Was ist die Nation? - Ulrike Guérot - E-Book

Was ist die Nation? E-Book

Ulrike Guérot

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Beschreibung

»Die beste Nation ist die Resignation.« Dieser Ausspruch wird dem österreichischen Dramatiker Johann Nestroy zugeschrieben, der seine Zeitgenossen im Wiener Volkstheater gern zum Lachen brachte. Was eine Nation ist, lässt sich jedenfalls gar nicht so einfach bestimmen. Vor allem in den stürmischen Zeiten, in denen wir uns derzeit befinden, wird Europa europaweit gern und schnell abgeschrieben und stattdessen wieder einmal die Nation oder der Nationalstaat beschworen. Doch genau an diesem Punkt stellt Ulrike Guérot mit ihrem Essay die richtigen Fragen: Was eigentlich ist die Nation? Vor allem aber: Wozu brauche ich meine Nation so unbedingt? Vielleicht hilft die Schneise, die dieser Text mit verschiedenen Definitionen durch den Nationen-Dschungel schlägt, die derzeit äußerst problematische Diskussion über Europa zu lichten. Vielleicht kommt man beim Lesen sogar zu dem Schluss, dass der europäische Integrationsprozess längst ein Prozess des Nation-Buildings und der europäischen Vergesellschaftung ist? Dass Solidarität jenseits heutiger Grenzen institutionalisiert und Europa nur noch als Republik verfasst werden muss? Der Essay Was ist die Nation?? ist der dritte Essay in der Reihe IFA-Edition im Steidl Verlag.

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Ulrike Guérot

Was ist die Nation?

Steidl / ifa

In vielen Europadiskussionen in den letzten Jahren habe ich gemerkt, dass der Begriff »post-national« nicht funktioniert. Er klingt ungefähr so sexy wie »vegan« für Fleischesser. Darum habe ich dieses Buch geschrieben:

Für all diejenigen, die eine Nation brauchen und trotzdem von einem demokratischen, sozialen und handlungsfähigen Europa träumen.

»[Die Nation] ist eine gefühlsmäßige Gemeinschaft, deren adäquater Ausdruck ein eigener Staat wäre, die also normalerweise die Tendenz hat, einen solchen aus sich hervorzutreiben. Die kausalen Komponenten aber, die zur Entstehung eines Nationalgefühls in diesem Sinne führen, können grundverschieden sein.«

»Der Sinn von ›Nation‹ und ›national‹ ist absolut nicht eindeutig. Wir können ihn nicht finden von der Seite der gemeinsamen Qualitäten her, welche die Gemeinschaft erzeugt, sondern nur von der Seite des Zieles her, nach dem etwas drängt, was wir unter dem Sammelnamen Nationalität bezeichnen: Dem selbstständigen Staatswesen.«

Max Weber, 1912

Mit Dank an Elke, Elmar, Karin, Michael, Reinhard, Ronald, Sabine, Simone, Ulrike

Sie alle wissen, warum

Inhalt

Cover

Titel

Teil I – Don't touch my nation!

Das Kreuz mit der Nation

Am Anfang war eine Rede

En vogue: Nation, Identität, Heimat

Was ist schon deutsch?

Nation oder Region, was denn jetzt?

Teil II – Was ist die Nation?

Vor den Nationen: Adel, Kirche und Städte

Der Prozess des Nation-Buildings

Die Triade: von sozialen, bürgerlichen und politischen Rechten

Nation als Solidarverband

Pfade zum Nationalismus

Nationale Kreuzungen: rechter und linker Populismus

Nation und territoriale Spaltungen

Nation und industrielle Gestaltung

Nation, ihre sozialen Schichtungen und Klassen

Die Nation als Wille und Vorstellung

Nation als Staatsbürgergemeinschaft

Teil III – Bauen wir einen europäischen Staat!

Vier Linien einer Renovatio Europae

Nation in Latenz: Von vorpolitischer Substanz zum Willensakt?

Gemeinsames Erleben und Erinnern

Eine Europäische Paulskirche?

Constituante Européenne statt europäischer Konvent

Die Aussöhnung von europäischer Föderation und Republik

Ein Ziel und eine Methode

Erstens kommt es anders und zweitens als man denkt

Bildteil

Anmerkungen

Nachwort von Ronald Grätz

Über den Autor

Abbildungen

Impressum

Teil IDon’t touch my nation!

Das Kreuz mit der Nation

»Nationalismus ist keineswegs das Erwachen von Nationen zu Selbstbewusstsein: man erfindet Nationen, wo es sie vorher nicht gab.«

Ernest Gellner

In meinem ›Zwillingsessay‹ zu diesem Band, Wie hältst du’s mit Europa?, habe ich argumentiert, dass das politische Projekt Europa bis auf Weiteres gescheitert ist. Der politische Wille, an Europa, einem konkreten europäischen Projekt, ja an einem europäischen Traum zu arbeiten, hat auch in Deutschland in den vergangenen Jahren – um nicht zu sagen: Jahrzehnten – spürbar gefehlt. Vor allem aber, so das zentrale Argument von Wie hältst du’s mit Europa?, war Deutschland mit dem Rest Europas aufgrund der Renationalisierung seiner Europapolitik in vielerlei Hinsicht nicht solidarisch. Ganz allgemein war Europa schlichtweg damit überfordert, mit den sozialen Folgen der Bankenkrise und den politischen Folgen der Flüchtlingskrise gesamteuropäisch angemessen umzugehen. Europäische Solidarität war die große Leerstelle der letzten Jahre. Dazu wurden die Wünsche und Sorgen der europäischen Bürgerinnen und Bürger sowie ihr Anspruch auf politische Repräsentanz im Rahmen der europäischen Einigung jahrzehntelang eklatant verkannt, wie der Sozialhistoriker Hartmut Kaelble in seinem jüngsten Buch eindrucksvoll beschreibt.1 Die Wahl von Ursula von der Leyen zur EU-Kommissionspräsidentin am 16. Juli 2019, obwohl sie zuvor überhaupt nicht für dieses Amt kandidiert hatte, ist ein weiterer Beweis dafür, dass der Bürgerwille in den Strukturen der EU nicht viel zählt: »This should highlight that the average European citizen has no visibility whatsoever of the political program and the consequences stemming from his choice«, schrieb die Washington Post am Tag danach. Europa? Nicht besonders sozial und nicht besonders demokratisch also …

Unter anderem in Reaktion darauf durchlebt der europäische Kontinent eine recht beispiellose Phase der Renationalisierung. So sagt man zumindest. Die Nation und der Nationalstaat sind definitiv wieder im Kommen, fast genauso wie Vintage-Möbel oder falsche Wimpern. Europa und Nation werden in Europadiskussionen permanent gegeneinander ausgespielt. Der Nationalstaat muss auf jeden Fall bleiben. Wer ihn antastet, ihn für Europa ›überwinden‹ will, erntet wahlweise Spott, Hohn oder wütende Empörung. Doch kaum jemand definiert beim aktuellen Gerede über die Nation und den Nationalstaat, was sie im Kern sind. Was meinen wir, wenn wir von »Nation« reden? Ist für jeden intuitiv klar, was damit gemeint ist? Oder heißt Nation bzw. Nationalstaat für jeden etwas anderes? Wie viele Definitionen gibt es von Nation und worauf zielen sie ab? Haben Franzosen oder Polen den gleichen Begriff davon wie Deutsche? Sind Katalonien, Schottland oder Tirol gar auch Nationen?

Vielleicht ist die Nation und der vermeintlich um eine Nation herum verfasste Nationalstaat nur der neue Sehnsuchtsort – besser: ein plausibler Rückzugsort –, weil der europäische Traum keine Wirklichkeit geworden ist, also nur eine Fallback-Option? Wo das politische Europa in den letzten Jahrzehnten als Bezugsgröße nicht entstanden ist, was soll da anderes bleiben als ein Revival des Nationalen? Aleida Assmann hat letztes Jahr für ihr Buch Der europäische Traum2 auch deswegen den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels bekommen, weil sie uns klar gemacht hat, dass politische Träume – Friedenssicherung, Demokratie, Menschrechte – durch Arbeit, Erinnerungskulturen und Mythenbildungen immer neu geschaffen werden müssen. Das gilt für Nationen ebenso wie für Europa. An diesen Befund soll hier angeknüpft werden. Denn wenn eine Nation essenziell etwas ist, das durch Arbeit an Träumen und Mythen sowie durch Erinnerungskultur entstehen kann, dann könnte Europa ja vielleicht auch eine Nation werden? Wenn so viele Menschen – real oder vermeintlich – eine Nation brauchen, sich aber trotzdem ein funktionierendes Europa wünschen, wenn Europa nicht den Verlust des Nationalen bedeuten darf, ja, wenn Europa nicht um den Preis der Nation herumkommen kann, dann wäre die Verknüpfung von Nation und Europa vielleicht der Ausweg aus einer festgefahrenen Debatte?

Dieser Essay möchte darum zwei Begriffe miteinander in Bezug setzen, die in herkömmlichen Europa-Diskussionen vorwiegend gegeneinander ausgespielt werden, nämlich Nation und Europa. Gerade der letzte Europawahlkampf hat das mannigfaltig zum Ausdruck gebracht. Europa wurde gegen die Nation und den Nationalismus in Stellung gebracht – und umgekehrt. Wie kann diese Spannung aufgelöst werden? Könnte Europa eine Nation werden? Ist Europa vielleicht schon längst in einem Prozess der europäischen Vergesellschaftung, der als ein ›europäisches Nation-Building‹ bezeichnet werden könnte? Oder zumindest als zaghafter Vorgriff auf ein solches?

Es geht darum, sich der Frage nach der »Nation Europa« spielerisch zu nähern, um ein Gedankenspiel: Was, wenn die Nation nicht (nur) das ist, was die meisten intuitiv glauben, nämlich eine ethnisch homogene und (leit-)kulturell eindeutig geprägte Einheit, an der sich so wichtige Dinge wie Identität oder Heimat festmachen lassen? Sondern ein Prozess der Verknüpfung von sozialen und bürgerlichen Rechten, die Begründung einer Staatsbürgergemeinschaft, die Sozialisierung in eine bestimmte Kultur hinein oder faktische Solidarität, also ein politisches Einheitsband, das um einen bestehenden Solidarverband geknüpft wird? Was, wenn Europa Chancen hätte, nach bestimmten Definitionen und Kriterien eine Nation zu werden und diese Nation dann als Nationalstaat verfasst werden könnte? Würden wir darüber ernsthaft diskutieren wollen?

Immerhin erscheinen gerade die ersten Bücher und Artikel mit genau dieser Fragestellung: Nation Europa! Warum aus der Europäischen Union die Europäische Nation werden muss.3 Die Rheinische Post stellte im April 2019 die Frage, was nach dem Nationalstaat kommt.4 Auch der saarländische Ministerpräsident Tobias Hans schlug jüngst in einem Gastbeitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung den Begriff »Bekenntnisnation«5 vor, eine Nation, die alle einschließt, die sich zu ihr bekennen – gleich welcher Herkunft. Hans bezog sich dabei auf Deutschland, aber könnte die »Bekenntnisnation« nicht auch ein Weg zu einer »Nation Europa« sein?

Was also, wenn Nationen nicht ontologisch begründet sind, nicht vom Himmel fallen, keinen eigenen »Seins-Charakter« haben, sondern eine Nationenwerdung immer am Ende eines Prozesses einer Vergemeinschaftung steht? Wenn Nation-Building, State-Building und Demokratisierung parallel verlaufen und Hand in Hand gehen und man plausibel argumentieren könnte, dass die in der EU lebenden europäischen Bürgerinnen und Bürger in dem Prozess einer europäischen Vergemeinschaftung und mithin Nationenbildung in vielerlei Hinsicht schon recht weit fortgeschritten sind? Würden wir erschrecken? »Man erfindet Nationen, wo es sie vorher nicht gab«,6 dieser Satz von Ernest Gellner steht diesem ersten Teil des Essays darum als Motto voran.

Was, wenn »Nation« im Kern nichts anderes heißt, als, wie Max Weber schon 1912 auf dem deutschen Soziologentag vorschlug,7 »zusammen einen Staat […] aus sich hervorzutreiben«, dann über Generationen darin gemeinsam zu leben und sich an die Aufbauleistung zu erinnern sowie eine gemeinsame Zukunft zu projektieren? Würden wir das in Europa dann tun wollen, gemeinsam einen Staat bauen? Und in ferner Zukunft rückblickend stolz auf unseren europäischen Staat sein? Nation und Staat – Nationalstaat – beide Begriffe stehen jedenfalls, bei Weber ebenso wie bei Gellner, in engstem Bedeutungszusammenhang.

Oder ist der Begriff der Nation inzwischen völlig verbrannt? Ist er unter dem Eindruck des aktuell anschwellenden europäischen Nationalismus bereits so sehr ins Völkische getunkt, so toxisch, illiberal, anti-demokratisch, xenophob oder rassistisch im zeitgenössischen Diskurs, dass er als semantische Projektion für ein geeintes Europa, als Kontur für einen europäischen State-Building-Prozess nicht mehr taugt? Doch Achtung: Gerade die heutigen Populisten und Nationalisten – vermeintlich alle lauter Anti-Europäer –, die ständig gegen die EU wettern, meinen es vielleicht bierernst mit Europa und sind schon viel weiter in ihrem Denken, als viele vermuten.

Nation und Europa war von 1951 bis 1990 – man mag es kaum glauben – eine deutsche rechtsextreme Monatszeitschrift, die 1990 durch die Nachfolgezeitschrift Zuerst! ersetzt wurde. Für Nation und Europa schrieben zu Beginn führende rechtextreme Köpfe wie z.B. Hans Grimm oder Gottlob Berger,8 später auch Italiener, die mit der 2003 gegründeten Casa Pound9 in Zusammenhang gebracht werden können, Franzosen aus dem Umfeld der französischen Nouvelle Droite, Schweizer, die dem Schweizer Bankiersadel entstammen (von dem sich heute Geldströme zur AfD nachweisen lassen), oder Schweden, die mit der Europäischen Sozialen Bewegung (ESB) verbunden waren. Ein pan-europäisches rechtsextremes Netzwerk also und als solches der erste Versuch von Neonazis, sich nach dem verlorenen Weltkrieg auf europäischer Ebene neu zu organisieren. Augenscheinlich ist in vielen Texten aus Nation und Europa der auffällig aktuelle Zusammenhang zwischen Nationalismus und der sozialen Frage, die auch den vorliegenden Essay wie ein roter Faden durchziehen wird. Wenn man einzelne Texte dieser Zeitschrift betrachtet, mag man – jenseits des völkischen Grundtons und der inakzeptablen Xenophobie – strittig stellen, ob rechtsextreme Identitäre oder Nationalisten wirklich Anti-Europäer sind. Vielleicht sind einige unter ihnen eher glühende Europäer und wollen ein ebenso starkes wie soziales Europa, nur eben nicht jene EU, die der liberal-demokratischen Mitte vorschwebt?10 Hat die Forderung nach einem sozialen Europa eine rechtspopulistische Schlagseite? Aber was ist an ihr verkehrt? Nation und Europa – brandgefährliches Terrain!

Die europäische Linke tut sich schwer mit dem Begriff der Nation, der ja eigentlich tabu ist und bestenfalls mit der Kneifzange angefasst wird. Doch unter Soziologen ist der Begriff der Nation derzeit im Kommen. Kein Wunder, man kann ihr ja kaum noch aus dem Weg gehen, derart präsent ist die Nation im tagespolitischen Diskurs, vor allem in jenem über die Zukunft Europas. So warb z.B. Peter Brandt, Sohn von Willy Brandt, schon 2010 in der Jungen Freiheit für ein positives Verhältnis zur Nation,11 und die europäische Sozialwissenschaft bemüht sich derzeit verbrämt, der Frage nachzugehen, ob es etwas wie einen »linken Nationalismus« geben kann.12 Der aber ist in der politischen Wirklichkeit längst erfolgreich angekommen, wenn man z.B. an die umstrittene inhaltliche Ausrichtung der Aufstehen-Bewegung von Sahra Wagenknecht denkt, nämlich sozial und national zu sein; oder an den Wahlsieg der dänischen Sozialdemokratin Mette Frederiksen im Mai 2019, dem ein ebenso umstrittener wie klarer programmatischer Wechsel vorausging: sozial und national, so lautete auch hier das Patentrezept der neuen Parteiführung. Rechte wie linke Parteien verbinden also das Soziale mit dem Nationalen. Aber kann eine europäische Sozialdemokratie so funktionieren? Wo bleibt der klassische linke Internationalismus? Bleibt Europa hier notwendigerweise auf der Strecke? Höchste Zeit auszuleuchten, was das Soziale mit der Nation zu tun hat. Und dann zu schauen, was es bedeuten würde, wenn Europa tatsächlich zur Nation würde. Nation, das Soziale und Europa: Diese drei Begriffe bilden die stabilen Eckpunkte dieses Essays; das Spannungsverhältnis zwischen ihnen soll betrachtet werden.

Europaweit sind Bibliotheken gefüllt mit dicken Büchern über den rechtlichen oder kulturellen Begriff der Nation, ganz zu schweigen von den jeweiligen Entstehungsgeschichten der einzelnen europäischen Nationalstaaten. Nationenforschung gibt es seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert. Berühmt wurde jener Essay von Ernest Renan Qu’est-ce que c’est la Nation?,13 in dem es um die Elsass-Frage geht und über den noch zu sprechen sein wird. Seit den 1960er Jahren hat sich die Nationenforschung intensiviert und ist gerade in den 1990er Jahren und in jüngerer Zeit um mehrere systematische Arbeiten bereichert worden.14

Die vielfältigen Wege der europäischen Nationenwerdungen der letzten Jahrhunderte nachzuzeichnen oder die europäischen Nationen zu erklären, ist hier nicht die Absicht. Norbert Elias,15 Hagen Schulze,16 Krzysztof Pomian17 – um nur die Spitze einer schier unerschöpflichen Literatur zu nennen – und viele andere haben umfangreiche Standardwerke dazu geschrieben. Allein 905 Seiten umfasst Dieter Borchmeyers 2017 erschienene Studie Was ist deutsch?, und er kommt darin zu vielen Erkenntnissen, allerdings zu keinem eindeutigen Schluss. Wahrscheinlich ist darum dem Text ein Zitat von Hermann Bahr aus den Tagebüchern von 1923 vorangestellt: »Der Deutsche scheint an seinem eigenen Wesen, an dem eben noch die Welt genesen sollte, selber irre geworden.«18 Nation? Ein weites Thema also. Nation und Europa? Unmöglich, beides in einem Essay angemessen zu behandeln! Dieser Essay ist lediglich der Versuch, die Begriffe »Nation« und »Europa« – so kontraintuitiv das auf den ersten Blick erscheinen mag – in einen neuen Sinnzusammenhang zu stellen.

Hier geht es um einen schmalen Blickwinkel, eine Luke förmlich, aus der auf den Begriff der Nation unter Rückgriff auf verschiedene Definitionen und Theorien geschaut werden soll, immer mit der doppelten Fragestellung: Können die heutigen europäischen Nationen, wie wir sie kennen – England, Spanien, Frankreich, Deutschland, Belgien etc. – entlang dieser Definitionen überhaupt noch als Nationen bezeichnet werden? Und zweitens: Passen diese Definitionen von Nation auf das heutige Europa? Könnte man verschiedene Definitionen von Nation auf die heutige EU, auf den Prozess der europäischen Integration, den Prozess der politischen Einigung, in dem Europa steckt – bzw. stecken geblieben ist – anwenden? Und wenn ja, was würde daraus folgen? Vielleicht hilft die Schneise, die ich mit den verschiedenen Definitionen durch den Nationen-Dschungel schlagen möchte, die derzeit äußerst problematische Diskussion über Europa etwas zu lichten, damit wir endlich aus jener müßigen Dichotomie herausfinden, in denen Nation, Nationalstaat und Europa permanent gegeneinandergestellt werden, anstatt sie miteinander zu verknüpfen.

Nicht Identität, sondern Solidarität bzw. das Soziale als den Wesenskern des Nationalen zu definieren, wie es der französische Soziologe Marcel Mauss in einem erst kürzlich wiederentdeckten Buchfragment aus den 1920er Jahren unternommen hat, könnte dabei der Schlüssel zu einer europäischen Nationenwerdung sein. Die Nation oder der Sinn fürs Soziale, so der Titel seines Buches,19 deutet schon an: Nation ist, wo das soziale Gefüge funktioniert. Mit Identität hat das erst einmal wenig zu tun. Anders formuliert: Wenn es ein solidarisches Europa gäbe, wenn Solidarität überall in Europa gleichermaßen institutionalisiert wäre, wenn alle europäischen Bürgerinnen und Bürger tatsächlich gleichermaßen von sozialen Rechten profitieren würden, dann wäre Europa nach Marcel Mauss eine Nation, und zwar unabhängig davon, welcher Herkunft oder Identität die europäischen Bürgerinnen und Bürger sind. Nation ist für Mauss da, wo sich die Frage nach Solidarität nicht stellt, wo klar ist, wer zum sozialen Gefüge gehört und wer nicht. Das erinnert ein wenig an den berühmten Satz von Walter Hallstein, der Europa als eine »Solidarität der Tatsachen« (»une solidarité des faits«) bezeichnet hat.20 Szenen wie aus der letzten Eurokrise, wo politisch zäh und mit chauvinistischem Unterton über Rettungspakete verhandelt und der europäische Norden gegen den europäischen Süden gestellt wurde, wären in Europa passé bzw. es würde über Probleme wenigstens so zivilisiert verhandelt wie beim deutschen Länderfinanzausgleich. Denn die Frage nach dem sozialen Gefüge in Europa ist implizit die Frage nach einem europäischen Gesellschaftsentwurf und wie ein solcher aussehen, vor allem aber gelingen könnte. 21

Europa befindet sich schon längst in einer verdichteten, horizontalen Vergesellschaftung und durchläuft damit einen Prozess, der theoretisch und strukturell als paralleles State- und Nation-Building verstanden werden könnte, der aber politisch (noch) nicht als solcher benannt und diskutiert wird. Anders formuliert: Wo real für die Bürgerinnen und Bürger immer mehr Europa entstanden ist, wird dies im politischen Überbau noch nicht ausreichend abgebildet. Wo die Gesellschaft längst europäisch ist und denkt, oder zumindest immer europäischer wird, ist die Politik noch national. Der zunehmend europäischen Gesellschaft fehlt die gemeinsame politische Repräsentanz. Was die europäischen Bürgerinnen und Bürger in und von Europa wollen, ist längst nicht mehr das, was die europäischen Staatschefs wollen bzw. tun. An nichts kann man dieses Argument besser festmachen als an dem Gezerre zwischen Europäischem Rat und Europäischem Parlament, an der Diskrepanz zwischen »Staatscheflösungen« und Bürgerwille, an der überraschenden Nominierung von Ursula von der Leyen zur EU-Kommissionspräsidentin, obwohl sie nicht einmal Spitzenkandidatin für die Europawahlen 2019 war. Obwohl sie nicht einmal kandidiert hat.

Am Anfang war eine Rede

»Il paraîtra plaisant de parler de nation européenne à l’heure où certains peuples de l’Europe affirment leur volonté de s’accroître aux dépens de leurs voisins«

Julien Benda in Discours à la nation européenne, 1933

Ab Ende 1807, ein Jahr nach dem Einzug Napoleons in die preußische Hauptstadt, als nach dem Reichsdeputationshauptschluss auch der Zerfall des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation besiegelt war, hielt Johann Gottlieb Fichte das, was später als Reden an die deutsche Nation veröffentlicht werden sollte, in Form von vierzehn Vorlesungen an der Humboldt Universität zu Berlin. Die Hörsäle sollen brechend voll gewesen sein. Aus heutiger Sicht ist diese ›Rede‹ sicherlich ein Text, den man als politisch nicht korrekt, ja, dezidiert nationalistisch bezeichnen würde und der ein großes deutsches Abgrenzungsbedürfnis, »jener Grundzüge der Deutschen als eines Urvolkes«22 transportiert. Lassen wir das an dieser Stelle unkommentiert. Denn es war auch ein Text, der zunächst nicht so recht ernst genommen wurde. Fichtes Rede war ein gedanklicher Vorgriff, die Imagination einer politischen oder staatlichen Einheit, die der deutschen Kulturnation ihren angemessenen Platz in der Welt geben sollte. Er wollte die »deutschen Stämme« der Schwaben, Sachsen, Hessen, Pfälzer, Bayern und Preußen einen. Doch nicht nur das. Aus heutiger Sicht vielleicht selbstverständlich, brauchte man damals, 1807, eine Menge Vorstellungskraft, um das Vereinigungswerk zwischen den detuschen Stämmen, zwischen Preußen und dem Heiligen Römischen Reich deutscher Nation zustande zu bringen und es als einheitliche deutsche Kulturnation vorzustellen. Man könnte auch sagen, Fichte sei wahlweise sehr übermütig oder wagemutig gewesen,23 denn die ethnische und politische Aufteilung des Kontinentes war nie kongruent in Europa.24 Dennoch war eine Idee geboren: die deutsche Nation!

Knapp dreißig Jahre später, 1832, machten sich dann Angehörige der deutschen Kleinstaaten auf den Weg zum Hambacher Fest unter dem Motto »Einigkeit und Recht und Freiheit«. Knapp zwanzig Jahre später, 1848, wurde eine politische Vorform der deutschen Einheit erstmalig in der Paulskirche verfasst. 1871 wurden die Franzosen besiegt, trotz enormer Schwierigkeiten der Generalstäbe, denn die deutschen Truppen verstanden einander aufgrund der vielen Dialekte der Soldaten kaum. Ein enormer emotionaler Schub für die deutsche Einheit, denn die Integration der deutschen Einzelstaaten in das Deutsche Reich war kein Pappenstiel. Einige Regionen, vor allem die Königreiche Bayern und Sachsen, aber nicht nur sie, leisteten resoluten politischen Widerstand.25 Auch innerhalb des Reiches war die ›Einheit‹ ein Gezerre der Parteien und Lager. 1892 schließlich ›kaufte‹ sich Bismarck, salopp formuliert, die Unterstützung der deutschen Sozialdemokratie für das Reich mit dem Allgemeinen Sozialversicherungsgesetz.26 Und knapp dreißig Jahre später, 1918, sorgte ein emanzipatorisches Aufbegehren nach dem I. Weltkrieg für die Abschaffung der Monarchie und führte zur Wahl der ersten deutschen Nationalversammlung, mit allgemeiner, geheimer, direkter, und gleicher Wahl durch alle deutschen Bürgerinnen und Bürger. Zum ersten Mal waren auch die Frauen dabei.

1807 bis 1918, das macht rund einhundertzehn (110!) Jahre von der Idee einer politischen Nation zur ersten deutschen Republik, der Weimarer Republik. Auch im 20. Jahrhundert hat sich das, was heute üblicherweise als deutscher Nationalstaat gilt, noch mehrfach in seinen Grenzen ebenso wie in seiner Verfassung verändert, zuletzt noch 1989. Es ist nicht so lange her. Die meisten Menschen indes verorten sich nicht historisch. Die wenigsten denken daran, dass die Dinge – vor allem so abstrakte Dinge wie Staat und Nation – früher einmal anders waren. Noch weniger können sich vorstellen, dass der eigene politische Überbau, die heutige Nation, demnächst auch ein anderer sein könnte. Oder sogar zwangsläufig eine anderer sein wird, denn Nationen kommen und gehen: Es sind »kulturelle Produkte einer besonderen Art«, wobei einige als Nationalstaaten verpackt werden, andere hingegen nicht.27

Den Umbruch von einem politischen Überbau, von einem System, einer Staatsform zur nächsten nennen wir im Nachhinein »Geschichte«. Erfassen kann man die historischen Perioden aber erst, wenn sie sich geschlossen haben. Wir können heute aus der Retrospektive sagen, die Weimarer Republik dauerte von 1918 bis 1933. Wir können auch sagen, das wiedervereinigte Deutschland begann 1989; und das vereinte Europa im Sinne einer »immer engeren Union« begann 1992 mit dem Vertrag von Maastricht. Wir können aber noch nicht sagen, was in Zukunft kommen wird. Nur dass es etwas anderes sein wird, dürfte klar sein, denn das ist der normale Gang der Geschichte. Und dass jetzt gerade Umbruchzeit ist, dass die Dinge auf dem europäischen Kontinent nicht stabil sind, dürfte auf der Hand liegen. Zeit für die Nation Europa also?

Man könnte viele andere Daten und Ereignisse auf dem Weg zur deutschen Nationenbildung anführen. Die oben genannten – 1807, 1832, 1848, 1871, 1883 und 1918 – entsprechen jedenfalls – zufällig oder nicht – verschiedenen strukturellen Definitionen von Nation. Fichtes Rede ist die Vorstellung einer »begrenzten und souveränen Gemeinschaft«28 (Benedict Anderson); das Hambacher Fest ein nationaler Erinnerungsort, an dem Nationalismus in Form einer sozialen Bewegung entsteht, ist der Beginn einer Nation als »Seele«, als »geistiges Prinzip« (Ernest Renan)29 und mithin »Ausdruck des Wunsches, zusammenzuleben«. Die Paulskirche wiederum steht für eine Nation, die über eine Verfassung den Weg zum Nationalstaat schafft (was noch lange nicht bei jeder Nation der Fall ist), also für juristische Definitionen von Nation, die auf gleiche bürgerliche Rechte und die Fähigkeit zur politischen Machtprojektion abzielen. Es sind dies vor allem die französischen Definitionen von Nation bei Marcel Mauss30 oder Pierre Rosanvallon.31 Schon Abbé Sieyès formulierte 1790: »Eine Nation ist eine Gesamtheit von vereinigten Individuen, die unter einem gemeinsamen Gesetz stehen und durch dieselbe gesetzgebende Versammlung vertreten sind.«32 Aber auch für den angelsächsischen Theoretiker Anthony Giddens und den aus Prag stammenden Karl W. Deutsch hat politische Macht eine zentrale Bedeutung für den Begriff »Nation«. Ganz zu schweigen von der militärischen Macht, für die hier in der Aufzählung deutscher Daten der Nationenbildung prototypisch der Deutsch-Französische Krieg von 1870/1871 steht: Kriege bzw. Erinnerungen an Kriege begründen Nationen, sie fordern Opfer, schaffen nationale Hingabe und gemeinsamen Ruhm: Sie eignen sich hervorragend zur Mythenbildung und für Erinnerungskulturen, weswegen für Aleida Assmann die Friedenserziehung die erste Lehre aus nationalen Geschichten ist.33 Schließlich kam die deutsche Sozialversicherung von 1883, die als Teil der deutschen Rechts- und Reichsnation institutionelle Stabilität und gesellschaftlichen Strukturwandel hervorgebracht hat, und genau jener Definition einer Nation von Marcel Mauss – Nation als »materiell […] integrierte Gesellschaft« – genügt,34 um die es hier geht. Und natürlich der emanzipatorische Akt der Wahl zur ersten deutschen Nationalversammlung von 1918, der die gesellschaftliche Demokratisierung zentral über Wahlrechtsgleichheit zementiert hat und damit den deutschen Bürgerinnen und Bürgern der Weimarer Republik das gab, was Pierre Rosanvallon das »Sacre du citoyen«, die »Krönung des Bürgers«, nennt: bürgerliche Gleichheit vor dem Recht, vor allem beim Wahlakt. Denn Wahlen entscheiden über die Macht einer Nation, meist durch Abwahl der momentan herrschenden Machtelite. Der gemeinsame Wahlakt schweißt zusammen. »Dieselbe gesetzgebende Versammlung« von Sièyes. Nation heißt hier, auf der Grundlage gleichen Rechts35 zusammen wählen und die Machtfrage bestimmen. Auch deswegen kam der aktuellen Entscheidung über Ursula von der Leyen als künftige EU-Kommissionspräsidentin eine so entscheidende Bedeutung zu. Das Prinzip der Spitzenkandidaten war mehr als eine Lappalie: Es ging um den Prozess der europäischen Demokratisierung genau im Sinne oben genannter Definition von Nation, nämlich gemeinsam zu wählen und die Machtfrage zu entscheiden, also um die Eroberung des »Sacre du citoyen«, um ein Element des Nation-Building in Europa. Das Europäische Parlament hat diese Machtfrage diesmal nicht für sich entscheiden können.36 Der Europäische Rat hatte am Ende die Oberhand. Die Folgen für die europäische Demokratie im Allgemeinen und das Mandat von Frau von der Leyen im Besonderen werden 2019 bis 2024 zu beobachten sein.

Bewusst oder unbewusst, die deutsche Nationenbildung des 19. Jahrhunderts hat entlang der genannten Daten verschiedene strukturelle Definitionen von Nation bedient, als gälte es, Kästchen auf einem Formular »Bist du schon eine Nation?« abzuhaken. Heute gibt es sie übrigens schon als Ratgeber-Literatur: How to make a Nation?,37 wo die Nationenbildung wie ein Kochrezept daherkommt. Man nehme: eine Dosis Gemeinschaftsvorstellung, eine Portion soziale Bewegung, eine dicke Scheibe Verfassung und politische Machtprojektion, eine Prise militärische Macht, einen guten Fond aus sozialer Sicherung. Man bedenke die Bürgerinnen und Bürger dann mit einer einheitlichen Staatsbürgerschaft, indem man eine Staatsbürgergemeinschaft begründet.38 Und schließlich würze man reichlich mit emanzipatorischen und partizipatorischen Bewegungen und der Durchsetzung des allgemeinen politischen Gleichheitsgrundsatzes für alle Bürgerinnen und Bürger. Ferner schaffe man viele Schulen und Bildungseinrichtungen, die ständig von der Nation erzählen, damit auch ja alle daran glauben. Man erfinde ein paar emotionale Erinnerungsorte und vor allem Symbole, die für diese Nation stehen. Im erwähnten Guide ist das nationale Symbol für Deutschland übrigens eine Bosch-Waschmaschine. Ist das für Sie identitätsstiftend? Fühlen Sie sich deshalb deutsch? Ich persönlich hätte ja lieber die High-Heels, die dort wegen des Tangos als nationales Symbol für Argentinien abgebildet werden.

Sechs oder sieben Kreuzchen also und du bist Nation! Deutschland hat’s geschafft, in den letzten zweihundert Jahren, andere sind nicht so weit gekommen. War es nur Glück? Ein Zufall der Geschichte? Und was heißt das für die EU, für Europa? Anders formuliert, geht es bei diesem »Nationen-Rezept« zentral um die Frage, ob eine Nation ›nur‹ eine politische Willensgemeinschaft ist; oder wie viel vorpolitische Substanz an Identität (Sprache, Kultur, Geschichte) sie als Fundament braucht. Und um die Frage, ob eine Staatsbürgergemeinschaft ausreichender Kitt für eine Nation ist und mithin eine europäische Staatsbürgerschaft eine ›Nation Europa‹ begründen könnte. Kurz: Ob eine Nation von einer präsozialen Substanz oder von einem Willensakt her gedacht wird. Bei Letzterem hätte die Nation Europa sowieso eine Chance. Wir müssten uns nur entscheiden, dass wir ab jetzt eine ›Nation Europa‹ werden wollen.39 Aber auch bei der präsozialen Substanz sieht es für Europa gar nicht so schlecht aus. Denn Europa steckt inmitten eines Prozesses der europäischen Vergesellschaftung. Es ist dabei, eine soziale Substanz zu formen. Es könnte also sein, dass Europa perspektivisch beiden Kriterien genügt, sich für eine Nationenbildung zu qualifizieren.

Mit einer Rede fing alles an für Deutschland. Könnte es für Europa vielleicht ebenso sein? 1932 schrieb der französische Philosoph und Intellektuelle Julien Benda, ein bekannter liberaler Denker seiner Zeit, seine Rede an die europäische Nation. Nichts war zugleich provokanter und absurder als die Vorstellung einer europäischen Nation, einer politischen Gemeinschaft Europa im Jahre 1932, als die Europäer in tiefster Krise steckten, einer Krise, die wenige Jahre später zum Zweiten Weltkrieg sowie zum Holocaust führte, und den europäischen Kontinent erneut in Blut ertränkte. Julien Benda ist nicht entgangen, dass er gegen den Zeitgeist schrieb. Er verglich die Akteure des sich anbahnenden Zweiten Weltkriegs, Hitler und Mussolini, in seinem fulminanten Essay, einem Marsch in Dreimeilenstiefeln durch zwei tausend Jahre europäischer Geschichte, mit allen Potentaten, herrischen Königen und machtverliebten Kaisern, die Europa zwischen Justinian, Karl V. und Napoleon gesehen hatte, um dieses eine Argument zu machen: Europa kann nicht von oben und nicht durch Gewalt entstehen. Es muss von unten geeint werden, durch die europäischen Bürgerinnen und Bürger. Von Otto dem Großen über Friedrich Barbarossa, Karl V. und Napoleon seien einige angetreten, um Europa unter gleichem Recht zu vereinen. Aber dies ging nicht mit Gewalt und Eroberung. Jetzt aber, so Benda, sei es anders: »L’idée de l’Europe est née«,40 das hegelianische Prinzip habe gewirkt: Die europäische Uneinigkeit habe Europa so weh getan, dass sich jetzt die Idee der Einheit Europas dagegen erhebt.

Ein Aufsatz, der aktueller nicht sein könnte. Benda war sich sicher: Die Zeit der europäischen Idee, in der die Europäer selbst diese Idee gegen ihre jeweiligen Herrscher verteidigten, würde kommen. Eine Art intellektueller Vorgriff auf ein liberales, republikanisches Bürgereuropa, dem Geist der Aufklärung verpflichtet. Vielleicht ist die Zeit, Europa von unten zu einen und in bester republikanischer Manier gleiche bürgerliche Rechte für alle Europäerinnen und Europäer durchzusetzen, heute endlich gekommen? Immerhin arbeiten wir jetzt schon lange an dieser Idee. Selten war so viel von den europäischen Bürgerinnen und Bürgern die Rede, selten in der jüngeren Geschichte wurde europaweit und öffentlich so intensiv über ihre Rechte gestritten, zum Beispiel über ihr Recht, die EU-Kommissionsspitze zu bestimmen. In seinem vor den Europawahlen in 28 Ländern erschienenen Brief41 wandte sich Emmanuel Macron nicht an die europäischen Staats- und Regierungschefs, um sie zu mehr europäischer Integration aufzufordern. Nein, er wandte sich direkt an die »Citoyennes et citoyens européennes« und forderte diese auf, für ein demokratisches Europa zu streiten.42 Von europäischer Integration zur europäischen Demokratie – ein Paradigmenwechsel?

1932 plus einhundertzehn Jahre, die Deutschland für seine Nationenwerdung gebraucht hat, führen ins Jahr 2042. Von heute aus gesehen wären das noch knapp 25 Jahre, um Europa zu einer Nation zu machen. Eine Generation also. Stellte man Julien Bendas Rede in Analogie zur besagten Rede von Fichte, könnte man sie als Ausgangspunkt einer europäischen Nationen- und Staatenbildung ansehen, im Zuge derer die heutige EU, ähnlich den Nationen im 19. Jahrhundert, gleichsam die verschiedenen Etappen der Nationenwerdung durchschreitet.

Anzeichen dafür gibt es durchaus: Es entstehen europäische soziale Bewegungen (›europäisches Hambach‹), die den Wunsch der europäischen Bürgerinnen und Bürger artikulieren, gemeinsam zu leben;43 es gibt den Wunsch nach Verabschiedung einer europäischen Verfassung (›europäische Paulskirche‹);44 dazu eine – zwar problematische, aber dennoch vorhandene – politische und militärische Machtprojektion (›europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik‹); die Forderung der Europäisierung der sozialen Sicherung in Europa (z.B. eine ›europäische Arbeitslosenversicherung‹45), denn eine große Mehrheit der Deutschen (75 Prozent) sieht in den sozialen und wirtschaftlichen Unterschieden den eigentlichen Grund für die meisten Probleme der EU.46 Und aktuell stellt sich mit Blick auf das Problem der Spitzenkandidaten und das politische Tauziehen zwischen europäischem Parlament und Rat die Frage, wer letztlich in Europa entscheidet – die Bürgerinnen und Bürger oder die Staaten? Das alles könnte man vorsichtig in die Waagschale zugunsten einer latenten Nationenwerdung Europas legen, bei der sich Elemente einer europäischen Demokratisierung mit dem Verlangen nach einer europäischen (Sozial-)Staatlichkeit vermischen und in der das europaweite, zivilgesellschaftliche Begehren, politisch gemeinsam in Europa repräsentiert zu werden, stärker wird.

Die über einen langen Prozess der europäischen Vergesellschaftung (europäische Wissenschafts- und Forschungslandschaft, Freizügigkeit, europäischer Arbeitsmarkt, Tourismus, Erasmus-Auslandsaufenthalte etc.) geformte europäische Nation könnte sich schließlich, wenn dieser Prozess in einer Generation um 2042 herum abgeschlossen ist, wie die meisten Nationalstaaten des letzten Jahrhunderts (Ungarn, Österreich, Deutschland) als Republik konstituieren.47 Wäre das eigentlich so unmöglich? Wäre es nur Zufall oder Glück der Geschichte oder auch ein bisschen politischer Wille? Und wenn ja: Wer sind die gesellschaftlichen Kräfte, die das vielleicht wollen – und wer hätte etwas dagegen? Wer läuft schon jetzt dagegen Sturm? Und wer wäre stärker, wer hätte die Mehrheit, wenn es zum Schwur käme? Könnte die Idee einer europäischen Nation große gesellschaftliche Mehrheiten in ganz Europa generieren? Und kann es sein, dass wir auf dem europäischen Kontinent dabei sind, genau diese Frage zu verhandeln – ohne sie jedoch auszusprechen?

Fragt man, wo die Bürger die EU auf einer Skala von Null