Endstation Genfersee - Gabriela Kasperski - E-Book

Endstation Genfersee E-Book

Gabriela Kasperski

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Beschreibung

Als die scharfsinnige Rentnerin Libby Andersch gemeinsam mit dem Nachbarsbub Noah einer Einladung an den Genfer See folgt, merkt sie schnell, dass ihre Gastgeberin Hintergedanken hat. Und tatsächlich macht sich Odette Meisner, für die Libby einst als Kindermädchen gearbeitet hat, Sorgen, ihr kürzlich verstorbener Mann Charles könnte ermordet worden sein. Offenbar besteht ein Zusammenhang mit örtlichen Streitereien um den öffentlichen Zugang zum See. Die tatkräftige Serenella Balmelli, Sprecherin einer Genossenschaftssiedlung, setzt sich dafür ein, einige Villenbesitzer sind dagegen. Als bei einem Konzert auf dem alten Dampfer La Suisse ein Anschlag passiert, fällt der Verdacht auf die Aktivistin Balmelli. Nur Libby ahnt, dass weit mehr (oder etwas anderes) dahintersteckt. Kann sie die wahren Verhältnisse aufdecken und einen weiteren Mord verhindern?  

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Seitenzahl: 194

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Gabriela Kasperski

Endstation Genfersee

Ein Fall für Libby Andersch

Kriminalroman

Dörlemann

Inhalt

Motto

1

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Epilog

Dank der Autorin

Über Gabriela Kasperski

 

 

L’eau du lac Léman est si bleue profonde, si claire et en même temps si sombre que l’on croit qu’elle s’est teintée des ombres des alpes.

Victor Hugo

1

Rumms. In der Halle des Hauptbahnhofs Zürich stand für einen Augenblick die Zeit still. Gleich darauf brach eine leichte Hektik aus, Menschen suchten nach der Ursache des Knalls. Statt nach links und rechts wie alle anderen schaute Libby Andersch nach oben. Auf den ersten Blick schien alles ganz normal. Die Decke wölbte sich, die Stahlträger strahlten Stärke und Verlässlichkeit aus, durch die halbrunden Seitenfenster strömte Licht herein und brachte die Farben des Engels von Niki de Saint Phalle zum Leuchten. Mit seinem blauen Körper, dem bunten Badekostüm und den goldenen Flügeln schwebte er prächtig und über eine Tonne schwer über den Reisenden, um ihnen Schutz zu gewähren. Darum hieß er auch L’ange protecteur. Libby grüßte ihn immer, wenn sie einmal in der Woche ihren Tagesausflug antrat.

Rumms. Wieder ertönte ein Knall. Libby sah, dass sich die vier Stahldrahtseile, an denen der Engel hing, leicht bewegten und die Figur in Schwingung brachten.

Das Stimmengewirr wurde größer, einige Leute begannen zu rennen, Rollkoffer quietschten, ein Anflug von Panik lag in der Luft. In dem Moment schob sich der Greifarm eines Krans zum Engel empor und kam in etwa fünf Metern Höhe direkt neben den angewinkelten Knien der Figur zum Stehen. In dem Korb saßen zwei Männer mit Putzutensilien. Der eine machte mit einem Staubwedel ausladende Armbewegungen, während der andere die Hände zu einem Trichter formte.

»Keine Angst, wir müssen sie nur abstauben!«, rief er in die Halle herunter.

Genau wie Libby vermutet hatte, sie kannte das Reinigungs-Prozedere. Alle drei Monate war es jeweils wieder so weit, damit der Engel seine bunten Farben behielt.

»Unser Kran hat eine Macke, aber es ist nur laut, nicht gefährlich!«

Libby entschied sich weiterzugehen. Dabei war es ihr, als ob der Engel mit einem Flügel in ihre Richtung winkte. Wenn das kein gutes Omen war für eine Reise ins Welschland!

Normalerweise fuhr sie an Montagen los. Dass es heute ein Freitag war und sie eine Tasche für drei Übernachtungen gepackt hatte, hing mit ihrem Nachbarsbub Noah zusammen. Seit den Ereignissen im Grand Hotel Matterhorn, das weder »Grand« war noch am Matterhorn lag, besuchte er sie regelmäßig. Seine Mutter Iris glaubte, sie würden für die Aufnahmeprüfung ins Gymnasium üben, in Wirklichkeit jedoch hörten sie sich den Krimiklub an, eine Hörspielsendung zu wahren Verbrechen, mit der Möglichkeit zum Mitraten.

Vor einigen Wochen hatte er Libby erzählt, dass er einen zweiwöchigen Sprachaufenthalt in der französischsprachigen Schweiz machen musste. Da Iris die Suche nach einem Plätzchen vor sich hergeschoben hatte, war Libby in die Bresche gesprungen. In sehr jungen Jahren hatte sie selbst drei Sommermonate als Au-pair-Mädchen an den Ufern des Genfersees verbracht. Mit ihrer damaligen Arbeitgeberin Odette Meisner pflegte sie seit bald sechzig Jahren Briefkontakt, ohne dass es je zu einem Wiedersehen gekommen war. Odette hatte einen Weinberg und lebte in begüterten Verhältnissen, Libby hatte ihren Beruf am Institut für Chemie an der Universität mit Leib und Seele ausgeführt – es hatte sich einfach nicht ergeben. Doch nun hatte Odette postwendend auf Libbys Anfrage reagiert und Noah zu sich eingeladen, unter der Bedingung, dass Libby ihn persönlich ablieferte. Es gebe an dem Wochenende ein Gedenkkonzert zu Ehren ihres kürzlich verstorbenen Mannes, und außerdem brauche sie Libbys Hilfe.

»Es geht um Leben und Tod.«

»Übertreiben Sie, Madame Meisner?«, hatte Libby in ihrem nächsten Brief geschrieben, jedoch nie eine Antwort darauf erhalten.

Es gab also ein Rätsel zu lösen – und so etwas weckte Libbys Interesse, immer und zu jeder Zeit.

Sie erreichte den Gleisbereich. Ihre Fahrkarte hatte sie schon, sie verfügte über ein Generalabonnement, genannt GA. Damit hatte sie freie Fahrt durch die Schweiz, ein Luxus, den sie sich gönnte, seit sie mit fünfundsiebzig Jahren in Rente geschickt worden war.

»Solothurn, Biel, Neuenburg, Morges, Lausanne, Genf« stand auf der Anzeigetafel bei Gleis dreizehn. Darunter wartete Noah, in Trainingshose und einem übergroßen Pullover. Den Rucksack hatte er so verkehrt herum umgehängt, wie er die Kappe trug, aus der eine lila gefärbte Haarsträhne hervorlugte.

Er begrüßte Libby mit einer lässigen Geste. Damit wollte er wohl überdecken, dass ihm der Ausflug in ein unbekanntes Territorium mit einer fremden Sprache nicht ganz geheuer war.

»Ich dachte schon, du kommst nicht mehr, Tante Andersch. Was war denn da los?« Er zeigte in die Bahnhofshalle.

»Der Engel wollte den Putzleuten davonfliegen«, sagte Libby. »Hör mal, kannst du uns mit deinem Handy einen Platz reservieren?« Sie selbst hatte keines und Noah war geradezu versessen auf seines. »Zweiter Wagen, zweite Klasse, zweites Abteil, am Fenster, links. Kurz nach Renens und noch vor Morges hat man nämlich von diesem Platz aus eine wunderbare Aussicht auf den Genfersee.«

»Ich weiß nicht, ob das geht.«

»Die Ticket-Challenge, Noah«, sagte Libby in ihrem besten Englisch. Wenn man Noah eine Aufgabe als Herausforderung präsentierte, ging er viel bereitwilliger darauf ein, das hatte sie mittlerweile mehrmals erfahren.

»Ich hab aber keine Kreditkarte. Mama will das nicht. Gibst du mir deine, Tante Andersch?«

Libby war amüsiert. Dieser Bub. Noah wusste genau, dass sie über keine einzige Plastikkarte verfügte.

In dem Moment fuhr der Zug ein und Noah machte sich auf. »Ich schnapp uns die Sitze live.«

Er wieselte um die Beine der Einsteigenden herum in Richtung Zugtür und nur wenige Minuten später richtete er sich mit Libby in dem gewünschten Viererabteil am Fenster ein.

»Gut gemacht.«

Noah hielt den Daumen in die Luft, um sich gleich darauf in eines der Spiele auf seinem Handy zu vertiefen, was ihm Iris bestimmt verboten hatte. Nun, Libby war keine Kindererzieherin, das hatte sie ihr in aller Deutlichkeit mitgeteilt, sie würde sich nicht in die Abmachungen von Mutter und Sohn einmischen.

Der Zug verließ den Bahnhof und die Stadt, die Schienen führten an der Limmat entlang. Träge fließendes Wasser, Schilf, Gras, ein Kiesweg und die Verheißung eines Frühlingstags – so wie es Libby gefiel. Sie holte ihre Strickarbeit heraus, sie hatte Noah eine Hülle für sein Handy versprochen. Wollenes sei angesagt, hatte er gemeint.

Während er allerlei Laute ausstieß und mit Daumen und Zeigefinger blitzschnell über den Bildschirm wischte, ließ Libby ihre Zeit als Kindermädchen in Perroy Revue passieren.

Sie war sechzehn gewesen, oder siebzehn, auf jeden Fall sehr jung, und sie hatte nicht gewusst, welchen Beruf sie nach der Schule wählen sollte. Auf die Vermittlung einer Freundin ihrer Mutter hin hatte sie von Odette Meisner und der Au-pair-Stelle gehört. Odette, die selbst kaum dreißig gewesen war, war extra nach Zürich gekommen, um Libby kennenzulernen. Sie hatte sich als Vertreterin von vier befreundeten Familien vorgestellt, die ihre Kinder, acht an der Zahl, gemeinsam betreuen lassen wollten. Nach dem Treffen hatte Libby die Stelle erhalten, und bereits eine Woche später war sie am Genfersee angekommen.

Die Kinder waren eine nette, aber auch verwöhnte Bande gewesen, Libby hätte jedes einzelne für ein Butterbrot verkauft, wie sie jeweils abends beim Vorlesen zu sagen pflegte. In einem scherzhaften Ton, denn es hatte ihr eigentlich ganz gut gefallen. Die Landschaft an den Ufern des Lac Léman war wunderschön gewesen, das Weingut der Meisners eine Pracht und Odette eine ausgesprochen nette Person. Zu ihrem Mann Charles hatte Libby jedoch kaum Zugang gefunden, ein meist grimmiger Mensch, ohne Sinn für Humor. Als Schifffahrtskapitän hatte er zum Glück lange Arbeitstage gehabt. Vor einigen Wochen war er gestorben, nach mehr als sechzig Ehejahren eine Zäsur.

»Du sitzt auf meinem Platz.«

Ein Mann, stramm, mit Anorak und Rucksack, zielte mit einem metallenen Wanderstab auf Noahs Brust. »Weg da.«

Libby ging der herrische Ton sofort auf die Nerven. Sie deutete auf das blanke Schild auf der Höhe der Kopfpolster. »Hier steht nichts von einer Reservierung.«

»Aber in meinem Handy, online gebucht. Der Junge muss aufstehen, Sie auch.«

Der Mann, nicht viel jünger als Libby, fuchtelte mit seinem Stab herum. Hinter ihm tauchten seine Kumpane auf, alle ähnlich ausgestattet wie er. Einer richtete seinen Blick auf das Nachbarabteil, wo zwei kleine Buben saßen, magere Kerlchen mit dunkler Haut, Kraushaar und Rotznasen, Zwillinge, wie es aussah, vielleicht halb so alt wie Noah.

»Husch, husch, raus mit euch, alles für unsere Gruppe reserviert.«

Einer der Buben verzog den Mund, seine Lippen zitterten. »Meine Mutter holt uns was zu trinken«, piepste er auf Französisch. »Sie kommt gleich wieder. Wir fahren bis Rolle.«

Wie wir, dachte Libby.

Der Kleine war sichtlich aufgeregt und plapperte immer weiter. »Wir haben am Zürichsee das Ufer angeschaut, wir waren auch bei Roger Federer.«

Der Name weckte Noahs Interesse, aber dem Wanderer-Chef war es wurscht. Er gab keine Ruhe, bis Libby und die Kinder aufgestanden waren.

Gleich darauf kam die Mutter der Kleinen zurück. Ihre Augen blitzten, das Haar, grau an den Wurzeln und bunt an den Spitzen, stand in alle Richtungen ab. Libby konnte nicht umhin, ihr heimlich ein Kränzchen zu winden. Statt klein beizugeben, zog sie nämlich eine eigene Reservierung hervor und stellte eine Doppelbuchung fest. Sie war sich nicht zu schade, ihren Status als alleinerziehende Mutter einzubringen, und argumentierte in fast perfektem Deutsch mit französischem Akzent so lange, bis die Wandertruppe wieder abzog und ihre Kinder sich setzen konnten, ergänzt um Noah.

Stillschweigend nahm auch Libby wieder Platz. Ihr »merci« kam aus vollem Herzen.

In der folgenden Unterhaltung wurde schnell klar, dass Noah nur wenig Französisch und die Buben kein Wort Deutsch konnten. Daraufhin zauberte die Mutter, die sich als Serenella Balmelli vorstellte, ein Spiel hervor, das auch ohne Sprache funktionierte. Als die Kinder versorgt waren, tätigte sie einen Anruf, bei dem sie fließend zwischen Französisch und Italienisch hin und her wechselte. Am Revers ihrer etwas zu engen Jacke, an der gleichen Stelle, an der Libby ihre Brosche trug, war ein runder Knopf angesteckt. »Kampf für die Promenade libre!!!« prangte in kräftigem Rot auf Blau darauf.

 

***

 

Drei Stunden später, nachdem sie alle in Rolle ausgestiegen waren, bedachte Serenella Balmelli Noah zum Abschied mit einer Einladung.

»Wenn es dir zu langweilig wird, oben in Perroy bei den reichen Kindern, den gosses de riches, kommst du zu uns in die Siedlung. Sie liegt nicht weit vom See entfernt, es ist fast wie bei Roger Federer.« Sie zwinkerte Noah zu. »Block drei, Wohnung vier, ist einfach zu merken und einfach zu finden. Sie heißt Maudite!«

Maudite, dachte Libby, der gefürchtete Ort. Was für ein Name für eine Wohnsiedlung, vor allem wenn man bedachte, dass sie unweit des beschaulichen Perroy lag.

»Cool«, sagte Noah. »Gibt’s bei euch auch Jungs in meinem Alter?«

»Jede Menge.« Serenella diktierte ihm ihre Handynummer.

»Und Sie kennen wirklich Roger Federer?« Seine Stimme war ganz ehrfürchtig geworden.

Serenella bekam einen Lachanfall. »Nicht persönlich. Nur sein Bauprojekt am Zürichsee, das haben wir uns gerade angeschaut, die Zwillinge und ich. – Aber nun müssen wir los, ein Arzttermin in Rolle. Mein Großer hat ein Loch im Herzen. Das will geflickt werden.«

»Ein Loch im Herzen?«, sagte Libby. »Das tut mir leid.«

»Kein Thema, kriegen wir hin, die Balmellis sind stark. Salut, les Schwytzertütsche!«

Den Ausdruck für die Deutschschweizer hatten die Welschen schon zu Libbys Zeit benutzt, es klang sehr charmant.

Die drei stiefelten davon, die beiden Kleinen drehten sich ab und zu um und winkten. »Salut, Noah!«

Während Libby ihre gelbe Strickjacke zuknöpfte, speicherte Noah Serenellas Balmellis Nummer ab.

»Ich habe schon einen Sozialkontakt, das texte ich gleich Mama. Sie hat nämlich Schiss, bei so einer alten Tante wie dieser Odette würde ich keinen kennenlernen und mich isolieren. Darum hat sie mir für alle Fälle einen Konservationskurs in einer Klubschule in Morges gebucht.«

»Das heißt Konversation.«

»Auf jeden Fall will ich nicht dahin.«

»Wir werden sehen.« Diese Iris …! Hatte keine Zeit, um selbst mitzukommen, und wollte trotzdem alles kontrollieren. Andererseits, Libby war sich wohl bewusst, was es bedeutete, ein Kind allein großzuziehen.

Die Zeit bis zur Abfahrt des Postautos vertrieb sich Noah mit einem seiner Games, während Libby das Bahnhofsgebäude von Rolle inspizierte. Ein neu gebauter Perron und ein gläserner Lift konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass alles ziemlich trostlos wirkte, kein Ort, an dem man sich länger aufhalten wollte. So waren mittlerweile viele Bahnhöfe. Ohne Schalter und ohne Reisende, die nach den besten Verbindungen fragten, kam ihnen jegliches Leben abhanden. Die Automaten, an denen man Schokolade der Marke Nestlé und Getränke der Marke Coca-Cola beziehen konnte, waren so wenig Ersatz für ein Bahnhofsbuffet wie die digitalen Auflistungen der Abfahrtszeiten für das Kursbuch. Dass es nicht mehr gedruckt wurde, war ein schwerer Schlag für Libby gewesen. Früher hatte sie es für jede Reise in ihre geräumige Handtasche gepackt und die Verbindungen herausgesucht. Nun war sie dafür auf die Hilfe von anderen angewiesen, was sich als Problem erwies, wenn die Bahnhöfe keine Informationsschalter mehr hatten.

Durch die schmutzige Scheibe sah sie, wie ein älterer Herr im Warteraum ein angeklebtes Plakat von einer Glaswand abriss. Darauf war eine Art Uferlandschaft gezeichnet, aus der prominent ein sandfarbener Weg hervortrat, dazu badende Kinder. »Promenade libre« prangte auch da, wie auf Serenella Balmellis Ansteckknopf. Und das Datum einer Gemeindeabstimmung in zwei Wochen.

»Imbéciles«, schimpfte der Alte beim Hinauskommen. »Wir werden euch alle erledigen.«

Die Vehemenz, mit der er das Papier zerriss und die Schnipsel in die Luft schmiss, brüskierte Libby. Das Thema schien kontrovers debattiert zu werden. Das darauffolgende Geräusch, als der Mann eine herumliegende, leere Bierbüchse auf die Gleise trat, erinnerte Libby an den Knall bei Nikis Engel. Es war, als ob er ihr ein Zeichen schicken wollte.

Libby war eigentlich Realistin und ein sprechender Engel nicht ihre Sache. Normalerweise. Nun jedoch verharrte sie nachdenklich und blickte dem sich entfernenden Alten nach, bis Noah sie unterbrach.

»Tante Andersch, das Postauto ist angekommen. – Ich wusste nicht, dass wir damit fahren. Cool.«

Der Wagen war von gemütlichem Gelb, sein Anblick weckte Reiselust. Libby war froh, dass wenigstens das noch so war wie früher.

Sie setzte sich seeseitig ans Fenster. Noah bekam vom Chauffeur die Erlaubnis, sich hinter ihn zu stellen, um ihm beim Lenken zuzuschauen. Da am Vormittag auf der Straße nicht viel los war, hatte er sogar Zeit zum Plaudern, alles auf Französisch. Libby fühlte sich zu Beginn noch eingerostet, aber sie gewöhnte sich schnell wieder an die Sprache. Nach etwas Hin und Her und einigen Bemerkungen zu den architektonischen Veränderungen, den vielen Neubaugebieten und den ebenso zahlreichen Baustellen fragte sie nach den Hintergründen von Promenade libre.

»Das Plakat hängt überall, wie ich sehe. Manchmal mit einem OUI, manchmal mit einem NON versehen.«

»Oh, damit schneiden Sie ein heikles Thema an.«

Mit der Promenade sei der Uferabschnitt zwischen dem Strandbad Perroy und der Nachbargemeinde Rolle gemeint. Die Gruppe Promenade libre wolle diesen Weg für alle erschließen.

»Eigentlich eine super Idee, da würde ich auch gern spazieren«, meinte der Chauffeur. Aber eine Umsetzung sei nahezu unmöglich. Das Uferland bestünde in dem Abschnitt praktisch nur aus Privatgrundstücken.

»Trotzdem werde ich dafür stimmen. Mit einem kräftigen Oui.«

Er erklärte, dass die geplante Gemeindeabstimmung gerade von einer Einsprache behindert wurde.

»Wie soll denn das gehen? Sollen die Besitzer ihre Gartentürchen öffnen?«, fragte Libby.

Genau das sei der Streitpunkt. »Sie müssten einen Streifen von vielleicht zwei Metern hergeben. Man sollte denken, kein Problem, bei den vielen Quadratmetern, die die haben.« Aber niemand mache das freiwillig, ganz besonders nicht die Reichen. »Dafür muss es schon um Leben und Tod gehen.«

Leben und Tod waren die Worte, die Odette verwendet hatte.

»Soweit ich weiß, kann man in der Schweiz nur in seltenen Fällen gezwungen werden, sein Land herzugeben.«

Auch die Meisners besaßen nebst ihren weitläufigen Gutsgebäuden oben in Perroy ein kleines Grundstück am Ufer unten. Ein Pfad hatte damals mitten durch die Reben bis zum Bootshaus hinuntergeführt, das sie Wellenhäuschen genannt hatten.

Noah war mittlerweile auch auf das Plakat aufmerksam geworden.

»Geil«, sagte er. »Ein Strand, dort geh ich mit den Kindern vom Maudite spielen.«

Der Chauffeur, der offenbar Deutsch verstand, lachte. »Na dann, viel Spaß, mein Junge. Wie heißt du denn?«

Das Postauto hatte das bewohnte Gebiet verlassen und fuhr mit ziemlichem Tempo die Landstraße entlang, die nach Perroy hinaufführte. Dabei näherten sie sich einer großen rostroten Siedlung mit mehrstöckigen Häusern, die es in Libbys Zeit hier nicht gegeben hatte. Sie lag links der Straße und war in den Hang hineingebaut.

»Ist das das Maudite?«, fragte Libby.

Der Chauffeur nickte. »Oben die Reichen, unten der See. Und genau dazwischen das Maudite.« Er senkte die Stimme. »Manche nennen es ja ›unseren‹ Schandfleck. Weil hier nur Arme, Alleinerziehende und Auslä…«

»Wann wurde es denn gebaut?«, unterbrach ihn Libby.

»1980. Damals war eine engagierte Regierung am Gemeinderuder, sonst hätte es das Wohnprojekt nie gegeben.«

Genau wie Serenella Balmelli eben im Zug mochte er die Siedlung offensichtlich, aber das ging wohl nicht allen in der Bevölkerung so.

Plötzlich ertönte ein Dreiklang, ein Cis, ein E, ein A – »Dü-Da-Do«.

Noah bekam große Augen. »Was ist das für eine Melodie, Tante Andersch?«

Libby erklärte ihm, dass die Schweizerische Post, die früher die Autos betrieben hatte, die drei Metallhörner der Ouvertüre von Rossinis Oper »Wilhelm Tell« entlehnt hatte.

»Es soll die anderen Verkehrsteilnehmer warnen, vor allem auf engen Bergstraßen …«

»Und wovor hat der Chauffeur gewarnt?«, fragte Noah. »Hier ist doch genug Platz. Und warum stoppt er?«

Tatsächlich hielten sie an einer Ampel ein Stück hinter der Siedlung. Neben einem kleinen weißen Kreuz waren am Straßenrand ein paar Blumensträußchen und Kerzen aufgebaut. Am Zaun klebten Karten mit Fotos und handschriftlichen Botschaften, darunter lehnten eine riesige Biene aus Plüsch und eine Kindertrompete.

»Eine Gedenkstätte«, sagte Libby leise.

Der Chauffeur räusperte sich. »Ein kleiner Junge aus dem Maudite wollte runter zum See und hat die Straße nicht auf dem Zebrastreifen überquert.«

»Hier ist ja auch keiner«, stellte Libby fest.

»Er liegt halt weiter oben.« Der Chauffeur machte eine Geste nach vorn. »Vielleicht einen halben Kilometer. Für ein Kind schwer zu bewältigen, und es gibt keine Überführung. Die wurde bei Abstimmungen schon zweimal abgelehnt. Viele Leute denken, die Kinder vom Maudite hätten am Ufer unten nichts zu suchen.«

Die Schnellstraße fungierte auch als Trennung zwischen dem Uferland und der Siedlung. Solche Dinge hatte man sich in den achtziger Jahren ausgedacht.

»Wurde das Kind denn überfahren?«

»In der Dämmerung, von einem Postauto wie diesem. Ein Kollege saß am Steuer. Er hätte freie Fahrt gehabt, aber …« Der Chauffeur verstummte mitten im Satz.

So ein Todesfall mit öffentlichen Verkehrsmitteln war für alle eine Tragödie, sowohl für die Angehörigen des Opfers als auch für den Fahrer. In Libbys Chor hatten sie einen Lokführer, dem das Gleiche passiert war.

»Wie lange ist das her?«, fragte sie.

»Vier Jahre.«

Und immer noch brannten die Kerzen, selbst an diesem schönen Frühlingstag.

Schweigend legten sie den Rest der Fahrt zurück.

2

Das Dorf Perroy war auf einer Sonnenterrasse gelegen. Im alten Dorfkern reihten sich auf der einen Seite der Kopfsteinpflasterstraße mehrstöckige Patrizierhäuser aneinander, während die Villen gegenüber von Gärten und Parks umgeben waren. Dazwischen blitzte ab und zu die Aussicht auf den See auf, der ein Stück weiter unten lag. Er war von blauer Weite und hatte etwas Majestätisches.

Die Schnellstraße führte zur Autobahn hoch und war von hier aus nicht zu hören. Genau wie damals strahlte der Ort französisches Flair und großen Reichtum aus. Dass das Maudite keine drei Kilometer entfernt lag, war kaum vorstellbar.

Beim Gehen fiel die bedrückte Stimmung von Libby ab. Noah war vorausgerannt und blickte immer wieder um sich wie ein Vogel, der seine Umgebung absuchte.

»Ich muss aufs Klo!«, brüllte er plötzlich.

»Dann frag mal nach.« Libby deutete auf die ehemalige Bäckerei, in der sich nun auch ein Restaurant befand.

»Allein?« Noahs Stimme zitterte ein wenig.

Libby kannte kein Pardon. »Denk an den Konversationskurs. Sonst musst du den besuchen.«

Das gab den Ausschlag. Entschlossen steuerte Noah das kleine Gebäude an. »Tearoom au Prieuré« stand in nostalgischen Lettern von der Sonne beleuchtet an der Hauswand.

Etwas, das Tearoom hieß, hatte Libby seit Jahren nicht mehr betreten. Während sie auf Noah wartete, studierte sie die an der Hauswand angebrachte Vitrine mit Veranstaltungshinweisen. Nebst der bereits vertrauten Aufforderung zur Gemeindeversammlung, die das Maudite betraf, war ein Hinweis auf das Gedenkkonzert für Kapitän Charles Meisner auf dem Raddampfer La Suisse angepinnt. Eine filigrane Zeichnung zeigte das Schiffsdeck mit fünf eleganten Musikern, zwei Männer und drei Frauen, umgeben von tanzenden Noten. Es war das Ensemble mit Namen Léman Cello, das das Ehepaar Meisner vor Jahren gegründet hatte. Das Plakat wirkte einladend.

Rumms. Etwas entfernt ertönte ein Scheppern.

»Ob die alte Odette die Bratsche noch hinkriegt?«, sagte eine blasiert klingende Stimme. »Die letzte Probe war eine Katastrophe. Sie ist über neunzig, und das merkt man.«

Libby war unangenehm berührt. Die Person meinte Odette Meisner, zweifelsohne. Perroy war schon damals ein Nest gewesen, in dem jeder jeden kannte. Daran hatte sich nichts geändert.

Sie tat so, als sei sie mit dem Öffnen ihrer Jackenknöpfe beschäftigt, um die Person zu mustern. Es war eine Frau mit silberblondem, halblangem Haar, einem schmalen Rock und einem Frühlingsmantel von feinster Wolle – Geld auf zwei Beinen. Sie hatte das Backblech, das den Lärm verursacht hatte, wieder vom Boden aufgehoben.

»Wir sollten ihr den Rücktritt nahelegen. Wir sind kein Geriatrie-Ensemble.«

»Ein Rücktritt? Odette ist die Gründerin, du kannst sie doch nicht einfach entlassen. Außerdem hätten wir ohne sie keine Auftritte auf den Schiffen mehr. Und die mögen wir!«

Das hatte eine zweite Dame in Jeanshosen und Lederjacke geäußert. Ihr Haar war leuchtend schwarz und kurz, die Brille wies einen violetten Rand auf und sah aus wie frisch vom Optiker.

Die mit dem Mantel lachte laut. »Darf ich dich korrigieren? Nicht wegen Odette sind wir auf den Schiffen, sondern wegen Charles, der nun ja den Löffel abgegeben hat.«

Das Vokabular war reichlich despektierlich, fand Libby, und es stand im Gegensatz zu dem eleganten Äußeren der Frau, die nun weitersprach. »Weg mit den alten Zöpfen. Léman Cello braucht frisches Blut.«

»… sagt Astride, die neue Erste Geige! Ich hoffe für dich, dass man es nicht als feindliche Übernahme ansieht.«

»Wie niederträchtig! Außer dir käme niemand auf eine solche Idee, Cléo.«

Astride und Cléo, dachte Libby, soso. Sie waren Odette nicht gerade wohlgesonnen.

Die beiden gingen an ihr vorbei und betraten den Tearoom.

Libby wollte mehr erfahren und folgte ihnen in gebührendem Abstand in den Ladenteil, wo Astride den jungen Bäcker mit Beschlag belegte.

»Komm doch auch zum Gedenkkonzert, Jerôme.« Sie funkelte ihn an, sodass seine Pickel sanft erglühten.

»Ich weiß nicht, ich muss am nächsten Tag um vier in der Backstube sein.«

»Gib das deinem Chef zurück.« Astride überreichte ihm das Backblech. »Der Kuchen hat ausgezeichnet geschmeckt.«

Mit einem Tablett, auf dem Cléo eine Teekanne und zwei Tassen balancierte, gingen die Damen in den zweiten Raum, um an einem runden Tisch direkt vor der Terrassentür Platz zu nehmen.

Noah kam strahlend zurück. Er sei in die Backstube geraten, es sei cool gewesen. »Der Bäcker hat mich gleich eingeladen. Ist das immer so im Welschland?«

Zwei zu null gegen den Konversationskurs, dachte Libby. »Die sind sehr gesprächsfreudig hier.«

»Können wir deiner alten Chefin Kuchen mitbringen, Tante Andersch? Ich bestelle auch.«