Weisch na - Gabriela Kasperski - E-Book

Weisch na E-Book

Gabriela Kasperski

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Beschreibung

Barbara Streiff kennt ihr Viertel, wie kaum eine Zweite – und hat zu fast jedem Haus, fast jeder Gasse etwas zu erzählen. Sie ist eines der verbliebenen Altstadt-Originale von Zürich und bekannt als Geschichtenspaziergängerin. In diesem Buch erinnert sie sich an das Niederdorf von früher, an längst untergegangene Spelunken, Gewerbebetriebe und die Menschen. Und sie erzählt in diesem Buch die über Jahrhunderte immer wieder neu gesponnenen Altstadtlegenden weiter.  «Weisch na» ist ein einzigartiges Stück Altstadtgeschichte. Aufgeschrieben von Gabriela Kasperski und mit historischen Fakten ergänzt durch Franz Kasperski. Mit Geschichten, die in keinem Geschichtsbuch stehen und bebildert mit Fotos aus dem letzten Jahrhundert.   

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Seitenzahl: 166

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Altstadtgeschichten, die in keinem Geschichtsbuch stehen

Sie kennt ihr Viertel wie kaum eine Zweite – und hat zu fast jedem Haus, fast jeder Gasse etwas zu erzählen. Barbara Streiff ist eines der verbliebenen Altstadt-Originale von Zürich und bekannt als Geschichtenspaziergängerin. In diesem Buch erinnert sie sich an das Niederdorf von früher, an längst untergegangene Spelunken, Gewerbebetriebe und die Menschen. Und sie erzählt die über Jahrhunderte immer wieder neu gesponnenen Altstadtlegenden weiter.

Weisch na ist ein einzigartiges Stück Altstadtgeschichte. Aufgeschrieben von Gabriela Kasperski, historisch ergänzt von Franz Kasperski – mit vielen Fotos, Informationen und Geschichten zu Orten und Menschen des Niederdorfs.

WEISCH NA

Altstadtgeschichten

Gabriela KasperskiBasierend auf denGeschichten vonBarbara Streiff

Historisch ergänzt von Franz Kasperski

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Mit freundlicher Unterstützung von

CASSINELLI-VOGEL-STIFTUNG

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage

© 2025, Arisverlag

Schützenhausstrasse 80 | CH-8424 Embrach

[email protected] | www.arisverlag.ch

Coverfoto: © ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv/Com_M17-0016-0001

Umschlaggestaltung und Satz: Lynn Grevenitz/www.kulturkonsulat.com

Fotoredaktion: Franz Kasperski, Paula Fricke

Lektorat/Korrektorat: Katrin Sutter, Paula Fricke, Elisabeth Blüml

Druck: CPI books GmbH, www.cpi-print.de

ISBN Print: 978-3-907238-48-6

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN E-Book: 978-3-907238-57-8

INHALT

VORWORT

Die 1970ER JAHRE

1 – AB UF ZÜRI, Frühling 1972

2 – ZUM GOLDIGE ÖPFEL, Frühling 1973

3 – AACHO, Sommer 1975

4 – ZMITZT Z’ZÜRI, Sommer 1977

Die 1980ER JAHRE

5 – DE NASE NA, Frühling 1987

6 – CHASCHPER, Herbst 1987

7 – VOM RINDERMÄRT IS MITTELALTER, November 1987

8 – VO ZÜRI UF ROM – UND ZRUGG, Ende Winter 1989

Die 1990ER JAHRE

9 – DE GSCHICHTEBLÄTZ, September 1991

10 – D’QUARTIERMAMA VOM ALTSTADTHUUS, 1992

11 – EN SCHNEEBALL IM ZOIFTHUUS, 1992

12 – WIEHNACHT I DE ALTSTADT, Ende Jahr 1999

LISTE EINIGER SCHAUPLÄTZE IN DER ZÜRCHER ALTSTADT UND UMGEBUNG

Von links nach rechts: Post, Stadthaus, Fraumünster, Peterskirche, Wasserkirche, Grossmünster, ca. 1905

Vorwort

Die Zürcher Altstadt verfügt über einen wahren Schatz an Geschichten. Der Kern der Altstadt, das Innerste sozusagen, wird von allen schlicht «Dorf» genannt.

Sie kennt dieses «Dorf» wie kaum eine Zweite – und hat zu fast jedem Haus, jeder Gasse, jedem Geschäft etwas zu erzählen: Sie ist eines der verbliebenen Altstadt-Originale Zürichs und bekannt als Geschichtenspaziergängerin.

Sie kennt viele Geschichten, vor allem solche, die man in keinen Geschichtsbüchern findet. Manche sind tatsächlich passiert, manche hätten so passiert sein können. Es sind Geschichten über sozialen Zusammenhalt, Solidarität und das «Füreinander Sorgen», über Armut, Reichtum, Träume, Sehnsucht. Durch Barbara Streiffs Erzählungen geschieht Oral History auf originelle, berührende und auch witzige Weise.

In diesem Buch spinnt sie über Jahrhunderte erzählte Altstadtlegenden weiter, sie erinnert sich an das Niederdorf von früher, an längst untergegangene Spelunken, Gewerbebetriebe und vor allem an die Menschen. Es ist keine Zürcher Chronik und kein Nachschlagewerk, sondern ein Buch über Menschen, ihr Viertel und darüber, wie sie dessen Geschichte schreiben und prägen. Der Titel ist dabei Programm: «Weisch na» ist der Begriff, der an Klassenzusammenkünften oder Familienweihnachten, an Beerdigungen oder bei Treffen mit alten Bekannten immer irgendwann mal fällt.

Die Autorin Gabriela Kasperski hat Barbara Streiff – im Buch Sira genannt – ein Jahr lang begleitet, ihre Geschichten aufgeschrieben, weiterentwickelt und ergänzt. Dabei schlägt sie einen Bogen über fünfzig Jahre. Die Erlebnisse sind eng mit der Altstadt und ihren Bewohnerinnen und Bewohnern verbunden, sie berühren, amüsieren, stimmen nachdenklich, machen fröhlich und traurig. Manche Figuren sind echt, andere könnten es sein. Es sind Geschichten, die man überall auf der Welt, wo Menschen zusammenleben und sich erinnern, verstehen kann.

Wissen Sie noch, was in den Siebzigern politisch abging, in Zürich, der Schweiz und der ganzen Welt, welche Bar oder welche Musik in den Achtzigern angesagt war, was die Globuskrawalle waren? Franz Kasperski hat die Altstadtgeschichten punktuell um einen historischen Kontext ergänzt und mit Fotos bebildert.

Wir freuen uns, wenn wir Sie mitnehmen können auf diesen literarischen Spaziergang in einer Zürcher Altstadt, die immer noch dasteht wie einst, sich aber im Laufe der Zeit verändert hat. WEISCH NA …

Arisverlag, Herbst 2025

Die 1970er Jahre

Sonntagmorgen im Niederdorf, 1974/75

Vieles ist im Umbruch. In der Schweiz, in Europa, darüber hinaus.

Am 10. April 1970 verlässt Paul McCartney die Beatles.

Die Schweiz beklagt einen Krankenschwestermangel, die TV-Sendung «Telearena» über Homosexualität gibt zu reden.

Mit dem Kniefall von Warschau durch den deutschen Bundeskanzler Willy Brandt, mit dem er um Vergebung für deutsche Verbrechen im Zweiten Weltkrieg bittet, beginnt die Bundesrepublik eine neue Ostpolitik.

In den USA wird Richard Nixon 1972 mit einem der höchsten Wahlergebnisse im Amt bestätigt, 1974 führt die Watergate-Affäre zu seinem Rücktritt.

1972 kommt es bei den Olympischen Spielen in München zum Anschlag der Terrororganisation Schwarzer September auf die israelische Olympiamannschaft.

Die Ölkrise führt ab 1973 zu autofreien Sonntagen. Der Vietnamkrieg endet 1975. Der RAF-Terror kulminiert 1977. «Deutschland im Herbst»

Hans Küngs «Unfehlbar? Eine Anfrage» löst in diesen Jahren heftige Diskussionen innerhalb und ausserhalb der katholischen Kirche aus.

Apple und Microsoft werden gegründet, erste PCs stehen auf Bürotischen.

Die Callas und Elvis Presley sterben beide 1977.

In der Schweizer Hitparade der 1970er Jahre sinniert Wolfgang Petry über Liebe im Auto, Gunter Gabriel braucht mehr Geld, Michael Holm geht barfuss im Regen und Wencke Myhre singt «Lass mein Knie, Joe». Marianne Rosenberg liefert einen Hit, der in den 80er Jahren nochmals fulminant wiederkommen wird: «Er gehört zu mir». Songs mit einem Frauen- und Männerbild zwischen vorgestern und einem noch ungewissen Morgen.

Der Sex kommt in die Kinos, «Aufklärungsfilme» werden sie genannt, das Genre «Sexploitationfilm». «Mädchen, die nach Liebe schreien» ist eines dieser Werke, es läuft auch unter dem Titel «Mein Körper will genommen sein» von Erwin C. Dietrich. Und dazu: «Die Spitzenklöpplerin» von Claude Goretta, der «Dällebach Kari» von Kurt Früh, «Smog» von Wolfgang Menge, der Heimatfilm «Anne Bäbi Jowäger» von Franz Schnyder, «Die Schweizermacher» von Rolf Lyssy und «Grauzone» von Fredi M. Murer, «Kleine Fluchten» von Yves Yersin, «Messidor» von Alain Tanner und «Schilten» von Beat Kuert nach Hermann Burger. Der «Alltag der Schweizer Frau» von 1971 findet sich im Archiv des SRF («Rundschau», 27. Januar 1971). «Die beglückende Aufgabe als Hausfrau und Mutter – ein Bild, das häufig nicht stimmt», heisst es im Sendungsbeschrieb.

Am 7. Februar 1971 wird die Vorlage zur «Einführung des Frauenstimm- und Wahlrechts in eidgenössischen Angelegenheiten» vom männlichen Stimmvolk mit 621’109 gegen 323’882 Stimmen (65,7 Prozent Ja) und von 15 ½ Ständen gegen 6 ½ Stände angenommen.

Niederdorfstrasse 1967

1    Frühling 1972

AB UF ZÜRI

Von der Bahnhofstrasse über den Paradeplatz zum Niederdorf – und mit der Lehrstelle in der Tasche zurück nach Baden.

Es waren die letzten Frühlingsferien ihrer Schulzeit, Sira war sechzehn Jahre alt. Die anderen aus ihrer Klasse hatten längst eine Lehrstelle, nur Sira hatte keine Ahnung, was aus ihr werden sollte. «Wohin wird mich das Leben treiben???», hatte sie in ihr Tagebuch geschrieben und war sich ganz feierlich vorgekommen. Sie besass mittlerweile über zwanzig Tagebücher, alle waren versteckt in einem Hohlraum unter ihrem Bett.

«Schau im Kantonsspital Baden vorbei, die suchen noch Hilfsschwestern», hatte die Mutter am Morgen gesagt, als sie ihr das Haar zu einem Zopf geflochten hatte. Dabei hatte sie so gezogen, dass es Sira die Tränen in die Augen trieb. «Und etwas Anständiges anziehen musst du auch.»

Sie hatte ihr einen Rock und eine Bluse hingelegt und sich persönlich davon überzeugt, dass Sira den obersten Knopf geschlossen hatte. Sira kam sich fremd vor in den Kleidern. Viel lieber hätte sie eine Schlaghose und eine Fransenweste, wie sie Luise trug, ein Mädchen aus ihrer Klasse, dem Sira auf der Hochbrücke begegnete.

«Ich gang uf Züri ufe go lädele», sagte sie. «Chunsch mit?»

Luises Lachen war herausfordernd, sie bot Sira an, für ihr Billett, eine Retourfahrt zweiter Klasse, aufzukommen. Aber nicht das gab den Ausschlag, sondern dass Luise allein unterwegs war, ganz ohne Erwachsene.

«Der Zug fährt in zwanzig Minuten. Ich warte nicht auf dich.»

Sira ging eilig nach Hause, schrieb der Mutter einen Zettel, dass sie erst am Abend wieder da wäre, und legte ihn auf den Küchentisch. Bereits an der Tür, ging sie noch mal in ihr Zimmer zurück, um den Gschichteblätz der Grossmutter einzustecken. Es war ein abgegriffenes Stück Leinen mit eingestickten Symbolen. Zu jedem Symbol gehörte eine Geschichte. Die Grossmutter hatte ihn Sira geschenkt, als sie noch ganz klein war. Ihr Lieblingssymbol war ein kleiner Leuchtturm. «Er bringt dir Glück», hatte Grossmutter gesagt.

Nun war sie gewappnet für den Ausflug nach Zürich und rannte los. An der Landstrasse vorne kam sie an einem Schaukasten vorbei. Da hing immer noch das Abstimmungsplakat von letztem November. Es zeigte eine junge Frau, die eine Hand ausgestreckt hatte: «Lasst uns aus dem Spiel, Frauenstimmrecht: Nein!» Wie jedes Mal streckte Sira dem Bild die Zunge heraus.

Immer in der Tasche: der Gschichteblätz, den die Grossmutter für Sira gestickt hatte.

Eine Stunde später hielt der Zug am Zürcher Hauptbahnhof am Gleis drei und Sira stieg hinter Luise aus dem grünen Wagen der SBB. Das also war Zürich. Sie war erst einmal hier gewesen, im Zoo, aber sie hatte keine Erinnerung daran.

«Kommst du?», fragte Luise.

Sie sei eine alte Stadt-Häsin und schon bald würde sie auch herziehen, hatte sie Sira erzählt. Nachdem ihr Bruder bereits länger hier war und eine Schreinerlehre machte, würde sie die Diplommittelschule besuchen und bei ihrer Tante wohnen. «Wir gehen zu Gassmann am Paradeplatz. Ich will ihr ein Foulard kaufen.» Sie zeigte den Inhalt ihres Portemonnaies her. «Als Dank, dass sie mich aufnimmt.»

Foulard, Gassmann, Paradeplatz … Sira verstand kein Wort, aber die Namen klangen alle geheimnisvoll.

Draussen auf dem Platz gingen sie am Alfred-Escher-Denkmal vorbei. Sira kannte Escher aus dem Geschichtsunterricht, er hatte die Gotthardbahn gebaut. Aber sie hatte nicht gewusst, dass er auch der Herr über Zürich war, so wie er in Richtung der breiten Strasse blickte, wo gerade das Elfertram um die Kurve fuhr. Es quietschte.

Globuskrawall in Zürich, 1968

«In der Bahnhofstrasse gibt es lauter Warenhäuser, Modeboutiquen und Schmuckläden», sagte Luise und ihre Augen leuchteten. «Ich will so reich werden, dass ich hier jeden Tag einkaufen kann.»

Sira staunte. Es war so ganz anders als alles, was sie kannte: laut und lärmig und es stank. Über die Limmat, zu Hause eingerahmt von Büschen und Bäumen und grünen Matten, führte eine von Autos befahrene Brücke.

«Das Globusprovisorium.» Luise meinte ein flaches Gebäude direkt daneben. «Vor vier Jahren hat hier eine richtige Schlacht getobt», wisperte sie hinter vorgehaltener Hand. «Mein grosser Bruder war auch dabei. Er wurde sogar von zwei Polizisten weggeschleppt. Er hatte ein Loch im Kopf. Die Eltern wissen bis heute nicht woher, er hat geschwindelt. Er und seine Freunde wollten das Gebäude für sich, sie wollten eine Zukunft, sie wollten wild und frei sein und einen eigenen Platz.»

«Und?»

«Sie haben es nicht bekommen. Siehst du ja, es steht leer. Aber sie geben nicht auf, sagt mein Bruder.»

Sira fühlte ein Kribbeln im Bauch. Schnell liefen sie dem Flussufer entlang bis zu einer weiteren Brücke.

«Wir können über die Schipfe gehen», sagte Luise. «Und durch das schönste Quartier der Stadt bis zum Paradeplatz.»

Sira staunte, wie gut Luise sich auskannte. Die Schipfe zog sich am linken Limmatufer entlang, die Häuser waren alle herausgeputzt und hatten Namen wie Zum Goldenen Leuen und Zum Schwarzen Bären. An einer Stelle führte eine Art offener Tunnel unter den Häusern hindurch, die da praktisch im Wasser standen.

Sira blieb stehen und sah so lange in das träge fliessende Grün, bis ihr schwindlig wurde. Wenn sie sich Mühe gab, konnte sie bis auf den Grund sehen.

«Beeil dich, Sira!»

Das Gebäude auf dem kleinen Platz nach dem Durchgang hiess Zum kleinen Meerwunder. Da lehnte sich Sira ans Geländer. Die Häuser auf der gegenüberliegenden Seite wirkten wie aus Karton geschnitten, eines ans andere geklebt, Fassaden in verblichenen Farben. «Können wir dorthin gehen?», fragte sie die unermüdlich voranschreitende Luise, als sie sie eingeholt hatte.

«Nein. Da ist das Niederdorf, es ist dreckig und es gibt Gesindel, sagt meine Tante.»

Paradeplatz in Zürich, 1971

Aber Sira sah wohl, dass Luises Augen dabei leuchteten. «Wir machen dafür einen Abstecher zum Lindenhof.»

Der Lindenhof war ein Platz hoch über der Stadt. Von da konnte man sehen, wie sich die Häuser des Niederdorfes den Hügel hochzogen, darüber prangten die Universität und die eth.

«Komm endlich», sagte Luise und zog sie am Blusenärmel. «Meine Tante wartet im Sprüngli, da trinken wir einen Café Crème und besprechen alles.»

Das kannte Sira aus den Erzählungen der Mutter, es sei die edelste Confiserie der Welt. Am Paradeplatz ging es geschäftig zu und her, es gab viele edel gekleidete Leute, hohe alte Gebäude und Trams. Der geheimnisvolle Gassmann entpuppte sich als Kleidergeschäft. Im Schaufenster trugen die Puppen Seidenblusen, fliegende Röcke und taillierte Jacken. Die Preisschilder besagten, dass Sira nicht mal einen Knopf für ihr Fünffrankenstück bekommen würde, und Kaffee mochte sie sowieso nicht.

Die Öpfelchammer am Rindermarkt 12, ca. 1968. Es ist überliefert, dass schon Gottfried Keller hier eingekehrt ist.

«Weisst du was, ich schaue mich ein wenig um. Du und deine Tante, ihr habt ja sicher viel zu besprechen.»

Luise sah unschlüssig aus. «Aber du bist ein Landei! Was, wenn du verloren gehst?»

«Ich habe einen Orientierungssinn wie eine Bergführerin, sagt meine Grossmutter. Treffen wir uns doch um siebzehn Uhr am Hauptbahnhof. Den kann ich ja nicht verfehlen.»

«Also gut.» Luise hatte einen Fuss schon halb im Geschäft, ihr Auge auf einem Ständer mit bunten Tüchern, die als Foulards angeschrieben waren. «Bis später.»

Sira atmete tief durch und ging den Weg zurück zum Fluss. Prompt verirrte sie sich in den Gassen und landete in der Nähe einer Kirche.

«Das ist der Münsterplatz», erklärte eine Frau auf ihre Frage, wo sie denn genau sei und wie sie später von da wieder zum Bahnhof komme. «Die Kirche heisst Fraumünster, mit einem Turm so spitz, dass er Wolken aufreissen kann. Und drüben, die mit den zwei Türmen, das ist das Grossmünster. Wenn du die beiden auseinanderhalten kannst, bist du schon eine halbe Zürcherin. Und wenn der St. Peter, die Kirche, die zu deiner Linken liegt, so weit entfernt ist, dass du auf dem Zifferblatt die Uhrzeit nur noch knapp sehen kannst, bist du fast am Bahnhof.»

Sira überquerte die Brücke und das Limmatquai, das direkt an den Fluss grenzte, und tauchte in ein Gewirr von Gassen ein. Sie kam an einem Laden voller Schallplatten vorbei, an einer Kaffeerösterei samt Kaffeehaus, an einer Boutique mit Kleidern, wie sie Luise trug. An einem Schreibwarengeschäft, einem Pfannenladen und einer Bäckerei und an so vielen Restaurants, dass sie zu zählen vergass. Sie hatten Namen wie Rheinfelder Bierhaus oder Öpfelchammer oder Zum Grünen Heinrich. Sie ging rauf und wieder runter, sah da etwas, nahm dort etwas in die Hand und als es Zeit war zu gehen, wusste sie nicht mehr, wo der Bahnhof lag. Die St. Peter Kirche war nicht in Sicht, nur ein Kirchturm, der noch spitzer war als der vom Fraumünster. Sechzehn Uhr dreissig, sagte ein Herr mit einigen Zeitungen unter dem Arm auf ihre Frage und wies, als sie nach dem Bahnhof fragte, vage in eine Richtung.

Die Froschaugasse im Niederdorf, Richtung Brunngasse gesehen, Aufnahme datiert ca. 1968

«Da entlang bis zum Zähringer, danach über die Strasse bis ans Central.»

Was würde Luise sagen, sollten sie den Zug verpassen? Und die Mutter erst? Wenn sie Fragen vermeiden wollte, musste sie pünktlich zum Abendessen zu Hause sein. Sira drehte sich um die eigene Achse. Froschaugasse hiess es auf einem Schild. Es gab einen Antiquitätenladen und einen Spielsalon, aber da traute sie sich nicht hinen, um nach dem Weg zu fragen. Als sie die Gasse überqueren wollte, wäre sie fast von einem Auto gestreift worden, das um die Ecke gefahren kam und anhielt. Eine Haustür öffnete sich und eine Mutter mit einem Baby auf dem Arm konnte nicht heraus, weil die Vorder- und die Hinterreifen des Wagens auf dem Trottoir ganz dicht an der Mauer standen. Hilfesuchend sah sie zu Sira.

Hanni Schnell im Eingang von «Hannis Lädeli» am Predigerplatz 42

«Können Sie mir den Kleinen kurz abnehmen?»

Sie? Meinte sie wirklich Sira?

Sie streckte die Arme aus und nahm das Kind in Empfang. Es hatte keine Angst. Es roch nach Puder, Parfüm und nach verschütteter Milch.

Die Frau kletterte über das Auto, den Rock hatte sie in den Bund gesteckt, sodass die Strümpfe zum Vorschein kamen. Ihr Haar war streichholzkurz. Sie landete auf ihren Halbschuhen, hob die Faust und wetterte gegen den Automobilisten, der immer noch am Steuer sass.

«Wir lassen uns nicht einsperren, wir wohnen hier. Bald ist das Dorf autofrei.»

Sie bedankte sich bei Sira. «Sonst schreit er immer. Sie haben ein Zauberhändchen mit Kindern. Würden Sie auch hüten?»

Nein, ich wohne in Baden, weit weg, ich bin nur zufällig da und müsste eigentlich längst wieder auf dem Zug sein, wollte Sira entgegnen. Aber die Worte blieben ihr im Hals stecken.

Stumm überreichte sie der Frau das warme Windelpaket.

Als die ihr eine Telefonnummer auf einen Zettel kritzelte und in die Hand drückte, nahm sie ihn.

«Ich bin Jacqueline, oder Jacky. Wir können uns duzen. Ruf mich an. Dann können wir alles abmachen.»

In ihrem schnellen Zürichdeutsch beschrieb sie den Weg zum Bahnhof und versicherte, dass ihr eine Viertelstunde reichen würde, wenn sie zügig ginge.

Sira steckte den Zettel in ihre kleine Umhängetasche als wäre es eine Einladung ins Paradies.

Sie schüttelten sich zum Abschied die Hände.

Auf dem Predigerplatz, so hiess er laut Jackys Beschreibung, blieb Sira kurz stehen. Er war so schön, dass sie nicht anders konnte. Das Kopfsteinpflaster glänzte, um einen Brunnen herum standen einige Leute und hatten etwas zu besprechen. Weiter oben sah sie einen Lebensmittelladen mit einem Sonnendach und Zwiebelzöpfen. So einen könnte ich der Mutter mitbringen, dachte sie, das wird sie versöhnen, falls ich doch zu spät kommen sollte. «Hannis Lädeli» stand auf dem Schild, Predigerplatz 42. Hanni war eine stämmige Frau mit Latzschürze und schwarzen Locken, an den Ohren baumelten Ringe. Und sie war langsam und nicht schnell, was alle amüsierte. Sie verkaufte Sira einen Zopf und gab ihr ein Stück Wurst obendrauf.

Predigergasse mit der Vergolderei

«Salami. Direkt aus Italien.»

Es schmeckte scharf.

«Bis zum nächsten Mal», sagte Hanni.

Gerade als Sira in Richtung Central weitergehen wollte, genau wie Jacky erwähnt hatte, sah sie ein Bild im Schaufenster eines Ladens. Es zeigte einen blauen Ritter, darum herum einen Rahmen aus Gold mit Verzierungen. Daneben weitere Rahmen, einer verschnörkelter als der andere. Was Sira aber wirklich in den Bann zog, war ein kleines Plakat: «Wir suchen einen Lehrling.»

Hinter ihr schlug die Uhr Viertel für fünf, es würde knapp werden. Trotzdem betrat sie den Laden. Fast wäre sie gestolpert. Überall standen weitere Bilderrahmen, grosse, kleine, runde, rechteckige. Ein älterer Herr in einer Kittelschürze stand hinter einem Tresen, er hatte eine Brille auf der Nase, die war so schmutzig, dass sie seine Augen kaum sehen konnte.

«Ja, bitte?»

«Da steht, Sie suchen einen Lehrling.»

«So ist es.»

«Kann ich der Lehrling sein?»

Sira wusste nicht, woher die Worte gekommen waren, aber sie tanzten über den Ladentisch aus dunklem Holz und die Blechdose für das Trinkgeld.

«Du?» Er musterte sie. «Du bist ein Fräulein.»

«Da kann ich nichts dafür. Darf ich trotzdem der Lehrling sein? Ich weiss nicht, was ich sonst im Leben machen soll.»

«Kennst du dich denn aus?»

«Also …», sagte Sira, «… was machen Sie genau? Malen?» Sie zeigte auf ein Bild. Darauf war ein bunter Blumenstrauss zu sehen, der gefiel ihr ziemlich gut. «Ich weiss halt nicht, ob ich das kann. Aber in Stricken und Sticken habe ich eine Fünf bis Sechs. Ich bin eine schnelle Lernerin – wenn es mich interessiert. Und meine Grossmutter nennt mich die Geschichtenerzählerin.»

Der alte Mann schmunzelte. «Wir sind eine Vergolderei. Wir machen die Rahmen so, dass sie die Bilder zum Strahlen bringen.»

«Ein ganzer Laden nur für Rahmen?»

«Bei uns im Dorf gibt es viele Kunden.»

Strahlende Bilder, Kunden, Dorf … das klang genau nach Siras Geschmack.

«Kann ich schauen kommen? Nächste Woche vielleicht?»