Wie hältst du's mit Europa? - Ulrike Guérot - E-Book

Wie hältst du's mit Europa? E-Book

Ulrike Guérot

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Beschreibung

Ulrike Guérot beleuchtet in "Wie hältst du’s mit Europa?" die Entwicklung der EU in den dreißig Jahren zwischen 1989 und 2019. Wie oder wieso hat sich Europa, auch unter deutschem Einfluss, immer mehr von seinem Ziel einer ›immer engeren Union‹ abgewendet? Was hält diesen Kontinent in seinem Innersten noch zusammen, in einem Agenblick, wo das einstige deutsche Paradigma, nämlich dass deutsche und europäische Einigung zusammengehören, ganz offensichtlich nicht mehr gilt? Dieses Buch ist nach Oskar Negts Gesellschaftsentwurf Europa. Plädoyer für ein gerechtes Gemeinwesen der zweite Band der Edition ifa im Steidl Verlag. Ziel der Reihe ist die Diskussion neuer Sichtweisen auf, Prinzipien von und Perspektiven für Europa. Das große Friedensprojekt und die Vision einer wirklichen Union können gegen die neuen Abschottungen, Renationalisierungen und Europafeindschaft nur behauptet werden durch mutige Verteidigung des Erreichten, konsequente Weiterentwicklung der Gemeinschaft von Staaten zur Union der Kulturen, Gesellschaften und Nationen und radikale Ideen für Europa. Viele Initiativen und Bewegungen zeigen dabei das Engagement der Generation, die in diesem Europa leben wird – und fordern die Übernahme von Verantwortung statt die Verteidigung von Interessen, das Eintreten für ein Europa der Menschen – nicht der Staaten. Der Essay "Wie hältst du's mit Europa??" ist der zweite Essay in der Reihe IFA-Edition im Steidl Verlag.

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Ulrike Guérot

Wie hältst du’s mit Europa?

Steidl / ifa

Vorbemerkung

Ulrike Guérot beleuchtet in Wie hältst du’s mit Europa? die Entwicklung der EU in den dreißig Jahren zwischen 1989 und 2019 und fragt, wie sich Europa, auch unter deutschem Einfluss, immer mehr von seinem Ziel einer ›immer engeren Union‹ abgewendet hat. Sie fragt, was diesen Kontinent noch in seinem Innersten zusammenhält, in einem Moment, wo das einstige deutsche Paradigma, nämlich dass deutsche und europäische Einigung zusammengehören, ganz offensichtlich nicht mehr gilt.

Dieses Buch ist nach Oskar Negts Gesellschaftsentwurf Europa. Plädoyer für ein gerechtes Gemeinwesen der zweite Band der Edition ifa im Steidl Verlag. Ziel der Reihe ist die Diskussion neuer Sichtweisen auf, Prinzipien von und Perspektiven für Europa. Das große Friedensprojekt und die Vision einer wirklichen Union können gegen die neuen Abschottungen, Renationalisierungen und Europafeindschaft nur behauptet werden durch mutige Verteidigung des Erreichten, konsequente Weiterentwicklung der Gemeinschaft von Staaten zur Union der Kulturen, Gesellschaften und Nationen und radikale Ideen für Europa. Viele Initiativen und Bewegungen zeigen dabei das Engagement der Generation, die in diesem Europa leben wird – und fordern die Übernahme von Verantwortung statt Verteidigung von Interessen, das Eintreten für ein Europa der Menschen – nicht der Staaten.

Ronald Grätz, März 2019

»Nun sag, wie hast du’s mit der Religion?Du bist ein herzlich guter Mann,allein ich glaub, du hältst nicht viel davon.«

Gretchen in Goethes Faust

Inhalt

Cover

Titel

Vorbemerkung

Prolog

Europa: Haus ohne Dach

Zehn Gründe des Scheiterns

Der große Aufbruch

Ein erster Blick auf Frankreich

Die »Normalisierung«

Drei Prinzipien deutscher Europapolitik

Achsenbruch im deutsch-französischen Tandem

Macron und der Karren im Dreck

Tu m’aimes, moi non plus

Old Europe – New Europe

Aus dem Ruder: Türkei und EU-Osterweiterung

Aus der Traum

Frankreich zum x-ten Mal

Don’t touch my export

Marine Le Pen oder französische Metamorphose

Der Gegenangriff des ›Empire latin‹

Begossener Pudel

»Wir sind wieder wer«

Germany goes global: farewell, Europe?

Die Banken waren’s

Sündenbock Europa

Endlich einmal Opfer

Alle auf Koks

Eurokrise und kein Ende

Endlich ein Dach, bitte!

Das Jahr 2013

»Schland, Schland«

Immer diese Griechen

Wie hältst du’s mit Europa?

Neue Saiten

German Übermacht

Bürgerliches Aufbegehren

Deutscher Wohlfühl-Aktivismus

Und immer noch kein Dach

Ist die CDU noch europäisch?

Ein deutscher Impuls für Europa?

Das nächste Europa-Parlament

Eine nüchterne Tour d’Horizon

Europa und die Welt

Zivilgesellschaft ohne politischen Hebel

Ganz viel Europa – nur welches?

Epilog

Endnoten

Literaturverzeichnis

Impressum

Weitere Bücher

Über die Autorin

Prolog

Europa zum Jahresende 2018. Es ist kurz vor Weihnachten. In Frankreich Gelbwesten, das Land stehe, in den Worten des französischen Innenministers Christophe Castaner, kurz vor einem Bürgerkrieg. In London findet Theresa May keine Mehrheit für ihren Brexit-Deal und verschiebt die Abstimmung darüber im Unterhaus. Großbritannien versinkt im politischen Chaos. Die Iren sind in großer Unruhe über die Zukunft ihrer Grenze zum Vereinten Königreich. Italien leistet sich ein Duell mit der EU-Kommission über sein Budget, derweil das Land in zwei Teile zerfällt, auf der einen Seite die Lega Nord und 5 Stelle, auf der anderen die europafreundlichen Italiener, die nicht mehr wissen, wie sie die politische Gestaltungsfähigkeit ihres Landes zurückerobern können. In Andalusien sitzen jetzt Populisten in der Regierung, Katalonien will das Königreich Spanien verlassen. Schweden konnte wochenlang keine Regierung bilden, in Belgien zerbricht die Regierung gerade, weil Premierminister Charles Michel den UN-Flüchtlingspakt gegen den Willen seines flämischen Koalitionspartners unterzeichnet hat. In Ungarn wird eine private Universität geschlossen, in Polen wurde versucht, Verfassungsrichter aus dem Amt zu drängen. In Slowenien und Malta werden kritische Journalisten ermordet, von Griechenland, einem gebrochenen Land, redet sowieso niemand mehr. Deutschland ist vermeintlich stabil, doch die Spaltung der CDU anlässlich der Wahl von Annegret Kramp-Karrenbauer zur Parteivorsitzenden ist ein Anzeichen dafür, dass auch hier das Parteiengefüge bedenklich ins Wanken geraten ist und es 2019, zumal nach den Landtagswahlen in Ostdeutschland, politisch unruhig werden könnte.

Ist das das Europa, das uns vor Augen stand, als wir 1992 den Vertrag von Maastricht für eine Ever Closer Union besiegelt haben? Ich war damals 27 Jahre jung, hatte gerade meine erste Stelle bei dem damaligen außenpolitischen Sprecher der CDU/ CSU-Fraktion, Karl Lamers, angetreten und habe – aus heutiger Sicht naiv – freudig daran geglaubt: Europe united! Geschafft! Für immer. 1964 im Rheinland geboren, den rheinischen Kapitalismus und die deutsch-französischen Beziehungen mit der Muttermilch eingesogen, bin ich mit dem politischen Paradigma der Bundesrepublik Deutschland aufgewachsen, dass deutsche und europäische Einigung zwei Seiten derselben Medaille seien. Und siehe da: auf die deutsche Wiedervereinigung 1989 folgte nur drei Jahre später – orchestriert von Helmut Kohl, François Mitterrand und Jacques Delors – der Vertrag von Maastricht und mithin das europäische Versprechen dieses Landes, die deutsche in der europäischen Einheit aufgehen zu lassen. Es fühlte sich gut an! Damals habe ich nie auch nur im Entferntesten daran gedacht, dass ich noch einmal eine Zeit durchlaufen würde, in der die europäische Einigung wieder zur Disposition steht.

Man muss keine Kassandra sein, um einzugestehen: Heute ist die EU als politisches Projekt des 20. Jahrhunderts gescheitert. Was aus Europa im Verlauf des 21. Jahrhunderts werden wird, vermag niemand zu sagen. Aus dem politischen Einigungstraum ist inzwischen banges Hoffen geworden, dass Europa und sein zivilisatorischer Anspruch für die nächsten Dekaden gerettet werden können, dass Europa nicht ein zweites Mal in seiner jüngeren Geschichte der populistischen Regression verfällt, dass der unheilvolle Vormarsch von Nationalismus und Autoritarismus, der sich auf diesem Kontinent anbahnt, abgewendet werden möge. Doch niemandem mit wachem Auge bleibt dieser Tage verborgen, dass es damit eng werden könnte. Und niemand scheint einen Plan zu haben, wie Europa diesen Kräften entgegenwirken kann. Mit einem Federstrich jedenfalls wird nichts passieren. Die eigentliche Frage, die sich 2019 auf dem europäischen Kontinent stellt, ist die nach einem europäischen Neustart, einem Reset, und wie dieser aussehen müsste. Und wo die politische Durchsetzungskraft dafür noch herkommen soll. Und ob ein solcher Reset unter gegebenen Bedingungen – also selbst wenn es einen Plan und politische Durchsetzungskraft gäbe – überhaupt noch machbar wäre.

Immerhin kann derzeit zweierlei beobachtet werden: noch nie wurde so viel über Europa diskutiert wie heute. Bürgerforen und Diskussionsrunden zu Europa, wohin man schaut. Die EU-Kommission nimmt derzeit viel Geld in die Hand, um Dialoge, Schülergespräche, Town-Hall-Meetings oder was auch immer zum Thema Europa zu organisieren. Im Vorfeld der Europawahlen fanden europaweit seit 2017 inzwischen 1.705 offizielle »Bürgerdialoge« im Rahmen der vom EU-Rat veranlassten Konsultationen statt, die auch nach Themen und politischen Präferenzen der Bürger ausgewertet wurden, die wahrscheinlich größte Live-Sondierung der Befindlichkeiten europäischer Bürger überhaupt.1 Unzählige andere Europa-Foren und Diskussionsveranstaltungen von Institutionen und Akademien aller Art sind da noch nicht mitgezählt. Europäische Zivilgesellschaft und Partizipation sind inzwischen das Lieblingsforschungsthema der Politikwissenschaft. Keine Stiftung, die im letzten Jahr nicht eine Diskussion zum Thema Europa organisiert hätte. Keine Forschungseinrichtung, die nicht eine Befragung durchgeführt hätte. Die Bibliotheken quellen über von Artikeln über den »European Citizen« oder die europäische Identität. Eine europäische Bürgerinitiative oder Demonstration jagt die andere, Zeitungen werden in regelmäßigen Abständen mit Manifesten für ein anderes, demokratischeres, sozialeres Europa geflutet – aber wird das überhaupt zur Kenntnis, geschweige denn ernst genommen? Ein halbes Dutzend neuer europäischer Parteien von der liberalen Volt Europa bis hin zum progressiven DiEM25 wurden in jüngerer Zeit gegründet und werden in mehreren Ländern bei den kommenden Europawahlen im Mai 2019 antreten. So viel Europa war also – zumindest an der Oberfläche – noch nie, wie in dem Augenblick, in dem allgemein bemerkt wird, was der Verlust Europas für alle bedeuten könnte. Doch es ist wie sonst im Leben: Wenn ein Verlust droht, ist es oft schon zu spät.

Denn auf der anderen Seite findet realiter immer weniger Europa statt. Je mehr geredet wird, desto weniger passiert realpolitisch. Institutionelle Reform: auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben. Transnationale Listen für die Europawahlen: noch im Februar 2018 im Europäischen Parlament abgelehnt. Eurozonen-Reform: nicht mehr auf der Tagesordnung. Bankenunion: zäh. EU-Sozialgipfel in Göteborg: stiefmütterlich. Balkan-Erweiterung: vergessen. Mittelmeer-Union: begraben. Macrons Reformvorschläge: weitgehend verpufft, auch wenn kurz vor den Europawahlen mit Wortbeiträgen z.B. von der CDU-Vorsitzenden Annegret Kramp-Karrenbauer frischer Wind in die Debatte zu kommen scheint.2 EU-Budgetverhandlungen: schwierig. Brexit-Ausgang und Folgen: ungeklärt. Europäische Arbeitslosenversicherung: strittig. Und so weiter.

Selten klafften europäischer Anspruch und Wirklichkeit weiter auseinander als in der letzten Dekade, die mehr als alle vorausgehenden eine verlorene Dekade für Europa war. 2019 – siebzig Jahre nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland, dreißig Jahre nach dem Mauerfall, zwanzig Jahre nach der Einführung des Euro und im Jahr des voraussichtlichen Brexits – stellt sich also die Frage: Wie hältst du’s mit Europa? Wahrscheinlich bleibt nicht mehr viel Zeit, diese Frage zu beantworten. Denn wenn politische Systeme erst einmal ins Wanken geraten, dann geht alles meist sehr schnell. Und am nächsten Morgen ist man in einer anderen Welt.

Es bleibt also nicht mehr viel Zeit zum Handeln. »Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben«, sagte einst Michail Gorbatschow. Es ist inzwischen an der Zeit, eine realistische Bestandsaufnahme dessen zu machen, was in den letzten Jahren in der europäischen Integration schiefgelaufen ist und wo wir deshalb heute stehen: vielleicht an einem Punkt, wo das jahrelange Weiter-so-Durchwursteln einfach nicht mehr geht. Oder andersherum: wo nur noch das geht.

Dieser Essay ist ein sehr persönlicher Versuch, die dreißig Jahre Geschichte der europäischen Integration von 1989 bis 2019 zu rekapitulieren, um zu verstehen, was passiert ist. Um zu verstehen, wo und in welchen kleinen und unsichtbaren Schritten wir Europa verloren haben.

Das erscheint umso wichtiger, als heute kaum noch jemand weiß, was der Vertrag von Maastricht ist oder sein sollte oder wer Jacques Delors ist. Das Aufbrechen der einstigen europäischen (Friedens-)Erzählung ist spürbar geworden, die Generationsdynamik bestimmt den Diskurs: Europa ist – je nachdem, wie alt man ist und wo man wohnt – wahlweise ein Friedensprojekt oder eine Sparpolitik-Keule, Kerneuropa mit deutsch-französischem Tandem, Liberalisierungsprojekt und (Steuer-)Freiraum für Großkonzerne jedweder Herkunft oder ein Trittbrett für politische Selbstbehauptung, wie für viele in Osteuropa. Keine gemeinsame Geschichte, keine gemeinsamen Ziele, keine gemeinsame Zukunft! Die Frage, wer wann zu welcher europäischen Erzählung dazu gestoßen ist, bedingt das heutige Durcheinander von europäischen Narrativen. Europa ist für jeden etwas anderes: vielleicht nur eine Chiffre oder ein einziges Kauderwelsch! Der hier vorliegende Essay ist ein kurzes Resümee der europäischen Ereignisse von 1989 bis 2019, gespickt mit persönlichen Erinnerungen, wie ich die letzten dreißig Jahre europäischer Desintegration erlebt habe – und die deutsche Rolle darin.

Es geht hier nicht darum, die EU oder diejenigen, die in jüngeren Jahren immer noch intensiv in und für Europa gearbeitet haben, zu kritisieren oder überhaupt jemandem Schuld zuzuweisen. Sondern es geht um eine grundsätzliche Haltung zu Europa, die irgendwie verloren gegangen ist – und zwar eher bei den politischen Repräsentanten als in der deutschen Bevölkerung, die in ihrer großen Mehrheit dezidiert europäisch ist. Dennoch haben viele Deutsche die Geschichte des Landes in den letzten dreißig Jahren nicht als Teil einer gesamteuropäischen Geschichte gesehen. Wie kann man diese bewusstmachen? Denn vielleicht wäre es gut, die Perspektive der anderen Europäer vor den Europawahlen 2019 kennenzulernen? Ich weiß, dass ich mich mit diesem Essay in einer aufgepeitschten Europa-Debatte exponiere, die inzwischen geschickt von nationalistischen Strömungen gekapert wird. Oft weiß man nicht so recht, ob die Anti-Europäer nur provozieren oder die Erfolge der europäischen Einigung tatsächlich aufs Spiel setzen wollen. Es ist dieser Tage nicht mehr einfach zu bestimmen, was »Europa« überhaupt noch heißt.

Dieser Essay handelt deshalb von der Zeit, als Deutschland sich anschickte, in Europa eine Ever Closer Union zu begründen und dem Paradigma zu genügen, das die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von Adenauer bis Kohl immer begleitet hat, nämlich dass deutsche Wiedervereinigung und europäische Einigung unwiderruflich zusammengehören.

Was hatten wir mit dem europäischen Einigungsprojekt 1989 vor? Wo stehen wir jetzt? Was ist eine plausible Extrapolation der derzeitigen politischen und ökonomischen Dynamiken auf dem Kontinent? Wer im politischen Spektrum will was mit Blick auf Europa erreichen und wer kann noch was durchsetzen? Welche der Errungenschaften der EU können wir hoffentlich bewahren, vor welchen europäischen Entwicklungen muss man sich fürchten? Nach der gescheiterten Demokratisierung Europas ist die Frage, ob eine Rückkehr zum Status quo ante, also zu den vergleichsweise ›ruhigen‹ europäischen Zeiten der EU vor der Banken-, Euro-, Spar- und Geflüchtetenkrise ohne Aspiration auf einen großen europäischen Wurf, eine machbare, gar eine sinnvolle politische Option ist.

Der Text ist während eines dreiwöchigen Aufenthalts über den Jahreswechsel 2018/19 in Indien entstanden. Während der ganzen Zeit stand in der indischen Tageszeitung The Hindu im Politikteil keine einzige Nachricht über Europa. Nur einmal wurde berichtet, dass der FC Chelsea ein Fußballspiel gewonnen hatte. Weder Gelbwesten noch Brexit schafften es in die Berichterstattung. Wenn Europa im Strudel versinkt, wird es die Welt wenig interessieren. Wie hältst du’s mit Europa? ist geschrieben, damit wir uns Europa als politischem Projekt wieder mutig und vor allem ernsthaft annehmen. Wenn wir es jetzt nicht tun, werden wir womöglich keine weitere Chance bekommen.

Ulrike GuérotKrems an der Donau & Berlin, im Januar 2019

Europa: Haus ohne Dach

Lassen wir die – retrospektiv gesehen – eher glücklichen Jahre der europäischen Integration im 20. Jahrhundert, in denen die EU trotz Krisen immer wieder Auftrieb hatte, außen vor. Also jene Zeit von den Römischen Verträgen 1957 bis zur europäischen Apotheose, dem Vertrag von Maastricht, dessen Kerninhalt die gemeinsame Währung war. Begonnen werden soll, der Kürze halber, mit jener »historischen Sekunde«, in der im Handumdrehen der Maastrichter Vertrag von 1992 als europäische Antwort auf die deutsche Wiedervereinigung von 1989 beschlossen wurde und in dem das Friedensprojekt Europa mithin in Stein gemeißelt werden sollte: Ever Closer Union, so die Inschrift.3 Historiker werden kopfschüttelnd auf diesen Moment der europäischen Geschichte schauen, sie streiten schon jetzt darüber. Was hatten sich die ansonsten klugen Europäer wohl dabei gedacht, 1992 erst einen gemeinsamen Markt einzurichten und zeitgleich eine europäische Währung zu beschließen, aber keine politische Union zu institutionalisieren? Und wieso haben sie es nie geschafft, die gemeinsame Währung, wie ursprünglich geplant, in eine gemeinsame Fiskal-, Haushalts- und Sozialunion einzubetten? Wann ist das Projekt Ever Closer Union aus dem Blick geraten? Wann wurde das Ziel politisch aufgegeben? All diese Fragen sind in der Rückschau auf die letzten dreißig Jahre Integrationsgeschichte recht leicht zu beantworten.

Da sich die historische Epoche geschlossen hat und das 20. Jahrhundert endgültig zum Abschluss gekommen ist, wird sichtbar, was passiert ist, vor allem aber, was in der EU nicht passiert ist und wie die Demokratisierung Europas, die geplante politische Union, verspielt wurde. Die EU als Ever Closer Union ist zwar über Artikel 23 GG immer noch geltendes Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland, erscheint aber heute völlig aus der Zeit gefallen zu sein. Der Ursprung des Vertrages, seine Bedeutung, seine Absicht sind nachfolgenden Generationen fast nicht mehr zu vermitteln. Gezeitenwende.

Kaum jemand vermag sich angesichts des kolossalen Ausmaßes der heutigen sozialen Krise in Europa – rund ein Viertel der EU-Bewohner sind arm4 – daran zu erinnern, dass der Vertrag von Maastricht ein Kohäsionsgebot zur Angleichung der Lebensverhältnisse in Europa enthält; und eine Verpflichtung zu einer Union der Bürger, die perspektivisch in Europa sozial gleichgestellt werden sollten. Der Vertrag war nicht gemeint als ein europäischer Vertrag, der europäische Länder und Bürger in einen Standortwettbewerb miteinander stellt. Binnenmarkt und Währung sollten den europäischen Bürgern Schutz und gemeinsame Stärke in den sich ankündigenden Zeiten der Globalisierung bieten, sie nicht ihr ausliefern. Es ist anders gekommen.

Mit Blick auf den Vertrag von Maastricht sprach man damals vom ›Europäischen Haus‹. Das war in den 1980er Jahren der Lieblingsbegriff von Helmut Kohl, aber z.B. auch von Michail Gorbatschow, der letztlich gestattete, dass es gebaut wurde, was ihn selbst am Ende politisch den Kopf kostete. Das europäische Haus hatte drei Säulen – die Wirtschafts- und Währungsunion, den gemeinsamen Raum der Sicherheit und des Rechts (daraus wurde unter anderem ›Schengen‹) und schließlich die europäische Außen- und Sicherheitspolitik.

Diese drei Säulen wurden gebaut, aber kein politisches Dach. Deswegen regnet es seit nunmehr dreißig Jahren in das EU-Haus hinein, und an den Wänden macht sich längst Pilzbefall breit. Die feuchten Wände haben die Statik verschoben und sind teilweise eingestürzt. Trotzdem wurden immer neue Zimmer angebaut – mit immer weniger Geld. Die Grundrisse des Hauses sind nach mannigfaltigen Vertragsreformen – Amsterdam, Nizza, Lissabon – kaum mehr zu erkennen. Die Verantwortlichkeiten für den Zustand des Hauses werden hin- und hergeschoben wie beim Berliner Flughafen. Abriss ist nicht möglich, denn es ist zu viel Geld im Spiel. Die überfällige Inbetriebnahme des Hauses im Sinne einer politischen Emanzipation und strategischen Aufstellung Europas kann aber nicht erfolgen und wird mit zunehmender Verschlechterung des politischen Umfeldes auch immer unwahrscheinlicher.

Bei jedem neuen Regen sagen die europäischen Pragmatiker, man müsse jetzt dringend Schöpfkellen holen und das Wasser aus dem Haus abschöpfen. Die europäischen Träumer hingegen hoffen auf ein politisches Dach, hohe Giebel, reetgedeckt, wärmegedämmt und einschlagsicher. Ein solches Dach zu haben, würde die drängendsten Probleme des heutigen Europas lösen. Viele, die die konstruktive Phase der beiden Delors-Präsidentschaften 1985 bis 1995 mit wachen Augen beobachtet haben, glaubten an diesen europäischen Hausbau. Nachgeborenen mag es schwerfallen, das nachzuvollziehen, ebenso jenen Ländern, die danach der EU beigetreten sind. Sie sind mit einer anderen europäischen Geschichte groß geworden – oder sogar ganz ohne!

Vieles von dem, was wir heute, dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung, als politische und soziale Krise in Europa verhandeln, ist nichts anderes als eine Spätfolge des Vertrages von Maastricht, also einer Wirtschafts- und Währungsunion, die nicht politisch eingebettet wurde und die darum, um im Bilde zu bleiben, kein politisches Dach hat. Denn eine gemeinsame Währung ist ein Sozialvertrag, ist gleichsam ein Gesellschaftsvertrag. Wo aber, bitteschön, ist heute die europäische Gesellschaft? Kann man eine europäische Gesellschaft schaffen wie einen europäischen Markt und eine europäische Währung? Schon 2012 dachte Oskar Negt in seinem Essay Gesellschaftsentwurf Europa darüber nach, wie ein solcher aussehen könnte. Nicht nur er. Ganze Bibliotheken sind inzwischen gefüllt worden mit sozial- und wirtschaftswissenschaftlicher Literatur darüber, dass eine Gemeinschaftswährung, die so wie der Euro konstruiert ist, eigentlich nicht funktionieren kann. Eigentlich!

Denn der Euro funktioniert, formal zumindest. Gäbe es jetzt nicht die diversen sozialen Krisen fast überall in Europa und, damit verbunden, zerbrechende Parteiensysteme und politische Unruhen, würde wahrscheinlich niemandem auffallen, dass Angela Merkel sich damals geirrt hat, als sie sagte, »Scheitert der Euro, dann scheitert Europa«. Das Gegenteil trifft zu: Bleibt der Euro wie er ist, scheitert die europäische Demokratie. Das ist der europäische Film, in dem wir alle seit 1992 immer wieder betroffene Zuschauer sind. Denn inzwischen hat Europa jede Ambition – oder auch Kapazität – verloren, an den Funktionsmodalitäten des Euros irgendetwas zu ändern. Es bringt nicht einmal mehr die Kraft auf, auch nur darüber öffentlich zu diskutieren. Ob griechisches Aufbäumen 2015, Italiens Versuch, die EU-Haushaltsregeln endlich zu korrigieren oder französische »Gelbwesten«, deren Aufbegehren zu Beginn5 in weiten Teilen Frankreichs der maroden Infrastruktur galt als eine Folge jahrelanger Sparpolitik: Die EU hat immer recht, das Eingeständnis, etwas am Euro könne strukturell falsch oder gar eine öffentliche Kurskorrektur nötig sein, bleibt aus.

Will man die heutige europäische Krise verstehen, muss man also zu diesem Moment in der europäischen Geschichte zurückkehren, zu jener »historischen Sekunde« von 1989 und 1992, in der die deutsche und die europäische Einigung miteinander gekoppelt wurden. Gerade in Deutschland aber fällt dies schwer, weil in der Latenz des historischen Gedächtnisses schlummert, dass der Vertrag von Maastricht eine deutsche Bringschuld war, die bis heute nicht entrichtet ist. Denn der Vertrag über eine Ever Closer Union wurde nicht blindlings abgeschlossen. Gemeinsam orchestriert und politisch eingefädelt von drei Kriegskindern, Helmut Kohl, François Mitterrand und Jacques Delors, den drei großen Doyens der europäischen Integrationsgeschichte, war der Vertrag von Maastricht gleichsam die natürliche Antwort auf den Fall der Mauer und die deutsche Wiedervereinigung, entsprechend dem deutschen Paradigma, dass deutsche und europäische Einigung zusammengehören. Es ist inzwischen – obgleich es immer noch gerne getan wird – auch müßig, darüber zu streiten, ob Deutschland von Margret Thatcher oder François Mitterrand zu diesem Vertrag gedrängt wurde oder nicht. Oder ob, wie die damaligen Gegner es formulierten, der Euro der Preis für die Wiedervereinigung sei oder nicht: Der Euro ist da. Die deutsche Industrie und die Banken hatten an Markt und Währung ein riesiges Interesse, beides kam weitestgehend zu deutschen Bedingungen zustande, und Deutschland hat von beidem maßgeblich profitiert. Europa war damals sowieso deutsche Staatsräson, aber auch ökonomisches Interesse. Mit Blick auf die heutige Mythenbildung – Stichwort »Transferunion«: Deutschland müsse für alle bezahlen – ist es wichtig, sich diesen historischen Moment und Tatbestand in Erinnerung zu rufen.

Zehn Gründe des Scheiterns

Seit etwa 2017 wird die europäische Krise auch in Deutschland von einer breiteren Öffentlichkeit wahrgenommen, also ab dem Zeitpunkt, als befürchtet werden musste, dass mit Geert Wilders und Marine Le Pen populistische Parteien in zwei Gründungsstaaten der EU, den Niederlanden und Frankreich, die Wahlen gewinnen könnten. Mitten im europäischen Herzland! Das hatte der bereits ein Jahr zuvor in Frankfurt gegründeten Bürgerbewegung #pulseofeurope