Warum Europa eine Republik werden muss! - Ulrike Guérot - E-Book

Warum Europa eine Republik werden muss! E-Book

Ulrike Guérot

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Beschreibung

Es ist Zeit, Europa neu zu denken. Weg mit der Brüsseler Trilogie aus Rat, Kommission und Parlament! Die Nationalstaaten pervertieren die europäische Idee und spielen Europas Bürger gegeneinander aus. Europa muss aber heißen: Alle europäischen Bürger haben gleiche politische Rechte. Vernetzt die europäischen Regionen! Schafft ein gemeinsames republikanisches Dach! Wählt einen europäischen Parlamentarismus, der dem Grundsatz der Gewaltenteilung genügt! Dieser Text ist ein utopisches Experiment. Res publica bedeutet Gemeinwohl - daran fehlt es in der EU heute am meisten. Die Idee der Republik ist von Aristoteles bis Kant das normale Verfassungsprinzip für politische Gemeinwesen. Wenden wir es doch einmal auf Europa an. Bauen wir Europa neu, damit sich die Geschichte der Nationalismen nicht wiederholt. Damit Europa in der Welt von morgen nicht untergeht, sondern zur Avantgarde auf dem Weg in eine Weltbürgerunion wird.

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Seitenzahl: 459

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Über dieses Buch:

Es ist Zeit, Europa neu zu denken. »Res publica« bedeutet Gemeinwohl – daran fehlt es in der EU heute am meisten. Weg mit der Brüsseler Trilogie aus Rat, Kommission und Parlament! Die Nationalstaaten pervertieren die europäische Idee und spielen Europas Bürger gegeneinander aus. Her mit einer Utopie für Europas Zukunft: Alle europäischen Bürger haben gleiche politische Rechte. Vernetzt die europäischen Regionen! Schafft ein gemeinsames republikanisches Dach! Wählt einen europäischen Parlamentarismus, der dem Grundsatz der Gewaltenteilung genügt!

Dieser Text ist ein utopisches Experiment. Die Idee der Republik ist von Aristoteles bis Kant das normale Verfassungsprinzip für politische Gemeinwesen. Wenden wir es doch einmal auf Europa an. Bauen wir Europa neu, damit sich die Geschichte der Nationalismen nicht wiederholt. Damit Europa in der Welt von morgen nicht untergeht, sondern zur Avantgarde auf dem Weg in eine Weltbürgerunion wird.

»Das ist ein wunderbar anregendes Buch, und es ist ein historisch wirksames Buch; es ist das Morus- und Bloch-Buch unserer und der nächsten Generationen. (…) Man denkt fröhlich mit, freut sich an der klaren Vision und will dann gleich an die Arbeit gehen – an die Arbeit der Errichtung der Europäischen Republik.«

Robert Menasse

»Das ist ein starkes Buch. Es ist eine Sammlung wertvoller Ideen und Impulse, scharfsinniger Beobachtungen und überraschender Momente. Es bringt einen zum Staunen, Lachen, manchmal auch zum Weinen, aber in seiner Gänze schenkt es Kraft, Antrieb und Inspiration. Und gerade letztere brauchen wir im Europa der Gegenwart mehr denn je.«

Herr&Speer, Autoren und Aktivisten, Berlin

Über die Autorin:

© Dominik Butzmann

Ulrike Guérot

geb. 1964, Politikwissenschaftlerin, Gründerin und Direktorin des European Democracy Labs an der European School of Governance, eusg, in Berlin und seit Frühjahr 2016 Professorin und Leiterin des Departments für Europapolitik und Demokratieforschung an der Donau-Universität Krems/Österreich. Sie hat zwanzig Jahre in Thinktanks in Paris, Brüssel, London, Washington und Berlin zu Fragen der europäischen Integration und Europas in der Welt gearbeitet. Die Hälfte ihres Honorars spendet die Autorin an das European Democracy Lab (www.europeandemocracylab.eu).

Ulrike Guérot im Internet: www.ulrikeguerot.eu

Ulrike Guérot

WARUM EUROPA EINE REPUBLIK WERDEN MUSS!

Eine politische Utopie

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-8012-7005-6

2. Auflage 2016

Copyright © 2016 by

Verlag J.H. W. Dietz Nachf. GmbH

Dreizehnmorgenweg 24, 53175 Bonn

Lektorat: Alexander Behrens

Umschlag: Jens Vogelsang, Aachen

unter Verwendung des Bildes »Vulkan: Umstülpen/​Inside Out«

von Valeska Peschke, Collage 2015, aus der Serie »Auf der Suche nach Amikejo«

Satz: Jens Marquardt, Bonn

Alle Rechte vorbehalten

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2016

Besuchen Sie uns im Internet: www.dietz-verlag.de

Dies ist eine fantastische Geschichte. In ihr werden sich die Bürger und Bürgerinnen Europas auf dem Grundsatz der politischen Gleichheit zu einer Europäischen Republik zusammenschließen und die Nationen hinter sich lassen. Die Geschichte ist so schön und so fantastisch, dass sich alle Leser und Leserinnen sofort daran machen werden, an ihr mitzuwirken. Und wenn sie und ihre Kinder nicht gestorben sind, dann leben sie 2045 alle in einer Europäischen Republik, die dezentral, demokratisch und sozial ist und zur Avantgarde der Welt wird –

auf dem Weg zu einer globalen Bürgergesellschaft!

#The European Republic is under construction

#newEurope

Für meine beiden Söhne, Felix und Maxime,

und alle meine europäischen FreundInnen

Stellvertretend für alle jungen Menschen in Europa,

die von einem anderen Europa träumen

und die ein besseres Europa verdient haben;

und für alle Älteren, die an die EU geglaubt haben

und heute maßlos enttäuscht sind.

Danksagung

Es gibt fünf Personen, ohne die dieses Buch nie zustande gekommen wäre. Sie allein wissen warum. Ihnen gilt mein größter Dank! Es sind:

Julien Deroin, Elmar Koenen, Victoria Kupsch, Robert Menasse und Valeska Peschke.

Daneben gibt es viele andere, die mich direkt oder indirekt, aus der Distanz oder der Nähe, wissentlich oder unwissentlich, immer wieder inspiriert oder ermutigt haben; die mir Zu- oder Widerspruch gegeben haben; die diese Utopie für absurd oder träumerisch oder wünschenswert gehalten haben; die mich mit Ideen, Anregungen und Kommentaren bedacht und mit mir gestritten haben; oder die mich sonst bei dem Prozess dieses Buches oder allgemein begleitet haben. Das Ergebnis habe ich indes ganz alleine zu verantworten – niemand davon steht in »intellektueller Geiselhaft«, die hier vorgelegten Ideen und Meinungen zu teilen. Dies sind:

Gerd Ahrens, Jan Philipp Albrecht, Federico Arcelli, Christoph Balzar, Annegret Bendiek, Michaela Bicha, Andreas Botsch, Dr.Günther Bräunig, Léa Briand, Daphne Büllesbach und das ganze Team von European Alternatives, Miriam Bulbarelli, Bernard Barthalay, Tom de Belfore und das Team der Moment Mal-Internetseiten, Armin von Bogdandy, Hauke Brunkhorst, Piotr Buras, Franziska Brantner, François-Roger Cazala, Stefan Collignon, Joao da Costa, Dario Dell’ Anna, Fabian Dell, Alexandru Diaconu und das ganze Team von Citizens United for Europe: One Europe – One Government – One Democracy, Jacques Delors, Sebastian Dullien, Guillaume Duval, das gesamte Team des European Council on Foreign Relations, das gesamte Team der European School of Governance, Christoph Engemann, Silvia Francescon, Anna Frenyo, Holm Friebe, die vielen Autoren der Friedrich-Ebert-Stiftung und des IPG-Journals, Edouard Gaudot, Sven Giegold, Gordon Gniewosz, Hans-Georg Golz, Cherian Grundmann, Detlev Guertler, Jürgen Habermas, Hans, Helga & Klaus Hammelstein, Rainer Hank, Rebecca Harms, Chris Heintgerris, »Herr & Speer«, Ulrike Herrmann, Gunther Hofmann, Thomas Hölzl, Miriam Hollstein, Richard Hornik, Cathérine Hug, Bernd Hüttemann, Mascha Jacobs, Ole Jantschek, alle meine Jivamukti-Yogalehrer aus Berlin & abroad, Tim Kappelt, Michaela Kauer, Karujali & Adriana, Ska Keller, Katja Kipping, Louis Klein, Thomas Klingenstein, Brigitte Kramp, Tomasz Krawcyk, François Lafond, Karl Lamers, Tod Lindberg, Ulrike Leis, Linnea Riensberg, Marina, Ulrike Lunacek, Peter Matĵašic und das ganze Team von Open Society Initiative for Europe, Felix Mengel, Markus Miessen, Mark Moebius, Almut Möller, Christian Moos, Jan-Werner Müller, Christian Müller-Hogrefe, Sascha Müller-Krenner, Jürgen Neyer, Karsten Nowrot, Claus Offe, Marc Ottiker, Michalis Pantelouris, H. W. Pausch, Quentin Peel, Robert Pfaller, Petra Pinzler, Eva Pfisterer, Dieter Plehwe, Zoltán Pogátsa, Manuel Rojas Oyarzo, Sven Saekert, Manuel Sarrazin, Sabine Sasse, Derek Scally, Nicolaus Schafhausen, Johanna Schelle, Claire Schillinger, Harald Schumann und die Nachdenkseiten, Alexandra von Schumann-Heldt, Mayte Schomburg, Barbara Schreiber, Gesine Schwan, Louisa Maria Schweizer, Linn Selle, Hanune Shalati, die Autoren von Social Europe, Michal Sutowski, Annika von Taube, Hermann-Josef Tenhagen, Milo Tesselaar, Simon Theurl, Jean-Claude Tribolet, Ahmet Ulusal, Tom Waszmann, Alexander Wragge, Shahin Vallée, Ruth Vornefeld, Benjamin Zeeb.

Und schließlich gibt es die Vielen. Gemeint sind damit all jene, denen ich bei den unzähligen Diskussionen über Europa – live oder in TV- und Rundfunksendungen – in den letzten Jahren begegnet bin. Es waren letztlich diese Diskussionen mit den Vielen, die mir deutlich gemacht haben, dass die Menschen in Deutschland und darüber hinaus ein ganz anderes Europa wünschen als das, was wir zurzeit haben, und dass es einen Grund gibt, dieses Buch zu schreiben.

***

Inhalt

Cover

Über dieses Buch/Über die Autorin

Titel

Impressum

Zum Buch

Widmung

Danksagung

Vorbemerkung

TEIL I ÜBER DEN VERLUST DER POLITISCHEN ÄSTHETIK

VORAB:

Ein schneller Ritt durchs Buch

KAPITEL 1

Die europäische Malaise

KAPITEL 2

Willkommen in der europäischen Postdemokratie

KAPITEL 3

Die »Weimarisierung« Europas und das Problem der politischen Mitte

KAPITEL 4

»Alles ist Sprache« oder: Über europäische Begriffe und Diskurse

KAPITEL 5

Falsche Lösungen oder: Ein System im Leerlauf

TEIL II DIE UTOPIE

VORAB:

Die Utopie als gedankliche Projektion

KAPITEL 6

Warum Europäische Republik?

KAPITEL 7

Die politische Neuordnung der Europäischen RePublik: Wir bauen die erste postnationale Demokratie

KAPITEL 8

Die territoriale Neuordnung der Europäischen RePublik: Regionen, Metropolen & Europas Babel

KAPITEL 9

Die wirtschaftliche Neuordnung Europas: Die digitale Manufaktur

TEIL III NACHKLAPP

KAPITEL 10

Nur für Frauen: Von Stierhoden und Mützen – die europäische Emanzipation

KAPITEL 11

#Error404EuropeNotFound#: Europas kreative, digitale Post-Party-Jugend

KAPITEL 12

Europa, wir kommen: Avantgarde auf dem Weg zur Weltbürgergesellschaft

Schlussbemerkung

ANHANG

Endnoten

Abbildungsverzeichnis

Vorbemerkung

»Die Utopier geben sich in der Hauptsache

den Vergnügungen des Geistes hin,

denn diese halten sie für die besten und wichtigsten.

Hauptsächlich erwachsen sie aus Werken der Tugend

und dem Bewusstsein, ein gutes Leben zu führen.

Von den Vergnügen, die der Körper gewährt,

halten sie die Gesundheit für das hauptsächliche.«

Thomas More, Utopia

»Keine Idee ist eine gute, die nicht am Anfang als völlig illusorisch erschien.«

Albert Einstein

»Nur wenn das, was ist, sich ändern lässt, ist das, was ist, nicht alles.«

Theodor W. Adorno

Vor 500 Jahren veröffentlichte Thomas More seine Beschreibung von Utopia, die Geschichte einer mittelenglischen Stadt, in der Frieden und soziale Gerechtigkeit herrschten. Utopia wurde zum Inbegriff einer fiktiven Gesellschaftsordnung und zum Antrieb vieler sozialer Erfindungen sowie der gemeinsamen Ausgestaltung einer wünschenswerten Zukunft. So eine Utopie braucht Europa heute, denn die EU ist kaputt. Europa indes bleibt eine Aufgabe. In dieser Dialektik liegt die Chance für ein anderes Europa: Was immer in den nächsten Jahren auf dem europäischen Kontinent passieren wird – wir wollen und können diesen Kontinent nicht verlassen und nicht abriegeln. Austritte, Mauern und Grenzen sind daher keine Lösung. Was sich gerade vor unseren Augen abspielt, ist die Auflösung des Europas der Gründungsväter, das Ende des nationalstaatlichen Konzepts der »Vereinigten Staaten von Europa«.

Wir müssen uns also ein neues Konzept für Europa ausdenken – und zwar eins, das das zukünftige Leben in Europa in einer Art »postmodernem Remake« möglichst nahe an das obige Zitat von Thomas More heranbringt. Wir brauchen eine schöne neue gesellschaftliche Utopie.1 Vielleicht haben wir ja heute in Europa den Reichtum und die Mittel dazu, die es früher noch nicht gab. Es geht darum, Europa fundamental neu zu denken, und zwar nach dem sogenannten MAYA-Prinzip von Futurologen: Most Advanced, Yet Acceptable!

Stellen wir uns also vor, man würde mit einem grobzinkigen Kamm einmal über den europäischen Kontinent fahren. Die nationalen Grenzen blieben einfach im Kamm hängen. Die lästigen dickborstigen Haare würden entfernt. Die Bürger der europäischen Regionen und Städte bauten ein Europa ganz neuer Form: dezentral, regional, nach-national, parlamentarisch, demokratisch, nachhaltig und sozial. Ein politisch-institutionelles System, das genau jene Gesellschaft befördern und möglich machen würde, von der Thomas More einst träumte – nämlich eine Gesellschaft, in der in einem modernen Sinn Geist, Tugend und Gesundheit im Mittelpunkt des gesellschaftlichen Strebens stehen. Die hier skizzierte postnationale Demokratie in Europa wäre ein Netzwerk aus europäischen Regionen und Städten, über die das schützende Dach einer Europäischen Republik gespannt wird, unter dem alle europäischen Bürger politisch gleichgestellt sind. Die vorliegende Utopie beschreibt eine kopernikanische Wende in Europa,2 in der aus den Vereinigten Staaten von Europa die Europäische Republik hervorgeht.

In dieser Utopie finden sich einige Überlegungen darüber, wie eine politische Einheit auf dem europäischen Kontinent aussehen könnte. Es versteht sich dabei von selbst, dass sich die Darstellungen hierbei auf gedankliche Skizzen beschränken und im Abstrakten verbleiben. Das Ziel meines Vorhabens ist, einen konzeptionellen Rahmen zu entwickeln, um ein kohärentes europäisches Einigungsprojekt jenseits von Nationalstaaten herzustellen, das sich am ideengeschichtlichen Kulturgut Europas orientiert. Dieses europäische Kulturgut müssen wir wiederbeleben und in die Postmoderne projizieren.

Ich wähle mit Bedacht den Begriff »Republik«. Er ist der älteste Begriff der politischen Ideengeschichte zur Begründung von politischen Gemeinwesen. Die Republik ist das gemeinsame ideengeschichtliche Erbe Europas schlechthin. Aus dem Begriff der Republik heraus entwickele ich die Vorstellung eines demokratischen Europas, das auf zwei Grundsätzen basiert: der politischen Gleichheit seiner Bürger und dem transnationalen europäischen Regieren im Netzwerk. Die Utopie einer Europäischen Republik beinhaltet eine institutionelle, territoriale und wirtschaftliche Neuordnung Europas, die sich vom Interesse am Gemeinwohl – eben der res publica – herleitet.

Die vorliegende Utopie ist kein starres Gebilde: Sie versteht sich als etwas Relationales, Prozessuales und Transitives – sprich: als sich stetig entwickelndes Fortdenken in Interdependenzen und Netzwerken. So soll keine weitere Geschichte einer europäischen Föderalisierung oder Zentralisierung geschrieben werden. Vielmehr soll der Gegenstand, um den es sich hier handelt, nämlich die Idee von Europa als Grenzenlosigkeit, in seiner Vielfalt erfasst werden. Es geht um ein kleinteiliges und arbeitsteiliges europäisches Modell, das für die Vielen anschlussfähig ist – nicht um einen geschichtlichen oder institutionellen Großentwurf der Wenigen. Es geht um die Topologie eines europäischen Ganzen, das die Vielen in allen Einzelheiten, Bedingungen und Modalitäten selbst ausgestalten müssen. Dieser Ansatz entspricht den vielen Theorien von »co-leadership«, »cocreation«, »creative innovation« oder »kognitiven Netzwerken«, dem Denken in »Zellen« oder auch dem »Konzept der zentralen Orte«, die alle auf Verknüpfung zielen und die erarbeitet haben, dass Innovation nur in der Verknüpfung und durch Mitarbeit von Vielen gelingen kann.3

Diese »Vielen« fächere ich in fünf gesellschaftliche Gruppen und Richtungen auf und hoffe, dass meine Utopie vor allem für diese fünf Gruppen und Richtungen anschlussfähig sein wird. Die fünf ist in vielerlei Hinsicht eine besondere Zahl: Je nach Zählung ist Europa einer von fünf Kontinenten. Platon kennt fünf Körper in seiner Geometrie. Aristoteles unterscheidet fünf Sinne, das Christentum kennt fünf Wundmale Christi. Der Islam beruht auf fünf Säulen. In der taoistischen Tradition gibt es fünf Elemente. Der Pentateuch ist das fünfte Buch des Alten Testamentes, bekannt als das Buch der Liebe, und die Fünf gilt nicht zuletzt als Zahl der Liebesgöttin Venus. Die Fünf scheint alle Elemente zu umschließen und zu vereinigen, auch die Liebe: Das brauchen wir heute für Europa!

Wer nun sind die Vielen, die fünf gesellschaftlichen Gruppen und Richtungen, die hier exemplarisch – nicht exklusiv! – angesprochen werden sollen, bei denen die Utopie einer Europäischen Republik hoffentlich einen Resonanzboden findet und die dann vielleicht mithelfen, sie zu verwirklichen? Es sind, erstens und vor allem, die europäischen Bürger in den heutigen europäischen Regionen und Städten – mit festem Wohnsitz, nomadisierend oder hochmobil –, die die gesellschaftliche Basis der Europäischen Republik darstellen. Sie repräsentieren die europäische Bürger- und Zivilgesellschaft, das Prinzip der Dezentralität und, mit ihm, alle neuen und modernen Konzepte von Nachhaltigkeit, Elektromobilität, dezentraler Energiegewinnung, neuen Raumkonzepten, nachhaltiger Landwirtschaft, Slow Food und so weiter. Ihnen sind die Kapitel 7 und 8 über eine politische und territoriale Neuordnung Europas gewidmet. Zweitens all jene, die über neue Ökonomien nachdenken, über genossenschaftliche Konzepte, die Postwachstumsgesellschaft, das Grundeinkommen oder neue Formen der Allmende. Ihnen gilt das Kapitel 9 über eine neue Wirtschaftsordnung Europas, die im Begriff der Republik durch den Verweis auf das Gemeinwohl mit angelegt ist. Drittens die Jugendlichen, um ihnen einen neuen und großen Platz in Europa zu schaffen (Kapitel 11). Viertens, mit einem Augenzwinkern, die Frauen, denn das Europa von morgen wird auch und vor allem eine Angelegenheit der Frauen sein, oder? (Kapitel 10) Fünftens schließlich die Juristen und Staatsrechtslehrer, denn in Kapitel 6 versuche ich, einen Begriff der Republik zu diskutieren und vom derzeitigen Neoliberalismus abzugrenzen, der für die europäische Staatsrechtslehre ideengeschichtlich anschlussfähig sein soll. Mit dem im Buch durchgängig verwendeten »Wir« wende ich mich direkt an die Vielen, die an diesem Buch hoffentlich Gefallen finden.

Jene Fünf also – die Regionen und ihre Menschen, die Postwachstumsökonomien, die Jugend, die Frauen und die Staatlichkeit – stehen exemplarisch für die, die sich an die Arbeit machen und zusammen die Europäische Republik als historisches Subjekt hervorbringen könnten. Denn diese Utopie ist – ich sagte es schon – nichts Fertiges, sondern nur eine Idee. Die Vielen müssten an ihr mitarbeiten. Die Vielen sind wir alle. Denn als souveräne Bürger – sollten wir die Souveränität denn wirklich erstmals erhalten – haben wir die Ausgestaltung der Zukunft des europäischen Kontinentes und seines Wirkens in der Welt zu jedem Zeitpunkt selbst in der Hand!

TEIL I

Über den Verlust der politischen Ästhetik

»Imagine there’s no countries – it isn’t hard to do.«

John Lennon

VORAB:

Ein schneller Ritt durchs Buch

Willkommen in der Europäischen Republik! Dieses Buch ist der Versuch, in einer politischen Utopie die Schönheit des europäischen Projektes wiederzufinden, die in den letzten Jahren verraten wurde und verloren ging. In Europa wurden, ausgehend von Platon, Aristoteles oder Cicero, die Republik und wahre Wunder der politischen Philosophie erdacht. Europa ist der Kontinent, der über Staat und Staatlichkeit und darüber, wie Gesellschaften und menschliches Zusammenleben organisiert sein sollten, die eindrucksvollsten und klügsten Traktate, Schriftstücke und Texte hervorgebracht hat. Doch spätestens seit seiner Gerinnung in ein System von Nationalstaaten verfranzt sich dieser Kontinent in einer europäischen Krise, in der es nur um eins geht: Macht, Markt und Geld. Nicht nur die sogenannte Eurokrise selber, sondern die Art und Weise, wie wir sie verhandelt haben, ist eine moralische und kulturelle Bankrotterklärung der mehr als 3000-jährigen politischen und kulturellen Geschichte Europas. Der Versuch, die politische Ästhetik Europas wiederzuentdecken, gleicht daher der Arbeit von Kunstrestauratoren, die Farbschicht um Farbschicht ein ursprüngliches Gemälde freilegen, das von Banausen übermalt wurde. Die Europa ist im kulturellen Gedächtnis des Kontinentes immer ganz – ein einheitlicher Körper. Er wurde zerstückelt durch die frühmoderne Herausbildung der Nationalstaatlichkeit.4 Kulturphilosophisch bedeutete Europa aber immer Grenzenlosigkeit.5

Im ersten Teil geht es darum nachzuzeichnen, warum die EU, so wie sie konzipiert ist, fundamentalen demokratischen Ansprüchen nicht genügt, warum sie deshalb nicht funktionieren kann und nie funktionieren wird. Aus der heutigen Verfasstheit der EU kann und wird eine demokratische Einigung Europas, die Epiphanie Europas nicht hervorgehen.

Europakarte von 1589.

Der Bauplan war falsch. Die Nationalstaaten – so sie es denn je wollten – haben den Rubikon eines politischen Europas nie überschritten, sie verstellen den Weg zu einer transnationalen europäischen Demokratie. Darum haben sie als Akteure der europäischen Einigung ausgedient. Getragen von einer großen Friedenserzählung konnte die alte EU nur so lange vermeintlich funktionieren, wie sie unter den festgefrorenen geostrategischen Bedingungen des Kalten Krieges und einer vergleichsweise stabilen Weltwirtschaft keine politischen Herausforderungen zu bewältigen hatte. Aber das war spätestens mit dem Fall des Eisernen Vorhangs 1989 vorbei. Die Währungsunion, die den europäischen Staaten ohne demokratische Einbettung aufgepfropft wurde, hat jeden Anspruch, die demokratische Einigung Europas zu befördern, verwirkt.

Die derzeitigen, gleichsam angehäuften Krisen – Eurokrise, drohender Grexit, drohender Brexit, Flüchtlinge – sind daher nur der konjunkturelle Ausdruck von tief liegenden strukturellen Mängeln, die ihren Grund in der Verfasstheit der EU haben. Sie zu beseitigen ist die EU nicht in der Lage. Die daraus resultierenden politischen Phänomene Populismus und Nationalismus sind diesen Strukturproblemen geschuldet. Die EU produziert also die politische Krise, in der wir uns befinden, und wird zunehmend selbst zum Problem. Ihr langsames Sterben hat darum schon längst begonnen und ist nun ins öffentliche Bewusstsein gerückt.

Im zweiten Teil des Buches wird eine radikale Utopie gezeichnet, und zwar für den Moment, in dem die Geschichte das europäische Projekt wieder freigeben wird. Denn was immer mit der EU passiert: Europa wird bleiben. Die Neuordnung des europäischen Kontinents muss notwendigerweise eine politische und eine demokratische sein. Sie muss darum dem allgemeinen Grundsatz der politischen Gleichheit aller europäischen Bürger und dem Prinzip der Gewaltenteilung genügen. Außerdem muss sie einen einseitig überdehnten Begriff des Liberalismus wieder an das Gemeinwohl binden. Es geht hier also nicht um weitere EU-Reformschritte, um mehr Integration, sondern um eine europäische Demokratie, die fundamentalen demokratischen Prinzipien folgt und zur Maxime einer politischen und institutionellen Neugestaltung des Kontinents erhebt, bei der das Gemeinwesen im Mittelpunkt steht.

Diese Utopie ist folglich ein Angebot, Europa als Republik zu konzipieren, denn die Republik ist das, was die politischen Restauratoren finden, wenn sie Europa von den Nationalstaaten freikratzen (die sich, scheinbar paradox, fast alle bei ihrer Gründung als Republiken bezeichnet haben). Fast immer, wenn es in Europa um einen politischen Zusammenschluss ging, wurden Republiken gegründet. Wir sollten dieses kulturhistorische Wissen jetzt auf die Epiphanie Europas selbst anwenden.

Der Begriff der Republik ist facettenreich und organisch. Gereift in vielfältigen Traditionslinien, umschließt er drei fundamentale Prinzipien, die die Voraussetzung für ein politisches Einigungsprojekt sind: bürgerliche Gleichheit, also die Gleichheit vor dem Gesetz; politische Gleichheit, also die Gleichheit im Wahlrecht, gekoppelt an eine repräsentative parlamentarische Demokratie; und schließlich der Verweis auf das Gemeinwohl, die res publica. Die Republik ist mithin normativ gebunden. In ihrer Essenz ist der Begriff der Republik die Verbindung zwischen den beiden fundamentalen Werten der Freiheit und der Gleichheit, die in ihr miteinander verknüpft und aufeinander bezogen sind. Das gilt für alle, die an dieser Republik teilhaben, sich also in ihr »verbrüdern« beziehungsweise »verschwestern«. Die Gleichheit jenseits von Klassen ist das Erbe der Französischen Revolution von 1789. In der europäischen Revolution des 21. Jahrhunderts muss das Prinzip der Gleichheit erweitert werden auf die Gleichheit jenseits von Nationen.

Nach der Herleitung und Vorstellung des Begriffes der Republik im zweiten Teil wird die Ausgestaltung der Europäischen Republik in drei Kapiteln skizziert. Es geht dabei um eine politische, territoriale und wirtschaftliche Neuordnung Europas, bei der ein paar aktuelle gesellschaftliche Megatrends – Regionalismus, bürgerliche Emanzipation, Nachhaltigkeit, Postkapitalismus, Postwachstumsgesellschaft, Allmende, genossenschaftliches Denken, Dezentralisierung, Gendergleichstellung – zusammengedacht und auf Europa appliziert werden. Wie müsste ein neues europäisches Projekt beschaffen sein, das diese Megatrends aufgreift? Es geht um das gesellschaftliche Design eines anderen Europas: eine transnationale europäische Demokratie, ein neues institutionelles Gehäuse für Europa, eine neue Raumordnung und schließlich eine kritische Einordnung der wirtschaftspolitischen Grundpfeiler des Liberalismus, auf denen die derzeitige Binnenmarktphilosophie der EU beruht. Europa wird hier gezeichnet als ein Geflecht aus regionalen Einheiten und Metropolen, die global denken. Europa ist dann die Überwindung der Nationalstaaten: ein europäisches Gemeinwesen in Form eines flachen, horizontalen, dezentralen Netzwerkes aus Regionen und Städten unter dem gemeinsamen Dach einer Republik – keine zentralistische Föderation oder Vereinigung von Staaten. Die neue Beziehung zwischen dem Regionalen und Globalen jenseits von Nationen wird in Europa vorgedacht und praktiziert.

Im dritten Teil des Buches werfen wir zunächst einen kurzen Blick in die Kunstgeschichte. Es geht um den Mythos der Europa und ein feministisches Augenzwinkern – denn schließlich ist Europa eine Frau. Warum das als kulturelle Reminiszenz für das künftige europäische Projekt wichtig ist, wird dort ausgeführt. Danach werfen wir einen Blick auf die europäische Jugend, die schon längst dabei ist, ein radikaldemokratisches Europa »von unten« zu bauen, das Brüssel sich in seinen kühnsten Träumen nicht einmal vorstellen kann. Abschließend wird kurz angerissen, warum das europäische Projekt einer konsequent postnationalen Demokratie – sollte es denn irgendwann gelingen, die Europäische Republik zu begründen – als Avantgarde für die zukünftige Ausgestaltung einer Weltbürgerunion gelten könnte, die wir schaffen sollten, bevor Planet Erde endgültig zerstört wird oder intelligentere Wesen6 uns den Weg dahin weisen müssen!

***

KAPITEL 1

Die europäische Malaise

»Nicht genug Europa, nicht genug Union.«

Jean-Claude Juncker

Wer dieser Tage in Europa mit Bürgern diskutiert, von Flensburg bis Freiburg, von Prag bis Rom, von Budapest bis Warschau, hört zweierlei: großen Unmut über die EU und eine große Sehnsucht nach Europa. Irgendwie gibt es ein kulturelles Gedächtnis von Europa und darin die Idee, dass wir alle zusammengehören. Den meisten ist klar, dass die europäischen Nationalstaaten alleine keine Chance mehr in einer globalisierten Welt haben. Die Mehrzahl aller EU-Bürger, rund Zweidrittel, steht noch immer hinter der europäischen Idee. Diese Menschen möchten Europa nicht verlieren. Viele Bürger haben gerade jetzt Sorge, dass das europäische Projekt scheitern könnte. Mehr noch: Angst. Aber der EU vertrauen sie nicht mehr. Dieser Vertrauensschwund lag in den vergangenen Jahren im europäischen Durchschnitt bei rund 20 Prozentpunkten. Die EU hat bei den meisten Bürgern verspielt. Nur noch etwa 30 Prozent der Deutschen, Franzosen und Briten, also der Menschen in den drei größten EU-Mitgliedsstaaten, befürworten das Projekt der »Vereinigten Staaten von Europa«.

Europa ja, EU nein. Das ist die Stimmung. Die Sehnsucht ruft nach einem anderen Europa. Aber dieses andere Europa ist nicht da, es muss erst noch erfunden werden: ein demokratisches und soziales Europa. Ein Europa der Bürger, nicht der Banken. Ein Europa der Arbeitnehmer, nicht der Industrie. Ein Europa, das gemeinsam in der Welt agiert. Ein humanes Europa und nicht eins, das sich abschottet. Ein Europa, das seine Werte verteidigt und nicht mit Füßen tritt. Dieses Europa gibt es nicht.

Fast physisch schmerzt der Verrat der europäischen Idee durch die Nationalstaaten. Verraten die Menschenrechte, die erst im Mittelmeer ertränkt, dann im Schlamm der Balkanroute zertreten wurden. Die allerjüngsten, rasanten Entwicklungen in der Flüchtlingsfrage seit Februar 2016 konnten in diesem Manuskript, das Ende Januar fertig gestellt wurde, nicht mehr berücksichtigt werden. An dieser Stelle sei daher nach dem EU-Rat vom 7. März 2016 nachträglich hier nur eingeflochten, dass das aktuelle Geschacher, das auf dem Rücken auf Flüchtlingen ausgetragen wird, die deutsche und europäische Anbiederung an die Türkei, sowie die de facto Entscheidung, Griechenland zwar finanziell zu unterstützen, aber de facto zu einer Art Libanon innerhalb Europas zu machen, Hauptsache die Flüchtlinge kommen nicht mehr auf die Balkanroute, vor dem Hintergrund der humanitären Situation im griechischen Idomeni nur noch als erbärmlich zu bezeichnen sind. Verraten das Versprechen einer politischen Union, das im Sumpf einer immer windigeren Brüsseler Technokratie vergessen wurde. Verraten die Idee der Grenzenlosigkeit, die jetzt an Zäunen endet. Verraten die Idee der Überwindung von Nationalismus und Populismus, die gerade wieder fröhliche Urstände feiern. Verraten der Traum von einem sozialen Europa, einem Europa der wirtschaftlichen Konvergenz, so wie es im Vertrag von Maastricht noch stand, das aber von einem neoliberalen Binnenmarkt gegenstandslos gemacht wurde. Verraten die nächste und die übernächste Generation, der man durch die Sozialisierung der Bankschulden die Kosten für eine schamlose Finanzmarktparty aufgebürdet hat. Verraten die Sparer, denen man jetzt durch Niedrigzinsen die Spareinlagen und Lebensversicherungen wegfrisst. Die EU hat viele Verlierer produziert in den vergangenen Jahren und nur wenige, aber große Gewinner.

Nichts ist darum so brüchig wie die europäische Erzählung dieser Tage. 50 Jahre EU-Integration erscheinen einem wie ein dünner Vorhang, der gerade im Handumdrehen weggerissen wird, um einen historischen Abgrund freizugeben, der Europa erneut zu verschlingen droht. Eine reformunfähige, fast apathische EU produziert derzeit nur immer mehr Krise. Augenscheinlich hat sich die EU mit ihren vielfältigen Integrationsprojekten verlaufen: erst das Projekt des Binnenmarktes, dann das Projekt der Wirtschafts- und Währungsunion. Auch eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik sucht man derzeit vergeblich. Und offenbar ist der EU gerade dasjenige abhandengekommen, was nötig ist, um die Menschen für ein gemeinsames Europa zu begeistern: das Politische schlechthin.

Dieser Verlust des politischen Europas lässt sich in wenigen Sätzen skizzieren. Die Maastrichter Idee einer immer engeren Union – war schon Ende der neunziger Jahre zerstoben. Die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) hat nicht funktioniert. Die Emanzipation Europas von den USA ist nicht gelungen. Was davon übrig blieb, ist in den Wirren des amerikanischen Irak-Krieges 2003 begraben worden, wo ein »United we stand« die Osteuropäer gegen das deutsch-französische Tandem in Stellung brachte. Ein tiefer Riss spaltete fortan die EU. Erweiterung und Vertiefung liefen nicht, wie vielfach in den neunziger Jahren beschworen, parallel. Maastricht und Amsterdam, Nizza oder Laeken sind alles europäische Vertragsnamen und Orte, die heute kaum noch ein Studierender kennt: Die EU arbeitete sich an einer immer komplexeren Reformagenda ab, bei der am Ende immer weniger politische Union heraus kam und man schon die Einrichtung eines Ombudsmann im Europäischen Parlamentes als Sieg der europäischen Demokratie feierte.

Die Aufnahme der Verhandlungen mit der Türkei im Oktober 2003 ist aus heutiger Sicht kaum mehr zu verstehen und in der Rückschau nur durch den amerikanischen Druck auf Europa während des Irak-Krieges zu erklären. Sie überforderte die EU, allen voran Frankreich, das im Mai 2005 in einem Referendum gegen den europäischen Verfassungsvertrag stimmte und den Niederlanden damit eine Steilvorlage gab, das gleiche zu tun. Die Beziehung zwischen Deutschland und Frankreich, längst nicht mehr das innige europäische Tandem von einst, überlebte diesen Schock nicht. Mit Mühe wurden 2007 die Restbestände des Verfassungsvertrages im Lissabonner Vertrag zusammengeklaubt, ein textliches Monster sowie ein politischer Sündenfall, der die weitere Entwicklung und die Handlungsfähigkeit der EU fortan blockierte. Mit Ironie oder Zynismus mag man sich heute wahlweise daran erinnern, dass Polen damals um eine Quadratwurzel kämpfte, die der Berechnung der gewichteten Stimmen im Europäischen Rat zugrunde gelegt werden sollte – und heute kann man sich eigentlich nur noch fragen, warum nicht schon damals eine Absurdität als solche bewertet werden konnte. Der Lissabonner Vertrag hat die Aufwertung des Europäischen Parlaments in den Vordergrund gestellt, ohne ihm allerdings alle parlamentarischen Rechte zu geben und ohne die Groteske in Frage zu stellen, der zufolge das Europäische Parlament über nationale Listen gewählt wird.

Ab da wuchs nur noch die Macht des Europäischen Rats. Eine Zeitenwende. 2010 wurde die »europäische Gemeinschaftsmethode« aus dem Munde der deutschen Kanzlerin in Unionsmethode »umkodiert«.7 Das politische Europa, so es je existiert haben sollte, ist längst tot, es starb lange bevor das qualvolle EU-Sterben heute ins öffentliche Bewusstsein drang. Der Rückzug Frankreichs in die europäische Schmollecke seit nunmehr mindestens zehn Jahren überließ Europa den Deutschen. Doch die hatten 2006 ein Fußball-Märchen, dann den Sieg von Lena beim Eurovision Song Contest, waren »Land der Ingenieure«, hatten dann ein »Export-Wunder« – und winkten ab.8 In der ganzen Zeit konnten die europäischen Banken und die Industrie den politisch verwaisten Raum vergnügt für ihre Zwecke nutzen und die systemischen Mängel des Euro ebenso wie mangelnde Regulierung und mangelnde staatliche Aufsicht für ihre Export- und Lending-Party missbrauchen.

Wo das Politische nicht entstehen konnte, hat sich das Ökonomische in Europa verselbstständigt. Dieses Buch ist nicht der Ort für eine differenzierte Ausleuchtung der vielfältigen und facettenreichen Faktoren des europäischen Siechtums, dem langen und qualvollen Tod des politischen Europas in den letzten zwanzig Jahren. Und schon gar nicht für nationale Schuldzuweisungen. In der Essenz traf 2008 eine Bankenkrise mit Wucht ein europäisches System, das politisch nicht gefestigt und darum politisch auch nicht in der Lage war, die Krise zu meistern: Die Eurokrise war nie eine Währungskrise. Der Euro war über die ganze Krise hinweg stabil mit Blick auf Inflation und Wechselkurs. Vor der Bankenkrise waren Länder wie Irland oder Spanien nicht verschuldet. Aber der Euro war eine politisch verwaiste Währung. Die Bankenkrise traf auf einen politischen Zombie und wurde so zum europäischen Alptraum. Es konnte nicht politisch entschieden werden, wer die Krisenkosten zu tragen hat. Das Kapital durfte flüchten, die Bürger mussten bleiben. Nach der kühnen Entscheidung gegen die Bank Lehman Brothers wagte niemand, eine solche Entscheidung zu wiederholen. Man konnte sich nicht dazu durchringen, den Primat des Politischen zurückzufordern und dem Krisenverursacher – den Banken – den Garaus zu machen. Stattdessen hat man ein abgewirtschaftetes und pervertiertes Finanzsystem zu Lasten der Steuerzahler gerettet und im Nachgang Sparpolitiken inszeniert, um die Schulden zu begrenzen. Der Ausverkauf Europas an die Finanzmärkte nahm seinen Lauf.

Wo der europäische Weg ins Politische versperrt war, blieb der Rückfall in den Chauvinismus. Wo europäisches Politik- und Demokratieversagen nicht benannt werden konnten, wurden Länder – und mithin deren Bürger – zu Sündenböcken. Die Griechen zogen den Schwarzen Peter. Die EZB und »die Institutionen« regierten fortan Europa. Das Zeitalter der europäischen Postdemokratie war angebrochen.

Die andauernde Krise ist die Krise einer nicht vorhandenen europäischen Demokratie. Sie hat der EU den lange über ihre ambivalente Natur gelegten Schleier fortgerissen: legal, aber nicht demokratisch. Ein absurdes institutionelles System, das fortan in jedem EU-Lehrbuchsui generis (also ein System »ganz eigener Gattung«) genannt wurde, um diesen Tatbestand geschickt zu verschleiern. Was sui generis ist, braucht man halt nicht zu erklären. Jetzt ist die EU, der europäische Kaiser, nackt. Ganze Bibliotheken mit Arbeiten über europäische multi-level governance lassen einen im Rückblick nur noch darüber erschauern, dass wir selbst solange daran glauben konnten, dass die EU auf Dauer ohne direkte Input-Legitimität funktionieren würde, ohne richtiggehenden, europäischen Parlamentarismus, ohne politische Haftung. In Wahrheit haben wir ein Potemkinsches Dorf gebaut und viele Jean Monnet-Europa-Professuren an den europäischen Universitäten eingerichtet, um die nachwachsende Generation in diesem Dorf anzusiedeln. Aber bitteschön: nicht, um das Sui-generis-Konstrukt zu hinterfragen.

Die neofunktionalistische Methode, laut der spätestens seit 1992, mit dem Vertrag von Maastricht, aus der Marktintegration eine politische Union hervorgehen sollte, ist gescheitert. Die Hinterlassenschaft ist ein so komplexes, verworrenes und verschachteltes Vertragsgeflecht aus EU-Verträgen und sich überlappenden Regierungsstrukturen, das selbst Experten nicht mehr durchblicken. Mit einem funktionierenden politischen System hat das nichts mehr zu tun, geschweige denn mit einem System, für das man politisch Sympathie entwickeln könnte. Nicht nur, dass der Bauplan fehler- und lückenhaft war, weil eben nicht politisch. Inzwischen ist er von den historischen Entwicklungen komplett pervertiert worden.

Eine angebotsorientierte, um nicht zu sagen neoliberale Marktordnung hat sich verselbstständigt und wurde de facto fern jeder demokratischen Gesetzgebung in europäisches Verfassungsrecht gegossen. Das hat sie quasi irreversibel gemacht. Eine Brüsseler Institutionen-Trilogie, bestehend aus Rat, Parlament und Kommission, befasst sich vorwiegend mit sich selbst und ist nicht nach dem Prinzip der Gewaltenteilung organisiert. Die Bürger Europas sind nicht gleich vor dem Recht und werden ungleich besteuert. Der bürgerliche Gleichheitsgrundsatz, der fundamental, ja konstitutiv für jede politische Einheit ist, wird innerhalb der EU national durchbrochen. Das Europäische Parlament hat kein Initiativrecht und bietet keine Wahlrechtsgleichheit. Denn beim Wahlakt der europäischen Legislative sind die europäischen Bürger nicht gleich. Beides ist ein Frontalangriff auf die Demokratie in Europa: Ohne politische und bürgerliche Gleichheit kein funktionierender Parlamentarismus. Die Kommission ist zugleich Exekutive und Hüterin der Verträge – eine Aufgabe, die normalerweise einem Gerichtshof zukommt. Ein Europäischer Rat mit nur indirekter Legitimität blockiert systematisch Entscheidungen, die im Interesse aller europäischen Bürger sind, und verhandelt die bevorzugten Interessen einzelner Mitgliedsstaaten, meistens der mächtigen, sofern er überhaupt entscheidungsfähig ist (siehe Finanztransaktionssteuer oder Flüchtlinge). Eine Brüsseler Technokratie kümmert sich zu viel um das Kleine (Ölkännchenverbot, Glühbirnen oder die berühmte Gurkenverordnung) und schafft das Große nicht, zum Beispiel die Registrierung von Flüchtlingen an den EU-Außengrenzen und deren Verteilung. Brüsseler Beamte und nicht die Parlamente entscheiden über nationale Haushalte und mithin Bürgerschicksale. Der amtierende EU-Kommissionspräsident muss sich den Vorwurf des Steuerbetrugs gefallen lassen, aber das Europäische Parlament schafft es nicht einmal, einen Untersuchungsausschuss einzusetzen. Eine mächtige EU-Lobby peitscht Verträge und Regulierungen durch die Brüsseler Flure, die viele europäische Bürger nicht wollen, zum Beispiel das Freihandelsabkommen TTIP oder die sogenannte Better-Regulation-Richtlinie, nach der demnächst das Europäische Parlament für jede Parlamentsentscheidung eine Kosten-Nutzen-Berechnung darlegen muss: Ist die Entscheidung zu teuer, darf sie nicht getroffen werden. Wenn die Bürger das alles irgendwann nicht mehr verstehen, werden (teure) PR-Agenturen damit beauftragt, eine neue »Europäische Erzählung« zu finden. Als könne man mit Erzählungen die Realität verkleistern. Im alten Griechenland hätten die damaligen Philosophen in der Typologie von Aristoteles die heutige EU wahrscheinlich unter dem Begriff der Despotie einsortiert.

Das größte Problem ist vielleicht indes nicht einmal, dass die EU eine »Despotie« ist. Das größte Problem der EU ist, dass sie das im politischen Diskurs nicht einmal zugeben kann. Denn was dann? Es gibt nur dieses Europa, also muss es verteidigt werden. Darin ist der europapolitische Diskurs gefangen. Krise heißt auf Griechisch »Entscheidung«. Die EU ist längst aus einem zwischenstaatlichen Zustand herausgewachsen, aber sie kann sich nicht entscheiden, eins zu werden. Sie kann sich nicht entscheiden, politisch und mithin demokratisch zu werden. Wer sich nicht entscheidet zu leben, stirbt. Das ist die Natur der Krise.

KAPITEL 2

Willkommen in der europäischen Postdemokratie

»Wir haben ein Monster geschaffen.«

Thomas Piketty

Als hätten wir es nicht gewusst. Es war von Anfang an klar. Das politische Monster, das wir geschaffen haben, ist ein politisches System, in dem Staat und Markt entkoppelt wurden – 1992 durch den Maastrichter Vertrag. Über Währung und Wirtschaft wurde fortan auf europäischer Ebene, über Steuer- und Sozialpolitik hingegen weiter auf nationaler Ebene entschieden. Das konnte nicht funktionieren. Ohne politischen Überbau mussten Binnenmarkt und Euro zwangsläufig zur ökonomischen Diktatur werden. Ein europäisches Wirtschafts- und Währungssystem wurde den Nationalstaaten gleichsam aufgepfropft, wodurch sie sozial weitgehend steuerungsunfähig geworden sind. Ein Schelm, wer Böses dabei dachte, war das Ganze doch eingebettet in eine große europäische Friedenserzählung, die 1992 mit Maastricht ihren historischen Höhepunkt fand und deren Kehrseite das wiedervereinigte Deutschland war. Wer wollte da an ökonomische Fallstricke denken, die dann entstehen, wenn ein Markt ohne Staat und eine Währung ohne Demokratie gemacht wird?

Durch den Euro sind, ganz grob gesprochen, die Kosten für das wirtschaftspolitische System von der Wirtschaft auf die Bürger verlagert worden. Die europäische Industrie, vor allem die deutsche, litt in den siebziger Jahren infolge einer hohen Volatilität des Dollars unter erheblichen Wechselkursschwankungen innerhalb des europäischen Binnenmarktes. Die D-Mark wurde systematisch in die Aufwertung getrieben und büßte durch höhere Lohnkosten zunehmend ihre Wettbewerbsvorteile ein. Das Interesse an festen Wechselkursen – und damit langfristig an einer gemeinsamen Währung – war geboren. Durch die Wirtschafts- und Währungsunion konnte die europäische Industrie (und hier wieder vor allem die deutsche) ihre Kosten, die durch die andauernden Währungsschwankungen innerhalb des europäischen Binnenmarktes entstanden, loswerden. Der Euro war also ein weitgehend industriegetriebenes Projekt, ein Herzensanliegen vor allem der deutschen Exportindustrie und Banken. Für die Unternehmen und Banken fielen fortan die Wechselkurse und Transaktionskosten innerhalb der Währungsunion weg. Ein Geschenk. Die europäische Industrie bekam den Euro ohne Gegenleistung in Form der europäischen Fiskal- und Sozialunion. Das war der entscheidende Geburtsfehler des Euro, der nicht mehr zu korrigieren war. Krude gesprochen war es ein Freibrief für die Banken und die (Export-)Industrie, die Eurozone zu melken, ohne innereuropäisch für sozialen Ausgleich Verantwortung zu übernehmen. Die Industrie hatte fortan eine Free rider-Position im europäischen Binnenmarkt, die aufzugeben sie nicht mehr bereit war.

Das Verhältnis zwischen Arbeit und Kapital wurde also entkoppelt und seine Aushandlung dem nationalen Kontext entzogen. Das führte notwendigerweise zu sozialen Verwerfungen, weil sich das »Kapital« die europäischen Strukturen zunutze machen konnte, die »Arbeit« hingegen nicht, denn die Arbeitsbeziehungen sind in Europa nicht einheitlich und im Verhältnis zum »Kapital« sehr viel schwächer organisiert. Das »Kapital« bekam ein level playing field, einen gewaltigen Vorteil – die »Arbeit« hatte dadurch gewaltige Nachteile. Eins zu null für Hayek gegen Marx.9

Von ungleichen Arbeitsbeziehungen bis hin zu unterschiedlichen Unternehmensbesteuerungen: Für die Wirtschaft entstand durch Maastricht und den Euro ein europäisches Shopping-Paradies, für die lohnabhängig Beschäftigten nur Misere im jeweils »nationalen Container«.10 Die europäischen Staaten haben sich bei dem Race to the bottom-Steuerwettbewerb gegenseitig unterboten. Zum staatlichen Steuerdumping gesellte sich das Lohndumping der Betriebe, weil ein europäisches Tarifrecht fehlte. Grob gesprochen wurde innerhalb des Binnenmarktes der Wettbewerb von der Industrie auf die Bürger verlagert. Wo die Industrie Niederlassungsfreiheit zu mindestens gleichen Bedingungen erhielt, konnten sich die europäischen Bürger gegen unterschiedliche Sozial- und Steuerstandards nicht wehren. Der transnationale, demokratische Kontext fehlte. Denn die europäischen Bürger waren und sind in Europa nicht gleichgestellt. Die Bürger wurden von ihren nationalen Regierungen gleichsam dem europäischen Binnenmarkt ausgeliefert. Die europäischen Staaten haben ihre natürliche Schutzfunktion für ihre Bürger preisgegeben, und es existierte kein funktionierender europäischer Parlamentarismus, der die verheerenden Konsequenzen hätte einfangen können.

Die fundamentalste Verletzung demokratischer Gebote beim derzeitigen Aufbau der EU liegt darin, dass die europäischen Bürger im Europäischen Parlament nicht gleichgestellt sind, obwohl es ihr gemeinsames Wohl und Wehe zu vertreten hat. Das Prinzip der Wahlrechtsgleichheit ist nicht gewahrt. Von Finnland bis Portugal wird nicht nach gleichen Bedingungen gewählt. Von Malta bis Deutschland vertritt ein Abgeordneter nicht die gleiche Zahl von Bürgern. Dies verstellt den Weg in eine veritable europäische Demokratie. In der Tatsache, dass das Europäische Parlament in seiner jetzigen Form nicht dem Prinzip »eine Person, eine Stimme« entspricht, sieht auch das Bundesverfassungsgericht einen der wichtigsten Gründe dafür, dass das Europäische Parlament nicht im traditionellen Sinne demokratisch ist. Deshalb wurde anlässlich der Ratifizierung des Lissabonner Vertrags das sogenannte »Integrationsverantwortungsgesetz« eingeführt, das dem Bundestag als eigentlichem Träger der Legitimität de facto die Aufgabe zuweist, das Europäische Parlament zu überwachen.

Das ist das generelle Muster der EU: Das Eigentliche kann nicht gemacht werden, die politische und bürgerliche Gleichheit als Grundvoraussetzung für jede politische Einheit kann nicht verwirklicht werden – und so verheddert sich die EU seit Jahrzehnten in komplizierten Reformen und opaken Ausweich- und Korrekturmaßnahmen. Dadurch schafft sie stets neue Ebenen von undemokratischen, systemischen Verstrickungen, die dann nach außen als notwendiger Pragmatismus oder als »krisenbedingt notwendiges Handeln« getarnt und den Bürgern verkauft werden. Es sind aber die vermeintlich souveränen Nationalstaaten, die dem Prinzip bürgerlicher und politischer Gleichheit auf europäischer Ebene im Weg stehen. Denn ursprünglich sind nicht Staaten, sondern Bürger souverän,11 die jedoch im Dickicht der EU-Herrschaft gleich doppelt ihrer Legislative beraubt werden.

Strukturell gilt, dass derzeit die parlamentarische Kontrolle in EU-Europa zwischen zwei Stühlen sitzt: Die nationalen Parlamente sind nicht mehr ausreichend zuständig, das Europäische Parlament noch nicht ausreichend zuständig. In dieses Vakuum stößt die EU-Kommission, die die europäischen Gesetzgebungsakte (Direktiven oder Verordnungen) – meistens befördert von nationalen Regierungen und ihren Interessen – initiiert. Paradoxerweise stimmen die nationalen Regierungen im Europäischen Rat dann auch noch selbst über die neuen Gesetzgebungsakte ab. Der ehemalige deutsche Verfassungsrichter Dieter Grimm beschreibt anschaulich,12 wie auf diese Art und Weise mit der EU ein System entstanden ist, in dem der Exekutive, aber auch der Judikative seit Jahrzehnten ein geeignetes parlamentarisches Korrektiv fehlt. Anders formuliert: Die EU entspricht nicht dem Prinzip der Gewaltenteilung nach Montesquieu. EU-Europa ist mithin parlamentarisch entkernt und mutiert zum exekutiven und judikativen Raum, in dem vor allem eins fehlt: der Raum für glaubwürdige, politisch verhandelte Entscheidungen, für die auf europäischer Ebene gemeinsam die Verantwortung übernommen wird. Im Zwitter-Stadium von Staatenunion und Bürgerunion werden die nationale wie die europäische Demokratie nachgerade zerrieben. Die EU fräst sich in die nationalen parlamentarischen Strukturen. Rund 70 Prozent aller Gesetzgebungsakte sind eine Übernahme europäischer Legislativakte – Verordnungen und Richtlinien –, die meistens in EU-Ausschüssen durchgewinkt werden. Deren Legitimitätsgrundlage erscheint indes zweifelhaft, ja problematisch: legal, aber nicht demokratisch.

Das bestehende EU-System ist mithin der Inbegriff von »Postdemokratie«,13 wie der britische Politologe Colin Crouch es formuliert hat: »Du kannst zwar wählen, aber du hast keine Wahl.« Die EU macht immer nur Binnenmarktintegration, sie kann gar nichts anderes, sie ist politisch und sozial amputiert. Wo die europäische Demokratie nicht existiert, kommt auch die nationale Demokratie gegen das Diktum von Brüssel nicht mehr an, wie vor allem die Griechen schmerzlich erfahren mussten. Die nationale Wählermeinung wird von der europäischen Exekutive bewusst ausgegrenzt, was Jürgen Habermas als Exekutivföderalismus bezeichnet.14 Die Alternativen heißen also: funktionierende, transnationale europäische Demokratie oder fiktive nationale Souveränität, in die die EU hineinregiert. Momentan haben wir letzteres.

Das Problem ist, dass es in der EU keine wirkliche politische Opposition gibt und dass Entscheidungen de facto nicht mehr umkehrbar sind. EU-Politik vollzieht sich weitgehend ohne Korrektiv. Die viel beschworene »Politisierung« findet kaum statt, der Weg zu ihr ist systemisch verbaut. Das Europäische Parlament kann sich gar nicht politisieren, wie im europäischen Diskurs oft gewünscht wird. Es muss fast immer in einer »großen Koalition«, also überparteilich, abstimmen, um überhaupt den Europäischen Rat und seine nationalen Querschüsse parieren zu können, denn um den Europäischen Rat zu überstimmen, braucht es eine Zweidrittel-Mehrheit. Das Europäische Parlament ist also im Wesentlichen »entpolitisiert« und bildet in über 90 Prozent der Abstimmungen Mehrheiten von 70 Prozent + X, um den Europäischen Rat zu überstimmen.

Aus dieser Asymmetrie ergab sich während der Eurokrise das Problem, dass nationale Parlamente – genauer: der Deutsche Bundestag – in die Bresche der europäischen Legislative gesprungen sind. Während der Eurokrise lag die Euro-Governance, also die eigentliche Entscheidungsgewalt über die griechischen Bail-out-Pakete, allein bei den deutschen Volksvertretern. Die Entscheidungen des Bundestags hatten Auswirkungen über die deutschen Landesgrenzen hinaus – nämlich auf ganz Europa – und betrafen mithin europäische Bürger, die ihrerseits kein Wahlrecht zum Bundestag hatten. Diese Nichtübereinstimmung von demokratisch gewählten Entscheidungsträgern und Betroffenen ist der Kern des europäischen Demokratiedefizits. De facto hat der Bundestag für die ganze Eurozone entschieden, ohne von allen Bürgern der Eurozone gewählt worden zu sein. Parlamentarische Regeln wurden im demokratischen Vakuum der EU durch nationale Dominanz ersetzt, in diesem Fall war es ein deutscher Hegemon, der über Wohl und Wehe der Eurozone entschied. Gleichzeitig nahm Deutschland innenpolitisch eine Opferrolle ein und behauptete gegenüber seinen Wählern, Deutschland müsse für alle bezahlen. Die Macht des »Opfers« setzte sich gegen das Recht der Ohnmächtigen durch.

Zudem wurden Euro-Krisen-Entscheidungen zwischen den Regierungen der Mitgliedsstaaten außerhalb der bestehenden EU-Verträge getroffen – mit dem vielfach kritisierten Effekt, dass europäische Gemeinschaftsorgane, insbesondere das Parlament und die Kommission, geschwächt wurden und die kleinen EU-Länder tatsächlich nichts mehr zu sagen hatten. Europäische Demokratie müsste anders aussehen.

Im Kern ging es beim Grexit also nicht um Geld, sondern um die politische Dominanz der Geldgeber und der europäischen Institutionen. Mit Irland verfuhr man ähnlich: Erst wurden die Iren erpresst, ihre Banken gegen ihre eigene Absicht zu retten und die Kosten dafür zu Lasten der irischen Steuerzahler zu sozialisieren, dann drückte die EZB beide Augen zu, und die Bank von Irland durfte Geld drucken. EU-Europa ist nach außen regeldicht, nach innen verpfuscht. Hauptsache der Schein wird gewahrt. Mit demokratischer Politik haben beide Fälle wenig zu tun. Beide Beispiele verbindet, dass so etwas nur bei kleinen Ländern funktioniert, den Ländern der europäischen Peripherie. Die Regierungen kleiner Länder hängen am Brüsseler Gängelband von Regel-Peitsche und Regel-Zuckerbrot. Die großen haben entweder die Peitsche selbst in der Hand, wie Deutschland, oder entziehen sich den Strafen, weil sie zu groß sind wie Frankreich.

Diese nachgerade haarsträubenden Verletzungen demokratischer und parlamentarischer Prinzipien in der EU wurden indes kaum benannt oder konnten von offizieller Seite nicht benannt werden. Stattdessen wurde – vor allem in Deutschland – jahrelang ein öffentlicher Diskurs inszeniert, in dem ein südeuropäischer Schlendrian an den Pranger gestellt wurde, der durch europäische Sparpolitik gezähmt werden müsse. Deutschland durfte dabei den wirtschaftspolitischen Musterknaben spielen. Wie lange dieser Diskurs unter fahrlässiger Mitwirkung wichtiger Leitmedien funktioniert hat, macht noch im Nachhinein fassungslos. Als ein Beispiel nur sei hier genannt, wie zum Beispiel die Wirtschaftswoche unter dem damaligen Chefredakteur Roland Tichy den deutschen Mittelstand als zentrale Lesergruppe in der Eurokrise gegen die Rettungspakete geradezu aufgewiegelt hat. Interessanterweise haben sich die Verlagseigentümer später entschlossen, die Spitze der Wi Wo-Redaktion auszuwechseln, weil die Schmerzgrenze für seriösen Journalismus offenbar erreicht war. Deutschland hat in Europa einen »ordo-liberalen Tempelbau«15 betrieben, der ganz auf seine eigene (wirtschafts-)politische Verfasstheit abgestellt war und durch den man sich mit Hilfe der EU-Institutionen die Eurozone gleichsam zum Untertan gemacht hat. Dabei wurde negiert, dass der eigene wirtschaftliche Erfolg auf dieser Eurozone beruht. Die Pfründen des eigenen (Export-)Erfolges wurden nicht europäisch geteilt, und man verschwieg, dass der eigene Exporterfolg über lange Strecken auf deutschem Lohndumping in Europa, also auf dem Export von Arbeitslosigkeit beruhte. Deutschland hat mit immensen Handelsbilanzüberschüssen den Rest Europas in die Krise konkurriert.16 Am EU-Verhandlungstisch kann aber nur über defizitäre Staatshaushalte, nicht über Handelsbilanzüberschüsse verhandelt werden. Erstere können gekappt, letztere nicht beschnitten werden. Umgekehrt lagen die deutschen Anteile am Rettungsschirm (ESM) in relativen Zahlen gemessen an der Wirtschaftskraft im europäischen Mittelfeld,17 Deutschland kann also keine überdehnte Solidarität für sich in Anspruch nehmen oder behaupten, »es habe für alle bezahlt«. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass Deutschland während der Eurokrise als einzig stabiles Land durch die Negativverzinsung seiner Staatsanleihen, die rund 100 Milliarden in die Staatskasse gespült haben, zum eigentlichen Krisenprofiteur wurde.18 Doch über eine »Transferunion« hat man sich in Deutschland geflissentlich empört – mit Karlsruhe als Gralshüter und unter Berufung auf die No-bail-out-Klausel der europäischen Verträge. Dabei wussten alle, dass eine Währungsunion ohne Fiskal- und Sozialunion eben nicht funktionieren kann. Aber ebenso haben alle diese Einsicht negiert. In der Quintessenz kann man formulieren, dass das 1989 von Deutschland gegebene Versprechen, nämlich dass deutsche und europäische Einigung zusammengehören, bis heute nicht eingelöst wurde.

Schon raunt man sich achselzuckend auf Brüsseler Fluren zu: »Germany runs the EU«. Schon äußert der italienische Premierminister Matteo Renzi öffentlich, dass die Eurozone längst kollabiert wäre, hätten sich alle Länder so verhalten wie Deutschland. Schon schreiben ausgewiesene angelsächsische Historiker, dass Deutschland die große europäische Rezession geschaffen hat – diesmal nur nicht bei sich selbst, sondern im europäischen Ausland.19 Diese deutsche Zuchtmeister-Nummer, die im europäischen Ausland seit spätestens 2010 mit zunehmender Befremdung zur Kenntnis genommen wurde, hat jahrelang während der Eurokrisen-Jahre das europäische Klima vergiftet, bevor die »ugly Germany«-Debatte dann mit dem SPIEGEL-Titel vom Juni 2015 »German Übermacht« ihren vorläufigen Höhepunkt fand und langsam auch ins deutsche Bewusstsein sickerte. Selten lagen deutsche Selbst- und Fremdwahrnehmung soweit auseinander wie in diesen Jahren. Doch heute wundert man sich in Deutschland darüber, dass andere Länder bei den Flüchtlingen nicht solidarisch sind.

Deutschland hat von dieser Politik zwar statistisch profitiert, aber längst nicht jeder Deutsche. Denn die Exportindustrie schaffte den erzielten Gewinn ins Ausland. Die Reallöhne stagnierten jahrelang. Das machte die Zustimmung der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland zum europäischen Projekt brüchig, denn längst nicht jede(r) Deutsche hatte persönliche Vorteile vom statistischen Gewinn Deutschlands durch die Euroeinführung. Immerhin, dieser belief sich laut einer Studie20 von McKinsey aus dem Jahre 2012 auf rund 160 Milliarden Euro. Das heißt: Über die Hälfte des gesamten »Eurogewinns« in der Eurozone von rund 300 Milliarden kam Deutschland zugute.

Die europäischen Nachbarstaaten aber, die nicht, wie das kleine Slowenien zum Beispiel, im Speckgürtel der deutschen Wertschöpfungskette liegen, also vor allem die Länder in Südeuropa, wurden sozioökonomisch regelrecht umgepflügt. Die politischen und sozialen Konsequenzen, vor allem eine Jugendarbeitslosigkeit von nahezu 50 Prozent, gilt es heute zu beklagen. Das maßgeblich deutsche »Durchregieren« mittels der EU-Institutionen in der Eurozone hat daher zentrale demokratische Grundfesten ausgehebelt und die Demokratie in Europa verraten.

Natürlich gab und gibt es große wirtschaftliche Fehlentwicklungen, Reformstaus und mangelnde Wettbewerbsfähigkeit vor allem in Südeuropa, aber auch in Frankreich. Auch muss man in diesem Zusammenhang an Steuerhinterziehung in großem Stil in Griechenland oder Italien erinnern und an fehlende Katasterämter in Griechenland.

Doch geht es hier in allererster Linie um die immer noch nationalstaatlich konturierten EU-Politiken: Die Lösungen wirtschaftlicher Probleme werden im »nationalen Container« gesucht und können deshalb einfach nicht demokratisch gelingen, wenn zum einen die nationalen Grenzen für Investitionen und Gewinnrückführung weit offen sind und damit die Währungsgrenze die eigentliche Außengrenze ist; und zum anderen, wenn mangels bürgerlicher und politischer Gleichheit im Währungsraum fundamentale demokratische Prinzipien verletzt werden und es keinen ordentlichen europäischen Parlamentarismus als politischen Verhandlungsort für die Verteilung von Euro-Gewinnen und Euro-Verlusten gibt. Es geht um nichts Geringeres als um die Einbettung des Euros in eine transnationale Demokratie.

Solange der Euroraum nicht als einheitliche Volkswirtschaft mit einer volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung verstanden und konzipiert wird, sind die Folgen der Eurokrise nicht demokratisch und für alle europäischen Bürger gleichermaßen sozial ausgewogen zu überwinden. Es gilt also, die gerechte Teilhabe aller Bürger des Euroraums am aggregierten Gewinn der Eurozone zu organisieren.21 Und dazu bedarf es vor allem einer transnationalen parlamentarischen Demokratie, in der alle europäischen Bürger politisch – also mit Blick auf Wahlen – und vor dem Recht – mit Blick auf das Steuerrecht und den Zugang zu sozialen Rechten – gleichgestellt sein müssen. Sonst werden Staaten und ihre Bürger zueinander in Konkurrenz gesetzt, wie es derzeit in der EU der Fall ist: Innerhalb eines Währungsraumes wird mit ungleichen sozialen Standards, mit ungleichen Steuern, Löhnen und sozialen Rechten operiert. Nach der Euroeinführung ist also vor der Euroeinführung. Ohne politische Union kann der Euro zwar funktionieren, aber eben nicht demokratisch, sondern nur postdemokratisch wie jetzt. Jede wirkliche Union muss aber auf der politischen und bürgerlichen Gleichheit ihrer Bürger beruhen. Gleichheit der Bürger in Europa können die Nationalstaaten heute jedoch nicht gewähren. Das ist die Lebenslüge der »Vereinigten Staaten von Europa«. Damit ist mehr Integration nicht die Lösung. Europa muss umgestülpt und vom Gleichheitsgrundsatz der Bürger her neu gedacht werden. »Europa Umstülpen«, es vom Kopf auf die Füße stellen, ist der rote Faden, der sich durch das ganze Buch zieht. Er entspricht dem auf dem Buchdeckel abgebildeten Vulkan-Motiv der Berliner Konzept-Künstlerin Valeska Peschke:

Titelbild: Vulkan: Umstülpen/​Inside Out; Valeska Peschke, Collage 2015; aus der Serie »Auf der Suche nach Amikejo«.

Ausstellung Europa, Die Zukunft der Geschichte, Kunsthaus Zürich 2015

Der Vulkan steht als Sinnbild für das, was wir für die Utopie Europa brauchen: Kreativität und Kunst als gesellschaftlicher Impetus. Der Vulkan ist ein sichtbares skulpturales Zeichen, ein Sinnbild für Aufbruch und Umwandlung. Kratermund. Ein Mund, der von den inneren globalen Zusammenhängen und Kontinenten spricht, vom ausgestülpten geschmolzenen Erdinneren. Männlich und weiblich zugleich. Glühende, erschütternde Eruption, Kristall klingender und fruchtbringender Ascheregen. Ein Monument der Zeitlosigkeit und der langen Geschichte. Die Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Kontinentalplatten und den darüber liegenden Kulturen. Ein wesentlicher Bestandteil für Kunst und Kreativität. Chaos, Ungewissheit, ein gewisses Niveau der Härte, des Schmutzes und Rauheit. Aufbruch als Instant, der Moment vor der Transformation.

Die Höhenlinien, die nicht einer Höhe, sondern der Bewegung folgen, bestehen aus den dekonstruierten Fahnenfarben der EU-Staaten, dem EU-Code von Rem Kohlhaas von 2003. Geografie der Kulturen. Wo liegen diese Orte der Kommunikation?

Die Künstlerin Valeska Peschke beschäftigt sich mit Vulkanen und Gesellschaften im Umbruch und hat beides als langjähriges globales Kunstprojekt umgesetzt. »Aschewolke«, »First World Catastrophy Camp« und »Vulkane in Berlin« heißen die Titel ihrer großräumigen Installationen. Als »Vulkanforscherin« führte sie Reisegruppen durch Städte, setzte sichtbare Zeichen im Stadtraum mit Aktionen und Installationen in Galerien und Museen. Sie begreift ihre Kunst als Vulkanarbeit: »Mein Raum ist die Idee, den durchgehe ich wie bei einer Reise. Durch diesen Raum beginnt eine Reise der gedanklichen Freiheit, wobei sich Reisender und Utopie, Ort und Nicht-Ort ständig ändern können. Diesen Prozess habe ich Vulkanarbeit genannt. Ohne Vulkane kein Leben.«

Valeska Peschke, 2016

Die dahinter liegende Annahme ist, dass politische und bürgerliche Gleichheit das europäische System langfristig stabilisieren würden – während es jetzt erodiert.

Werfen wir einen Blick in das, was die postdemokratischen Zustände in Europa inzwischen politisch angerichtet haben, und schauen wir, warum das europäische Vokabular nicht funktioniert, mit dem wir die europäischen Krisen verhandeln.

KAPITEL 3

Die »Weimarisierung« Europas und das Problem der politischen Mitte

»When I was young, reading the history books about the 1920, I never understood how the elites of the time could lose the system. Now, I understand.«

Martti Ahtisaari, Friedensnobelpreisträger

»Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.«

Bertold Brecht, Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui

Infolge der kolossalen Verletzungen demokratischer Gebote sowie der Entkoppelung von wirtschaftlichem und politischem Raum sprießen heute überall in Europa von Finnland bis Griechenland Populismen wie Pilze aus dem Boden, rechte wie linke. Die sogenannten Populisten opponieren gegen die EU. Sie brechen die klassischen Parteiensysteme auf und sorgen so für die Erosion der nationalen Demokratien. Der Populismus wird gemeinhin als Bedrohung für die liberalen demokratischen Gesellschaften gebrandmarkt. Europa hat aber nur in zweiter Linie ein Populismusproblem. Sein größtes Problem ist die politische Mitte!

Denn die politische Mitte ist nicht in der Lage oder willens, die EU als eine Vergewaltigung der Demokratie anzuprangern. Auch fühlt sie sich nicht bemüßigt, die EU in Richtung auf eine echte transnationale Demokratie hin weiterzuentwickeln und dabei besonders die positive politische und soziale Integration in Europa in den Mittelpunkt zu stellen. Die EU ist nicht in der Lage, aus ihrer politischen Selbstverleugnung herauszutreten. Das ist das eigentliche Problem in Europa!

Der europäische Populismus kommt immer mit zwei Gesichtern daher. Das eine ist ein Anti-Euro-Gesicht, das andere Gesicht wendet sich gegen Migration und Überfremdung. Beide Gesichter verbindet Marine Le Pen mit Viktor Orbán, die »Wahren Finnen« mit der FPÖ oder die schwedischen Demokraten mit Geert Wilders. Die deutsche AfD glaubte unter Bernd Lucke noch, sie könne das hässliche zweite Gesicht hinter ihrem professoralen Anti-Euro-Gesicht verstecken, bevor Frauke Petry und Björn Höcke die xenophobe Fratze der Partei auch öffentlich zeigten.

Die Anti-Migration-Fratze der europäischen Populisten macht es der politischen Mitte leicht, sich in moralische Überheblichkeit zu flüchten. Diese Überheblichkeit versperrt den Blick darauf, dass die Populisten mit ihrer Euro-Kritik einen sehr wunden Punkt des Euro-Governance-Systems treffen: Der Euro kann zwar funktionieren, ist aber nicht demokratisch. Was Marine Le Pen und ihre fellows kritisieren, nämlich die europäische Postdemokratie, ist nicht sonderlich originell und findet sich als Tatbestand und Kritik in so ziemlich jeder wissenschaftlichen Analyse angesehener Politik- und Sozialwissenschaftler. Ganze Bibliotheken lehren uns, dass der Euro nicht ausreichend legitimiert und der europäische Parlamentarismus brüchig ist.22 Der Euro kann die soziale Kohäsion in Europa nicht gewährleisten. Nur wollten wir dieses Wissen jahrzehntelang nicht in die europäischen Parlamente transportieren. Wenn das jemand im politischen Raum laut sagt, kann er schnell in die Gefahr geraten, als Populist zu gelten.