der westliche Vertrauensvorschuss in den 1980er und 1990er Jahren gegenüber dem Perestroika-Russland, der Hauch von Glasnost, der die Ostpolitik des Westens nährte, fand im europäischen Osten keinen fruchtbaren Boden – und durfte keinen finden. Die USA hatten kulturelle Hegemonie über Europa und finanzierten großzügig die europäische Sicherheit. Das war der westlich-atlantische Lack, der glänzte und der die Anziehung der USA im europäischen Osten im Moment der Zäsur von 1989 ausmachte. Der osteuropäische Blick in das damals von Transformation geschüttelte Russland war nur Ödnis, überlagert von schrecklichen Erinnerungen an die sowjetische Unterdrückung sowie Anpassungszwang an den Westen. Der unter Gerhard Schröder und Jacques Chirac noch spürbare Impuls, in den Beziehungen zur arabischen Welt und Russland eigene, europäische Interessen zu vertreten, ließ nach der EU-Osterweiterung auch im Westen 2004 endgültig nach.

Unter Angela Merkel in Deutschland und Nicolas Sarkozy beziehungsweise François Hollande in Frankreich begann sich die Außenpolitik des europäischen Tandems sukzessive auf die Weltsicht der USA auszurichten, der zufolge die Welt mit dem Mauerfall unipolar geworden ist. Man glaubte in Washington, klassische Diplomatie, die auf Kompromissen und Rücksichtnahmen zwischen verschiedenen Staaten und Kulturen beruht, nicht mehr wirklich zu benötigen. Spätestens mit dem Drängen auf die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen der EU mit der Türkei 2004 grätschten die USA zudem immer unverfrorener in die inneren Angelegenheiten der EU hinein,20 ökonomisch wie geostrategisch. Entspannungspolitische Ansätze – die europäische Lehre aus zwei Weltkriegen – wurden verworfen. An ihre Stelle trat die neokonservative Teilung der Welt in Freund und Feind, Demokratie und Diktatur, Gut und Böse und radikales amerikanisches democracy promotion und state building im Nahen Osten im Namen des Guten. Das Project for the New American Century, ein einflussreicher Thinktank in Washington unter der Ägide des Publizisten Robert Kagan, hatte die intellektuelle Deutungshoheit über geostrategische Entscheidungen in Europa fest in der Hand: Vor allem die neuen Eliten von New Europe, also Osteuropa, gaben sich dort Anfang der Nullerjahre die Klinke in die Hand. Robert Kagan hatte zuvor verkündet, die Europäer seien von Venus und die USA vom Mars. 21 Und die europäische Venus habe keine Chance, außer sich dem amerikanischen Mars anzudienen, auch zehn Jahre nach1989. Ein emanzipiertes Europa? Braucht es nicht …

Diese sublimierte Drohung, gleichsam ein amerikanischer Pfiff »zurück ins Körbchen«, tat not, denn um die Jahrtausendwende zeigte der Bau einer kooperativen Friedensordnung zwischen Europa und Russland erste Früchte. Zum Beispiel stieg die Sympathie für Russland in Deutschland kontinuierlich an, während die Sympathie für die USA beziehungsweise der Atlantizismus parallel dazu abnahmen. Die amerikanische »Friedensdividende«, angehäuft in den Zeiten des Kalten Krieges, war aufgezehrt. Der Irak-Krieg zeigte Spuren. Die Indikatoren für eine atlantische Orientierung lagen 2004 für Deutschland nur noch bei 53 Prozent, auch in Polen nur bei 47 Prozent und in Frankreich sogar nur bei 41 Prozent.22Standing ovations