ZeitenWenden - Ulrike Guérot - E-Book

ZeitenWenden E-Book

Ulrike Guérot

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Beschreibung

Polarisierte Gesellschaft und gespaltene Meinungslandschaften. Rechts ist links und umgekehrt, konservativ gibt es nicht mehr, liberal ist neuerdings libertär. Sicherheit kommt vor Freiheit, Friede ist nicht mehr wichtig und das Klima ist an allem schuld. Der Fake regiert die Welt, die Wahrheit ist spurlos verschwunden und wer sie benennt, hat schon verloren. Inhalte sind wertlos, wenn nur die Form perfekt ist: Aus Studien wird Politik, aus Wissenschaft wird Glaube. Ulrike Guérot skizziert in zehn kurzen Essays, in welcher buchstäblich geistlosen Welt wir gelandet sind und wie das politische Denken gedreht und gewendet wurde. Willkommen im 21. Jahrhundert!

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Seitenzahl: 298

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Ebook Edition

Ulrike Guérot

ZeitenWenden

Skizzen zur geistigen Situation der Gegenwart

Impressum

Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.westendverlag.de

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN: 978-3-98791-085-2

2. Auflage 2025

© Westend Verlag GmbH, Waldstr. 12 a, 63263 Neu-Isenburg

Lektor: Tobias Keil

Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin

Inhalt

Titelbild

Ein Spaziergang durch die Republik

Zeitenwende: Was soll das sein?

Von verlorenen Koordinaten

Wie Kafkas Käfer …

»Artikelgesetz Zeitenwende«

Der Zugriff der Geschichte

Geschichte ist geronnene Zeitenwende

Nichts ist für die Ewigkeit

Adieu, Vernunft

Das Zeitalter der *Geist*losigkeit

Mit Herz und Verstand

Gebrochenes Denken

Wir begreifen nichts mehr

KI und Unvernunft

Von der Zivilisation zur Mensch-Maschine

Die verlorene Dimension

Form Follows Function – oder: Nur noch Oberfläche

Emanzipation und Militär – oder: woker Krieg?

Vom Wischen ohne Denken – oder: Von der Wissenschaft zur Ideologie

Vertrauen als Kitt

Die Abschaffung der Frau

Adieu, Demokratie

Heimlich, still & leise

Stasis – über gesellschaftliche Stockung

Von der Agora zum Domus

Wer ist der Souverän?

We, the people oder über die illiberale Demokratie

Das Florett des Rechtspositivismus

Partizipation als Substitut

Räterepublik?

Ausverkauf der Republik

»Die Menschen in diesem Lande«

Von Krieg und Familie

Vom Krieg zur libertären Sprengung des Staates?

Modewort Libertär

Vom Adel zum Parvenü – oder: vom Geld ohne Geist

Von lechts und rinks – oder: vom bürgerlichen Block

Adieu, Europa

Von Mergers and Acquisitions in der Staatenwelt

Aus USA und EU mach USAEU?

Karten werden neu gezeichnet …

… und neu gemischt

Hochmut kommt vor dem Fall

Catch me if you can

»Dark MAGA Assemble«

Über State Crafting & Stablecoins

Geld bedeutet Krieg und Krieg bedeutet Geld

Quo vadis Europa?

Die Rückkehr der Geschichte

Der transatlantische Bürgerkrieg

Die Pensée Unique am Ende der Geschichte

Die Straße kippt immer nach rechts …

Liberalismus im Panzerschrank

Politischer Stellungskrieg

The Politics of Blind Spots

Alter Wein in neuen Schläuchen?

Von politischer Hardware und Software

Szenenwechsel

Europa aus der Idee des Widerstands

Europa als Brückenkopf

Die verkannten Bürger

Der Bruch der eigenen Erzählung

Europäisches Lebensglück in der Verteidigung?

Die EU als Staat?

Ein anderes Europa

Wer will den Krieg?

Vom Spielen und vom Krieg

Der europäische Wiederholungszwang

Europa als große Schweiz

Die Neubestimmung der transatlantischen Beziehungen

Europa in der multipolaren Welt

Statt Ende der Geschichte die Rückkehr der Geschichte

Vom Marktbürger zum europäischen Bürger?

Drei Dinge braucht Europa

Eine kleine Hausordnung für die Republik

Literatur zum Weiterlesen

Anmerkungen

Ein Spaziergang durch die Republik

Teil I – Zeitenwende: Was soll das sein?

Teil II – Adieu, Vernunft

Teil III – Adieu, Demokratie

Teil IV – Adieu, Europa

Navigationspunkte

Titelbild

Inhaltsverzeichnis

Gewidmet dem Frieden & der Freiheit in Europa

Für meine beiden Söhne Félix & Maxime

Und für alle Söhne der Frauen in Europa,

der Ukraine und Russland, Gaza und Israel, im Jemen und Sudan und sonst wo auf der Welt

»Nicht müde werden, sondern dem Wunder leise, wie einem Vogel, die Hand hinhalten«

Hilde Domin

Ein Spaziergang durch die Republik

»Ich hoffe immer noch, dass die Staatsmacht endlich aufhört, sich wie das hässliche Mädchen zu verhalten, das den Spiegel zerschlägt, in der Meinung, er sei schuld an seinem Aussehen.«

Vaclav Havel vor Gericht, 1989

Das Manuskript zu diesem Buch ging am 2. Mai 2025 in Druck. Alles, was seither geschehen ist in diesen Zeiten, in denen die Geschichte – und mit ihr wahlweise hilf- oder verantwortungslose Politiker – mit Siebenmeilenstiefeln durch unser aller Leben trampelt, konnte nicht berücksichtigt werden. Vielleicht ist zu dem Zeitpunkt, an dem Sie dieses Buch lesen, schon alles wieder ganz anders!

Zu Beginn meiner Skizzen möchte ich kurz erzählen, was ich alles in den gut zwei Jahren nach meinem recht spektakulären Rauswurf von der Universität Bonn und eigentlich auch aus der guten Gesellschaft als Schwurblerin oder neuerdings als Rechte erlebt habe, erst in den Corona-Jahren, dann in den ersten beiden Kriegsjahren. Es war viel Schönes!

Zuvor muss ich erwähnen, dass ich in vielerlei Hinsicht kein bundesrepublikanisches Durchschnittsleben gelebt habe. Ich war lange Jahre im Ausland (Paris, Washington, Brüssel, New York, Wien), habe kein Reihenhaus, kein Auto und keine Kaffeemaschine. Allein das zeigt eine gewisse Differenz zu dem, was man gemeinhin als normal erachtet. Und natürlich bin ich Akademikerin und hatte zuvor die normalen Leute – Handwerker, Kassiererinnen, Taxifahrer – genau als das wahrgenommen, was sie sind: Werktätige. Jedenfalls hatte ich, wie die meisten Akademiker, keine sozialen Kontakte oder Freundschaften mit Nicht-Akademikern. Es ist mir auch nicht aufgefallen. Im deutschen Osten war ich in meinem europäischen Leben seit 1989 eher selten.

Von heute auf morgen ein stattliches Gehalt zu verlieren und sich beim Arbeitsamt melden zu müssen, hat etwas Heilsames. Man hat interessante Begegnungen und lernt sehr viele, super-sympathische, hilfsbereite, engagierte, interessierte Leute kennen, in allen möglichen sozialen Zusammenhängen, einfach, weil man mal rauskommt aus seinem Milieu. Ich bin dankbar für diese Jahre, denn sie sind mir zu einem unvergleichlichen Erfahrungsschatz geworden!

Hier möchte ich, statt namentlicher Danksagungen am Ende des Buches, eine Hommage an diese Bürger und Bürgerinnen der Bundesrepublik machen und diese Hommage mit meinem allergrößten Dank an all jene verbinden – sicher Tausende von Personen –, denen ich in den letzten drei Jahren unverhofft begegnet bin, die bei meinen Vorträgen waren oder die meine Videos anschauen, die ein Selfie mit mir wollten, die mich auf der Straße oder im Café angesprochen haben, um mir für meine Arbeit oder Worte zu danken, die ein signiertes Buch von mir wollten oder die mich bei meinem Crowdfunding für meine Anwaltskosten im Frühjahr 2024 oder anderweitig unterstützt haben.

Es gab so viel Schönes, Wahrhaftiges und Echtes in diesen Jahren! Mitbürger, Fremde schickten mir Geschenke – Honig, selbstgemachte Leberwurst, Vitamintabletten, Tee oder selbstgestrickte Strümpfe. Viele sind jetzt in meinem Adressbuch, von Neuss bis Halle und Zürich, von Kiel über Duisburg nach Dinkelsbühl bis weiter nach Salzburg. Personen, denen ich sonst nie begegnet wäre, deren Bekanntschaft ich aber nicht missen möchte. Es ist, als hätte ich mein Land erst jetzt richtig kennengelernt.

Diese Bürger – nicht die Regierung! – sind die Hefe, die diese Republik aus dem Mehltau, der sie aktuell umgibt, wieder befreien und zum Blühen bringen werden! Sie machen unideologische, fleißige und unbezahlte/unbezahlbare Aufklärungsarbeit zu Corona, denn, wie jeder inzwischen weiß, haben die Querdenker inzwischen mit so gut wie allen vermeintlichen Verschwörungen Recht behalten. Diese Bürger organisieren jetzt Friedensbewegungen, denn der scheinbar notwendige Krieg ist die nächste Lüge. Vor allem die Bürger der ehemaligen DDR weben derzeit in unzähligen, privaten und liebevollen Initiativen freundschaftliche und familiäre Bande zwischen Deutschland und Russland und sorgen für das biographische und intergenerationelle Gewebe, das kein Stacheldraht dauerhaft wird trennen können. Die Ostdeutschen wissen auch noch, dass im letzten Krieg nicht nur 6 Millionen Juden, sondern auch 27 Millionen Russen zu Tode gekommen sind, die Erinnerungskulturen in Ost und West sind distinkt unterschiedlich.

Insgesamt wird viel nachgedacht über neue Konzepte des gesellschaftlichen Zusammenlebens: über ein anderes Geldsystem, eine andere Schule, ein anderes Gesundheitssystem oder bessere Nahrungsmittel in unseren Supermärkten. Die Aktivitäten der jungen Generation, die jetzt wie Fabian Kowalik, ein einflussreicher Ernährungsberater auf TikTok, längst ihre neue Welt baut, sind hier sehr aufschlussreich: dutzendweise Videos dieser sympathischen Jugend, die mit ihren gekonnten Kurzvideos spielerisch die Werbung für schlechte Konsumgüter und die Politik gleichermaßen dekonstruiert, zum Beispiel in den KI-animierten Shorts »Zirkus Germania«. Das kann einem großes Vertrauen einflößen, dass sich die Dinge in diesem Land doch noch mal ändern, und vielleicht schon bald!

Dort, bei diesen Bürgern, liegen so viel Wissen und Güte, Engagement und Schaffenskraft, liegen Ideen und Papiere, die zu übersehen sich keine Regierung leisten kann! Dieses Land ist im Umbruch und wird wieder auf die Füße kommen, aber nicht durch die Regierung Merz oder die 800 Milliarden, sondern weil diese Bürger längst wie Maulwürfe die Erde umgepflügt und ihre Projekte wie Blumenzwiebeln als Saat in die Erde gelegt haben.

Ich habe auch bemerkt, welche Mauern ich noch im Kopf hatte. Habe gesehen, wie vor der Tür schon viele andere Ausgestoßene standen, deren Ausstoß oder Ausschluss ich zuvor nicht bemerkt hatte oder nicht bemerken wollte. Welche Framings mir eingeflößt waren. Mit wem man sich am besten wirklich nicht trifft, rechts, ganz extrem, ganz schlimm. Nach zwei Jahren kann ich berichten, dass die meisten Personen, über die derlei erzählt wird – wenn man sie dann doch trifft, ihnen die Hand schüttelt und mit ihnen spricht –, meist sympathisch sind, höflich noch dazu. Oft verletzt durch die Ausgrenzung. Kränkung verbindet. Es schafft eine Art Partisanen-Verbindung. Ich habe mit Querdenkern, Aluhüten, Lumpenpazifisten, Reichsbürgern, Randständigen aller Art und AfD-Politikern gelacht und Schweinebraten gegessen, gefeiert oder getanzt. Ich war bei der Erasmusstiftung und habe dort mit Bürgern diskutiert. Das Gleiche habe ich mit Linken gemacht, gar mit Kommunisten oder Anarchisten, zum Beispiel im Café Laidak in Berlin-Neukölln. Oder mit Katholiken, den echten, die die Messe noch auf Latein halten. Ich habe gestritten und argumentiert – über Klima, Abtreibung, Migration, die Nation oder den Krieg – und immer etwas dazugelernt, vor allen Dingen andere Ansichten. Das Gleiche habe ich, wann immer es ging, mit Migranten, Pennern und Obdachlosen gemacht, die Berliner S-Bahn bietet sich an, es sind alles sehr dankbare Gesprächspartner. Manchmal war ich überrascht, welcher Zahnlose mit Lidl-Tüte oder Busfahrer oder Taxifahrer oder Schaffner mich erkannte. Ich habe viele Bürger kennengelernt, die ich ohne diese ganzen Ereignisse nie getroffen hätte, und bin froh darüber, denn jetzt weiß ich mehr über dieses Land und seine Leute, vor allem über ihre Gedanken und Sorgen. Zum Beispiel über die Nöte der Mitarbeiter vom sogenannten Job-Center, denen für ein Beratungsgespräch offiziell ganze 30 Minuten bewilligt werden.

All diese Bürger, jung wie alt, machen keine CumEx-Geschäfte, haben keine Masken-Skandale oder Graichen-Affären zu verantworten, haben keine Panama-Papers und bedienen sich nicht schamlos in Millionenhöhe an fragwürdigen Investitionsfördertöpfen aus dem Wirtschaftsministerium für irgendwelche Start-ups, die sie dann in den Sand setzen – was inzwischen eine Art »Geschäftsmodell« für Kinder aus besserem Haus zu sein scheint. Denn natürlich muss das Geld nicht zurückgezahlt werden. Der Fisch stinkt immer vom Kopf, sagt man.

Vor allem habe ich endlich, endlich einmal den deutschen Osten kennengelernt und dort fast überall engagierte Bürger getroffen, die noch einen ganz anderen Begriff von bürgerlichem Engagement haben, oft mehr als die Leute im Westen. Der deutsche Osten scheint mir heute die Herzkammer der Republik zu sein, da, wo nicht denunziert wird, da, wo man Spitzel-Methoden schon kennt, da, wo der Sozialismus – wie schlecht auch immer er war – noch residuale Formen von Gemeinschaft und sozialer Sorge hinterlassen hat, die mir in dieser Form im Westen seit langem nicht mehr begegnet sind. In Erfurt, Weimar, Halle oder Dresden scheint die Welt noch halbwegs in Ordnung, jedenfalls mehr als in Recklinghausen oder Frankfurt am Main.

Das bestätigen auch die Erfahrungsberichte, die Claus M. Wohlschlag 2024 in einem wunderbaren Buch versammelt hat: Meinung, Pranger, Konsequenzen. Zweiundzwanzig Fälle. In einem dazu kursierenden Video-Short äußert sich Michael Beleites dazu wie folgt: »Es gab auch in der DDR inszenierte Verleumdung, aber es gab nur ganz wenige, die das geglaubt haben, und noch viel weniger, die das von sich aus verstärkt und noch einen draufgesetzt haben. Heute ist es die Mehrheit, die es glaubt, wenn einer denunziert wird, die das noch verstärkt und von sich aus einen draufsetzt.«1Es ist der entscheidende Unterschied zwischen der Bundesrepublik und der DDR, dass die Bürger in der DDR wussten, dass sie politisch belogen wurden, während die meisten in der (alten) Bundesrepublik Deutschland dachten oder denken, das könne ihnen nie passieren!

Selten galt Aischylos so sehr wie in der besten Bundesrepublik aller Zeiten: Es ist des Menschen Charakter, den, der fällt, noch zu treten. Allen selbsternannten Moralisten, Besserwissern, Guten, Wahrheitswächtern, Trollen, Plagiatsjägern, Denunzianten & Fakten-Checkern rufe ich daher zu: Wer in diesem Buch akribisch Fehler sucht, wird welche finden.2 Wer die Dinge anders sieht, darf das gerne tun. Verleumdet mich! Stellt mich bloß! Es ist mir egal! Aber bedenkt bitte in eurer Tadellosigkeit die drei Finger, die auf euch zurückzeigen. Dieses Buch ist mein freistes Buch, denn ich habe, wie die großartige Janis Joplin damals gesungen hat, nicht mehr viel zu verlieren, nothing left to lose. Ich habe in den Jahren ab 2022 nach zwei Büchern, die irgendwie nicht sein durften, gelernt, dass Geld nicht wichtig ist und man für Geld seine Wahrhaftigkeit und Würde niemals aufs Spiel setzen sollte. Ich habe gelernt, auf die Meinungen anderer über meine Person zu pfeifen. Es waren viele, sehr viele, die in den vergangenen Jahren wieder und wieder irgendein Stückchen aus meinem Leben hervorgekramt haben, um sich per Fingerzeig daran zu ergötzen.

In jenen Jahren haben mich die Niedertracht und Bösartigkeit im Internet überrascht – und angestrengt. Ich habe mit Erstaunen vermerkt, welche Nichtigkeiten auf einmal auf meinem Wikipedia-Account zu lesen waren, sogar über meine Familie. Lange Monate konnte oder musste ich beobachten, wie Trolle mich verfolgten (bald kannte ich die einschlägigen Account-Namen auf X oder LinkedIn), über lange Zeit wurde jedes Posting von mir in Sekundenschnelle hämisch kommentiert. Ich habe aufgegeben mich zu fragen, ob diese Personen damit beauftragt waren (und wenn ja, von wem und warum?) oder ob es KI-gesteuerte Bots waren: Es hat inzwischen aufgehört und es fühlt sich so an, als ob kläffende Kampfhunde endlich von meiner Wade abgelassen haben. Uff!

Diese Formen der bewussten, emotionalen Spaltung von Bürgern haben offenbar nur die Funktion einer Ablenkung vom Eigentlichen und die Verhinderung von Solidarisierung jeder Art.

Es waren die Intellektuellen, die das sogenannte Volk, eigentlich aber alle Bürger im Stich gelassen haben, als es in den letzten Jahren darum ging, erst die Freiheit, dann den Frieden zu verteidigen, ganz wie Julien Benda es in La trahison des clercs von 1927 geschrieben hat. Das Buch ist bedrückend aktuell. »Alle politischen Ideologien beanspruchen heute, auf Wissenschaft zu beruhen«, schrieb Benda schon damals, vor knapp einhundert Jahren (S. 99, dt. Ausgabe). Es sind Wissenschaftler, die mit Klima- oder Corona-Studien um sich werfen und damit Dystopien zementieren, anstatt an die Kreativität und die Fülle des menschlichen Lebens zu glauben. Es sind die Intellektuellen, die jene Diskurse von Identität, Gender oder Diversity erfunden haben, um über Class und Chancengerechtigkeit nicht mehr reden zu müssen. Es sind die Intellektuellen oder die Kulturschaffenden, die mit Trigger-Warnungen und Ähnlichem die Infantilisierung der Gesellschaft mitbetreiben und dabei Grundprinzipien des Humanismus verraten, zum Beispiel, dass wehrhafte, mündige, aufgeklärte Bürger wissen, was sie tun. Die Shitbürger, wie Ulf Poschardt schreibt, sind es auch, die Anstand, Fleiß und Ehrlichkeit verraten haben, aus denen aber der Kitt gemacht ist, der eine Republik zusammenhält.

Und es sind genau diese Leute, die Shitbürger, die in den vergangenen Jahren nicht mehr mit mir reden wollten, weil ich zu Corona dies, zur Ukraine jenes und zu Gaza wieder dies gesagt habe. Wer nicht mehr mit mir reden wollte, waren diejenigen, die von sich meinen, sie seien die Guten, die Toleranten oder die Liberalen. Und die meistens am Ende Punkt sagen. Punkt. Da gibt es nichts zu diskutieren. Wenn du das nicht auch so siehst, dann kann ich dir nicht helfen. Wer nicht mit mir von Angesicht zu Angesicht reden oder diskutieren wollte, trotz mehrfacher Aufforderung oder Einladung, waren diejenigen, die mich am meisten auf sozialen Medien ausgegrenzt oder diffamiert hatten: die dressierte Antifa, die Jusos in Bonn, der AStA, die Fachschaft oder das StuPa. Oder auch FDP-Abgeordnete, also die ganz besonders Liberalen. Oder Personen, die Kontaktaufnahme per Mail abgewiegelt haben, zum Beispiel ein Professor und ehemaliger Kollege mit den Worten: »Ich nobilitiere(!) dich doch nicht durch ein Gespräch mit mir.« Oder eine Literaturagentin, die in Berlin einmal demonstrativ ein Restaurant verlassen hat, als sie mich erblickte. Voilà, die vornehme Gesellschaft auf dem Höhepunkt ihres moralischen Dünkels! Mögen es Einzelfälle bleiben, denn sie künden von nichts Gutem außer von der Stasis!

Gelandet sind wir, vor allem durch das Wegschauen des verbeamteten Bürgertums, in einer quasi kindischen Gesellschaft, die nur noch Schutz und Prävention sucht, von der Mammographie bis zum Bunker, die Gebrauchsanleitung in leichter Sprache dazu. Bürger aber sind nicht Menschen in diesem Lande, die mit hysterischen Angstdiskursen aller Art von Klima bis Krieg dahin geschubst werden sollen, wo man sie haben will: Sie sind im Gegenteil das Rückgrat der Republik. Sie wollen Respekt, Hoffnung, Sinn, Zukunft, Perspektive, Aufgabe und Teilhabe, aber keine Angstdiskurse und Hysterie.

Ich freue mich auf den Moment, in dem dieses Land – hoffentlich bald – wieder zur Räson kommt, eine seriöse Corona-Aufarbeitung beginnt und in einem Atemzug den Schalter von Kriegstüchtigkeit auf Friedfertigkeit umstellt. Kurz: in dem die Bundesrepublik sich wieder auf Freiheit, Frieden und Europa konzentriert anstatt auf Überwachung, Krieg und nationale Schließung. Manchmal habe ich den Eindruck, man müsse nur mal einen Stecker ziehen, dann kommen alle wieder runter, wie nach einem schlechten LSD-Trip.

Denn Räson brauchen wir dringender denn je, stehen wir doch an einer Zeitenwende. Und es gäbe einiges ernsthaft zu diskutieren. Deshalb nehme ich Sie nach meinem persönlichen Spaziergang mit zu einem Streifzug durch ebenjene Zeitenwende.

In diesem Buch wird sich in Teil I der Zeitenwende als solcher genähert. Anschließend wird in Teil II versucht, die epistemischen Drehungen zu skizzieren, durch die die deutsche wie allgemein die westlichen Gesellschaften die Vernunft verloren haben. Teil III erklärt, warum die Demokratie darum nicht mehr funktionieren kann und warum wir uns – Teil IV – darum jetzt anschicken, Europa und seine zivilisatorischen Errungenschaften in einem Krieg zu zerstören.

Teil I

Zeitenwende: Was soll das sein?

Von verlorenen Koordinaten

Die meisten Menschen lokalisieren sich nicht in größeren Raum- und Zeitdimensionen. Wer denkt schon morgens darüber nach, dass es woanders auf der Welt nicht so ist wie im eigenen Reihenhaus in der Kleinstadt oder in der Mietwohnung in der Großstadt? Die meisten Menschen denken nicht über das Leben jenseits ihrer vier Wände nach, geschweige denn jenseits der Landesgrenzen – und meist auch nicht darüber, ob gerade ein autoritäres Regime aufzieht wie Gewitterwolken am Horizont. Wer in Flensburg aufwacht, den dürfte kaum interessieren, ob am Bodensee die Sonne scheint.

Dass die meisten Landesgrenzen früher anders gezogen waren, dass man vor wenigen Jahrzehnten noch nicht in einer »Demokratie« gelebt hat, dass es Könige gab und gibt, Freiheit und Friede keine Selbstverständlichkeiten sind, dass das Geld vor 35 Jahren noch nicht Euro hieß und das Internet, so wie wir es heute kennen, erst rund fünfundzwanzig Jahre alt ist: Das alles überdenken die meisten nicht täglich auf ihrem Weg von zuhause ins Büro. Wenn sie es überhaupt je einmal überdenken: Wo komme ich her? In welche Familie, Stadt, Zeit, in welches System hinein bin ich geboren? Kann ich davon ausgehen, dass mein Umfeld, so wie ich es kenne, ein Leben lang stabil sein wird? Und was, wenn nicht?

Doch selten waren die berühmten vier Fragen von Immanuel Kant so aktuell wie heute:

Was kann ich wissen?

Was soll ich tun?

Was darf ich hoffen?

Was ist der Mensch?

Heute weiß Google, ChatGPT oder die Cloud alles, tun muss man möglichst wenig, hoffen darf man kaum noch etwas und der Mensch fusioniert gerade mit der Maschine. Intelligente Menschen beantworten fast täglich die Frage »Ich bin ein Mensch«, wenn sie sich in irgendein Sicherheitssystem im Internet einwählen und demonstrieren sollen, dass sie eben ein Mensch und kein Roboter sind. Allein damit ist die Selbstverständlichkeit des Menschseins verloren gegangen, und keiner hat es bemerken wollen. Man stelle sich vor, jemand wäre in den 1970er Jahren auf Sie zugekommen und hätte Sie auf der Straße gefragt: Sind Sie ein Mensch? Was hätten Sie geantwortet?

Insofern sind wir wohl tatsächlich in einer Zeitenwende, aber in einer, die etwas anderes ist als nur ein Euphemismus für Krieg. Erzählt wird derzeit, dass die Zeitenwende Krieg bedeutet: Wegen Putin oder Trump ist jetztalles anders. Das soll wohl von den ganz grundsätzlichen gesellschaftlichen Veränderungen ablenken, die gerade gleichsam »unter Deck« passieren. Denn genau das ist ein Krieg: ein fundamentaler Reset für eine Gesellschaft, eigentlich eine Art Ablenkungsmanöver. Wenn eine Gesellschaft in ihren Gewohnheiten umgepflügt werden soll, wenn Dinge durchgesetzt werden sollen, auf die sich freie, denkende, gleichberechtigte und mündige Bürger niemals einlassen würden, dann wird eben Krieg gemacht oder sonst ein Notstand ausgerufen. Krieg ist das Projekt zur Beschneidung – oder zur vollständigen Entsorgung? – des Sozialstaates zugunsten des militärisch-industriellen Komplexes.

Der brillante Johannes Agnoli hat schon 1967 in seinem Klassiker »Die Transformation der Demokratie« konstatiert, dass eine »oligarchisch-autoritäre Praxis« immer dann einen Notstand erzeugt, wenn ein erwünschter technologischer, meist repressiver Wandel in der Gesellschaft ansonsten nicht schnell genug durchgesetzt werden könne (S. 51). Wenn jeder mit Inflation zu kämpfen, gar Hunger hat bzw. die Heizungsrechnung nicht bezahlen kann, dann werden Bürger in verschiedenen Formationen gegeneinander aufgebracht, um die gesellschaftliche Solidarität zu sprengen. In einem solchen Zustand regieren das Geld (Korruption, Schwarzmarkt) sowie das Faustrecht (»Messerstechereien«). In dem allgemeinen Aufruhr rufen dann alle nach Sicherheit, Autorität und starker Führung. Und am Ende nach Krieg, der das freigesetzte gesellschaftliche Ressentiment binden und Einheit genau da vorgaukeln soll, wo man sich auf sonst nichts mehr einigen kann: im Kampf gegen den äußeren Feind. Der Sündenbock für das eigene Versagen wird dann gerne außerhalb gesucht: Putin ist Hitler. Oder Trump bedroht Europa. Da ist der Feind! Auf diesem Diskussionsniveau ungefähr steht die bundesdeutsche Gesellschaft heute, und für jeden, der denken kann, ist es eine Tragödie!

Eine hochgradig ideologisierte, »extremisierte Mitte«, die nicht mehr fähig ist, politisches Unvermögen, schuldhaftes Versagen und Rechtsbruch bei sich selbst zu suchen, kämpft stattdessen gleich mit zwei Feinden wie auf einem Bolzplatz, einem inneren (dem »rechten« Feind hinter der Brandmauer); und einem äußeren (»Putin«), vor dem jetzt auch wieder ein Wall aus Stacheldraht errichtet werden soll: ein »Grenzkorridor«, von Truppen bewacht. Eine vermeintlich liberal-demokratische Mitte, die vor moralischer Überheblichkeit kaum noch laufen kann, igelt sich ein hinter Mauern, weil sie mit Argumenten nicht mehr überzeugen, keinen Respekt mehr generieren kann und darum zur Verteidigung jetzt Waffen braucht: Kampfbomber gegen Putin sowie das Florett des Rechtspositivismus gegen rechts: alles legal, leider nur nicht legitim! An welche dunkle Zeit in der deutschen Geschichte erinnert das eigentlich?

Die Behandlung der AfD ist – ganz egal, ob man die AfD mag oder wählt! – eine Beleidigung der Demokratie: wieder kein Bundestagspräsident, wieder keine Bewilligung der öffentlichen Förderung für die Erasmus-Stiftung, wie sie die Stiftungen, die anderen Parteien nahestehen bekommen. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt … Wo man der politischen Bedrohung nicht Herr wird, flüchtet man in den Ausverkauf von teilweise jahrhundertealten Rechtsbeiständen: Beweislastumkehr, rückwirkende Veränderung von Fristen, U-Haft ohne klare Anklage, Kündigungen wegen privater Treffen oder Meinungsäußerungen, in dubio pro reo. Wer es noch nicht gemerkt hat: Das alles ist schon futsch und wurde in den letzten Jahren zusammen mit Meinungs-, Kunst- oder Wissenschaftsfreiheit weitgehend abgeräumt, teilweise sublimiert, teilweise unverblümt. »Delegitimierung des Staates« war der evasive Kampfbegriff von Ex-Innenministerin Nancy Faeser, bei der man sich oft fragen konnte, ob sie eigentlich das Grundgesetz kennt. Zahlreiche Urteile aus den Corona-Jahren könnten dafür als Beweis ins Feld geführt werden, aber um Argumente oder Beweise geht es ja schon lange nicht mehr.

Wie Kafkas Käfer …

… hat sich die Bundesrepublik Deutschland gleichsam über Nacht zu etwas gewandelt, das man nicht mehr wiedererkennt. Wollte man in loser Folge aufzählen, was in der Bundesrepublik in den letzten Jahren verloren gegangen ist, ohne dass es irgendeinen größeren Aufschrei in der sogenannten bürgerlichen Mitte verursacht hätte, dann wären das: Demokratie, Rechtsstaat, Europa, Vertrauen und Sicherheit, Frieden, sichere Grenzen und sozialer Zusammenhalt, also eigentlich alles, was einmal die Grundfesten der Republik ausgemacht hat. Dazu, auch das ist Zeitenwende, werden »der Westen« und die Weltordnung von 1949 derzeit beerdigt und die Welt wird gleichsam neu verschraubt – dazu mehr in Teil IV.

Schlimmer wiegt, dass sich Wahrheit und Faktizität1 verschoben haben, dass die Vernunft aus den Angeln gehoben wurde, dass das Denken an sich, die utopische Idee und mit ihr jeder Hauch von Zukunft verloren gegangen sind und damit die europäische Zivilität (»civilité« – der Begriff stammt von dem marxistischen französischen Historiker Etienne Balibar). Also unsere originären Denkstrukturen, die Art und Weise, wie wir in Europa einmal auf die Welt geblickt haben! Die eigentliche Zeitenwende ist, dass die in Europa erzählte Welt nicht mehr real ist und die reale Welt in Europa nicht mehr erzählt wird. So heißt es beispielsweise im Koalitionsvertrag (Kapitel V, S. 127) freihändig, bar jeder differenzierten analytischen Einschätzung und komplett evasiv:

»Unsere Sicherheit ist heute so stark bedroht wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Die größte und direkteste Bedrohung geht dabei von Russland aus, das im vierten Jahr einen brutalen und völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine führt und weiter massiv aufrüstet. Das Machtstreben von Wladimir Putin richtet sich gegen die regelbasierte Weltordnung als Ganze.«

Wobei die NATO-Beitrittsperspektive der Ukraine bekräftigt wird, die die USA gerade abgeräumt haben. Wir sind also gut, alle anderen sind böse. Alice im Wunderland hätte an diesen surrealen Zeilen ihre helle Freude und würde, wie in ihrem Dialog mit der Königin und der falschen Suppenschildkröte, sicher ausrufen: Das ist doch alles nur ihre Phantasie. Anders formuliert: Man kann sich auch in etwas hineinreden.

Die Gefahr ist, dass eine Amöben-Demokratie, die rückgratlos ihre Würde und ihre Freiheit für ein Virus auf den Tisch gelegt hat, auch alles andere im Wahn oder für eine andere Hysterie auf den Tisch legen wird. Die jahrelang verbissen verteidigte Schuldenbremse wurde im März 2025 mir nichts, dir nichts gekippt und 800 Milliarden Sondervermögen und »theoretisch unbegrenzt Geld für Verteidigungsausgaben« bewilligt und durch den Bundestag gepeitscht – vermeintlich, um unsere Sicherheit, unsere »Werte« und unsere »freiheitliche Demokratie« vor Vladimir Putin und dem »imperialen Russland« zu schützen. Das alles passierte im selben Moment, in dem Volodymir Zelensky in einem Brief signalisierte, dass er zu einem Friedensschluss bereit war und in dem man schwarz auf weiß nachlesen konnte, dass es der Westen, die EU war, die den Frieden in der Ukraine unterminierte.2 Welche Verdrängungsleistung findet hier statt? Welche Realitätswahrnehmung hat die deutsche Regierung? Welche kognitive Dissonanz ist hier zu beklagen? Wie will man einem Land und seinen Institutionen vertrauen, das offenbar in ideologischen Wolken verhangen und verfangen ist – völlig losgelöst von der Erde, wie Major Tom? Wie gefährlich ist es in einem Land, in dem de facto jetzt Willkür herrscht, in dem Sinne, als das alles, was gestern noch galt, nicht mehr gilt – oder alles, was gestern unmöglich war, auf einmal möglich ist? Wie, außer mit Autorität, Gewalt oder Ideologie, will man vernünftige Bürger dafür gewinnen, den Kurs der Regierung mitzutragen, die auf »Kriegstüchtigkeit« hinarbeitet, während der Frieden schon verhandelt wird? Wenn Irrationalität zur staatlichen verordneten Pflicht wird? Was, wenn die eigene Regierung eigentlich pathologisiert werden müsste, man sie aber nicht in ein Irrenhaus sperren kann?

Deutschland, ja, die ganze EU kann sichtlich mit Faktizität und Wahrheit nicht mehr umgehen und leidet dazu noch an kolossaler Selbstüberschätzung. Denn wir sind nicht (mehr) die Guten, weder die friedfertige EU noch die liberale Demokratie, die wir vorgeben zu sein! Doch weil die meisten das hierzulande nicht glauben wollen (vorzugsweise die im Westen des Landes!) und darum die eigene autoritäre Drehung schönreden oder verschleiern müssen, ist das Land zugleich in verschämter Verdrängung und in kolossalem Aufruhr. Die Zeitenwende, die wir durchlaufen, ist die von der »Banalität des Bösen« (Hannah Arendt) hin zu einer »Banalität des Guten«, ähnlich jener legendären Szene in Charlie Chaplins The Great Dictator, wo das zu Beginn sanfte, vereinnahmende Gesäusel des Great Dictator – nicht wahr, wir wollen doch alle das Gute und den Frieden? – schließlich umschlägt in den ausgestreckten rechten Arm und für das »Gute«: »Der neue Faschismus wird nicht sagen: Ich bin der Faschismus. Er wird sagen: Ich bin der Antifaschismus.« (Ignazio Silone) Kaum ein Zitat, das in den letzten Jahren so im Internet kursiert ist wie dieses. Deswegen wacht passenderweise die Antifa heute darüber, wer diese Drehung zur »Banalität des Guten« nicht mitmachen will: Friedenstauben müssen abgeschossen werden, das Gute duldet keinen Widerspruch!

»Nun erst war mir der richtige Antrieb gegeben: Man musste kämpfen gegen den Krieg«, schrieb Stefan Zweig in der Welt von gestern (S. 290). Drei Kriege erleben wir seit nunmehr fünf Jahren in Europa, die wie Presslufthämmer auf die Gesellschaft einwirken: ein Krieg gegen ein Virus, ein Krieg gegen Russland und einer in Gaza. Hinter diesen Kulissen wird die gewohnte Welt in Europa in ihren bisherigen Strukturen gesprengt.

»Artikelgesetz Zeitenwende«

Zeitenwenden sind so alt wie die Menschheitsgeschichte. Der Übergang zum Neolithikum, von Jägern und Sammlern, zur Sesshaftigkeit, war eine Zeitenwende, ebenso wie die Abschaffung des Matriarchats, die Erfindung des Rads – die wohl weltbewegendste Erfindung bis dato, auch wenn ihr KI und Roboter in Ausmaß und Dimension den Rang ablaufen könnten. Die Achsenzeit von Karl Japsers, in der rund 600 Jahre vor Christus im alten Griechenland das Ich in die Welt der Philosophie kam, oder die Französische Revolution von 1789, die aus Untertanen Bürgern machte.

Müssen wir uns also Sorgen machen über etwas, das es schon immer gegeben hat, nämlich Wendungen der Zeit? Was ist normal am derzeitigen Moment, was ist ungewöhnlich? Was können wir (vielleicht) steuern, was nicht?

Tatsächlich erinnert der zeitgenössische Moment, der oft als »Multi-Krise« bezeichnet wird, an den Untergang des alten Roms, der sich über rund 300 Jahre erstreckte, also weit über ein Menschenleben hinaus. Kaum einer wird prognostizieren können, wohin die derzeitige Zeitenwende Europa und die Welt treibt. Vier Faktoren, die gemeinhin als Auslöser für den Zerfall des Römischen Imperiums gelten: Dekadenz, äußere Bedrohung, Klima undBürgerkrieg, lassen sich unschwer auch heute diagnostizieren, und dies entspricht mithin der typischen Verbindung von Transformation und Katastrophe, den phänotypischen Elementen jedes Krisengeschehens, das heute wie damals apokalyptisch daherkommt. Apokalypse heißt übrigens, mit einem Schrei die Lüge der Welt benennen. Die isländische »Lieder-Edda«, ein uraltes Sagen- und Heldenepos, hat hierzu allegorisch viele interessante Dinge zu sagen. Wenn die Lüge sichtbar wird, platzt die alte Welt.

Die Dekadenz ist heute »linksgrün-versifft«, die Katastrophe oder Bedrohung wahlweise die AfD oder Putin, das Klima ändert sich und ein Bürgerkrieg zwischen polarisierten gesellschaftlichen Gruppen liegt gleichsam in der Luft. Dies alles zu durchleben, ist die Zeitenwende und dafür, dass wir gut durch die Apokalypse kommen, also die Lügen nicht platzen lassen, gibt es jetzt 800 Milliarden. Preiswerter wäre es wahrscheinlich, wenn wir es einfach mal mit der Wahrheit versuchten, ohne Hysterie und ganz unaufgeregt: Umweltschutz statt Klimahysterie, Frieden statt Krieg, Denken statt KI. Kostet nicht viel, würde uns aber abverlangen, von unserem Glauben abzufallen, genauer: von unserer Ideologie! Anders formuliert, es würde uns abverlangen, zur Vernunft zurückzukommen.

Zeitenwende ist ein Wort, das in den letzten Wochen und Monaten so oft benutzt wurde, dass man es nicht mehr hören kann – gewissermaßen die Neuauflage von alternativlos. Zeitenwende sagte Olaf Scholz 2022 anlässlich des russisch-ukrainischen Krieges: »Wir erleben eine Zeitenwende. Und das bedeutet: Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor.« Zeitenwende sagten viele zu Jahresbeginn 2025, als Donald Trump vereidigt wurde und so viele Dekrete pro Tag unterschrieb, dass einem vom bloßen Zuschauen schwindelig werden konnte. Kaum ein politischer Kommentar anlässlich der Münchener Sicherheitskonferenz Mitte Februar 2025, der ohne das Wort Zeitenwende auskam: Zäsur. Epochenbruch. Neubeginn. Aufregung! Kaum morgens aufgewacht, war man schon In der Welt von gestern. Stefan Zweig lässt grüßen: Aber die schlimmen Nachrichten häuften sich und wurden immer bedrohlicher. (S. 255)

Dass der euphemistische Begriff der Zeitenwende lediglich die Verschleierung einer Kriegserzählung ist und auch im behördlichen Gebrauch schon reduziert wurde auf Krieg, das wurde in deutscher Beamtensprache schon in ein Gesetz gegossen. »Um die personelle Einsatzbereitschaft der Bundeswehr zu steigern, hat der Bundestag das ‚Artikelgesetz Zeitenwendeʻ beschlossen. Es soll die Fähigkeit zur Landes- und Bündnisverteidigung angesichts aktueller Herausforderungen steigern und ist ein wesentlicher Meilenstein auf dem Weg zu kriegstüchtigen deutschen Streitkräften«, so steht es auf der Website des Bundesministeriums für die Verteidigung. Zeitenwende also nur ein Gesetz für Krieg? Auf die deutsche Bürokratie konnte man schon immer zählen!

Welche Elemente die jetzige Zeitenwende ausmachen bzw. warum wir da gelandet sind, wo wir sind – nämlich in der Unvernunft –, darum soll es in diesem Büchlein gehen. Es wird gewagt, in groben Strichen zu skizzieren, worüber wir eigentlich nachdenken sollten; die Umrisse einer neuen Zeit zu zeichnen, die jetzt anbricht; eine Skizze der gesellschaftlichen Veränderungen zu wagen, deren Heftigkeit am Horizont schon zu greifen, die aber noch nicht in den Köpfen sind und vom politischen Tagesgeschäft noch nicht erfasst werden. Zeitenwenden entziehen sich der Politik. Es sind Momente, in denen die Geschichte über das Leben der Menschen herfällt, in denen die Geschichte fast physisch in ihren Alltag eindringt: Wenn Krieg ist, wird der Weg zur Arbeit ein Statement vorgetäuschter Normalität.

Der Zugriff der Geschichte

Vor der Geschichte kann sich niemand in Sicherheit bringen. Selten hat das jemand so schön beschrieben wie Peter Härtling in seinem Roman »Eine Frau«. Über die Frau, geboren 1904 in Böhmen, bricht die Zeit herein. Sie kann ihre Lebensgeschichte nicht mehr von der Zeit trennen. Anders formuliert: Zeitenwenden sind Zeiten, in denen es kein Privatleben mehr gibt. Alles Private wird politisch! Die Zwillinge der Frau, geboren ins freie, glückliche Böhmen hinein, mit denen sie unter den Kirschbäumen spielte, gehen Jahre später zur Hitlerjugend, die eigenen Söhne auf einmal von ihr entfremdet, sie ist fassungslos: Jeder reagiert anders auf die Geschichte, die auf die Leben zugreift.

Genau das aber sind wir im verwöhnten Europa nicht mehr gewohnt: den Zugriff der Geschichte auf unsere Leben! Vorbei die Zeit, in der die Wochenendplanung daraus bestand, zwischen Kino, Spa und Kurztrip nach Sylt zu wählen, und wo Freiheit hieß, zu tun und zu lassen, was ich will. Das Bewusstsein, dass unser Leben mit der Zeit und ihrem Wandel zu tun hat und man sich nicht aus der Zeit befreien kann; dass man eingewickelt wird in Imperative, deren Entscheidungen sich einem selbst entziehen – zum Beispiel jetzt »kriegstüchtig« zu werden; dass Zeiten (von wem eigentlich?) gewendet werden können, wie ein Omelette in der Pfanne, von heute auf morgen, manchmal brutal: Dieses Bewusstsein ist in der beschaulichen Bundesrepublik, die inzwischen eine alte, behäbige Dame von stattlichen 75 Jahren geworden ist, abhandengekommen.

Corona war die erste Zeitenwende und gleichsam eine (Vor-)Übung auf den geplanten Krieg: eine bewusste Irreführung und Verwirrung der Gesellschaft, eine Umdrehung von Sprache (»Distanz ist die neue Nähe«), eine Verballhornung der Vernunft, der Verlust von Maß und Mitte, der Zugriff auf die Mündigkeit und Subjektivität der Bürger, ein öffentlicher Zugriff auf die Gestaltung des Privaten, das eigene Heim (Lockdown), den eigenen Körper (»schütze dich und andere«). Ein Zugriff, bei dem das Kollektive über das Private gestellt wurde. Freiheit, Adé! Der Freiheitsentzug wurde sorgfältig einstudiert. So gut einstudiert, dass die Mechanismen des autoritären Zugriffs schon verfangen haben: Sie lauten Cancel Culture, Diffamierung, lautlose Entfernung kritischer Personen, Existenzvernichtung. Aus einer liberalen Gesellschaft wurde im Handumdrehen eine geschlossene Gemeinschaft. Die deutsche Gesellschaft hat zugeschaut und schnell gelernt: die Zeitungsredaktionen als Erste. Besser nicht mucksen! Um den gleichen Zugriff auf den einzelnen Bürger, aus denen jetzt Soldaten oder doch zumindest eine militarisierte Zivilgesellschaft werden muss, die Bunkerbau als neues Freizeitvergnügen betrachtet, geht es bei der zweiten Zeitenwende, die 2025 ausgerufen wurde: den angekündigten Krieg gegen Russland, der jetzt schon keine roten Linien mehr kennt, weder in der verbalen Aufrüstung noch mit Blick auf die Milliarden, die dafür verprasst werden sollen und die wie ein Lutscher anmuten, mit dem der ganze Kriegsspaß versüßt werden soll … Ich verzichte auf eine libidinöse Betrachtung des gesellschaftlichen Erregungszustandes und warte auf den Moment, wo der Lutscher ausgelutscht ist.

Geschichte ist geronnene Zeitenwende

Geschichte ist nichts anderes als geronnene Zeitenwenden. Erst wenn sich eine zeitliche Epoche schließt, kann Rückschau gehalten werden.